9,99 €
Mit Frauenpower auf Mörderjagd: heitere Spannung mit einer Prise Kulinarik. Bergsport, Thermalbäder und Entspannung – das ist es, was die Gäste des Grand Hotels in Bad Gastein suchen. Doch als kurz vor der Sommersaison ein brutaler Mord geschieht, ist es mit der Idylle im Tal vorbei. Von einem Tag auf den anderen gerät das beschauliche Leben von Hotelbesitzerin Valerie Thaller komplett aus den Fugen. Als klar wird, dass die Zukunft ihrer Familie auf dem Spiel steht, macht sie sich gemeinsam mit ihrer Freundin Nora auf die gefährliche Suche nach dem Täter.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Ulrike Moshammer wurde 1975 in Vöcklabruck geboren, wo sie auch heute noch mit ihrer Familie lebt. Eine zweite Heimat hat sie in dem kleinen Kurort Bad Gastein gefunden, der sie mit seinem morbiden Charme und seiner mondänen Geschichte schon lange fasziniert. Sie hat in Salzburg Germanistik studiert, schreibt für ein Schülermagazin und arbeitet als freie Lektorin für Verlage und Selfpublisher. »Leichenschmaus mit Kaiserschmarrn« ist ihr Debütroman.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Westend61/Dirk Kittelberger
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-051-8
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie
regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter
www.emons-verlag.de
Beherzt ist nicht, wer keine Angst kennt,beherzt ist, wer die Angst kennt und sie überwindet.
Khalil Gibran
»Chefin, Chefin, die Hehenberg kommt.«
Mit geröteten Wangen und zittrigen Händen stand die junge Rezeptionistin in der Tür zum Büro. Valerie Thaller tat sie leid. Carla hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass im »Grand Hotel« prominente Gäste dazugehörten. Das war auch früher so gewesen. Sogar Kaiser Franz Joseph hatte hier seinerzeit gewohnt. Die Ruhe des Tals und die Heilkraft des Thermalwassers, das in Bad Gastein an unzähligen Stellen aus dem Berg sprudelte, hatten seit jeher Erholungsuchende aus aller Herren Länder angezogen, darunter auch viele Berühmtheiten. Bei ihnen im Hotel konnten sich Promis, wie man sie heutzutage nannte, sicher sein, dass sie nicht anders als die übrigen Gäste behandelt wurden. Diese Natürlichkeit schätzten viele von ihnen und kamen darum gern wieder. Das Credo des Hauses lautete, dass jeder, der die Schwelle übertrat, egal, ob reich oder arm, ob Gast oder Angestellter, den gleichen Respekt und vor allem die gleiche Freundlichkeit verdiente. Ein Autor mittleren Alters, der regelmäßig die Bestsellerlisten stürmte und jährlich mehrere Wochen im Hotel verbrachte, um in Ruhe schreiben zu können, hatte es einmal so ausgedrückt: »Ich kam als Fremder und ging als Freund.«
Valerie schmunzelte innerlich – das war wahrlich kein neuer Spruch, den er damals mit stolzgeschwellter Brust von sich gegeben hatte, aber er drückte das aus, was zur Philosophie des Hauses auserkoren worden war.
Auch Lieselotte Hehenberg war keine Unbekannte. Sie war schon des Öfteren im Herbst zu Besuch gewesen, meist mit Freundinnen, die wie sie ein paar Tage Entspannung suchten. Die Kombination aus Yoga, Meditation, leichtem Essen und Thermalwasser, die um diese Jahreszeit stets einen Schwerpunkt im gesamten Tal bildete, tat vielen gut. Im Frühsommer war Lieselotte Hehenberg hingegen noch nie gekommen. Laut Buchung wollte sie mindestens vier Wochen bleiben. Das war schön, aber ungewöhnlich für sie. Und Valerie vermutete, dass unter Umständen mehr dahinterstecken könnte.
Nachdem sie vorsichtig ihre Hündin Nelly beiseitegeschoben hatte, die im Büro mit Vorliebe auf ihren Füßen lag, stand sie auf und ging nach vorn an die Rezeption. Stammgäste wollte sie unbedingt selbst in Empfang nehmen.
Ihre Befürchtung bestätigte sich. Lieselotte Hehenberg, die eben an den Tresen trat, sah angeschlagen aus. Sie machte den Eindruck, als hätte sie Ruhe dringend nötig, wirkte gehetzt und nervös. Die Entscheidung, eine längere Auszeit in den Bergen zu nehmen, war Valeries Meinung nach goldrichtig gewesen, denn für Entspannung konnten sie hier im Hotel bestimmt sorgen.
Valerie beobachtete, wie Lieselotte Hehenberg Nelly gedankenverloren über den Kopf streichelte, die wie üblich jeden Neuankömmling in Augenschein nehmen musste. Da sie so freundlich war, hielt Valerie sie nur zurück, wenn sie merkte, dass jemand ein Problem damit hatte. Lieselotte Hehenberg jedoch mochte die kleine Mischlingshündin, das hatte man schon bei ihrem letzten Besuch, als Nelly noch ein Welpe gewesen war, sehen können. Trotz ihrer adeligen Herkunft war sie eine geerdete Person, umgänglich und in keiner Weise überheblich.
