Lehrerin mit Herz - Carolin Schairer - E-Book

Lehrerin mit Herz E-Book

Carolin Schairer

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Beschreibung

Claudia liebt ihren Beruf, auch wenn der Schulalltag weit anstrengender ist als in der TV-Serie »Lehrerin mit Herz«. Noch dazu ist die Kollegin im Film brave Hausfrau und sexy Gattin. Claudia verdreht die Augen und schreibt einen Protestbrief. Prompt arrangiert die Schauspielagentur ein medienwirksames Treffen zwischen Darstellerin und Lehrerin. Und Claudia muss sich eingeste-hen: Kalt lässt diese Amira Rabe sie nun wirklich nicht.

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Seitenzahl: 510

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Carolin Schairer

LEHRERIN

MIT HERZ

Roman

ULRIKE HELMER VERLAG

 

ISBN (eBook) 978-3-89741-921-1

ISBN (Print) 978-3-89741-456-3

 

© 2022 eBook nach der Originalausgabe

© 2022 Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach a. Taunus

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL

unter Verwendung eines Fotos von © fotograf-halle.com / Adobe Stock

 

Ulrike Helmer Verlag

Klosterhofstr. 3, 65843 Sulzbach a. Taunus

E-Mail: [email protected]

www.ulrike-helmer-verlag.de

 

Die Außenseiterin

MitgesenktemKopfhasteteSaschadieTreppedesSchulhausesnachunten. AlssiedieEingangshalledurchquerte, halltenihreSchrittevielzulautindemleerenGebäudewider.

IhreHandlagschonamGriffderHaupttüre, alssienocheinmalinnehieltundvorsichtignachdraußenlugte.

EineganzeStundelanghattesiesichnachSchulschlussaufderToiletteeingesperrtundvollerAnspannungdaraufgewartet, dassselbstdasleisesteGeräuschimGangverstummte. KeineStimmen, keineSchritte, keinKnacksenmehr. ErstdannhattesiesichausderKabineherausgewagt, umzögerlicheinenBlickaufdenGangzuriskieren.

Hoffentlichwürdeallesgutgehen – hoffentlichwürdesieesbiszurStraßenbahnhaltestelleschaffen, ohneabgefangenunderneutgedemütigtzuwerden. VorsichtigöffneteSaschadieTürundspähtehinaus. DerSchulhofwarmenschenleer.

Sieatmetetiefdurch, danntratsiebeherztdenHeimwegan. DieKapuzeihresverwaschenenSweatshirtstiefinsGesichtgezogen, eiltesieüberdenHofzumTorbogen, deraufdieStraßeführte. InderStraßenbahnwürdesiesichersein. IhrePeinigerinnenwürdenesnichtwagen, übersieherzufallen, wennErwachsenenebenihrsaßen – oderdoch?

Dochplötzlichwarensieda – Katha, LisaundMarie-Lu, diehippstenMädchenderSchule, die, dieSaschadasLebenzurHöllemachten.

»Na, wenhabenwirdennda!« Katha, schwarzesHaar, fingerbreitedunkleAugenbrauen, blutroterLippenstift, stelltesichihrindenWeg. »DiekleineSascha! – Na, heuteschonimStehengepinkelt?«

Saschaschrumpfteinsichzusammen.

»SchaustdudicheigentlichinderFrühimSpiegelan, oderistderbeideinemAnblickschonzersprungen?«

Lisalachtegehässig, undMarie-LustimmteinihrLachenein.

»Wetten, dassdeineFransensokurzsind, weilduständigLäusehast?«

MiteinemRuckrissihrMarie-LudieKapuzevomKopf. SaschaschrieaufundwicheinStückzurück, dochdawurdesieschonamKragenihresSweatshirtsgepackt.

»Wetten, dassdunureineBrilleträgst, damitdichallefürbesondersschlauhalten?«

Ehesieeshätteverhindernkönnen, hatteihrLisadieschwarzeHornbrillevonderNasegerissen. SiewarfsieaufdenBodenundtratmitbeidenFüßendaraufherum.

PlastikbrachundGlasknirschte. SehenkonnteSaschaesnichtmehr. IhreUmweltwarhintereinemSchleierverschwunden.

Sieversuchtesichloszureißen. DochMarie-Luhieltsieimmernochfest.

»Wetten, dassdunurdeshalbsoSack-Klamottenträgst, weildudarunteraussiehstwieeinkleinesKind?«

IrgendetwasblitzteinKathasHandauf. DasseseinMesserwar, konnteSaschaersterkennen, alssichdieSpitzederKlingeinihrenHalsbohrte. TränenschossenihrindieAugen. EinBluttropfenflossganzlangsamanihremHalshinunterundversickerteimPulli. IhreMutterwürdeabendsfragen, woherderBlutfleckstammte, dochsiewürdeschweigen.

»Weißtdu, wasichjetzttunwerde?« KathakamSaschasrechtemOhrbedrohlichnahe – nichtmitdemMesser, abermitdemMund. IhreStimmetrieftevorGrausamkeitundVorfreude. »Ichschneid’ dirdeinenHoodievomLeib, damitallesehenkönnen, wasdarunterist!«

IhreFreundinnenlachtengehässig. SascharangnachLuft.

SchonsetzteKathadasMesserobenamBundan, dort, woihreHandnochimmereinenZipfelStoffeisernumklammerte. Saschazittertejetztunkontrolliert. Sieweinte.

»Stopp! Aufhören! Auseinander!«

EineFrauenstimmetönteüberdenSchulhof.

»Verdammt, dieBecker!«, zischteLisa, undKathaließvorSchreckdasMesserfallen. AbruptentließsieihrOpferausdemKlammergriff. Saschataumeltezurück – undfielindieArmederKlassenlehrerin.

VeraBecker, umdievierzigundseitfünfzehnJahrenimSchuldienst, erkanntedieLagesofort. AufbedrohlichhohenAbsätzenundimperfektsitzendenDesignerkostümstolziertedieattraktiveFrauaufdieGruppezu.

»Wasläufthier, Katha? SindduunddeineCliquewiedermaldabei, jemandenzumobben?«

KathastarrteaufdenBoden, dieLippentrotzignachvornegeschoben. LisaundMarie-LuwarenzuSalzsäulenerstarrt. SaschahatteihrenKopfanFrauBeckersgroßzügigesDekolletégebettetundschluchzte.

»IhrbekommtalleeinenVerweisundwerdetdreiWochenlangvomUnterrichtsuspendiert!«, schobdieLehrerinnach. Sieklangjetztschonwiedermilder, fastversöhnlich. SchließlichhattesieeinegewisseRoutinedarin, dieübleKathaundihreFreundinnendabeizuerwischen, wiesieJüngerendieHandysabnahmen, dieKlassenkasseaufbrachenodernachtsinsSchulhauseinstiegen, umZeugnisformularezustehlen. Siewusste, dassbeidendreienHopfenundMalzverlorenwar, weshalbihrEnthusiasmusimBestrafenimmermehrabnahm.

Kathabemerktedavonnichts. DerTeenagerrissdiedunkelgeschminktenAugenaufundsagtemitbebenderStimme: »Ohnein, bloßkeineSuspendierung! WiesollichdenndieVersetzungschaffen, wennSiemichnichtamUnterrichtteilnehmenlassen?«

»Tja, Katha. Dashättestdudirfrüherüberlegenmüssen«, erwidertedieLehrerin, wobeieinsanftesLächelnihrevollenLippenumspielte. »AbernochistnichtallerTageAbend. Vielleichtfälltdirjaetwasein, umdeineTatenwiedergutzumachen?«

Kathasagteersteinmalnichts. VermutlichwarsievonderAufgabenstellungüberfordert.

Lisaspranghilfsbereitein. »VielleichtsolltenwirunsbeiSaschaentschuldigen?«

»DaswäresichereinguterAnfang.« VeraBeckersStimmewardeutlichanzumerken, wiesehrsiedieserüberausclevereVorschlagbeeindruckte. DienochimmeranihrerBrustschluchzendeSaschaschienihrdagegenallmählichlästigzuwerden, dennsieschobsiejetztmitsanfterGewaltzurSeiteundkonzentriertesichlieberaufdiereumütigenMissetäterinnen. »Aberdamitistesnochnichterledigt, dasisteuchschonklar, oder? IchmusseureElternüberdenVorfallinformieren!«

»TunSiedasnicht, bitte!« JetztwaresMarie-Lu, dieflehte. »MeinVaterprügeltmichdochwindelweich!«

DakonnteVeraBeckeroffenbarmitfühlen. FastschonliebevolltätscheltesiedieWangedesgepierctenTeenagers.

