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Grandioses Krimivergnügen in den österreichischen Alpen. Valerie Thaller ist geehrt, als der legendäre »Schnitzelkönig« seinen siebzigsten Geburtstag in ihrem Grand Hotel feiert. Geladen sind Familie und Freunde, doch im Laufe des Abends mischen sich auch unerwünschte Gäste unter die Gesellschaft. Offenbar sind nicht alle dem Gastronomen wohlgesinnt, denn am nächsten Morgen liegt er tot in seinem Wohnzimmer. Gemeinsam mit ihrer Freundin Nora versucht Valerie zu rekonstruieren, was in der Nacht geschah. Können sie den Täter entlarven, bevor er ein zweites Mal zuschlägt?
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Seitenzahl: 379
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Ulrike Moshammer wurde 1975 in Vöcklabruck geboren, wo sie auch heute noch mit ihrer Familie lebt. Eine zweite Heimat hat sie in dem kleinen Kurort Bad Gastein gefunden, der sie mit seinem morbiden Charme und seiner mondänen Geschichte schon lange fasziniert. Sie hat in Salzburg Germanistik studiert, schreibt für ein Schülermagazin und arbeitet als freie Lektorin für Verlage und Selfpublisher.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte.
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Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-160-7
Originalausgabe
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Begierde ist des Menschen Wesen selbst.
Baruch de Spinoza, 1632–
EINS
»So mäßigen Sie sich bitte, meine Damen und Herren! Wir können doch vernünftig über alles reden.«
Die Bad Gasteiner Bürgermeisterin Gabriele Roither konnte trotz des Mikrofons den Lärm nur mit Mühe übertönen. Aufgrund der hitzigen Debatten war der Geräuschpegel sowohl im voll besetzten Gemeindesaal als auch draußen vor dem Gebäude, wo sich Einheimische mit Transparenten versammelt hatten, hoch. Die Kuhglocken, die eine Gruppe Jugendlicher mitgebracht hatte, taten ihr Übriges.
Valerie Thaller, Besitzerin des Grand Hotels in Bad Gastein, verfolgte besorgt das Szenario. Da sie am Rand der Stuhlreihe saß, stand sie auf und schloss die Fenster.
Dankbar nickte ihr Gabriele Roither zu. Sie hatte sich ein Jahr zuvor im männerdominierten Gemeinderat durchgesetzt und war mit knapper Mehrheit zur Bürgermeisterin gewählt worden. Gabriele Roither war eine sympathische Mittfünfzigerin, die die Sorgen und Nöte der Leute in Bad Gastein ernst nahm und eine Meisterin darin war, Lösungen und Kompromisse zum Wohle aller zu finden.
Nun stand sie vor ihrer bisher größten Herausforderung. Eine derartig verfahrene Situation hatte Valerie noch nie erlebt. In dem sonst eher beschaulichen Kurort gingen seit einigen Wochen die Wogen hoch, nachdem bekannt geworden war, dass die Pongauer Seilbahnen AG den Lift auf den Bad Gasteiner Hausberg, den Graukogel, samt Grundstücken zum Verkauf ausgeschrieben hatte. Seit Längerem war diese Entwicklung absehbar gewesen, weil die Betriebsgenehmigung der Anlage auslief, das war allgemein bekannt. Dennoch hatten sich viele Hiesige gewünscht, dass die Seilbahnen AG das Geld aufbringen und den Zweiersessellift in ähnlicher Form neu errichten würde. Ein großes Prestigeobjekt im Nachbartal, eine Gondelbahn mit riesiger Bergstation, hatte allerdings Unsummen verschlungen, weshalb ein Neubau am Graukogel offiziell nicht finanzierbar war. Durch den Verkauf der Liftanlage an einen Grazer Investor und eine im Raum stehende Umwidmung drohte ein Megaprojekt. Allein die Gerüchte darüber sorgten für heftige Diskussionen.
Einige Begrüßungssätze Gabriele Roithers genügten jedoch, damit die Anwesenden ihre Debatten unterbrachen und wie Valerie ihre Aufmerksamkeit nach vorn richteten.
Auf einem Podest war ein langer Tisch mit Mikrofonen aufgebaut, an dessen Mitte die Bürgermeisterin saß, an ihrer rechten Seite der Geschäftsführer der Pongauer Seilbahnen AG, Anton Sailer, und zu ihrer Linken ein Herr um die fünfzig, mit grau meliertem Haar, das zu einem Mittelscheitel frisiert war und über die Ohren reichte. Sein Sakko hing über der Stuhllehne, das Hemd hatte er oben aufgeknöpft und dessen Ärmel hochgekrempelt, sodass seine goldene Uhr von Weitem zu sehen war. Optisch ein Durchschnittstyp, wären da nicht eine gewisse Arroganz und Abgehobenheit gewesen, die sich in seiner Körperhaltung und Mimik bemerkbar machten.
Valerie konzentrierte sich wieder auf Gabriele. Dass der Bürgermeisterin unbehaglich zumute war, war nicht schwer zu erraten. Kein Wunder, lastete doch wegen dieser unseligen Geschichte ein enormer Druck auf ihr. Um nichts auf der Welt würde Valerie in ihrer Haut stecken wollen. Jeder Einzelne im Raum war gespannt, ob und wie sich Gabriele Roither positionieren würde. Es jedem recht zu machen war ein Ding der Unmöglichkeit.
Noch immer war von draußen das Gebimmel der Kuhglocken zu hören. Es weckte zwar beim Wandern auf der Alm ein wohliges Gefühl in Valerie, jetzt aber erschien es ihr bedrohlich. Dabei konnte sie es den Jugendlichen nicht einmal verübeln. Soweit sie es im Vorübergehen hatte erkennen können, handelte es sich um eine Gruppe, die von Kindesbeinen an im Skiclub des Ortes am Graukogel trainiert hatte. Gab es grünes Licht für den Neubau, stand die Zukunft der Übungshänge in den Sternen. Mit der Ruhe am Hausberg wäre es allemal vorbei.
Gabriele Roither hatte es geschafft, ihre einleitenden Worte auf eine Weise zu formulieren, die nicht durchblicken ließ, welchen Standpunkt sie selbst vertrat. Dem Hören nach hatte der Gemeinderat die Pläne bis dato nicht gesehen und demnach auch nicht offiziell Stellung bezogen. Die Verantwortlichen wollten nach der folgenden Präsentation abwägen, ob das Projekt des Investors forciert und die entsprechenden Umwidmungen vorgenommen werden sollten oder nicht.
Valerie reckte den Kopf, um besser sehen zu können. Gabriele Roither hatte eben Anton Sailer vorgestellt und ihm das Wort übergeben. In den regionalen Medien war er in letzter Zeit ab und an erwähnt worden. Wie perfekt doch sein Name zum Job passte. Valerie fragte sich, ob er aus diesem Grund eingestellt worden war. Ein Sailer bei den Seilbahnen – das konnte sich jeder merken. Sie kicherte leise.
Ein sanfter Stoß in die Rippen ließ sie rasch verstummen. Ihr Mann Viktor, der neben ihr saß, bedeutete ihr, still zu sein. Berechtigterweise, wie Valerie sich eingestand. Schließlich wollte auch sie nicht verpassen, was nun kam.