Lieselotte Hehenberg – das »von« in der Mitte des Namens schwang unterschwellig mit, obwohl dieser Zusatz in Österreich schon lange nicht mehr erlaubt war – stammte aus einer der reichsten Familien Österreichs. Einer ihrer Vorfahren hatte seine großen Ländereien für den Bau von Möbeln aus dem Holz der eigenen Wälder genutzt. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich daraus die größte Möbelhauskette des Landes entwickelt. Lieselotte Hehenberg war zwar Eigentümerin des Unternehmens, hatte aber einen Geschäftsführer, dem sie die Leitung übertragen hatte. Sie selbst widmete sich lieber der Innenarchitektur, soweit es ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen zuließen. Seit ungefähr einem Jahr hatte sie sogar eine eigene TV-Sendung, in der sie wöchentlich Tipps gab, wie man auch mit kleinem Budget eine Wohnung oder ein Haus schön einrichten konnte. Was man so hörte, hatte die Sendung hohe Einschaltquoten, und Valerie war sich sicher, dass es an der freundlichen Ausstrahlung Hehenbergs lag. Sie mochte die Frau, die ihr von Beginn an sympathisch gewesen war.
Kurz entschlossen bat sie Carla darum, mit Emilia Lechner, der Assistentin, die das Zimmer neben der kleinen Suite ihrer Chefin beziehen sollte, die Formalitäten zu erledigen, und führte Lieselotte Hehenberg in den neu umgebauten Teil der Lobby. Als Innenarchitektin hatte diese sie bei ihrem letzten Besuch dazu inspiriert und ihnen wertvolle Tipps gegeben. Nun gab es optisch abgetrennt eine gemütliche Lounge mit einer großen Fensterfront, von wo aus man einen grandiosen Blick auf den Wasserfall hatte, der mitten durch den Ort toste.
Lieselotte Hehenberg zeigte sich beeindruckt davon, wie stilvoll und einladend der neue Bereich geworden war. Am Fenster blieb sie stehen und strich mit der Hand über das Nussholz einer Kommode. Ihr Blick wanderte nach draußen und verharrte dort. Valerie hatte den Eindruck, dass Lieselotte Hehenberg in Gedanken plötzlich woanders war, und bemerkte, dass sie beinahe den Samowar umgestoßen hätte, der auf der Kommode stand und dazu einlud, sich eine wohltuende Auszeit mit einer Tasse Tee zu gönnen. Erst das Geräusch des kippenden Gefäßes holte ihren Gast gedanklich zurück. Im letzten Moment fing Lieselotte Hehenberg den Wasserbehälter auf und stellte ihn unter entschuldigendem Gemurmel wieder hin.
Kurz darauf kam Emilia Lechner mit den Zimmerkarten zu ihnen, woraufhin sich Lieselotte Hehenberg rasch verabschiedete und sich gemeinsam mit ihr zurückzog. Valerie blieb noch am Fenster stehen und blickte gedankenverloren auf das rauschende Wasser hinab. Sie hatte von Kindesbeinen an ein Gespür dafür gehabt, wenn es anderen Leuten schlecht ging. Bei Lieselotte Hehenberg war das deutlich sichtbar. Sie hatte ein ungutes Gefühl und nahm sich vor, in den nächsten Tagen besonders darauf zu achten, ob sie etwas für sie tun konnte.
»Weißt du, auf mich hat sie gar nicht richtig anwesend gewirkt.« Valerie stocherte in ihrem Essen herum. Eben hatte sie ihrem Mann Viktor von Lieselotte Hehenberg berichtet. Wie so oft in letzter Zeit saßen sie nur zu zweit am Tisch. Ihre Zwillinge Lea und Jakob kamen ausschließlich an den Wochenenden und in den Ferien nach Hause, seit sie letzten Herbst zum Studieren nach Innsbruck und Salzburg gegangen waren. Und Andi, ihr Jüngster, trieb sich gern in der Hotelküche herum. Er hatte mit seinen elf Jahren früh die Liebe zum Kochen entdeckt. Anton, der Chefkoch des Hauses, enger Freund der Familie und Taufpate von Andi, ließ den Jungen oft mitarbeiten. Zwischendurch durfte er allerlei kosten, wonach er meistens, wenn Valerie und Viktor aßen, keinen Hunger mehr hatte und lieber noch beim Herrichten des Abendbuffets im Restaurant unten mithalf. Manchmal passte das gut, weil sie mit ihrem Mann in Ruhe reden konnte, wenn sie ein Thema gedanklich beschäftigte. So wie das eigenartige Verhalten Lieselotte Hehenbergs, das sie nicht losließ.
»Und später hat sie unten in der Rezeption angerufen und mir ausrichten lassen, dass ich bitte im Laufe des Nachmittags auf einen Sprung bei ihr vorbeikommen soll. Sie wollte unbedingt mit mir reden.«
»Und was war los?« Viktor sah von seinem Teller auf.
Es hatte sich schon oft herausgestellt, dass Valerie mit ihrem Gespür für andere Leute richtiglag. Das wussten sie beide.