»KeineAngst. Ichwerdemichdarumkümmern. InformierenmüssenwireureEltern, dasstehtsoinderSchulordnung. Aberwennichmitihmrede, wirdallesgut. – UndjetztgehtersteinmalnachHauseunddenktdarübernach, wasihrinZukunftbessermacht. Ichglaubeaneuch!«

»Danke, FrauBecker.«

DiedreiMissetäterinnenschlichenmithängendenSchulterndavon.

WenigspätersaßVeraBeckerinihremschönenEinzelbüromitBlickaufdiemitEfeuumrankteTurnhalleundserviertedernochimmersehrmitgenommenenSaschaTeeundKekse.

»Nun, Sascha, jetzterzähldochmal. Washabendiedreieigentlichgegendich?«

»Sielachenmichaus, wegenmeinerKleidung. UndwegenmeinerBrille. Siesagen, ichseheauswieeinKind!«

SaschasStimmezittertenochimmer.

»Ach, Sascha, duhasteswirklichnichtleicht.« VeraBeckerseufzteundmusterteSaschadabeimiteinemähnlichabwertendenBlickwieKathawenigeMinutenzuvor. »Vielleichtsolltenwirbeideeinfachmalzusammeneinkaufengehen? Wäredochgelacht, wennwirausdirkeincoolesMädchenmachenkönnten!«

»DaswürdenSiefürmichtun?« SaschahobhoffnungsvolldenKopf.

»Abernatürlich«, erwiderteVeraBecker. »Wäredochgelacht, wennwirbeidedasnichthinkriegen!«

»SiesinddieBeste!«

SaschasprangvomStuhlauf, liefumdenSchreibtischherumundumschlangdieaufopferungsvolleLehrerinmitbeidenArmen. Dieselächeltesäuerlich.

»Gerne, meinKind. – UndmitdeinenHaarenmüssenwirauchetwastun.«

»IchwollteschonimmerlangeHaarehaben«, gestandSascha, währendsiewiederaufdieandereSeitedesausladendenSchreibtischesging – zurückzudenKeksenunddemTee. »AbermeineMuttermeint, kurzewärenpraktischer.«

»Ichwerdemitihrreden«, versprachVeraBeckerinsanftemTonfall, fletschtedabeiaberdieZähnewieeintollwütigerHundkurzvordemAngriff. »MitdenrichtigenArgumentenziehenwirsieaufunsereSeite! KeineMutterwill, dassihrKindeineAußenseiterinist.«

»SiesindwirklichdieBeste«, wiederholteSascha. IhreAugenleuchteten.

ZweiTagespäterpräsentiertesichSaschainihremneuenLook – imenganliegendenMinirockmitkniehohenStiefeln. DieKurzsichtigkeitwarkeinThemamehr; sietrugjetztKontaktlinsen. BeimFriseurwarsieoffenbarauchgewesen – ihrkurzesHaar, früherimfadenMausbraun, glänzteinverschiedenenRottönen.

DieneueSaschaversetztediegesamteKlasseinStaunen. Anerkennendes »Ah« und »Oh« schallteihrentgegen, alssiedasKlassenzimmerbetrat. EinerderBurschenschobihrgleicheinZettelchenzu.

Katha, offenbardochnichtvomUnterrichtsuspendiert, kaminderPauseherüberundreichteihrdieHand.

»Tutmirwirklichleid«, sagtesieundwirktedabeifasteinbisschenzerknirscht. »Lassunsgutmiteinandersein.«

Saschawarsoganzundgarnichtnachtragendundwilligteein.

»Ichfreuemich«, sagtesiesogar. »VielleichthabtihrjaLust, dasswirgemeinsamimStadtparkabhängen?«

»Klar, warumnicht?«

Katha, Marie-LuundLisaschlossenSaschaderReihenachindieArme. VeraBeckerstandetwasabseitsundbeobachtetegemeinsammiteinerKollegindieSzene.

»Gibzu – dasteckstdochdudahinter!«, sagtedieKollegin.

VeraBeckerlächelteselbstzufrieden.

»IchhabenuretwasHilfestellunggegeben«, erwidertesiebescheiden. »Duweißtja: MobbingundUngerechtigkeitkannichabsolutnichtakzeptieren!«

»DieWeltbräuchtemehrMenschenwiedich«, stimmtedieKolleginzu.

UndVeraBeckersonntesichinihremeigenenLächeln.

*

»WasfüreinSchwachsinn!«, empörtesichClaudia, kaum, dassVeraBeckersLächelnaufdemBildschirmeingefrorenwarundvomkurzenAbspannüberdecktwurde. »Sowasschautihran? – Dasistunglaublich!«

WiejedenFreitagnachmittagwarsievonWiennachNiederösterreichgefahren, ummitdenElternundderSchwester, diemitihremSohnimHausgegenüberwohnte, Zeitzuverbringen. DerFreitagabendwarreserviertfürFamilienzusammenkünfte. DashattesichüberdieJahresoeingebürgert, worüberClaudiaziemlichfrohwar. SeitsiewiederSinglewar, konntensichdieWochenendenziehenwieKaugummi.

DiesmalwarsieetwasfrüherweggefahrenalssonstundmittenineineFernsehsendunggeplatzt, diefürihreMutterElfriedeundTanteTrudioffenbareinfreitäglicherFixpunktwar.

»DasistkeinSchwachsinn!«, kamesvorwurfsvollvonderlinkenSeitederSofalandschaft, wodiezweiFrauen, dieeinefünfundsechzig, dieanderezweiJahreälter, vorgeleertenKaffeetassensaßen. »DasistunsereLieblingssendung. LehrerinmitHerz!«

ClaudiaverdrehtedieAugen. SchonalleinderTitelklangschmalzig.

»UnddasschautihreuchjedenFreitagan?«, haktesieungläubignach. »DafüristeuchdieZeitnichtzuschade?«

SiehattedieFragegeradeausgesprochen, alsihrauchschonklarwurde, wieüberflüssigsiewar. NatürlichwardenbeidenihreZeitdafürnichtzuschade. BeidewareninPension. Auchwennsieselbstesoftandersdarstellten, hattensieeinschierunermesslichesPensumanFreizeit.

»Ach, Kind, regdichdochnichtsokünstlichauf!« IhreMuttererhobsichundtätschelteihrinderselbenWeisedieWange, wieesdieseLehrerineinpaarMinutenzuvorbeiderSchüleringetanhatte. »DasisteinetolleSerie. Diesolltestduauchansehen, vielleichtlernstduwasdabei?«

»Wiebitte?«

ClaudiarunzeltedieStirn. MeinteihreMutterdasernst? – Anscheinend, dennnichtsanderenGesichtverrietdasGegenteil.

»DieFrauBeckerjedenfallshatihreSchülerbesserimGriffalsdudiedeinen«, schaltetesichpromptauchihreTanteein. »Unddielöstdaskonfliktfrei – ohneständigeVerweise!«

»Ähm?« Claudiaglaubteallmählich, ineinemschlechtenFilmmitzuspielen, dessenDrehbuchsienichteinmalkannte. »DiehatgerademiteinerSuspendierungvomUnterrichtgedroht. Dasistwesentlichgravierender, alsirgendwanneinmaleinenVerweiszuerteilen!«

»Gedroht«, wiederholteihreTantegedehnt. »Abersiehatesnichtgetan! DasisteinUnterschied. SieredethaltmitdenSchülern.«

»IchredeauchmitmeinenSchülern«, erwiderteClaudia. »So, wiemanmitMenschen, derenGehirnnochnichtausgereiftist, ebenredenkann.«

»Duschreistsiean«, korrigierteihreMutter. »Dasistetwasanderes.«

»Ichschreiesiean, wennesebenseinmuss.« DieseDiskussionwurdezunehmendmühsam. »Außerdem – dubistdochgarnichtdabei! Woherwillstduwissen, dassichnichttausendmalgeduldigerbinalseuregeliebteFrauBecker?«

»Weilichdichkenne«, entgegneteihreMutterprompt.

»Weilduunsdochimmererzählst, wasdusoerlebst«, ergänztedieTante. »UnddashörtsichgarnichtanwiebeiFrauBecker!«

»WeildieFrauBeckereinefiktiveFigurist.« Unglaublich, dasssiedasüberhauptlautaussprechenmusste. »UndweildieseSeriederletzteSchrottist. Glaubtihrdennwirklich, dieProblemeeinesMädchenswieSaschawärenmiteinpaarneuenKlamottengelöst? Dassitztvieltiefer! Außerdemsiehtsiejetztaus, alsgingesieaufdenStrichanstattzurSchule!«

»SokleidensichjungeMädcheneben.«

»Ja, ganzsicher.« ClaudiaverdrehtedieAugen.