Anton Sailer räusperte sich und setzte zu seiner Rede an: »Liebe Bürgerinnen und Bürger, verehrte Frau Bürgermeisterin, sehr geehrter Herr …«, hektisch suchte er in seinen Unterlagen, »… ähm, Herr Baumgartinger, ehrenwerte Vertreterinnen und Vertreter der Presse und des Gemeinderats.«
Valerie lehnte sich zurück. Gewiss gehörte Sailer zu jenen Menschen, die in allen Lebenslagen versuchen, jedwede Verantwortung von sich zu schieben. Die zehnminütige Rede, die folgte, gab ihr recht. Außer heißer Luft war nicht viel Brauchbares zu hören – unter Umständen sollte Sailer vom Geschäftsführer zum Politiker umsatteln. Die Quintessenz des Gesagten fand sich in den letzten paar Sätzen wieder.
»Es tut mir überaus leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die Pongauer Seilbahnen AG sich außerstande sieht, den Lift auf den Graukogel zu erneuern«, sagte er mit nasaler Stimme. »Wir haben großes Verständnis für Ihre Sorgen und Nöte, liebe Bad Gasteinerinnen und Bad Gasteiner, aber wie es schon im alten Rom hieß: ›Alea iacta est.‹ Die Würfel sind gefallen. Unsere Entscheidung steht fest. Wir als Pongauer Seilbahnen AG müssen Ballast abwerfen, damit wir Neues schaffen können. Und Sie werden sehen, dass wir unsere Energie in Projekte stecken, die für Sie alle, liebe Bürgerinnen und Bürger, von Vorteil sein werden.«
Widerstand regte sich nicht nur in Valerie. Buh-Rufe erfüllten den Raum, und ein Skiclub-Trainer rief erzürnt nach vorn: »Soll das heißen, dass ihr das Geld für unseren Lift sogar hättet und es lieber woanders investiert? Ihr seids allesamt Halunken. Nur scharf auf Profit. Bringt euch ein Zweiersessellift am Hausberg zu wenig, oder wie? Was ist mit Tradition? Mit uns Ortsbewohnern?«
Ein anderer erhob sich und blies in das gleiche Horn. »Bei Ihrem Vorgänger wär das nicht passiert. Der war einer von uns. Der hat drauf g’schaut, dass es für alle passt.«
Nun nahm Gabriele Roither wieder das Mikrofon zur Hand. »Liebe Freunde aus Bad Gastein, ich verstehe euren Unmut nur zu gut.«
Ob sie bewusst ins vertrautere Du gewechselt hat?, fragte sich Valerie. Um dadurch Nähe zu den Einheimischen zu demonstrieren? Das wäre bei dieser aufgeheizten Stimmung ein kluger Schachzug.
»Ich verspreche euch, dass wir eure Einwände ernst, sehr ernst nehmen und im Gemeinderat keine voreilige Entscheidung treffen werden. Aber wichtig ist uns dennoch der Dialog. Ich bitte darum, dass ihr euch zumindest anhört, was unser möglicher Investor, Herr Baumgartinger, zu sagen hat. Ein Projekt in dieser Größenordnung will wohlüberlegt sein, aber ehe nicht alle Fakten auf dem Tisch liegen, ist es unmöglich zu beurteilen, ob eine Realisierung für uns Sinn macht oder nicht. Im Anschluss daran seid ihr an der Reihe. Unser geschätzter Bernhard Lederer wird euren Standpunkt erläutern. Soweit ich informiert bin, ist er der Sprecher für jene, die dem Projekt kritisch gegenüberstehen.« Gabriele Roither drehte sich zur Seite und gab das Mikrofon weiter.
Stille trat ein. Stille, die Peter Baumgartinger, alleiniger Eigentümer der Firma »Mountain Invest«, füllen sollte. Im Hintergrund war das Klicken der Fotoapparate zu hören. Vertreter diverser regionaler Medien waren zugegen, um über das geplante Projekt zu berichten.
Baumgartinger fuhr sich mit großspuriger Geste durch das Haar, schob seine Hemdsärmel noch höher und betätigte eine Fernbedienung. Wie von Geisterhand fuhren die Jalousien vor den Fenstern hinunter und verdunkelten den Sitzungssaal. In Gelb und Grün erstrahlte das »Mountain Invest«-Logo auf der Leinwand, die sich hinter dem Podium lautlos von der Decke gesenkt hatte. Alle sahen ungeduldig nach vorn. Mit dem Tonfall eines von sich selbst überzeugten Mannes legte der Investor mit seiner Rede los.
»Sehr geehrte Anwesende, es ist mir eine Freude, Ihnen heute ein Projekt nahezubringen, das einen Meilenstein für die Entwicklung Bad Gasteins darstellen wird. Ein Projekt, das eine Lücke schließt und eine Klientel anspricht, deren gehobene Bedürfnisse bisher nicht erfüllt werden konnten.«
Hinter Valerie war lauter Protest zu vernehmen. Auch sie fühlte sich in ihrer Hoteliersehre gekränkt. Wie sie an Viktors gefurchter Stirn sehen konnte, ging es ihm nicht anders. Ein Lebtag lang kümmerte man sich als Ortsgemeinschaft darum, tunlichst alle Gäste zufriedenzustellen, hatte in Kooperation mit dem Kur- und Tourismusverband tolle Konzepte und Veranstaltungen für Winter- und Sommertourismus erarbeitet und stellte Übernachtungsmöglichkeiten für jedes Preissegment zur Verfügung. Musste man sich dann von einem Auswärtigen sagen lassen, dass man die Bedürfnisse der Gäste nicht bediente?
Sie verkniff sich einen Laut der Erzürnung. Freunde machte sich Baumgartinger mit dieser Aussage definitiv keine – oder besser gesagt wenige –, denn vereinzelte Anhänger, die sich Profit von dem Projekt versprachen, hatte er ja unter den Einheimischen.
Widerwillig schenkte sie Baumgartinger erneut Gehör. Er wirkte überheblich, fast als wäre er der Heilsbringer des Ortes, auf den alle nur gewartet hatten.
»Ich spreche von Gästen, die sowohl ihre Ruhe als auch den nötigen Komfort suchen, die gern unter ihresgleichen bleiben und für die Geld keine Rolle spielt. Ich spreche von im alpenländischen Stil erbauten Chalets, die den Erholungsuchenden suggerieren, sie wären mit Heidi beim Almöhi zu Besuch, die aber dennoch über jeden erdenklichen Luxus verfügen. So zum Beispiel Whirlpools, die mit bombastischer Sicht auf die umliegenden Berge standardmäßig zu jedem Haus gehören, Fitnessräume, ein riesiger Spa-Bereich und ein großer Indoorpool im Hauptgebäude der neuen Anlage. Zudem wird es einen ganzjährig warmen Infinitypool im Freien geben, der den Gästen das Gefühl vermittelt, direkt im blauen Himmel zu baden. Sie sehen, meine Damen und Herren, es handelt sich fürwahr um ein außergewöhnliches Projekt.«
Parallel zu Baumgartingers Rede lief eine Videopräsentation ab, die ein Bild davon entstehen ließ, wie die noblen Chalets aussehen und eingerichtet sein würden. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Alles war bis ins Detail durchgeplant.