»Sie hat total nervös gewirkt, als sie mir aufgemacht hat, und hat vorsichtig nach links und rechts den Gang entlanggeschaut. Das ist mir auch schon in der Lobby aufgefallen. Kaum war die Tür hinter mir zu, war sie wieder entspannter. Sie hat mich darum gebeten, auf keinen Fall gestört zu werden. Falls jemand an der Rezeption nach ihr fragt, sollen wir ihn abwimmeln. Der Einzige, den wir hinauflassen dürfen, ist ihr Mann. Er wird tageweise vorbeikommen, weil sie länger bleibt, er aber den Großteil der Zeit arbeiten muss.«
Viktor nahm sich ein Stück Brot und blickte ihr in die Augen. »Aber das ist doch nichts Neues für uns, gell? Es war schon häufig ein berühmter Gast da, der nicht gestört werden wollte. Manche verschanzen sich tagelang in ihrem Zimmer, weil sie unbedingt für sich sein möchten. Erinnere dich doch nur an den deutschen Politiker letztes Jahr.«
»Ja, natürlich. Aber bei Lieselotte Hehenberg ist es anders. Und vor allem kennen wir sie schon lange. Sie verhält sich so, als würde sie vor jemandem davonlaufen. Ich glaube, sie hat Angst, massive Angst. Ich hab ein ungutes Gefühl. Soll ich meinen Ausflug mit Nora morgen absagen und lieber hierbleiben?«
Viktor schüttelte den Kopf. »Ach was, Valerie. Du machst dir zu viele Gedanken. Der Ausflug nach Zell am See mit Nora wird dir guttun. Ihr macht das doch zu jedem eurer Geburtstage. Ein Freundinnentag ist perfekt. Da kommst du auf andere Gedanken. Und schließlich bin ich doch da. Was soll denn schon passieren? Die Hehenberg braucht sicher nur Ruhe.«
Grübelnd räumte Valerie den Tisch ab. Wahrscheinlich stimmte, was Viktor sagte. Was sollte schon passieren? Und auf den Ausflug mit Nora freute sie sich schon tagelang. Nach einem gemütlichen Einkaufsbummel würden sie essen gehen und dann wie üblich dem Casino einen Besuch abstatten. Sie waren beide keine typischen Spielerinnen. Sie setzten nur den Betrag, den sie beim Eintritt als Begrüßungsjetons bekamen, und dann war Schluss. Aber die Atmosphäre im Casino mochten sie. Außerdem saßen sie gern an der Bar und machten »soziale Studien«, wie sie es schönredend nannten. Das Casino war ein Ort, an dem man wunderbar Leute beobachten konnte. Das Publikum war international, und die Emotionen waren oft aufgeladen, je nachdem, wie ernst die Gäste das Spiel nahmen und wie viel sie gewannen oder verloren. Sie würde den Ausflug genießen und ihre Sorgen zu Hause lassen. Bestimmt lag Viktor mit seiner Einschätzung richtig, und sie sah Gespenster. Lieselotte Hehenberg war vermutlich überarbeitet und suchte Abstand zu ihrem stressigen Alltag zu Hause. Burn-out war schließlich heutzutage nichts Ungewöhnliches. Außerdem hatte sie ihre Assistentin dabei, was noch nie der Fall gewesen war. Die würde sich schon um sie kümmern, wenn sie Unterstützung brauchte.
In Gedanken beim nächsten Tag, machte sie sich auf den Weg zu ihrer üblichen Hotelrunde, die es ihr ermöglichte, mit den Gästen ein wenig zu plaudern und nach dem Rechten zu sehen. Im Zuge dessen konnte sie außerdem Andi suchen, für den es bald Zeit war, ins Bett zu gehen.
»Ach, ist das herrlich.« Nora, ihre beste Freundin, strahlte mit der Sonne um die Wette.
Dass es so ein schöner und vor allem warmer Junitag werden würde, damit hatten sie nicht gerechnet. Der Wetterbericht hatte sich wieder einmal gründlich getäuscht. Kein Wölkchen war am Himmel zu sehen.
Nun saßen sie mitten im Ortszentrum von Zell am See und genossen ihre Auszeit vom Alltag. Valerie hatte Nora nach dem Unterricht von der Volksschule abgeholt, wo sie schon viele Jahre unterrichtete. Für sie begann nun ein verlängertes Wochenende, was bedeutete, dass sie in den nächsten Tagen genügend Zeit hatte, um bei Valerie im Hotel vorbeizuschauen. Ein bisschen Wellness konnte nie schaden. Da die Sommersaison noch nicht begonnen hatte, konnte Valerie sich ihre Arbeit so einteilen, dass sie gemeinsam in die Dampfsauna gehen oder bei einer Yogaeinheit mitmachen würden, wie es eben passte. Das war zu den Feiertagen im Mai und Juni schon Tradition. Vorerst war aber ihr Freundinnentag angesagt. Mit ein paar Snacks aus der Hotelküche, die Valerie extra mitgenommen hatte, hatten sie sich auf den Weg gemacht.