»Du bist so spießig«, sagte Tante Trudi und wandte sich an ihre Schwester. »Nicht wahr, Elfie? Sie war ja schon als Kind so!«

»Verkopft, meinstduwohl! – BeiunsererClaudiaistjederharmloseFilmoderZeitungsartikelimmerdirekteinGrundfürewigeDiskussionen. SicherkommtsiegleichmiteinemVortragüberFrauenrechte, nurweildieMädchenindieserSerieeinenkurzenRockanhatten!«

»OooohGott …« ClaudiadrückteihreStirngegendieweiße, kalteWanddesWohnzimmers. »Eswürdeeuchwirklichnichtschaden, etwasmehrzuhinterfragen!«

»Ach, Kind. Lassunsdoch. DumusstunsdochnichtdieSerievermiesen, nurweilduetwasdaranauszusetzenhast!« IhreMutternahmdieFernbedienungundschaltetedenFernseheraus, indemjetztWerbungfürWaschmittellief. »Dumussteinfachtoleranterwerden.«

SagtdieFrau, dieselbsteinParadebeispielfürToleranzist, gingesClaudiadurchdenKopf.

»DannwürdeesauchmitdenMännernklappen«, ergänztedieTante. DasLächelnihrerMuttererlosch. Claudiahatteverstanden. EswarZeit, sichzurückzuziehen.

»IchsehemalnachPapa.«

»Istgut.« IhrerMutterstanddieErleichterunginsGesichtgeschrieben. »UmsiebenUhrgibtesAbendessen!«

ClaudiastiegdiesteileHolztreppezumDachbodenhochundärgertesichübersichselbst.

Warum, um Himmels willen, spielte sie dieses Theater noch mit?

SiewarachtunddreißigJahrealt, seitfastzweiJahrzehntenvonihrenElternfinanziellunabhängig, wohnteseitihremneunzehntenLebensjahrinWienunddamiteinhundertvierzigKilometervonMauer, ihremGeburtsortvordenTorenderniederösterreichischenKleinstadtAmstetten, entfernt. DochkaumtratsieüberdieSchwelleihresElternhauses, nahmsieautomatischdieRollederbravenTochteran. DeralleinstehendenbravenTochter, dieleider, leiderPechmitdenMännernhatteunddeshalbnochimmernichtverheiratetwar.

DaswarzumindestdieGeschichte, dieihreMutterdergesamtenVerwandtschaftunddenNachbarnauftischte, obgleichesElfriedeKoligbesserwusste.

WährendClaudiamangelsMöglichkeitennochbiszurMaturakeuschwieeineNonnegelebthatte, wasihrdenRufderSpätzünderineinbrachte, warendie, wiesieesselbstnannte, verlorenenJahremitBeginnihresStudiumsinWienschnellkompensiert. TagsüberanalysiertesieGedichteinmittelalterlicherHochspracheundschriebaufEnglischAbhandlungenüberDickens, abendsfeiertesieindertürkis-rosaVillaundtanzteaufFrauenfestenimFZ. Sieverliebtesichmalindiese, malinjene, hatteunzähligeAffärenundkurzfristigeBeziehungen, stellteeinedavon, mitdersieesernstermeinte, sogardenElternvor – undpralltepromptgegeneineMauerderIgnoranz.

MutterundVaterKoligwarendamalszuVeronikahöflichgewesen, dasschon, aberhattensieniewieeinPaarbehandelt. VeronikawardiefolgendenzweiJahrelangeinfachnurClaudiasbesteFreundin. Unddabeibliebes, alsdieBeziehunglängstGeschichtewar.

ElfriedeKoligwollteeinfachnichtdarüberreden, schongarnichtmitihrerälterenSchwesterTrudi, dienochimmernichtsunversuchtließ, umihreNichteunterdieHaubezubringen. SiegeiztewedermitgutgemeintenRatschlägennochmitVorschlägenkonkreterKandidatenausderRegion. Claudialächeltefürgewöhnlichhöflich, schobdievieleArbeitvorundsuchtedasWeite. SiewolltekeinFamiliendramaheraufbeschwören. FürdiepaarMaleimMonat, indenensieihreFamiliebesuchte, konntesieüberdasvonihrerMutterinszenierteTheaterhinwegsehen, auchwennesihrmanchesMalgehörigaufdieNervenging – wiebeispielsweisegeradeeben.

Sieverstandohnehinnicht, warumTrudinochandieseGeschichte, dieihrElfiedaauftischte, glaubenkonnte. SchließlichhatteClaudiaihrenCousinsundCousinen – TrudihatteinsgesamtvierKinder – längstreinenWeineingeschenkt. Offensichtlichaberzogendievieresvor, TrudiebenfallsnichtmitderWahrheitzukonfrontieren. VielleichtwarihnenClaudiaaberauchschlichtwegzuunwichtig. Stefan, Michael, ChristinaundUlrikewareninzwischenallesamtverheiratet, hatteninAmstettenoderdernäherenUmgebungHäusergebautundzogendarinihrenNachwuchsgroß. SogutClaudiaundsiesichalsKinderauchverstandenhatten – inzwischenwusstensiesichkaummehretwaszusagen. ClaudiasLebeninderMillionenstadtWienwarfürihreCousinsundCousinenundderenjeweiligeEhepartnernichtgreifbar, unddasieselbstkeineKinderhatte, gabeszusätzlichmehrTrennendesalsVerbindendes.

ClaudiastießdieTürzumSpeicherauf. KalteLuftschlugihrentgegen. EswarOktober; dasgesamteHauswurdeinzwischenbeheizt – abgesehenvomDachboden. HierkauertePeterKoliginverwaschenerJeansundkariertemFlanellhemdaufdemblankenHolzbodenundverlegteSchienen.

DieHäuserinderSiedlungwarenallegegenEndederSiebziger-, AnfangderAchtzigerjahregebautwordenundsahenziemlichgleichaus: quadratischgeschnittenohneErkeroderanderearchitektonischeSchnörkel, mitkleinenFenstern. Erdgeschoss, ersterStock, darüberdasSpitzdach, gedecktmitdunklenSchindeln.

WährendderRaumunterdemDachindenmeistenanderenHäusernalsRumpelkammerdiente, erfüllteerimHauseKoligseitjehernureinemZweck: IhrVaterfröntehierseinerLeidenschaft, demModelleisenbahnbau. DergesamteDachbodenwarvonGleisen, Tunneln, künstlicherschaffenenBergen, Bäumen, HeckenundBüschendurchzogen. WardieAnlageinBetrieb, rattertenGüter- undPersonenzügedurchdenRaum. LokspfiffenundBahnübergängeblinkten. IndenBahnhöfengingenLichteranundaus, WeichenstelltensichaufKnopfdruck, Schrankenschlossenundöffnetensich. DieGeräuschkulissewarbeachtlichundmanchmalbisdurchdieDeckeinihreKinderzimmerzuhörengewesen.

»Na, Papa, wasmachtdieInfrastruktur?«

ClaudiatratvorsichtigüberGleiseundzwischenBäume, ehesiesichnebenihrenVateraufdenBodenhockte. Geradedabei, eindünnesKabeldurcheineMetallröhrezufädeln, sahdieserkaumauf.

»Ach, ichhabedaeinProblemmitderElektronik.« VaterKoliglegteMetallröhreundKabelzurSeiteundstrichsichüberseinschütteresHaar. »SeitichdasneueBahnbetriebswerkeingebauthabe, funktioniertdiezweiteSteuereinheitnichtmehrrichtig. FünfMinutenliefesgut, aberdannfingderTransformatoranzuklicken. EinederLoksamWestbahnhofistvonselberlosgefahren, unddannistdieElektronikvölligdurchgedreht. Irgendetwasstimmtnicht, vermutlicheinVerbindungsproblemzwischenDigital- undSteuerstromkreis. IchmussjetztdiegesamteVerdrahtungüberprüfen. Daskanndauern.«

Claudiazweifeltenichtdaran, dassihrVaterdasProblemimLaufedesAbendslösenwürde. VorseinerPensionierungwareralsElektrikerselbstständiggewesen. AllerdingswürdeerwohlwiedereinmalnurkurzzumAbendessenerscheinenunddannwiederinseinerParallelweltabtauchen. DieModelleisenbahngingvor. Sowardasschonimmergewesen.

Alsernochberufstätigwar, hattefreilichdasGeschäftanersterStellegestanden. AufPlatzzwei, dichtdahinter, folgtedannaberauchgleichdieEisenbahnundirgendwannerstdieFamilie, wobeiesnachClaudiasErmessenauchhierimmereineklarePrio­riätenhierarchiegegebenhatte. WährendihreältereSchwesterConnyalsKinddieratterndenZügedocheinigermaßeninteressantfand, verbrachteClaudiadieSommernachmittageliebermitihrerMutter – undspäterdenSchulfreunden – imFreibadunddieWinterwochenendenamnächstenSkilift. FolglichwarConnyPapasLieblingundsieMamasAugenstern – zumindestbissiemitVeronikaerschienenwar.