Valerie musste Peter Baumgartinger zugestehen, dass die Hütten optisch viel hermachten. Doch ob er sie mit Gästen füllen konnte? Menschen, die sich einen gewissen Luxus leisteten, waren zwar schon immer ins Gasteiner Tal gereist, aber dafür brauchte es keine Chalet-Anlage am Berg. Denn an Quartieren mangelte es nicht. Darüber hinaus war im Zentrum noch Potenzial zum Bettenausbau vorhanden. Einige ältere Häuser aus der Zeit der Belle Époque, in der ein wahrer Bauboom in Bad Gastein geherrscht hatte, standen leer. Gebäude, die nur auf Investoren warteten, um wiederentdeckt und als Hotel neu eröffnet zu werden.
Valerie schlug die Beine übereinander und wippte mit dem freien Fuß. Das machte sie immer, wenn sie hibbelig wurde. Sie hatte ihre liebe Not damit, ruhig zu bleiben und sich detailreich über die luxuriöse Einrichtung und Verpflegung auf Fünf-Sterne-Niveau informieren zu lassen, während der entscheidende Punkt, die wahre Größendimension des Projekts, noch nicht einmal erwähnt worden war. Bisher gab es dazu nur vage Vermutungen.
Die Taktik Baumgartingers war erstaunlich durchschaubar: anfangs die Leute begeistern, um die kritischen Punkte erst anzusprechen, wenn er die Zuhörer auf seine Seite geholt hatte. Da unterschätzte er aber die Bad Gasteiner. Die meisten saßen mit ausdruckslosen Mienen da. Allem Anschein nach war Valerie nicht die Einzige, der es ein Dorn im Auge war, dass Baumgartinger zwischen den Zeilen vieles schlechtredete. Der Tourismus war seit Jahrhunderten ihr Hauptgeschäft. Nicht umsonst waren Kaiser, Fürsten, Musiker und Schauspieler in beträchtlicher Anzahl zur Kur oder zum Skifahren und Wandern in Bad Gastein gewesen. Die Einwohner des Ortes brauchten keinen Investor aus Graz, der ihnen, ohne aus der Branche zu stammen, zeigen wollte, wie gute Gästebetreuung aussah.
Eine Wortmeldung in der Reihe hinter ihr riss Valerie aus ihren Gedanken. »Und was passiert mit dem Lift?«
Baumgartinger bedankte sich höflich für die Frage. »So wie jetzt wird es ihn nicht mehr geben«, erklärte er. »Aber ich habe an alles gedacht, keine Sorge. Schließlich müssen meine zahlungskräftigen Kunden ja auch auf den Berg hinauf. Und das zweifelsohne nicht zu Fuß.« Ein arrogantes Lachen entrang sich seiner Kehle.
Valerie öffnete ihre zu Fäusten geballten Hände, lockerte sie etwas, straffte den Gummi, mit dem sie ihr blondes Haar hinten zusammengefasst hatte, und zählte bis drei. Bedächtig atmete sie ein und aus. Dieser Mann weckte mit seiner großspurigen Art negative Gefühle in ihr, die für sie gänzlich untypisch waren.
»Von einem simplen Lift zu sprechen wäre wahrlich zu wenig«, fuhr er fort. »Sehen Sie selbst.«
Durch einen Klick auf den vor Baumgartinger stehenden Laptop wurde auf der Leinwand ein Bild sichtbar, das aus der Vogelperspektive das gesamte Ausmaß der geplanten Veränderungen am Hausberg verdeutlichte.
Ein Raunen ging durch die Anwesenden. Allein die Chalet-Anlage mit dem Haupthaus nahm einen riesigen Bereich ein. Valeries Befürchtungen, dass die intakte Natur am Graukogel und damit auch der Erholungswert empfindlich gestört werden könnten, bestätigten sich, als sich Baumgartinger mit stolzgeschwellter Brust daranmachte, die Details zu erläutern.
»Wie Sie alle verstehen werden, ist ein Projekt dieser Art nur sinnvoll, wenn man sich gedanklich keine Grenzen setzt. Der Aufwand lohnt sich nur bei einer entsprechenden Größe. Dafür bedarf es einer gewissen Infrastruktur. Zuallererst geht es um die Zufahrt. Für einen Betrieb wie diesen reicht die geschotterte Forststraße nicht aus.«
Valerie hörte aufgeregtes Gemurmel.
»Was soll das konkret heißen? Wollen Sie eine asphaltierte Straße bauen? Durch die unberührte Natur?«, fragte eine Pensionswirtin.
Baumgartinger lehnte sich nach hinten und reckte das Kinn hoch. »Eine asphaltierte Straße?«, fragte er gelassen. »Unter allen Umständen braucht es die. In Zukunft wird sie aber nicht wie der aktuelle Forstweg den besten Skihang queren. Die Zufahrt wird von der Kötschachtalstraße aus erfolgen und am Bergrücken entlang in Serpentinen bis zur jetzigen Bergstation führen. Dort, wo derzeit der Zweiersessellift verläuft, wird eine Gondelbahn errichtet, die pro Stunde zweieinhalbtausend Personen befördern kann. Darüber hinaus wird es einen Vierersessellift vom Bauernhof bis in die Nähe des Gipfels geben, südlich davon eine kleinere Gondelbahn und zusätzlich zu dem einen bestehenden Schlepplift vier neue, die dafür sorgen werden, dass jeder seinem Können nach genügend Möglichkeiten findet, einen wunderbaren Skitag zu erleben. Zudem wird der Berg auch schneesicher sein. Es ist nicht zeitgemäß, dass es dort keine Schneekanonen gibt. Von Anfang Dezember bis Ostern soll der Graukogel in Zukunft beschneit werden. Um die Genehmigungen für die entsprechenden Speicherteiche habe ich zeitgerecht beim Land angesucht.«
Es herrschte Totenstille im Saal. Allen hatte es die Sprache verschlagen.
Valerie beobachtete diejenigen, die anfangs für den Bau eingetreten waren. Auf ihren Gesichtern machte sich Unbehagen breit. Diese Größendimension hatten auch sie nicht erwartet. Und jeder, der nur einen Funken Anstand verspürte, musste wissen, dass ein solches Vorhaben für die Natur am Graukogel eine Katastrophe bedeutete.
Anton Sailer schien die Betroffenheit der Anwesenden nicht wahrzunehmen. Lautstark klatschte er, wurde aber zögerlich, da sich ihm niemand anschloss. Wenig später erstarb sein Applaus, und er griff nach dem vor ihm stehenden Wasserglas, ein durchschaubarer Versuch, die peinliche Situation zu überspielen. Seine Gesichtsfarbe hatte von einem ungesund fahl wirkenden Grau zu einem ausgeprägten Rotton gewechselt.
Die Sekunden zogen sich in die Länge, dann setzte der Trubel ein. Die einen diskutierten heftig untereinander, während die anderen tuschelten oder auf sonstige Art ihren Unmut kundtaten. Die Fotografen nutzten die Szene und schossen Bilder für sensationslüsterne Leser.