Ihr Programm sah stets gleich aus. Zuerst ein langer Spaziergang, dann ein Caffè Latte im Zentrum, ein ausführlicher Einkaufsbummel, ein stilvolles Abendessen und im Anschluss daran ein kurzer Abstecher ins Casino. Mit Abstand das Lustigste an diesen Ausflügen war das Umziehen vor dem Restaurantbesuch. Schließlich war es ihnen wichtig, sowohl dort als auch im Casino passend gekleidet zu sein. Da sie nicht über Nacht blieben und kein Zimmer zur Verfügung hatten, war das durchaus eine Herausforderung. Hier war Einfallsreichtum gefragt. Von engen Kaffeehaustoiletten über akrobatische Umziehübungen im Auto bis hin zu einer Fahrt in den Wald vor ein paar Monaten, wo sie sich ungesehen etwas Schickes anziehen wollten, war schon allerhand vorgekommen. Da sie damals prompt von einem Spaziergänger überrascht worden waren, brauchten sie eindeutig eine bessere Lösung.
»Sag mal, wo ziehen wir uns denn heute um?« Nora grinste, lehnte sich zurück und schob ihren Caffè Latte von sich.
Valerie musste nicht lange überlegen. »Ich hab gestern schon darüber nachgedacht. Für enge Toiletten fühle ich mich mittlerweile wirklich zu alt. Aber wir könnten runter an den See fahren und uns einen kleinen Badeplatz mit Umkleidekabinen suchen.«
Nora griff sich mit der Hand an die Stirn. »Geniale Idee. Warum sind wir da nicht schon früher draufgekommen? Das ist doch logisch an einem Badesee. So machen wir es, aber erst gehen wir bummeln. Ich brauch unbedingt neue Schuhe.«
Als sie später in Ortsnähe einen passenden Badeplatz gefunden hatten, war es schon spät. Allein die vollen Mülleimer erinnerten an die Badegäste, die das schöne Wetter zur Abkühlung genutzt hatten, obwohl der See noch ziemlich kalt war.
Nora stupste Valerie an. »Du, schau, dort drüben. Wir müssen leise sein. Da steht ein Pärchen am Steg. Die sollen nicht unbedingt mitbekommen, dass wir uns hier umziehen.«
Valerie kicherte und blickte in Richtung See. »Na, die sind aber noch ziemlich frisch verliebt, so wie die sich küssen. Eigentlich schauen sie gar nicht mehr so jung aus, zumindest er.«
Nora sah ihr über die Schulter. »Ich wette, dass er verheiratet ist und sich eine Jüngere angelacht hat. Der hat mit Sicherheit eine Menge Geld, so wie er angezogen ist. Darauf stehen doch viele Frauen, und dann ist es ihnen auch egal, ob er Familie hat oder nicht.«
Valerie hatte sich an solche Aussagen ihrer Freundin gewöhnt. Die romantische Ader, die Nora als junges Mädchen gehabt hatte, war im Laufe ihrer Ehe verloren gegangen. Nach dem, was damals vorgefallen war, konnte sie sie sogar verstehen. Schließlich hatte Wolfgang sie betrogen – und nicht nur einmal, wie sich im Nachhinein herausgestellt hatte.
Leise, damit sie nicht gehört wurden, verschwand jede von ihnen in einer Kabine. Getrennt waren sie nur durch eine dünne Bretterwand, die von den Waden bis über den Kopf reichte. Begleitet von Gekicher und Scherzen zogen sie sich um. Gegen Abend hatte es deutlich abgekühlt, weshalb Valerie Gänsehaut bekam, als sie auf einem Bein balancierend in ihre Strümpfe schlüpfte. Obwohl bald schon die Sommerferien begannen und somit die wärmste Zeit im Jahr anbrach, musste man sogar an den schönsten Tagen in den Bergen mit kühlen Nachttemperaturen rechnen. Dieser Gedanke ließ sie gleich noch stärker frösteln.
Fertig umgezogen traten sie ins Freie, sahen sich vorsichtig um und bemerkten, dass das Pärchen verschwunden war. Gut gelaunt machten sie sich auf den Weg in ihr Lieblingsrestaurant.
Nach einem Abendessen, bei dem sie nicht auf die Kalorien achteten, sondern sich auch noch mit einer Nachspeise verwöhnen ließen, schlenderten sie hinüber zum Casino. Mit den Begrüßungsjetons traten sie an den Roulettetisch und überlegten, wo sie setzen sollten. Manchmal hatten sie Glück und fuhren mit einem kleinen Gewinn nach Hause, aber meistens waren nach ein paar Runden die Jetons verspielt, und sie genossen entspannt die Atmosphäre in den stilvollen Räumlichkeiten, bevor sie sich auf den Heimweg machten.
Als Valerie zusah, wie der Croupier die Kugel ins Rollen brachte, stieß Nora sie unsanft in die Rippen. »Du, schau mal. Ist das nicht der Typ vom Steg?«
Damit hatte sie recht. Sie hatten ihn zwar nur von der Seite gesehen, aber auch Valerie war überzeugt davon, dass es derselbe Mann war. Seine Begleiterin konnte sie nirgends erspähen. Zielstrebig ging er zu einem der anderen Roulettetische. Die Anzahl an Jetons, die er vor sich hinlegte, war beachtlich. Sie hatten wohl richtig vermutet, als sie über seinen finanziellen Hintergrund spekuliert hatten.
Valerie drehte sich wieder um und stellte fest, dass auch ihr letzter Begrüßungsjeton vom Tisch gezogen worden war. Das war’s dann. Sie würden sich noch ein oder zwei alkoholfreie Cocktails holen, von der Bar aus ihre »sozialen Studien« betreiben und gemütlich nach Hause fahren.