NunstandConnyimZentrumderAufmerksamkeitbeiderElternteile, unddasmitallenVor- undNachteilen. EinerseitswarsiedasKind, dasnichteinfachnachWiengezogenwarunddieFamilieimStichgelassenhatte, andererseitswurdeihrgesamtesLebenvondenElternmitArgusaugenüberwachtundbewertet. ClaudiawolltekeineSekundelangmitihrerSchwestertauschen.

»Undbeidir? Allesklar?«, erkundigtesichihrVater, abersiespürte, dassernurfragte, umnichtunhöflichzusein.

»Allesklar«, sagtesiedeshalb. »Vielzutun. IchhabeindiesemSchuljahreineMaturaklasseinDeutschund –« Sieverstummte, alsersicheinederBetriebsanleitungenschnappte, diesichindenWandregalenstapelten, unddarinzublätternbegann.

Siekonnteihmnichtbösesein. Eswarnochnieandersgewesen.

Sierappeltesichauf.

»IchbindannmalbeiConnydrüben.«

»Hmm«, brummteihrVater, währenderweiteranderMetallröhremitdemMinikabelherumfummelte.

DasHausihrerzweiJahreälterenSchwestersahgenausoauswiedasderEltern: eineinfacherBaumitSpitzdachundzweiEtagen. ConnyhatteesvoreinpaarJahreneinerNachbarinabgekauft, dieinsAltenheimumzog.

DieAtmosphäreimInnerenwartrotzderkleinenFensterhellundfreundlich, weilConnydiedunklenHolzdeckengegenweißePaneelehatteaustauschenlassenundamBodennunhellesEichenparkettlag. DieMöbelmitdenschwedischenFantasienamenstandenebenfallsimKontrastzudergediegenen, schwerenEinrichtungimHausederEltern. ObendreinherrschtebeiConnyimmereinegewisseUnordnung, wasElfriedeKolighinundwiederdazutrieb, bissigeBemerkungenabzugeben.

DeineSchwesterhatesnichtsomitderOrdnung!, pflegtesiedanngernzusagen. StattsichumHausundKindzukümmern, putztsielieberstundenlangdiesesAquarium!

DasgroßeAquariumimWohnzimmerihrerSchwesterwarderMuttereinDornimAuge. Währendsieirgendwannaufgegebenhatte, gegendieModelleisenbahnzuwettern, ließsiejedochnichtsunversucht, ConnysBegeisterungfürDiskusfischeundAquaristikzuverunglimpfen. IhrGenörgelundGezeterpralltenanderTochtergenausoabwiefrüheramVater.

AuchjetztwarConnymitdemAquariumbeschäftigt. Nachdemsiesichbegrüßthatten, widmetesiesichgleichwiederihrenWasserwelten. Felix, ClaudiasachtjährigerNeffe, schenktederTantedagegenseinevolleAufmerksamkeit, führteihrseineneuestenselbstfahrendenAutosvorundließsiesooftdurchseinSpielzeugteleskopschauen, bissieimwahrstenSinnedesWortesnurnochSternesah.

IrgendwannließsichConnydannnebendiebeidenaufdasSofafallen, woFelixgeradeausdenPolsterneineBurgbaute. SeinProtestginginihremGeschimpfeunter.

»Wieofthabeichdirschongesagt, dasshierkeinSpielplatzist?!«

»BeiderOmidarfichdasaberauch!«

»Istmiregal, wasdubeiderOmidarfst. InmeinemHausentscheideimmernochich!«

»DanngehichebenrüberzurOmi!«

»Vonmiraus!«

DieTürfielhinterihminsSchloss. Connyseufzte. »ZumindesthabenwirjetztRuhe«, stelltesiedennochfest.

»MamamachtgeradeAbendessen.« ClaudiasahaufdieUhr. »DasistinzwanzigMinuten.«

»DakannstdulockernocheineViertelstundedazugeben.« Connywinkteab. »Siewirdniepünktlichfertig, undHilfenimmtsieehnichtan. Wirstehendanurblödherum.«

WirkönntenauchfrüherkommenundzumindestdenTischdecken, dachteClaudia, sprachesabernichtlautaus. Siewussteselbst, dassihreMuttersichnichtinsHandwerkpfuschenließ, auchwennsiehinterhergernedarüberklagte, mitderganzenArbeitalleinegelassenzuwerden. Daswarschonimmersogewesenundwürdesichwohlnieändern. UndeshatteClaudiaimmerschongestört.

BevorihreSchwesterzurWeltbekommenwar, hatteElfriedeKoligalsKrankenschwesterimKrankenhausvonAmstettengearbeitet, Tagein, TagausInfusionenangehängt, Fiebergemessen, Bettpfannengewechselt, BlutdruckkontrolliertunddenKrankenbeimDuschengeholfen. WennsievondieserZeiterzählte, blitztenihreAugenundsiegerietregelrechtinsSchwärmen, wasClaudiaimmeretwasvordenKopfgestoßenhatte. Was, bitteschön, warsotolldaran, BettlägerigezuversorgenundendloseÜberstundenabzuleisten?

Irgendwannhattesiedannkapiert, umwasesging: ElfriedeKoligwolltegebrauchtwerden. DieKrankenhattensiegebraucht. IhreKinderanfangsauch, weshalbsiedenJobletztendlichaufgegebenhatteundHausfraugewordenwar. DerEinstieginsBerufslebenwarihrniewiedergelungen – abgesehenvondenpaarStundenproWoche, diefürdieBüroarbeitimBetriebihresMannesdraufgingen. SeitderVaterdenBetriebaltersbedingtaneinenMitarbeiterverkaufthatte, bezeichneteauchsiesichalsPensionistin.

WarumsieniewiederalsKrankenschwestergearbeitethatte, wussteClaudiaselbstnichtsogenau. Wassiewusste, warjedoch, dassihreMutternachdemAuszugihrerKinderantriebslosgewordenwarunddasssieHaushaltsführungundGartenpflegenichterfüllten. UndtrotzdemhingsieinihremAlltagfest, ohneetwaszuverändern. Felix, ihrEnkelkind, sorgtenurkurzfristigfürAblenkung.

ZudemließihreTatkraftvonMonatzuMonatmehrnach. SimpleEinkäufe, derHausputzunddasKochenwarenmittlerweiletagfüllendeAktivitäten, überdieausgiebiggeredetwurde. ManchmalmusstesichClaudiaregelrechtverkneifen, dasseinEinkaufbeimMetzgerinAmstettennichtmitderBesteigungdesK2gleichzusetzenwar. InsofernkonntesiedieWeigerungihrerSchwester, derMutterunterdieArmezugreifen, durchausnachvollziehen. Wowürdeeshinführen, wennsieihrdaswenige, dasdemTagnochStrukturgab, auchnochwegnahmen?

WasClaudiakaumnachvollziehenkonnte, wardasLeben, indasConnynachFelix’ Geburthineingerutschtwar. OrtsgebundenundaufdieUnterstützungdereigenenElterninSachenKinderbetreuungangewiesen, saßsienunineinemKaffinNiederösterreichfest.

FelixwardasErgebniseinerlangjährigenOn-Off-BeziehungmitConnysTennislehrer. DassFritzfüreinNullachtfünfzehn-Familienleben – Heirat, Haus, Kind, Hund – genausoweniggeschaffenwarwieConny, hattesichschonJahrevorFelix’ Zeugunggezeigt. WennernichtgeradeLeuteüberdenCourtscheuchte, warFritzimControllingeinerZulieferfirmafürVoestalpinebeschäftigt. DerBürojobundseineTennisstundenreichtenihm, umseinLebenalserfülltzubetrachten. FürConnywarimmernurnachtsZeitgewesen, wobeisichsämtlicheTreffensowiesoreinaufdieHorizontalebeschränkthatten. InzwischenhatteFritzsogardasInteresseandiesenStelldicheinsverloren. SeinerVaterrollekamersamstagszwischen9und11Uhrnach, wennermitFelixfrühstückteundConnyamAerobic-KursimGemeindesaalteilnahm.

FürMänner, dashattesichleiderschonsehrfrühgezeigt, hatteConnynieeinglücklichesHändchengehabt. FürGeschäftlichesdagegenschon. SiewarschlauundimGegensatzzuClaudia, dielieberdenbequemenWegging, äußerstehrgeizig. NacheinerBanklehrebelegtesieeinFernstudium, machteinnerhalbdesBankenverbundesKarriereundleiteteseitdreiJahreneineFilialeinAmstetten. Beruflichwarsiezufrieden, privatdagegenweniger.

GewöhnlichkamdieserPunktbeidenTreffenderbeidenSchwesternimmerzurSprache. Connywurdenichtmüde, vonFakeprofilenbeiTinder, missglücktenElitepartner-DatesundfrustrierendenParship-Bekanntschaftenzuerzählen. NachdeminihremUmfeldinzwischenalleverheiratetwaren, gingsieausschließlichonlineaufdieJagd.