Valerie war fassungslos. War das ein schlechter Scherz? Wie wenig Empathie und Naturverbundenheit konnte ein Mensch haben?
Sie sah zu Viktor hinüber, der wie versteinert auf seinem Platz saß. Nur eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen ließ erahnen, wie sehr er mit sich kämpfte, um nicht wie manch andere unflätig zu werden.
Vorn am Podest machte Baumgartinger den Eindruck, als pralle die geballte negative Energie im Raum an ihm ab. Anton Sailer hingegen bot körpersprachlich ein Bild der Verzweiflung. Und Gabriele Roither schüttelte mehrmals den Kopf. Wären ihr die Pläne vor der Versammlung vorgestellt worden, hätte sie dem Vorhaben viel früher einen Riegel vorgeschoben, davon war Valerie felsenfest überzeugt. Die momentane Situation erforderte es aber, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die Bürgermeisterin hatte sich bewusst in eine neutrale Position manövriert, indem sie darum gebeten hatte, vorurteilsfrei alle Seiten sprechen zu lassen.
Gabriele Roither wollte sich erneut Gehör verschaffen. Sie benötigte mehrere Anläufe, bis sich der Aufruhr halbwegs legte. Schließlich setzte Stille ein, aber eine enorme Spannung knisterte im Raum. Bestimmt wollten alle wissen, wie die Bürgermeisterin jetzt, da die Pläne auf dem Tisch lagen, zu der Sache stand.
Doch den Gefallen tat sie ihnen nicht. Valerie nahm bewundernd zur Kenntnis, dass Gabriele vorerst an ihrer neutralen Rolle festhielt.
»Liebe Freunde aus Bad Gastein, ich verstehe eure Aufregung«, erklärte sie. »Das Projekt von ›Mountain Invest‹, das Herr Baumgartinger uns präsentiert hat, würde vieles verändern. Wie ihr wisst, waren auch der Gemeinderat und ich bisher nicht über die Details informiert. Ich bedanke mich bei Herrn Baumgartinger für den Einblick in sein Vorhaben und möchte Bernhard Lederer als Vertreter der Projektgegner bitten, seinen Standpunkt zu erläutern.«
Unter wohlwollendem Applaus ging der Angekündigte, ein allseits beliebter und geschätzter Gastronom aus Bad Gastein, nach vorn, wo ihm ein Gemeindemitarbeiter ein Mikrofon aushändigte. Valerie kannte Bernhard als Freund der Familie, seit sie ein kleines Mädchen war.
»Liebe Gabriele, sehr geehrte Herren Sailer und Baumgartinger, liebe Freunde aus dem Gasteiner Tal«, begann Bernhard Lederer. »Ich möchte mich herzlich dafür bedanken, dass ihr Bad Gasteiner mir euer Vertrauen schenkt und mich zum Sprecher auserkoren habt. Ihr wisst, ich bin alles andere als ein Politiker. Ich bin auch kein großer Redner, außer am Stammtisch zu später Stunde …« Verhaltenes Gelächter sorgte dafür, dass er seinen Satz unterbrechen musste. »… aber die Sache mit dem Graukogel ist mir wichtig. Wir Einwohner von Bad Gastein haben viele Hochs und Tiefs erlebt. Es ist kein Geheimnis, dass in den letzten dreißig Jahren einige Entscheidungen falsch getroffen worden sind. Sie haben die Entwicklung des Ortes gehemmt. Unser historisches Zentrum war dem Verfall preisgegeben. Die Verantwortlichen sind damals gutgläubig gewesen. Sie haben sich einlullen lassen von einem Investor, der ihnen die Sterne vom Himmel versprochen hat. Und was ist daraus geworden? Nichts. Aber wir haben aus unseren Fehlern gelernt. Heute würden wir als Gemeinschaft anders entscheiden oder den Verantwortlichen Feuer unterm Hintern machen. Genau wie jetzt. Ich bin stolz auf euch – auf uns –, dass wir uns nicht mehr blenden lassen wie damals. Wir müssen unmissverständlich unsere Meinung sagen. Denn nur so haben wir eine Chance, dass wir gehört werden. Wir müssen an die Entwicklung unseres Ortes denken.«
Spontaner Beifall ließ Bernhard Lederer innehalten. Seine Behauptung, kein großer Redner zu sein, hatte er mit wenigen Sätzen widerlegt. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr er fort: »Diese Entwicklung ist wichtig. Seit Kurzem hat unser Ort wieder Aufschwung genommen. Eine rege Kunstszene hat sich entwickelt. Im Sommer kommen allein deswegen neue Gäste zu uns. Und in diesem Bereich sind es nicht nur Alteingesessene, die neue Ideen beisteuern. Es sind die Zug’reisten, wie wir bei uns sagen. Ihr Engagement möchten wir keinesfalls missen. Sie helfen uns, den Ort fit für die Zukunft zu machen und Stück für Stück aus seinem Dornröschenschlaf zu holen. Der Erfolg spricht für sich. Die Nächtigungszahlen sind so hoch wie schon lange nicht mehr, und das nicht nur im Wintertourismus. Die Buchungen für den Sommer boomen geradezu.«
Bernhard Lederer wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn und nahm einen Schluck Wasser. Bei all der Energie, die er versprühte, war nicht zu übersehen, dass er nicht mehr der Jüngste war. Am nächsten Tag würde er seinen siebzigsten Geburtstag in großer Runde bei Valerie im Hotel feiern. Die Tatsache, dass Feier und Graukogelprojekt zeitlich zusammenfielen, war neben der Arbeit, der Lederer trotz seines Alters weiterhin nachging, möglicherweise etwas viel für ihn.
Valerie bewunderte ihn dafür, dass er sich so selbstlos für das Wohl des Ortes einsetzte.
»Wir Bad Gasteiner haben also nicht grundsätzlich ein Problem mit Investoren«, fuhr er fort. »Aber wir haben gelernt hinzusehen, ob ein Vorhaben für uns als Gemeinde Sinn macht oder nicht. Die funktionierenden Projekte der letzten Jahre haben eines gemeinsam: Sie nutzen die bestehenden Ressourcen. Die zum Teil heruntergekommenen Häuser aus der Belle-Époque-Zeit werden liebevoll renoviert. Das schafft ein einzigartiges Flair, das die Gäste in Staunen versetzt. Der Zauber des Alten in Verbindung mit dem Luxus von heute.«
Zustimmendes Gemurmel war zu hören. Valerie konnte ihm nur beipflichten. Die Bad Gasteiner stellten sich nicht generell gegen neue Ideen. Dadurch, dass seit Jahrhunderten Gäste ins Tal kamen, im Besonderen auch viele Prominente aus Politik und Kultur, waren die Einheimischen weltoffen.