Froh, sich endlich setzen zu können, suchten sie sich zwei freie Hocker. Obwohl viel los war, hatten sie Glück. An ihren Drinks nippend, ließen sie den Blick schweifen und überlegten sich mögliche Lebensgeschichten für einzelne Gäste, die interessant aussahen. Das war ein Hobby von ihnen. Sie hatten die skurrilsten Ideen und mussten oft auf dem Heimweg noch darüber lachen.
Eben dachten sie sich eine Geschichte zu einem älteren Pärchen aus, das an einem der Spielautomaten stand, da hörten sie lautes Gezeter von einem der hinteren Roulettetische. Ein Gast beschimpfte wüst den Croupier und war dabei ziemlich ausfallend. Im restlichen Casino wurde es ruhig, und etliche Gäste schlenderten nach hinten, neugierig, was dort vor sich ging.
Da die gelöste Stimmung weg war und Nora und Valerie nicht vorgehabt hatten, lange zu bleiben, nahmen sie ihre Handtaschen und machten sich auf den Weg zur Garderobe. Im Vorbeigehen sahen sie, dass es der Mann vom Steg war, der so einen Aufruhr verursachte. Der große Haufen an Jetons war verschwunden, auf seiner Stirn war Schweiß zu sehen, sein Gesicht war gerötet, und die Haare standen in alle Richtungen. So wie es aussah, hatte er seinen gesamten Spieleinsatz verloren.
Valerie hatte solche Szenen schon des Öfteren erlebt. Vermutlich war er ein Spieler, ein Getriebener, der nicht aufhören konnte, bis er all sein Geld verzockt hatte. Es war traurig, wenn sich jemand nicht im Griff hatte. Aber nicht umsonst wurde Spielsucht als Krankheit eingestuft.
Erschüttert von dem Anblick machten sie sich auf den Nachhauseweg. Es war ein schöner Freundinnentag gewesen, auch wenn der Vorfall im Casino zum Schluss die gute Laune etwas getrübt hatte. Insgesamt waren sie aber zufrieden. Diese kleine Auszeit vom Alltag, die sie sich ab und zu gönnten, war eben Gold wert.
Der nächste Morgen verlief turbulent. Aufgrund des Feiertags waren für diese Jahreszeit unüblich viele Leute angereist, die die freien Tage über Fronleichnam für kleine Wanderungen nutzen wollten. Viele holten sich Tipps für ihre Bergtouren oder sonstigen Ausflüge. Erst am späten Nachmittag war eine der Rezeptionistinnen zum Dienst eingetragen. Valerie und Viktor machten das bewusst so. Wenn sie selbst am Empfang waren, bot ihnen das eine gute Möglichkeit, mit den Gästen ins Gespräch zu kommen. Der persönliche Kontakt war ihnen wichtig. Wenn sich die Leute wohlfühlten, kehrten sie auch gern wieder. Das Hotel lebte von seinen Stammgästen, und Valerie liebte es, mit ihnen zu plaudern und zu sehen, wie sie ihre Urlaubstage damit verbrachten, sich zu erholen, sich sportlich herauszufordern oder die Region und ihre Menschen kennenzulernen.
Außerdem waren am Abend zuvor Lea und Jakob nach Hause gekommen. Sie hatten es geschafft, sich ihre Verpflichtungen so einzuteilen, dass sie zehn Tage am Stück in Bad Gastein bleiben konnten. Die meisten Lehrveranstaltungen waren im Juni zu Ende oder konnten online absolviert werden. In den kommenden Wochen ging es ums Lernen für die letzten Prüfungen dieses Studienjahres – und das konnten sie gut im Hotel erledigen.
Doch zuerst schlossen sie sich gemeinsam mit Andi dem Trubel vor der Haustür an. Das katholische Fronleichnamsfest wurde im Tal jedes Jahr groß gefeiert. Verschiedene Vereine und die Feuerwehr nahmen an der Prozession teil, die von der Kirche bis zum Merangarten ging. Vier Außenaltäre wurden dafür aufgebaut, zu denen feierlich die Monstranz aus der Kirche getragen wurde und an denen die Anwesenden gemeinsam die dafür typischen Gebete sprachen. Die Musikkapelle begleitete den Zug. Den meisten Einheimischen ging es mehr um das Brauchtum und das Zusammenkommen als um die religiösen Gründe, die dahintersteckten. Sie hatten eine schöne Gelegenheit, ihre Tracht aus dem Schrank zu holen und Leute zu treffen, die sie schon länger nicht mehr gesehen hatten.
Auch für die Gäste im Ort war der Zug ein Highlight, da traditionelle Festtage stets einen guten Einblick in die Bräuche einer Region boten. Valerie und Viktor beantworteten viele neugierige Fragen dazu. Schließlich wurde einer der Außenaltäre unmittelbar vor dem Hotel aufgebaut. Da die Gebete des Pfarrers nicht für alle gleich interessant waren, schauten verschiedene Bekannte auf einen Plausch herein und schlossen sich dann dem Zug wieder an, wenn es zum nächsten Altar weiterging. Dieser kurze Abstecher musste natürlich möglichst unauffällig sein, denn niemand wollte den allseits beliebten Geistlichen in seiner Ehre kränken.