ZumindestindieserHinsichthattensieetwasgemeinsam, dennauchClaudiasuchteinzwischenonlinenachinteressantenBekanntschaften. VergangendieZeit, indersievonPartysmitfünfTelefonnummernnachHausegegangenwar – nichtetwa, weilsielieberzuHausesaßwiediemeistenLesbenihresAlters, sondernweilsichaufdenwenigenFrauenpartys, dieüberhauptnochinWienstattfanden, nurnochdieAltersklasseihrerSchülerinnentummelte. Siehattezwarnichtprinzipielletwasdagegen, mitjungenFrauenabzufeiern, abermehrkonntesiesichmitLeuten, dienichtmindestensdreißigwaren, einfachnichtvorstellen. Schließlichwolltesiesichauchnochunterhalten – undzwarüberDinge, dieauchsieselbstinteressierten.

DiesmalaberverlorConnykeinWortüberirgendwelcheTreffenmitMännern, weshalbauchClaudiadaraufverzichtete, ihremFrustüberdieDürre, diederzeitaufdenDatingplattformenundsomitauchinihremLiebeslebenherrschte, freienLaufzulassen. DasssiebeideingewisserWeisebeziehungsunfähigwaren, hattensieschonoftgenuggemeinsamerörtert, undwarenstetsbeieinemzweiten, drittenundviertenGlasWeindaraufgekommen, dassdaranalleindiekrankeEheihrerElternschuldwar.

EinegeselligeFrau, diegernfeierte, undeinintrovertierterEigenbrötler, derinseineModelleisenbahnverliebtwar – wassolltedenndaschonherauskommenaußerzweiKindern, diekeinepassendenPartnerschaftenfindenkonnten!

FolglichlandetendieSchwesternbeiihremzweitenLieblingsthema.

»VonPapakriegeichwenigmit. ErkriechthauptsächlichamDachbodenherum – wieehundje. AberMamagehtmirsowasvonaufdieNerven! StändigplatztsiehierunterirgendeinemVorwandherein – mal, weilsieirgendeineHosevonFelixmitgewaschenhat, einanderesMal, weilerangeblicheinBuchbeiihrliegenlassenhat, dasserdochsicherbraucht …« ConnyverdrehtedieAugen. »Unddannkommtsieaucheinfachnur, umsichüberPapaoderdichzubeklagen!«

»Übermich?«

Daswarneu. ZumindestfürClaudia. GewöhnlichjammerteihreMutternurüberdieEigenbröteleiihresMannes – undnatürlichüberConny, dieFelixinihrenAugenantiautoritärerzogundihmvielzuoftFilmeamTabletansehenließ. Siewarfestdavonüberzeugt, dassdasihrsowiesosuspekteTabletdieUrsachefürFelix’ gelegentlichesSchielenwar – einständigesStreitthemazwischenMutterundTochter.

»Naja, sieverstehteinfachnicht, warumdunebendeinemJobnichtmehraufdieReihekriegst. AndereLehrerschaffendasdochauch, sagtsie.«

»Wiebitte?« Claudiaglaubte, sichverhörtzuhaben. SeitwannmaßteihreMuttersichUrteiledarüberan, wielangesieüberDeutschaufsätzenundEnglischaufgabensaß?

»Siewürdesichwünschen, dassduhäufigerbeiunsvorbeischaust«, erläuterteConnyzuckersüß, undClaudiadämmerte, dassihreSchwestersichprächtigamüsierte. »Ihristständiglangweilig, dasweißtdudoch. TrudikommtzuBesuch, undsietrifftsichoftmitirgendwelchenFreundinnenzumKaffee … abersieistwohleinfachnichtgenugbeschäftigt.«

»ImGegensatzzumir«, stellteClaudiaklar.

ConnyzucktemitdenSchultern.

»Sieredetständigdavon, dasssichdiemeistenLehrerinihrerFreizeitsozialengagieren … oderPflegekinderaufnehmen … oderzumindestimTierheimaushelfen. Sieglaubt, dassdunurnochinderWohnunghockstundaufeinEremitenlebenzusteuerst – so, wieesPapaführenwürde, wennerMamanichthätte!«

»Hä?«

WiekamihreMutterdenndarauf? Klar, siewarkeinePartymausmehrundihrFreundinnenkreishattesichspürbarausgedünnt, seitsichlesbischePaareunkomplizierteralsnochvoreinpaarJahrenihrenKinderwunscherfüllenkonnten. NachmittageinderKrabbelstubeundGeburtstagsfeste, dieum20Uhrendeten, weildanndieKinderinsBettgebrachtwerdenmussten, warennuneinmalnichtihrDing. AberindieFußstapfenihresVaterswürdesiegewissnichttreten – siewarschließlicheinganzandererTyp!

»Siewundertsicheinfach, wasdudenganzenTagmachst«, fuhrConnyunverdrossenfort. »DuhastjanichteinmaleigeneKinder, mitdenendudichbeschäftigenmusst, sagtsie.«

»Sagtsie«, wiederholteClaudiafassungslos. »Undwashastdudarauferwidert?«

KeinZweifel: Connyhattesichgewissfürsieeingesetzt – so, wieauchsieumgekehrtimmerfürihreSchwesterParteiergriff, wenndieMuttersichüberdieFischeaufregteoderfand, dassesbeiihrerÄltestenaussah, alshätteeineBombeeingeschlagen.

UmsoerschütternderwarnunConnysAntwort.

»Ichhabegesagt, dassichesauchkomischfinde. Ichmeine, ehrlich, Sis: WasmachstdudenganzenTag? DieSchuleistnormalerweiseumspätestens14Uhraus, abgesehenvonein, zweiStundenNachmittagsunterricht. IrgendeinHobbyhastdudochauchnicht. Istdirdennnielangweilig?«

»Äh … nein?!« ClaudiastarrteihreSchwestermitgroßenAugenan. »IchhabesatteachtzehnStundenLehrverpflichtungundbrauchemindestensgenausovieleStundenfürdieVor- und -nachbereitung. AndenDeutschaufsätzensitzeichewig, dumachstdirkeineVorstellungen, wasfüreineArbeitdasist! AußerdembinichKlassenvorstand. DasisteinbürokratischerAufwand, densichniemand –«

»Mamaaa! TanteClaudiaaa!« Felix’ StimmegelltedurchdenHausflur. »Essenistfertig! Omisagt, ihrsolltkommen!«

DieSchnitzelschmecktenwieimmervorzüglichundließenClaudiadieleidigenThemenkurzzeitigvergessen. Erst, alssiespäteramAbendnachWienzurückfuhr, flammtenConnysWortewiederinihrauf.

WarumzerbrachsichihreMutterplötzlichdenKopfdarüber, wiesieihrLebenführte?

Claudiabeschloss, ihrinZukunftnochwenigervonihremAlltagzuerzählenalsbisher. DerGratzwischenRatschlagundBevormundungwarohnehinschmal, undsiewarnochniegutdaringewesen, letzteregeduldigzuertragen. SiewarnichtwieConny, diesichzwargelegentlichdarüberaufregte, wennsichihreMutterzusehreinmischte, esletztendlichdannaberdochstoischertrug.

 

Der Flirt

Heute: DasLehrerkollegiumamJoseph-Schreyvogel-GymnasiumbekommtZuwachs. DergutaussehendeTom, unterrichtetEnglischundSport – undwirdmitseineroffenen, unkonventionellenArtschnellzumSchwarmsämtlicherSchülerinnen. DochauchVerasKolleginnenlässtderneueLehrernichtkalt. UnterihnenbeginnteinstillerWettkampfumseineAufmerksamkeit. DiebiedereGerlindeZweckenheimträgtplötzlichknappeRöckeundLateinprofessorinSonjaBergerwartetmiteinemneuenHaarschnittauf! WährendVeraselbstdasEngagementderKolleginnenoffiziellnochbelächelt, wundertsichihrMannbereitsüberungewohnteAccessoiresundVerhaltensweisenseinerFrau …

»Ms Kayyy … das war das deprimierendste Theaterstück, in das Sie uns je geschleppt haben«, beschwerte sich Chris, kaum dass sie das Englische Theater in der Josefgasse verlassen hatten. »In diesem Stück hatten alle nur Probleme!«

»SoistdasLeben.« Angela, langeZeitKlassenbesteundaltklugwieehundje, knufftedenFreundindieRippen, nocheheClaudiaetwaserwidernkonnte. »JederhatProbleme, Sunnyboy! Nurgebensieesebennichtzu. Nichtwahr, MsKay?«

»Bestimmt«, sagteClaudia. »AußerdemhabenichtichdasStückausgesucht, sondernIsa. Bedankdichbeiihr!«

»CatonaHotTinRoof – DieKatzeaufdemheißenBlechdach. Hey, Leute, dasistWeltliteratur!«, verteidigtesichIsa, eineschlaksigeZwanzigjährige. »FallenSiemirdochnichtindenRücken, MsKay!«

»Tuichgarnicht.« Claudialächelte. »IchfanddieBesetzunggroßartig! FürmichwareseinederbestenInszenierungen, dieichdavonjegesehenhabe.«

»Soschlechtfandichesauchnicht«, pflichteteihrderbebrilltePhilippbei, derimmernochsokleinundschmächtigwarwievoreinemJahr, alserdieMaturaredegehaltenhatte. »AlsichmirdenFilmmitElizabethTaylorundPaulNewmanvorabreinziehenwollte, binicheingepennt. Dashierwarschonbesser!«

Wieberuhigend. Claudiaschmunzelteinsichhinein. MitSchauspielern, diederGenerationihrerGroßelternangehörten, warenihreehemaligenSchülernichthinterdemOfenhervorzulocken. DaswusstesieausErfahrung.