»Reden wir aber konkret über den Graukogel«, sprach Bernhard Lederer weiter. Buh-Rufe hallten durch den Saal, um nach einer beschwichtigenden Geste Bernhards wieder abzuebben. »Mit diesem Projekt, Herr Baumgartinger, wollen Sie Neues schaffen. Das verstehe ich. Aber Sie sind nicht von hier. Sie haben keine Beziehung zu diesem Berg. Wir schon. Für uns ist er ein Rückzugsort. Und wir brauchen in Bad Gastein keine Neubauten, wir wollen Altem wieder zu Glanz verhelfen. Ein Prestigeobjekt auf dem Berg interessiert uns nicht. Die Häuser im historischen Zentrum sind unser Kapital, sie sind einzigartig für ein Alpendorf. Chalet-Anlagen gibt es schon zu viele. Das ist nicht unser Stil.«
Applaus brandete auf. Bernhard Lederer verstand es, die Sache auf den Punkt zu bringen. Doch er war noch nicht fertig. Erheblicher Unmut war ihm anzusehen.
»Was haben Sie sich nur dabei gedacht, unseren wunderbaren Graukogel in diesem Maße entstellen zu wollen? Wissen Sie, welche Auswirkungen das hat? Dort sind Flora und Fauna noch intakt. Der Zweiersessellift mit den Naturschneepisten stellt keinen großen Eingriff in das Ökosystem dar. Wir haben hinten in Sportgastein und am Stubnerkogel wahrlich Pisten genug. Wintertouristen können sich auf vielen Hängen austoben. Alles perfekt beschneit und präpariert. Selbstredend müssen wir unseren Gästen viel bieten. Das tun wir auch. Aber der Graukogel ist nur so schön, weil er größtenteils naturbelassen ist. Unser Zirbenwald zum Beispiel ist ein Naturjuwel. Er soll nicht für einen Vierersessellift abgeholzt werden. Von diesen Wäldern gibt es nicht mehr viele. Und die Zapfen brauchen wir für unseren traditionellen Zirbenschnaps.«
Fußgetrampel und Klatschen ertönten. Das Thema Schnaps kam in erster Linie bei den Männern gut an.
»Ich bin kein Biologe, aber die riesigen Flächen, die Sie bei Ihrem Projekt verbauen möchten, können für das ökologische Gleichgewicht nicht gut sein. Nehmen Sie Abstand vom Kauf der Liftanlage und der Grundstücke. Setzen Sie sich lieber mit dem Gemeinderat zusammen und investieren Sie Ihr Geld in eines der stillgelegten Hotels. Dafür werden Sie jede erdenkliche Unterstützung von unserer Seite bekommen. Bringen wir Bad Gastein gemeinsam auf Vordermann, aber bitte auf unsere Art.«
Tosender Applaus setzte ein. Viele der Anwesenden standen auf, riefen Bernhard lobende, bestätigende Worte entgegen, doch der bat noch einmal um Gehör und wandte sich an Anton Sailer.
»Und zu guter Letzt zu Ihnen, Herr Sailer. Wir haben Verständnis dafür, dass Ihnen der Profit der Seilbahnen AG am Herzen liegt. Es ist Ihr Job, dafür zu sorgen, dass das Unternehmen läuft. Aber uns Bergbewohnern geht es nicht nur um Gewinne. Es geht uns auch um Traditionen. Sie haben sich mit dem großen Gondelprojekt schon ein Denkmal gesetzt. Die neue Bahn ist toll geworden, und die Kasse brummt. Angeblich ist wegen dieses großen Projekts kein Geld mehr für die Erneuerung des Graukogellifts übrig. Doch allem Anschein nach stimmt das nicht. Sie wollen nur lieber in andere Projekte investieren. Dafür haben wir aber kein Verständnis. Wir fordern Sie daher auf, den Verkauf noch einmal zu überdenken. Mit gutem Willen von beiden Seiten findet sich ein Weg, der für Sie und uns akzeptabel ist. Und vergessen Sie bitte auch nicht Ihren Namensvetter Toni Sailer, der am Graukogel 1958 bei der Weltmeisterschaft drei Gold- und eine Silbermedaille für Österreich geholt hat. Wir können doch nicht unseren Sailerhang mit Chalets zupflastern, oder?« Er wandte sich ans Publikum. »Was meint ihr dazu?«
Valerie stupste Viktor an. »Bernhard ist der Hammer, oder? Da sitzt jedes Wort. Ich glaube, er hat einige von den Leuten, die für das Projekt waren, auf seine Seite gebracht.«
Viktor bejahte und nahm ihre Hand in seine. »Wir Gasteiner haben schon viel geschafft. Das mit dem Baumgartinger bekommen wir auch noch hin. Aber für uns ist es höchste Zeit zu gehen, gell? Ich muss noch einiges für Bernhards Geburtstag morgen vorbereiten.«
Sie standen auf, grüßten Gabriele Roither und Bernhard von Weitem und machten eine entschuldigende Geste auf die große Wanduhr.
Beim Anblick Baumgartingers stockte Valerie der Atem. Sein anfangs aufgesetztes Pokerface war einem wutverzerrten Ausdruck gewichen, der nicht auf Gesprächsbereitschaft schließen ließ. Wenn Blicke töten könnten, würde Bernhard auf der Stelle leblos zusammensacken.
ZWEI
»Huhu, Bernhardchen, ich bin da!«
Die schrille Stimme ließ Valerie zusammenzucken.
In der Tür des Speisesaals stand eine ältere hochgewachsene Dame mit Gehstock, die dem Jubilar mit behandschuhter Hand zuwinkte. Die Frau kam Valerie vage bekannt vor, doch die große Sonnenbrille und der ausladende Hut, um den sie in Ascot alle beneiden würden, machten ein Erkennen unmöglich.
Neugierde ließ die anwesenden Gäste verstummen. Das Rücken eines Stuhles ertönte und direkt danach der Hall von Stöckelschuhen. Sabine, Bernhards älteste Tochter, ging auf die Frau zu. Unüberhörbar gereizt fragte sie beim Näherkommen: »Mutter, warum bist du denn hier?«
»Sabinchen, meine Liebe.« Die Dame reichte ihrer Tochter die Hand. Beide blieben auf Distanz, deuteten aber durch eine kaum merkbare Bewegung des Kopfes links und rechts Küsschen an. »Ich kann doch nicht zulassen, dass mein lieber Bernhard, dein Vater, seinen siebzigsten Geburtstag ohne mich feiern muss.«
Nun wusste Valerie, wen sie vor sich hatte. Das war Leonore, Bernhards Ex-Frau. Aber was machte sie in Bad Gastein? Auf der Gästeliste stand sie nicht. Seit sie Bernhard vor dreiundzwanzig Jahren wegen eines reichen Wiener Rechtsanwalts verlassen hatte und mit den beiden älteren Kindern Sabine und Florian in die Hauptstadt gezogen war, war sie nie wieder im Gasteiner Tal aufgetaucht.
Seine Kinder hingegen hatte Bernhard eingeladen. Noch immer litt er darunter, dass er zu Sabine und Florian seit der Scheidung kaum mehr Kontakt hatte. Sie waren ihm nach ihrem Umzug fremd geworden. Das Internat, in das sie von seiner Ex-Frau gesteckt worden waren, hatte sein Übriges getan.