Gegen Mittag, als die Prozession vorbei war und es an der Rezeption wieder ruhiger wurde, ging Valerie hinauf ins Appartement, band sich die Schürze um und stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd. Sie freute sich auf ein gemeinsames Essen mit den Kindern, obwohl sie nicht viel Zeit hatte, da sie danach Viktor unten ablösen musste, damit auch er eine kurze Pause einlegen konnte.
Kaum hatte sie die Pasta auf den Tisch gestellt, stürmte Andi herein.
»Bin ich schon zu spät, Mama? Papa hat mich noch zu Frau Hehenberg geschickt. Ihr Mann ist angekommen.«
Valerie schaltete den Herd aus und sah zu ihrem Sohn. »Das ist schön. Da hat sie sich bestimmt gefreut. Hoffentlich heitert sie das auf. Sie wirkt nämlich ein bisschen traurig diese Woche. Hast du ihm gezeigt, wo ihre Suite ist?«
Andi winkte lässig mit der Hand ab. »Na klar, Mama. Ich hab ihn mit dem Lift hinaufgebracht. Der war voll nett. Er hat mir sogar ein saftiges Trinkgeld gegeben. Leider kann er nur ein paar Stunden bleiben und muss dann nach Innsbruck zum Flughafen. Wegen dringender Geschäfte, hat er gesagt.«
Das war typisch für Andi. Mit seiner aufgeschlossenen Art wickelte er alle um den kleinen Finger. Sein Sparschwein füllte sich im Laufe der Saison beachtlich. Schmunzelnd betrachtete Valerie ihn. Seine Begeisterung fürs Hotel war großartig. Dafür hatte er wenig Freude mit der Schule. Das konnte in Zukunft noch spannend werden. Dass er wie seine Geschwister einmal studieren würde, bezweifelte sie stark, aber er würde seinen Weg trotzdem machen, da war sie sich sicher.
Mit Lea, Jakob und Andi beim Essen zu sitzen und sich entspannt die neuesten Studentengeschichten anzuhören, freute sie mindestens so sehr wie die Tatsache, dass ihre Großen einige Tage hierbleiben würden. Ihnen gegenüber durfte sie das natürlich nicht laut sagen, weil es total uncool gewesen wäre, aber sie fehlten ihr an manchen Tagen schrecklich.
Gut, dass am Abend der Familienstammtisch stattfand, den sie mindestens einmal im Monat im Gasthaus »Försterhütterl« einplanten. Es waren nicht nur die fünf Thallers anwesend, sondern auch Nora mit ihrem Sohn Felix und Anton. Obwohl sie nicht blutsverwandt waren, fühlte es sich für Valerie so an, als würden die drei zur Familie gehören. Nora kannte sie schon seit dem Kindergarten, und Felix war so alt wie die Zwillinge und von klein auf unzertrennlich mit ihnen unterwegs. Anton hingegen war Viktors bester Freund aus Zeiten der Tourismusschule und seit etlichen Jahren fixer Mitarbeiter bei ihnen im »Grand Hotel«. Er hatte nach einer gescheiterten, kinderlosen Ehe und dem Tod seiner Eltern keine Familie mehr in Österreich, dafür aber einen Onkel südlich von Venedig, von wo sein Vater ursprünglich stammte. Von ihm hatte er auch seinen Nachnamen Manetti, nicht aber die Körpergröße. War der italienische Zweig der Familie eher zart gebaut, überragte Anton mit seinen ein Meter fünfundneunzig alle anderen im Hotel. Seine tiefe Bassstimme erinnerte an einen Opernsänger, was auch zu seinen widerspenstigen dunklen Locken passte, die meistens eine Spur zu lang aussahen. Auf seine spezielle Art war er eine attraktive Erscheinung – gewöhnungsbedürftig war nur, dass er beinahe das ganze Jahr über, wenn er nicht seine Kochuniform trug, in einer kurzen Lederhose und T-Shirt anzutreffen war. Da musste das Thermometer schon weit unter null Grad fallen, dass er lange Hosen oder Pullover anzog. Krank war er trotzdem nie. Und Andi fing auch schon damit an, ausschließlich so gekleidet herumzulaufen. Anton war eben momentan sein großes Vorbild.
Valerie riss sich von ihren Gedanken los. Lea hatte sie eben nach Lieselotte Hehenberg gefragt. Sie kannte sie von früheren Aufenthalten und hatte sie oft schon massiert. Ihre Tochter liebte das Hotel fast so sehr wie ihr kleiner Bruder und half seit Jahren mit. Zu ihrem siebzehnten Geburtstag hatte sie sich einen Gutschein für eine Ausbildung zur Heilmasseurin gewünscht und arbeitete seither hauptsächlich im Spa-Bereich. Lieselotte Hehenberg war stets von ihr begeistert gewesen. Auch bei diesem Aufenthalt hatte sie sich schon nach Lea erkundigt.