InsTheaterbrachtesiesiejedochregelmäßig. SeitdievierihrReifezeugnisinderTaschehatten, trafensiesich, umenglischsprachigeTheaterstückeanzuschauenoderauchnur, umimSommeranderDonauzusammenzuessenundsichauszutauschen – wobeidieserAustauschrelativeinseitigwar. Chris, Angela, IsaundPhilippwarenschonzuSchulzeitenJugendlichegewesen, dieihrlagen. Jedervonihnenwareigen, ohnesichjedochbewusstvomMainstreamabgrenzenzuwollen, undsiewarenintelligent, weltoffenundinteressiert. DasssieauchaufsiegroßeStückehielten, warClaudiaerstaufgefallen, alssichdieWegenachderMaturaabschlussfeiereigentlichhättentrennenmüssen – so, wieesbisherbeijedemJahrgangderFallgewesenwar. DieLehrerinbliebanderSchule; diejungenErwachsenenzogenhinausindieweiteWelt.

ImGrundewardasauchhierderFall. ChrisundPhilippabsolviertenderzeitihrenZivildienst – ChrisimAltenheim, PhilippineinerWGfürBehinderte. AngelahattesichfüreinJus-Studiumentschieden, wobeisiespäterunbedingtindiePolitikgehenwollte, wiesieimmerbetonte. IsastudierteohnegroßenElanPublizistik, träumtejedochvoneinerAusbildungalsFotografin, dieihreElternallerdingsblockierten, weilsiedarinnureinebrotloseZeitverschwendungsahen.

Claudiawusste, wasdievierbeschäftigte, dennsieerzähltenesihrfreivonderSeeleweg. DasVertrauenderjungenLeuteschmeichelteihr. SiegenossdieTreffenmitdemKleeblatt, auchwennsiesichgeradebeidenerstenMalengefragthatte, obesklugwar, mitehemaligenSchülernauszugehen. DieAngst, dassdieFreundeimGegenzugauchDetailsausihremPrivatlebenhörenwollten, hattesieeineganzeWeilebegleitetundsieaufFragen, diesienichtbeantwortenwollte, unverfänglicheAntwortenzurechtlegenlassen.

DieFragenwarenbisherausgeblieben. SiewarnochimmerMsKay, eineenglischausgesprocheneAbkürzungihresNachnamens, diezuihremSpitznamengewordenwar. InderSchulenanntendieSchülersie »FrauProfessor«, wieesinÖsterreichamGymnasiumebenüblichwar. IhrSpitzname, deneineJahrgangsstufeandienächsteweiterreichte, wardenEhemaligenalsAnredevorbehalten. MsKay, dasklangnichtsospießigwieFrauKolig. GleichzeitigwurdesiedamitaberauchnichtzurDuzfreundin.

»GehenSienochwasmitunstrinken?«, fragteIsanun.

EswarDonnerstag, kurznach22Uhr. FürClaudiastandfreitagszwischen8und9.30UhreineDoppelstundeDeutschmitderMaturaklasseaufdemPlan. Siewolltedaherschonablehnen, dochalssieindievierhoffnungsvollenAugenpaareschaute, waresumihrenWiderstandgeschehen.

»Nagut, abernureinkleinerDrink«, willigtesieein – undfandsichzehnMinutenspäterineinemLokalwieder, indemaußerihrnurderKellnerseinendreißigstenGeburtstaghintersichgebrachthatte. DieMusikwarlaut, aberzumindestgut – eininteressanterMixausRockundSalsa. DasLokalwarrappelvoll. SieergatterteneinenEcktisch, dergeradefreigewordenwar.

DiebeidenBurschenundAngelaschnapptensichsofortdieStühle. ClaudianahmaufderschmalenBankPlatz. IsastandunschlüssigherumundhieltAusschaunacheinemweiterenfreienStuhl, denesallerdingsimMomentnichtgab.

ClaudiarutschteandieWand.

»Kommher. Wennwirunsbeidedünnmachen, hastduauchnochPlatz.«

BereitwilligrutschteIsazuihraufdieBank.

ClaudiabestellteeinkleinesBier, dieanderenTequila-Shots. DassesgleichetwasHartesseinmusste, warfürsieimmernochverstörend. NatürlichhatteauchsieindemAlterbeimAusgehengetrunken, abermeisthattederAbendmitLambruscooderBierangefangen. DiepromilleträchtigenGetränkewarenerstdanninsSpielgekommen, wenneinemderGrundpegelschondieVernunftvernebelthatte.

DieBurschenerzähltenSchwänkevomZivildienst. AngelawartetemitihremjuristischenFachwissenauf, aufdassieeindeutigsehrstolzwar, obwohlesüberGrundlegendesnochnichthinausging. ChriswarnachkurzerZeitsichtlichgenervt, undPhilippversuchtegeschickt, dieFreundinvonihremMonologisierenüberParagrafenabzubringen.

ClaudiaverfolgtedieSzenemiteinemgewissenAmüsement. AngelahatteschonimmergernimMittelpunktgestanden. EinMädchen, dastrotzgeringerKörpergrößeundüberzähligerKilo, diemitgutemWillennochalsBabyspeckdurchgingen, äußerstselbstbewusstauftrat. SiehattenichtnurinderClique, sondernauchindergesamtenKlassedenTonangeben, wasClaudiadasUnterrichtenimmerleichtgemachthatte. WennAngelafürRuheimKlassenzimmersorgte, brauchtesiedasnichtzutun. WennAngelaentschied, dassderProjekttagimTechnischenMuseumverbrachtwurdeundnichtinderHundertwasserausstellungoderimmumok, demMuseummodernerKunstStiftung, dannentfielenermüdendeDiskussionen.

BisherwarAngelasAutoritätnieinfragegestelltworden. WennsiedasWortergriff, verstummtenalle. DasssichdiebeidenFreundenundeutlichanmerkenließen, dassihnenAngelasBegeisterungfürParagrafenundErlässeaufdieNervenging, warneu.

Isanebenihrsagtekaumetwas. Daswiederumwarnichtneu. Wennandereredeten, hattesiesichschonimmerzurückgehalten. Claudiahattesichschonoftgefragt, wieeinsohübsches, intelligentesMädchensowenigSelbstbewusstseinhabenkonnte.

HeutejedochhattesiedenEindruck, dassirgendetwasdiejungeFraubedrückte. SiewirktegeistesabwesendundbeteiligtesichkaumamGespräch.

Angelahattenuneingesehen, dasssiemitihremneuerworbenenWissenniemandenglücklichmachte, undbestellteeineweitereRundeShots – diesmalaucheinenfürClaudia, diezunächstprotestierte.

»Dasistsicherpicksüß«, wehrtesieab. »IchbleibebeimBier.«

TatsächlichhattesieihrGlasganzbewussterstbiszurHälftegeleert. InGesellschaftihrerSchüler, auchwennesEx-Schülerwaren, hieltsiesichmitAlkoholkonsumzurück.

»Dasistnichtsüß«, widersprachAngelaundschobihrentschiedendenkleinenDrinkzu, dessendunklerRosatondasGegenteilverhieß. »Wodka-Beere. Schmecktechtsuper!«

»Haben Sie nicht gesagt, dass man alles mal probieren soll, ehe man sich eine Meinung bildet?«, stichelte Philipp. »Und dieses Haggis war wirklich übel! Aber wir haben es probiert. Für Sie!«

»Fürmich. Aha. Daswarwirklichsehraufopfernd.«

Claudiaschmunzelte, alssieandenAbendimschottischenGlasgowdachte. SeitüberzehnJahrenbestandeinePartnerschaftzwischenihremGymnasiumundeinerComprehensiveSchool, dieineinemderGlasgowerAußenbezirkeangesiedeltwar. GegenseitigeBesuchewarenfixerBestandteildesAustauschprogramms. InderRegelwarendieSchülerfünfzehnodersechzehn, wennsiedasersteMalimRahmeneinerProjektwocheindenNordenEnglandsflogen. SiewohntenbeiGastfamilienundwurdenvoneinerSehenswürdigkeitzurnächstenkutschiert, umLandundLeutekennenzulernenundihreSprachkenntnissezuverbessern, wieesimElternbriefhieß.