Die Überheblichkeit, die Sabine und Florian ausstrahlten, passte nicht zur umgänglichen Art ihres Vaters. Bernhard war ein energiegeladener, geselliger Typ, der es weit gebracht hatte. Die kleine Gastwirtschaft, die er von seinen Eltern übernommen hatte, war unter seiner Führung zum angesehensten Gasthof des Tales geworden. Zudem hatte er Lokale in den Nachbarorten Bad Hofgastein und Dorfgastein eröffnet und in Immobilien investiert. Mehrere große Häuser mit Mietwohnungen und Ferienappartements konnte er sein Eigen nennen. Doch der Erfolg hatte ihn nicht verändert. Er war ein waschechter Gasteiner ohne Allüren geblieben, das hatte er auch bei der Sitzung am Vortag gezeigt.
Dass er von den Ortsansässigen als »Schnitzelkönig« bezeichnet wurde, nahm er mit einem Augenzwinkern hin. Hatte er sich zunächst dagegen verwahrt, schien er sich in der Zwischenzeit daran gewöhnt zu haben. Die liebevolle Bezeichnung kam ja auch nicht von ungefähr, sondern war darauf zurückzuführen, dass es in Bernhards Gasthöfen die größten und besten Schnitzel des gesamten Salzburger Landes gab, und dies obendrein noch in den verschiedensten Variationen: vom traditionellen Wiener Schnitzel vom Kalb über Schweins-, Hühner- und Putenschnitzel bis hin zu moderneren veganen Varianten wie Sellerie-, Zucchini- oder Tofuschnitzel. Dass seine Gasthöfe schlicht »Zum Schnitzelwirt« hießen, war nicht verwunderlich.
Valerie schaute zu Bernhard hinüber. Sein Sitzplatz lag im hinteren Bereich des Speisesaals, direkt vor der großen schalldichten Fensterfront, die eine wunderbare Aussicht auf den Gasteiner Wasserfall bot, der mit atemberaubendem Tosen durch den Ort donnerte. Eben erhob er sich, um den unerwarteten Gast zu begrüßen. Er erweckte nicht den Anschein, als wäre er erfreut.
Als Chefin des Hauses machte sich Valerie ebenfalls auf den Weg zur Tür, um Leonore Grafenstein, wie sie seit ihrer zweiten Heirat hieß, willkommen zu heißen. Ein bisschen moralischen Beistand konnte Bernhard gewiss gebrauchen, auch wenn sie ihn noch nie unhöflich oder wütend erlebt hatte und er sich durch nichts aus der Fassung bringen ließ.
Auf den rund zwanzig Metern, die er von seinem Tisch bis zum Eingang zurücklegte, entspannten sich seine Gesichtszüge allmählich. Er brachte ein freundliches Lächeln zuwege, reichte seiner Ex-Frau die Hand und begrüßte sie in seiner üblichen charmanten Art.
»Leonore, meine Liebe. Es ist eine Ewigkeit her, dass wir uns gesehen haben. Du bist extra ins Tal gekommen, um mir zu gratulieren? Das hätte ich nicht erwartet.«
Leonore nahm die Sonnenbrille ab und hielt Bernhards Hand für Valeries Geschmack zu lange fest. Kokett blinzelte sie und lächelte dann. Dabei war die typische Starre der Gesichtsmuskulatur, die auf den übertriebenen Gebrauch von Botox hindeutete, nicht zu übersehen. Was schätzungsweise freundlich hätte wirken sollen, sah abschreckend aus.
Das schien Bernhard ähnlich zu empfinden. Er löste sich abrupt von Leonore und trat einen großen Schritt zurück. Sabine hatte sich wieder neben ihren Mann gesetzt, und Valerie nutzte flugs die Gelegenheit, um den unerwarteten Gast zu begrüßen.
»Sie müssen Leonore Grafenstein sein. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern können, ich bin Valerie Thaller, die Tochter von Maria und Hans. Willkommen im Grand Hotel.«
Leonore ignorierte die Hand, die sie ihr hinhielt, und musterte sie abschätzig.
Valerie wurde unruhig. Es war ihr höchst unangenehm, wenn jemand sie taxierte. Obwohl sie sich an diesem Tag besonders viel Mühe mit einer Hochsteckfrisur gegeben hatte und zur Feier extra ihr Festtagsdirndl trug, hatte sie das Gefühl, dass Leonore sie nicht als gleichwertig ansah. Nicht ausgeschlossen, dass es für sie als Großstädterin ein Unding war, ein Dirndl zu tragen. Das wiederum war in Bad Gastein zu festlichen Anlässen üblich. Valerie und Viktor hatten sogar die Tradition ihrer Eltern übernommen, im Hotel täglich in Tracht gekleidet zu sein. Letzten Endes sollten sich ihre Gäste nicht nur erholen, sondern auch in die österreichische Tradition und Kultur eintauchen können.
Sie zog ihre Hand zurück und überspielte die peinliche Situation, indem sie zu Small Talk ansetzte und Leonore nach ihrer Anreise befragte. Die Antwort fiel ernüchternd aus.
»Oh, ich sage es Ihnen. Entsetzlich! Die Fahrt hierher war furchtbar. Die Bahn ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.«
Valerie ließ sich ihre Verwunderung nicht anmerken, waren doch die Züge, die ins Tal fuhren, modern, bestens ausgestattet und mehr als bequem. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie eine Frau vor sich hatte, die an allem und jedem herummeckerte.
Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass sich ihre Eltern näherten. Als enge Freunde Bernhards waren sie extra zum Siebziger angereist. Seit ihrem Ruhestand verbrachten sie den Großteil des Jahres auf Teneriffa, kamen aber immer wieder gern für einige Wochen nach Bad Gastein. Leonore kannten sie von früher gut, und Valerie zählte insgeheim darauf, dass sie sich ihrer annehmen würden.
Erleichtert stellte sie fest, dass sie genau das im Sinn hatten. Ihr Vater Hans begrüßte Leonore charmant mit einem angedeuteten Handkuss und stellte sich danach schräg hinter Bernhard. Ihre Mutter Maria umarmte Bernhards Ex-Frau überschwänglich, hakte sich nach dem üblichen Austausch von Höflichkeiten ungefragt bei ihr unter und lenkte sie vom Speisesaal in die Lobby. »Leonore ist doch auch zur Feier eingeladen, Bernhard, oder? Jetzt, wo sie schon mal da ist«, sagte sie noch.
Die Überrumpelungstaktik ihrer Mutter amüsierte Valerie. Weniger lustig fand sie hingegen, dass sie Leonore zur Übernachtung ins Grand Hotel einlud. Sie widersprach dennoch nicht, denn um keinen Preis sollte Leonore bei Bernhard übernachten. Er war seit vielen Jahren mit Mayari liiert, einer um etliche Jahre jüngeren und sympathischen Mitarbeiterin; zudem wollte er die nächsten Tage dafür nutzen, Sabine und Florian samt Ehemann und Freundin näher kennenzulernen. Ein Zimmer im »Schnitzelwirt« kam also definitiv nicht in Frage.
Rasch machte sich Valerie auf den Weg zur Rezeption, um eine Zimmerkarte für Leonore zu holen. Das entpuppte sich als schwieriges Unterfangen, da ihr ungebetener Gast weder Aussicht auf die umliegenden Berge noch auf den Wasserfall haben wollte. Bad Gastein und die Naturschönheiten in der Gegend hatte Leonore schon früher nicht ausstehen können, daran erinnerte Valerie sich noch gut. Warum nur musste sie genau heute hier auftauchen?