»Am besten fragst du bei ihrer Assistentin Frau Lechner nach, wann eine Massage passen würde. Frau Hehenberg selbst wird nicht an die Tür oder ans Telefon gehen. Sie verhält sich merkwürdig, seit sie angekommen ist, anders als sonst. Sie lässt sich das Essen aufs Zimmer bringen und geht allein nicht außer Haus. Ich hab mitbekommen, dass sie zwar mit Frau Lechner gemeinsam einen kurzen Spaziergang gemacht hat, sich dafür aber extra eine Baseballkappe und eine riesige Sonnenbrille aufgesetzt hat. Ich glaube, sie will nicht erkannt werden, obwohl das bisher kein Problem für sie war. Komisch ist das, aber sie wird schon ihre Gründe haben.«
Lea sah Valerie verblüfft an. »Das passt doch gar nicht zu ihr. Sie ist sonst so umgänglich und aktiv, fängt meist morgens mit der Yogagruppe an, macht dann eine kleine Bergtour oder kommt zur gemeinsamen Meditation in den Garten. Außerdem hat sie regelmäßig von unserem Abendbuffet geschwärmt und jede Unterhaltung genossen, die wir so anbieten. Das ist strange.«
Valerie musste ihr recht geben, auch wenn es für sie gewöhnungsbedürftig war, dass Lea, seit sie in Innsbruck studierte, beim Sprechen immer öfter englische Wörter einfließen ließ. »Ja, das ist es tatsächlich. Ich mach mir ehrlich gesagt Sorgen um sie. Das sieht für mich nach einem heftigen Burn-out aus. Wundern würde es mich nicht bei all den Verpflichtungen, die sie hat. Allein ihre TV-Sendung muss eine Unmenge an Zeit verschlingen. Gasteiner Entspannung wird ihr guttun. Und du darfst ihr gern anbieten, dass wir eine Massageliege in ihr Zimmer bringen lassen. Möglich, dass ihr das unter den gegebenen Umständen lieber wäre.«
»Mach ich, Mama. Wohnt sie wieder in der Wasserfall-Suite?«
Valerie musste nicht lange überlegen. »Ja, wie üblich. Im Doppelzimmer daneben, dem mit der Verbindungstür, findest du Frau Lechner. Die ist übrigens ziemlich eigen. Sehr höflich, aber distanziert. Ich kann doch mit fast allen Leuten gut reden, aber an die Lechner komme ich nicht ran. Das passiert mir selten.«
Sie blickte auf die Zeitangabe ihres Smartphones. Viktor würde schon halb am Verhungern sein. Höchste Eisenbahn, dass sie ihn ablöste. Sie bat die Kinder noch, ihre Teller selbst abzuräumen, und machte sich auf den Weg zur Rezeption. Nelly nahm sie mit. Die würde sie hinter dem Büro in ihren privaten Gartenbereich lassen.
Da ab vierzehn Uhr die Zimmer bezogen werden konnten, reichte die Zeit noch für einen Check der letzten Buchungen am Computer, bevor die neuen Gäste eintrafen. Aufgrund des schönen Wetters und des verlängerten Wochenendes waren tatsächlich noch kurzfristige Anfragen dazugekommen. Sie musste unbedingt Anton Bescheid geben, dass das Haus voll sein würde. Schließlich mussten die Mengen beim Buffet dementsprechend angepasst werden.
Während sie mit einem älteren Ehepaar im Gespräch war, das jedes Jahr im Frühsommer für ein paar Tage anreiste, sah sie einen Mann in verbeultem Sakko und ausgelatschten Turnschuhen durch die Eingangstür kommen, der schon wiederholt Probleme gemacht hatte. Innerlich stöhnte sie auf. Der hatte ihr noch gefehlt. Sein Name war Max Weber. Er war einer dieser schmierigen Reportertypen, die für eine gute Story ihre Großmutter verkaufen würden.
Mit dem Kommentar »Die Chefin hat eine wichtige Besprechung« schob er ungeniert das Paar zur Seite und lehnte sich lässig an den Tresen. Die Stammgäste sahen Valerie entsetzt an, die sich bei ihnen entschuldigte, ihnen ihre Zimmerkarte zusteckte und versprach, das Gespräch später fortzuführen.
Valerie war richtig wütend ob seiner Dreistigkeit. »Was fällt Ihnen ein, meine Gäste so zu behandeln? Wenn Sie hier schon unerwünscht auftauchen, dann halten Sie sich wenigstens an ein Mindestmaß anständigen Benehmens. Sonst fliegen Sie hier hochkant wieder hinaus, Herr Weber.«
»Bleib locker, Chefin. Beruhig dich. Ich bin doch nur hier, weil ein Vöglein mir gezwitschert hat, dass die Hehenberg wieder bei euch ist. Sieht nicht so gut aus in letzter Zeit. Weiß man da schon was? Woran liegt’s denn? Burn-out? Finanzielle Probleme? Ein Liebhaber, der sie verlassen hat?« Weber grinste anzüglich.
»Sie sind ein Widerling. Sie wissen schon lange, dass Sie keine Informationen über unsere Gäste bekommen. Weder ob sie hier sind noch über ihr Befinden. Suchen Sie sich gefälligst eine andere Story. Bei uns gibt es nichts zu berichten. Leben Sie wohl! Ich habe Besseres zu tun, als mich mit Ihnen zu unterhalten.«
Erbost wandte sich Valerie ab und gab vor, hinten im Regal Unterlagen zu suchen, die sie gar nicht brauchte. Inständig hoffte sie, dass der unsympathische Kerl dann verschwinden würde. Da sie wenig später nichts mehr von ihm hörte, drehte sie sich um und sah, wie er einer Hyäne gleich auf Beutesuche durch die Lobby schlenderte. In diesem Moment spürte sie eine warme Hand auf ihrer Schulter.