InClaudiasAugenwardiesderreinsteHohn. EineWochewarvielzukurz, umirgendetwaskennenzulernen, unddieKinderverbrachtenvielzuwenigZeitinihrenGastfamilien, umirgendetwasdazuzulernen. DenschottischenAkzentzuverstehen, warfürdieJugendlichensowiesoherausforderndgenug.

TrotzdemwarendieseAustauschwochensehrbeliebt, weildadurcheineWochePräsenzunterrichtinWieninsWasserfielundweildieTagedortzwaraufgrunddesdichtenProgrammsstressig, aberaucherlebnisreichwaren. ClaudiameldetesichbeinahejedesJahrfreiwilligalseinederbegleitendenLehrkräfte. IhreKollegen, besondersdieKolleginnen, rissensichnichtgeradedarum. DiemeistenhattenFamilie. AlleindieBetreuungdereigenenKinderzuorganisieren, warihnenzuvielAufwand.

MiteinerGruppevonSchülern – PhilippundAngelawarenunterihnen – warsievoreinpaarJahrenineintraditionellesschottischesGasthauseingekehrtundhatteihnenHaggisalslokaleSpezialitätschmackhaftgemacht, ohnevorherzuerklären, dassessichummitInnereiengefüllteSchafsmägenhandelte. DieGeschichtemachteinderSchuleimmernochunterderÜberschriftDiegemeineMsKaydieRunde.

»Also, jetzttrinkenSieschon!«, forderteAngelahartnäckig. »AusgleichendeGerechtigkeitfürdas, wasSiedamalsunsangetanhaben!«

ClaudiagrifflachendnachdemShotundkippteihnhinunter. Andersalserwartet, schmecktedasGetränkangenehmherb.

DieMusikwurdelauter. EinpaarJugendlichebegannenaufderTanzflächezutanzen. Sichzuunterhalten, wurdezunehmendschwieriger. Siemusstensichanschreien, umeinanderzuverstehen.

ClaudiasahaufdieUhr. EswarViertelnachelfunddamitnunwirklichanderZeit, sichaufdenHeimwegzumachen.

»Hey, MsKay … SiemüssendochnichtschoninsBett?«

Chrisgrinstesiefrechan.

»Ichmussmorgenfrühraus.«

»Dasmüssenwiralle. Aberwerweißschon, wanneswiedermiteinemTreffenzufünftklappt? – Youhavetocelebratethefestivalsastheycome!DashabenSieunsbeigebracht!« Erließnichtlocker. »SiemüssendochunbedingtnochaufIsasGeburtstaganstoßen!«

»Was? DuhastGeburtstag?« ClaudiasahdiejungeFraunebensichan. »Warumsagstdunichts, umHimmelswillen?«

»Morgen«, erwiderteIsa. »Also … ineinerDreiviertelstunde. Bitte, bleibenSiedochnochetwas, damitwirgemeinsamanstoßenkönnen!«

FahrnachHause, warnteeineStimmeinClaudiasKopf, währendeineanderekrähte: Spaßverderberin! Spießerin! Duwirstalt!

»Nagut.« Siegabsichgeschlagen, weildieStimmederVernunftkeineattraktivenArgumentefüreinenAufbruchhatte. DasAmbientewarnett, dieMusiklaut, abergut, dieGesellschaftangenehm.

DasLokalhattesichnochmehrgefüllt. AusdenLautsprechernerklangnunwiederSalsa. Paarefandensichzusammen. Claudiafielauf, dasseinigejungeSüdamerikanerunterdenTänzernwaren. VonihrerSitzpositionauskonntesiemitverfolgen, wieelegantsiesichmitihrenPartnerinnen, meistjungeblondeFrauenmitblassemTeint, überdieTanzflächebewegten.

»HabenSieschonmalSalsagetanzt, MsKay?«

Chrismussteschreien, damitsieihnverstehenkonnte. DieMusikhattenochmalsanLautstärkezugelegt.

»Dasistewigher.«

SeitdemTanzkursmiteinerihrerEx-FreundinnenwarenüberfünfJahrevergangen, undabgesehenvoneinemTanzabendamRegenbogenballhattesichfürsieniewiederdieGelegenheitgeboten, diemühsamerlerntenSchritteauszuprobieren.

»HöchsteZeit, dasaufzufrischen.« ChrissprangvomStuhlaufundstreckteihrselbstbewusstdieHandentgegen. »Darfichbitten, schöneFrau?«

Claudia, dieseineforscheAufforderungfüreinenScherzhielt, bliebsitzen.

»Hey, kommenSie, MsKay!« DieHandstrecktesichihrimmernochentgegen. »NureineinzigerTanz! IchversprecheIhnen, dassichSienichtunsittlichberührenwerde!«

»Quatschkopf!« Claudialachte, standaufundgabihmeinenspielerischenKlapsaufdenHinterkopf.

InWahrheitfragtesiesicheher, wasdieanderenGästeübersiedachten. WennsiemitChristanzte, sahensieeineFrauindunklenJeansundweinrotemLeinenblazer; dassinihrrotbraunesHaarsichschongraueSträhnchengeschlichenhattenundsieihreAugenringemitConcealerüberdeckenmusste, sahmanbeidemLichtkaum. Dasssiefastvierzigwar, sahmanallerdingstrotzdem. AufderanderenSeitewardadieserkeckejungeTänzer, athletischgebaut, miteinemTeint, derimmeraussah, alslägederletzteSommerurlaubersteineWochezurück, undeinembreitenLächelnimGesicht, beidemerstetsseineZähnezeigte, alswolleerderZahnpastawerbungKonkurrenzmachen.

DieLeutekonntenwohlnurschlussfolgern, dasssieeineArtSugar-Mamawar …

Chris, derwohlihreBefürchtungenerriet, ließnichtlocker. »Hey! SiekönntenalsmeinegroßeSchwesterdurchgehen!«

»NurmitvielFantasie.« TrotzdemließsichClaudiavonihmaufdieTanzflächeziehen. SchonnachdenerstenTaktenvergaßsieihreBedenken. DasLichtwarschummrig, außerdemschenktenihrwederTänzernochdieanderBarsitzendenGästegroßeBeachtung. SiewareneinesvonvielenPaarenaufderTanzfläche.

ChrisführtebesseralsjedeFrau, mitdersiedamalsbeimTanzkursgetanzthatte. SiehattezudemniedasGefühl, dassGrenzenüberschrittenwurden. EsmachteeinfachSpaß, weshalbaufdenerstenTanzeinzweiterfolgte. Erst, alsdieMusikwiederzurockigerenKlängenwechselte, brachensieab.

Angela, IsaundPhilipphattendenTischinzwischenanderenüberlassenundandieBargewechselt.

»IchhabeunsereSachenanderGarderobeabgegeben«, ließAngelasiewissenundstreckteihreinenShotentgegen. »Hieristesunterhaltsamer, oder?«

ObTischoderBar – Claudiawaresnuneinerlei. AneinGesprächwarbeiderLautstärkesowiesokaummehrzudenken. ErhitztkipptesiedenShotherunter, ohneweiternachzudenken, undlegteihrenBlazerab – ebenfalls, ohneweiternachzudenken.

Erst, alssieAngela »Wow!« sagenhörteundPhilippsgroßeAugenbemerkte, fielihrein, dasssiediesesdünneschwarzeOberteiltrug, dastransparentgenugwar, umihrenBHmehralsahnenzulassen. EinenkurzenMomentlangwarsieversucht, denBlazerwiederanzuziehen, dochlangewürdesieesbeidersteigendenRaumtemperaturnichtdarinaushalten.

Sieentschieddaher, dieReaktionenaufihrÄußereseinfachzuübergehen, undbestellteeineweitereRundefüralle. AllmählichkonntesiedenkleinenMixgetränkenwirklichetwasabgewinnen. ImGegensatzzueinemBierwarensieschnellgeleertundketteteneinennichtandenTisch.

»Wasist?« PlötzlichmunterundvollerEnergiewieschonlangenichtmehr, wiessiemitdemKopfaufdieTanzfläche. »Wolltihrnurherumstehenoderbewegtihreuchauchmal?«

»Oh, MsKayistaufdenGeschmackgekommen«, stellteChrisgrinsendfest, undAngelasagte: »Klar, let’sgo!«

DerDJ, derjetztdasSteuerübernahm, hattemitPaartänzennichtsmehramHut. RockigerLatin-PopfülltedenRaum, LeiberbogenundzucktenimRhythmusderMusik. ClaudiafühltesichinihreStudienzeitversetzt – nur, dassdieAtmosphärehiernichtsoentspanntwarwieaufdenFrauenfesten.