Valerie glättete die Schürze ihres Dirndls, hielt Leonore verkrampft lächelnd – zu mehr war sie nicht imstande – die Schlüsselkarte entgegen und erklärte, dass sie damit nicht nur in ihr Zimmer, sondern auch von draußen ins Hotel komme.
Das Gepäck, das Valerie und ihr jüngster Sohn Andi, der eben an der Rezeption vorbeikam, ins Zimmer bringen mussten, ließ vermuten, dass Leonore vorhatte, länger in Bad Gastein zu bleiben. Hoffentlich stellte sich das als Irrtum heraus. Leonore behandelte Valerie wie eine Dienstmagd und hatte trotz der großzügigen Einladung kein freundliches Wort für sie übrig. Exaltiert und arrogant war sie, beides Eigenschaften, die Valerie nicht ausstehen konnte.
Andi brachte es auf den Punkt: »Warum lässt du denn so eine blöde Kuh bei uns schlafen, Mama? Von der bekomm ich bestimmt kein Trinkgeld, oder?«
»Garantiert nicht, Andi. Trotzdem danke fürs Helfen. Was würde ich nur ohne dich machen?« Liebevoll legte Valerie ihren Arm um seine Schultern.
Fragend hob er den Kopf. »Du, Mama, war der Bernhard echt mit der verheiratet? Und ist sie die Mutter von Sophie?«
»Das ist kaum zu glauben, oder? Aber es stimmt. Bernhard hat mal angedeutet, dass er sie geheiratet hat, ohne sie gut genug zu kennen. Sie war nicht die Richtige für ihn. Das hat er aber erst begriffen, als ihre Tochter Sabine schon auf der Welt war. Und die wollte er nicht im Stich lassen. Dann kamen noch Florian und Sophie. Irgendwann hat Leonore es nicht mehr in Bad Gastein ausgehalten. Sie wollte zurück nach Wien, hat die kleine Sophie dagelassen und die älteren Kinder mitgenommen.«
Andi stemmte die Hände in die Hüften und blies sich eine verirrte blonde Strähne aus dem Gesicht. »Das war ganz schön fies von ihr. Aber eigentlich bin ich auch froh darüber. Die Sophie ist nämlich mindestens so nett wie der Bernhard. Gut, dass sie bei ihm geblieben ist.«
Valerie teilte diese Meinung. Bernhards jüngste Tochter war ein liebenswerter Mensch. Vom Wesen her kam sie ganz nach ihm. Auch das Gastronomie-Gen hatte sie von ihm geerbt, sodass Bernhard sie schon seit einiger Zeit in die Führung der Gasthöfe und in die Verwaltung der Häuser einarbeitete. Aus Bad Gastein war sie nicht wegzudenken. Tief verwurzelt war sie im Tal und viel geerdeter als ihre Geschwister Sabine und Florian. Dass sie sich in Kamon, Mayaris Sohn, verliebt hatte, passte perfekt. Die vier bildeten ein unschlagbares Team. Fast schon filmreif.
Doch wie sollte dieser Abend nun verlaufen? Leonore würde wie ein Fremdkörper unter den Gästen sein. Blieb zu hoffen, dass sie nicht zum Partycrasher wurde, vor allem weil Bernhard – so viel wusste Valerie – plante, Mayari vor allen Leuten einen Heiratsantrag zu machen. Dass dabei seine Ex-Frau zugegen sein würde, war nicht eingeplant gewesen. Schon früher hatte Leonore es nur schwer ertragen können, wenn andere im Mittelpunkt standen. Ob das gut gehen würde? Valerie bezweifelte es.
DREI
Wie ereignisreich das Geburtstagsfest tatsächlich werden würde, hätte Valerie nicht für möglich gehalten. Als sie am nächsten Morgen erwachte, schwirrten ihr unzählige Bilder des vorangegangenen Abends durch den Kopf. Schlimmer hätte es kaum kommen können.
Dass ihre kleine Mischlingshündin Nelly sich zähnefletschend vor Leonore aufgebaut hatte und sie nicht in den Speisesaal lassen wollte, als sie aus dem Zimmer kam, war wohl noch der unbedeutendste Vorfall gewesen. Die sonst lammfromme Nelly musste gespürt haben, dass von Leonore Unfrieden ausging, was sich prompt bestätigt hatte. Trotz Marias Bemühungen, Leonore zu unterhalten, hatte diese es nämlich binnen kürzester Zeit geschafft, die aus Thailand stammende Mayari durch eine ausländerfeindliche Aussage zu brüskieren und die allgemeine Freude über Bernhards romantischen Heiratsantrag zu boykottieren, indem sie im unpassendsten Augenblick einen Schwächeanfall vortäuschte, theatralisch zusammensackte und die Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
Auch Sabine und Florian war es nicht gelungen, sich in den ausgelassenen Freundeskreis zu integrieren. Gesprächsfetzen hatte Valerie entnommen, dass die beiden enttäuscht waren. Allem Anschein nach hatten sie darauf spekuliert, dass Bernhard zum siebzigsten Geburtstag seinen Rückzug aus dem Unternehmen verkünden würde. Bei einem Verkauf der Gasthöfe und der Immobilien hätten sie sich eine großzügige Schenkung erwartet, die – auch das hatte Valerie gehört – beide dringend brauchten. Offenbar lebten sie auf großem Fuß, und das ohne entsprechendes Einkommen.
Wie sie überhaupt auf diese Idee hatten kommen können, war Valerie ein Rätsel. Niemals hatte Bernhard entsprechende Andeutungen gemacht. Viel zu sehr liebte er seine Rolle als Schnitzelkönig, als dass er derzeit, da er noch so fit war, in den Ruhestand hätte gehen wollen.
Der negative Höhepunkt des Abends war aber im Nachhinein betrachtet Fritz Derbachers Auftritt gewesen, Koch und langjähriger Mitarbeiter des »Schnitzelwirts«. Volltrunken hatte er Einlass verlangt, nachdem Bernhard ihn in der Woche zuvor wegen Alkohol am Arbeitsplatz hatte entlassen müssen. In seinem Frust hatte er Bernhard lautstark gedroht, was Valerie noch immer Gänsehaut verursachte.
»Umbringen sollt ich dich!«, hatte er geschrien, bevor ihn Viktor und Hans auf die Straße hinausgezerrt hatten.
Dass nach dem Abendessen auch noch ein für April untypisches Gewitter aufgezogen war und die Feier frühzeitig beendet hatte, war nur noch das Tüpfelchen auf dem i gewesen. Alle Gäste hatten das Weite gesucht, da der Wetterbericht vor massivem Hagel im Tal gewarnt hatte. Für Valerie beinahe eine Erlösung nach den unschönen Vorkommnissen im Laufe des Festes.
Unmotiviert schlug sie die Bettdecke zurück. Der Wecker, den sie zu früh für den ersten Sonntagmorgen in ihrem offiziellen Urlaub gestellt hatte, läutete unerbittlich. Wie üblich nahm Viktor keinerlei Notiz davon.