»Ich mach das schon.« Unbemerkt war Viktor hinter sie getreten. Er musste das Gespräch mitbekommen haben.
Valerie sah zu, wie er mit dem Journalisten sprach, der sich daraufhin provokant langsam noch einmal in der Lobby umblickte, ehe er sich auf den Weg nach draußen machte. Ein ungutes Gefühl übermannte sie. Weber hatte im Ort schon mehrfach für Ärger gesorgt. Er bekam stets Wind davon, wenn berühmte Gäste zum Skifahren, Wandern oder auch nur für ein paar entspannte Tage in Bad Gastein waren. Er heftete sich an ihre Fersen, lauerte ihnen mit der Kamera auf und schrieb dann verunglimpfende Artikel. Eine wahrheitsgetreue Darstellung war ihm noch nie wichtig gewesen.
Viktor trat an ihre Seite. Wie so oft erriet er ihre Gedanken. »Mach dir nicht schon wieder Sorgen. Fürs Erste sind wir ihn los. Und wenn Frau Hehenberg nicht viel außer Haus geht, wird er sie gar nicht zu Gesicht bekommen, gell? Außerdem kennt sie von ihren letzten Besuchen unseren Hinterausgang und weiß, dass sie den benutzen darf, wenn sie ungesehen das Gebäude verlassen möchte. Ich geh noch zu ihrer Assistentin rauf und warne sie vor, dass Weber hier rumschleicht und auf eine Story hofft.«
Beruhigt machte sich Valerie an die Arbeit. Im Laufe des Nachmittags trudelten die neuen Gäste ein, und die anderen kamen von ihren Ausflügen zurück. Sie berichteten von ihren Wandertouren und erkundigten sich nach den Angeboten im Hotel. Manche wollten lediglich ein paar Worte plaudern. Valerie blieb kaum eine freie Minute, es war jedoch die Art von Trubel, die sie liebte.
Plötzlich tauchte allerdings ein Mann im Eingangsbereich auf, den sie noch nie gesehen hatte. Er trug einen dunklen Anzug mit Krawatte, was im Hotel eher ungewöhnlich war. Seinem grauen Haar nach schätzte Valerie ihn auf ungefähr fünfundfünfzig Jahre. Der Aktenkoffer, den er bei sich hatte, verlieh ihm etwas Geschäftsmäßiges. Aus seinem Gesichtsausdruck schloss Valerie, dass er sich unwohl fühlte.
Zögernd trat er an die Rezeption, räusperte sich und fragte nach Lieselotte Hehenberg.
»Tut mir leid, über unsere Gäste darf ich Ihnen keine Auskunft geben. Wenn Sie jemand suchen, dann sollten Sie es am besten telefonisch probieren.« Mit diesen Worten wandte Valerie ihren Blick auf den Bildschirm des Computers, der seitlich stand, um dem Mann zu signalisieren, dass das Gespräch beendet war.
Doch dieser war sichtlich unglücklich über die nichtssagende Auskunft, ging ein paar Schritte Richtung Ausgang und blieb dann mitten in der Lobby verloren stehen. Er strahlte Unschlüssigkeit aus. Als sein Blick auf die Bar fiel, die sich in einer Ecke des Raumes befand, erhellte sich seine Miene kurz. Er steuerte auf einen freien Tisch zu und rückte sich den Stuhl so zurecht, dass er den Großteil des Eingangs- und Rezeptionsbereichs überblicken konnte. Offenbar wollte er bei einem Getränk sein Glück versuchen und warten, ob Lieselotte Hehenberg zufällig vorbeikam. Na, da konnte er lange warten. Vermutlich würde sie ihr Zimmer im Laufe des Tages nicht mehr verlassen.
Valerie fand sein Verhalten eigenartig. Sie beschloss, den Mann zur Sicherheit im Auge zu behalten, hatte dann aber so viel zu tun, dass sie erst gegen Abend bemerkte, dass er nicht mehr da war. Sie hatte übersehen, wie er das Hotel verlassen hatte. Auch gut. Wichtig war nur, dass er weg war und Lieselotte Hehenberg nicht hatte stören können.
Valerie musste sich sputen. Wenn sie pünktlich beim Stammtisch sein wollte, konnte sie es sich nicht leisten zu trödeln. Die Zeit war in Windeseile vergangen, weil sie durchgehend im Gespräch gewesen war.
Nachdem sie alle eingegangenen Buchungen bestätigt und mit Anton den Menüplan für die nächste Woche besprochen hatte, rief sie Nelly und ging mit ihr hinauf ins Appartement. Endlich Feierabend. Eine der Rezeptionistinnen hatte für sie übernommen, für den Fall, dass noch jemand von den Gästen ein Anliegen hatte.
Oben waren bis auf Andi alle ausgeflogen.
»Wo sind denn Papa, Lea und Jakob?«, fragte Valerie.