DasLichtwarwohlwirklichschlecht, denninnerhalbdernächstenhalbenStundewurdesiepromptvondreijungenMännernangetanzt. EinerdavonwolltesieaufeinenDrinkeinladen, wassiemiteinemsimplenKopfschüttelnablehnte.

UmkurznachMitternachtbestelltesieeineFlascheSekt. ZufünftstießensieaufIsasGeburtstagan. AngelaschossdabeieinSelfievonihnen, danngingeswiederabaufdieTanzfläche. AuchIsatanzte, undClaudiabemerkteeinmalmehr, wiewenigderjungenFrauihreReizebewusstzuseinschienen. Mitihrerschlanken, hochgewachsenenFigurunddenbiszumPoreichenden, vollenbraunenHaarenwarsieeinechterBlickfang. Dochimmer, wennsichihreinBurschenäherte, drücktesiesichwegundsahzuBoden.

GanzandersAngela, PhilippundChris. AngelatanztegeradeengmiteinemSüdamerikaner. PhilippquatschteanderBarmiteinerBlondine, diehöchstenssechzehnwar, undChrisflirtetemitderenFreundin. BeidekamenClaudiabekanntvor, dochesdauerteeinigeMinuten, ehesieinihnenzweiihrerSchülerinnenerkannte.

Verdammt, dasmusstejainsoeinemLokalpassieren!

Ummöglichstnichtentdecktzuwerden, schobsiesichtanzendindieMittederTanzfläche. Isafolgteihr.

Eswarinzwischensovoll, dassfürraumgreifendeBewegungenkaummehrPlatzblieb. Hinundwiedergegenjemandenzustoßen, warunvermeidbar. DaherschenkteClaudiaderflüchtigenBerührunganihremPoersteinmalkeineBeachtung. ErstalssiesichzumdrittenMalwiederholteunddieHandBruchteilevonSekundenlängeraufihremGesäßliegenblieb, fuhrsieherum.

SierechnetemiteinemderMännervoneben. DocheswarIsa, diedichthinterihrtanzte. AufihremschmalenGesichtlageinAusdruck, derClaudiairritierte. IhrschüchternesLächelnstandimWiderspruchzudemforschenBlitzenihrergrünenAugen.

»GehenwirandieBar? – IchhabevollDurst!«

Isa, einenKopfgrößeralssie, musstesichzuihrherunterbückenundihrinsOhrschreien, umsichverständlichzumachen.

»Ja … okay …«

Claudiafolgteihrnurzögerlich. Siefürchtete, anderBardenbeidenSchülerinnenindieArmezulaufen. DochihreSorgewarunbegründet. Diebeidenwarennichtmehrda. PhilippundChrisallerdingsauchnicht. IneinemderLounge-SofasrechtsvonderBarknutschteAngelamitdemSüdamerikaner.

»ZweiSoda, bitte!«, sagteClaudia, alssieendlichbiszumBarkeeperdurchgedrungenwar, undIsanebenihrergänzte: »UndzweiRed-Berry-Shots!«

»Diekannstdudiesmalaberalleintrinken.«

»Ach, MsKay, esistdochnurnocheinwinzigerAbschlussdrink!«

IsastreckteihrbeharrlichdaskleineGlasentgegen. Claudiawarnichtentgangen, dassIsasAusspracheschonleichtverwaschenklang. KeinWunder. IhremGefühlnachhatteihreehemaligeSchülerinmindestenszweioderdreidieserkleinenAlkoholbombenmehrimBlutalssieselbst.

»Ichkanndochjetztnichtzweitrinken«, klagtedasMädchenweiter. »Dabinichjaganzbetrunken!«

Dannstellesweg, lagesClaudiaaufderZunge, dochletztendlichnahmsiedasGlasdoch. SiewollteesgeradeandieLippensetzen, alsIsarief: »Stopp! Wirhabenwasvergessen!«

»Undzwar?«

»Das!« IsaschobihrenArmunterdenvonClaudiaundstießihrGlasan.

»Prost!«

ClaudiawolltedasGlasgeradeansetzen, alssieauchschonIsasLippenaufdenihrenfühlte. EswareinkleinerKuss, flüchtigundzart. IsasLippenschmecktennachBeerenunddenÜberrestenihresLippenstifts, undwäreClaudianichttrotzihresAlkoholpegelsnurallzubewusstgewesen, dasseseineehemaligeSchülerinwar, diesiehierküsste – einMädchenvontaufrischenzwanzig! –, sohättesienichtsliebergetan, alsdiesenKusszuvertiefen.

Siewarschonlangenichtmehrgeküsstworden, schongarnichtvoneinerFrau, dieaussahwieeinModel.

SoaberzuckteClaudiaentsetztzurück.

SiesetztegeradezueinerZurechtweisungan, alsIsaernstsagte: »Ichfinde, wirkönnendochjetztperDusein. WirsindjanichtmehrinderSchule, sondernquasiFreundinnen, oder? DarfichClaudiasagen, MsKay?«

Dawareswieder, diesesunsichere, schüchterneLächeln.

ClaudiasÄrgerverflogaugenblicklich. AuchwennsielieberbeimSiegebliebenwäre, sahsiedochein, dassesnacheinemAbendwiediesemnichtmehrpassendwar. SiehattenzusammengefeiertwieFreundeunddieSchulzeitwarendgültigabge­hakt.

»Vonmiraus«, stimmteClaudiadaherzu. »AberjetztmussichwirklichnachHause.«

»Ichauch.«

Sie unterbrachen Angela bei ihrer Knutscherei, um an die Gar­derobenmarken zu kommen.

Draußennieseltees. EinkalterHerbstwindpfiffdurchdieGassen, alssiegemeinsamzurnächstenU-Bahn-Stationgingen. Dasbrachtesienichtweit: LautAnzeigetafelwürdedernächsteZugerstumhalbfünfUhrfrühkommen – daswarinzweiStunden. DaClaudiaim9. Bezirk, Isaimbenachbarten18. Bezirkwohnte, beschlossensie, sicheinTaxizuteilen.

ClaudiamerktebereitsaufderkurzenFahrt, dassesohnehinkeineguteIdeegewesenwäre, dieÖffiszunehmen. DievielenShotsentfaltetenihreWirkung. DieLichterderentgegenkommendenAutosstachensienahezuindieAugenundihrKopffühltesichan, alssteckeerineinerNebelwand.

Isaschienesbesserzugehen, dennsieredetemehralsdenganzenAbendzuvor. EsgingumirgendwelcheGefühle, dieIsaverwirrten, umSinnfragen, diesiesichstellte, undumUnterwäsche. DieWortedrangenallerdingsnurschwachbiszuClaudiadurch, dennsiewardamitbeschäftigt, sichnichtzuübergeben.

Heilfroh, ansichgehaltenzuhaben, zahltesieihrenTeilderTaxifahrt, kaumdassderFahrervordemweißgestrichenenAltbaugestoppthatte.

»Hierwohnstdualso?«, hörtesieIsasagen, undpresstemühsamhervor: »Ja. DritterStock. – GuteNacht!«

Dann sprang sie aus dem Auto. Der Taxler gab Gas und braus­te mit Isa stadtauswärts davon.

ClaudiasMagenwarnichtlängerbereit, sichinDisziplinzuüben. SieerbrachsichaufdemBürgersteigdirektvorihrerTürundwarerleichtert, ineinerGassezuwohnen, inderumdieseZeitseltenjemandvorbeikam.

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FrühesAufstehennacheinerkurzenNachtzähltenochniezuClaudiasStärken. FrühesAufstehennacheinerkurzenNachtmitzuvielenPromilleerwiessichjedochalsfastunmöglich.

SieschlepptesichinsBadundspülteeineTabletteAspirinmitLeitungswasserhinunter. AusdemSpiegelüberdemWaschbeckenschauteeineFrausiean, dieihrfremdvorkam. WerwardieseblassePersonmitdendunklenMascaraspurenunterdenAugen, derenHaarmattundplattüberdieSchulternfiel?

TapferversuchteClaudiasichmiteinemstarkenKaffeeundeinerweiterenSchmerztablettefitfürdenTagzumachen, dochalssieumViertelnachsiebenwiederüberderToilettenschüsselhing, anstattanderStraßenbahnhaltestellezustehen, gabsieaufundschriebderSchulsekretärineinSMS. EineMagen-Darm-­ErkrankungwarimmereinglaubwürdigerGrund, umsichspontanzuentschuldigen, undkamderWahrheitingewisserWeisesogarnahe.

Eine