Verschlafen drehte sie sich zur Seite, stellte den Alarm ab und schwang die Beine über die Bettkante. Gähnend schlüpfte sie in ihre Hausschuhe und machte sich auf den Weg ins Bad. Leider Gottes waren sie trotz geschlossenen Hotels nicht allein im Haus.
Sie hatte ihrer Mutter versprochen, am Morgen zeitig zur Gastein-Bäckerei im Ortszentrum zu gehen, um frisches Gebäck und Croissants zu holen. Dafür würde Maria es übernehmen, Leonore das Frühstück herzurichten. Hans hatte ob dieser Abmachung ein sauertöpfisches Gesicht gezogen. Auch er war genervt von Leonores kapriziöser Art und konnte auf ihre Gesellschaft am frühen Morgen gut und gern verzichten.
Bei einer ausgiebigen Dusche erwachten Valeries Lebensgeister. Sie schlüpfte in Jeans und Sweater. Es fühlte sich herrlich, aber auch ungewohnt an, endlich einmal kein Dirndl tragen zu müssen. In ihrer spärlichen Freizeit konnte sie herumlaufen, wie ihr der Sinn stand.
Beim Blick in den Spiegel stahl sich ein Lächeln in ihr Gesicht. Vorfreude machte sich in ihr breit. Ein Monat ohne Gäste im Haus erwartete sie, dazu die Woche »Honeymoon«, wie sie ihren geplanten Urlaub mit Viktor anlässlich ihrer kürzlich gefeierten Silberhochzeit nannte. Das Leben war schön. Ohne Zweifel.
Fest entschlossen, sich wegen Leonores Übernachtung im Hotel die Laune nicht verderben zu lassen, machte sie sich gemeinsam mit Nelly auf den Weg zur kleinen Bäckerei. Aus den umgestürzten Blumentrögen vor dem Eingang und dem herumliegenden Unrat auf dem Straubingerplatz schloss sie, dass das Unwetter heftiger gewesen sein musste, als sie vermutet hatte. Starke Sturmböen waren offensichtlich durch das Tal gefegt und hatten alles, was nicht niet- und nagelfest war, mit sich gerissen. Sie stellte die Pflanzengefäße auf und beseitigte den ärgsten Dreck vor der Tür. Auch den Sonnenschirm, der mitten auf dem Platz lag und von der Terrasse des gegenüberliegenden »Thermalschlösschens« stammte, räumte sie zur Seite. In diesem ehrwürdigen Nachbarhaus war einst Kaiser Wilhelm I. viele Male abgestiegen. Nach ihm war eine der wichtigsten Spazierpromenaden in Bad Gastein benannt, wo der Kaiser höchstpersönlich als riesige Büste thronte. Ein Gast, mit dem man sich gern rühmte.
Valerie war fürs Erste zufrieden. Der Eingangsbereich des Grand Hotels war wieder herzeigbar. Sie klopfte sich den Schmutz von den Händen und setzte ihren Weg fort.
Wie üblich blieb sie auf der Brücke, die über den Wasserfall führte, kurz stehen. Nicht nur der Wind, sondern auch die Regenfälle waren stark gewesen – das konnte sie daran sehen, dass wesentlich mehr Wasser die Schlucht herunterstürzte als noch tags zuvor. Gradmesser dafür war der große Felsen, der in der Mitte bei niedrigem Wasserstand herausragte. Er wurde an diesem Morgen überspült. Ein Stück weiter oben, dort, wo der Flusslauf eine Kurve vollzog, schoss die Ache mit einer Wucht gegen das Gestein, dass Valerie wie schon so oft an einen schäumenden, brodelnden Hexentrank denken musste. Fröstelnd erinnerte sie sich an die Ereignisse im Vorjahr. Damals war ein Hotelgast ermordet worden, und ihr selbst wäre diese Stelle des Wasserfalls um ein Haar zum Verhängnis geworden.
Nach einem tiefen Atemzug, bei dem sie die Gischttröpfchen inhalierte, ging sie weiter. Ihr Weg führte sie an dem alten leer stehenden »Hotel Austria« entlang. Direkt gegenüber stand das ungenutzte Kongresszentrum. Beide Gebäude gehörten einem Investor, der sie aufgrund von Unstimmigkeiten mit der Gemeinde zusehends verkommen ließ, ein wunder Punkt in der Ortspolitik. Manche Besucher nahmen Anstoß daran, dass mitten im historischen Zentrum zwei große Häuser leer standen, viele Einheimische taten es ihnen gleich. Andere hingegen hatten ihren Frieden damit geschlossen, indem sie sich einredeten, dass dieser Bereich dem Ort einen gewissen morbiden Charme verlieh. Schönheit und Verfall bildeten ihrer Meinung nach einen perfekten Kontrast, der überaus reizvoll war. Dieser Interpretation konnte auch Valerie viel abgewinnen, trotzdem würde sie sich wünschen, dass die Immobilien restauriert und einem neuen Zweck zugeführt wurden.
Mit einem Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass sie viel später dran war als geplant. Die letzten Meter zur kleinen Bäckerei unterhalb des Merangartens brachte sie im Eilschritt hinter sich, um ihre Mutter davor zu bewahren, ohne Brötchen dazustehen, wenn Leonore ihr Frühstück erwartete.
Den Duft, der ihr beim Öffnen der Tür in die Nase stieg, und den Klang der kleinen Ladenglocke hätte sie überall wiedererkannt. Die Aromen der verschiedenen Brot-, Gebäck- und Kuchensorten vermischten sich mit einer dezenten Kaffeenote, die von hinten im Laden kam, wo frühmorgens für gewöhnlich einige Hiesige standen. Reger Austausch fand dort statt. Valerie war immer wieder fasziniert davon, wie schnell und gut die Buschtrommeln in Bad Gastein funktionierten. Die Besucher der Stehtische schafften es erfahrungsgemäß, innerhalb von höchstens fünf bis zehn Minuten ihren Morgenkaffee zu trinken und über alles Wichtige informiert zu werden, ehe sie sich auf den Weg zur Arbeit machten. Aus Gewohnheit kamen viele von ihnen auch sonntags vorbei.
An diesem Morgen gab es zwei neue Gesprächsthemen. Einerseits überschlugen sich die Meldungen über zahlreiche Hagelschäden, da viele die Unwetterwarnung nicht für bare Münze genommen und im April nicht mit Hagel gerechnet hatten. Und andererseits hatte sich herumgesprochen, dass bei Bernhards Geburtstagsfeier Fritz Derbacher stockbesoffen aufgetaucht war und eine Szene gemacht hatte. Leonore, die Valerie ungleich mehr beschäftigte als Bernhards ehemaliger Koch, wurde zwar nebenbei erwähnt, auch das Thema Graukogel kam kurz zur Sprache, aber der Fokus lag auf dem Gewitter und auf Fritz Derbacher.
Bis Valerie an der Reihe war, hatte sie die Neuigkeiten des Tages mitangehört. Eine Einladung zum Kaffee hatte sie dankend abgelehnt. Sie machte ihre Bestellung bei Gerti, der guten Seele der Bäckerei, zahlte und eilte wieder heimwärts. In die Bedrängnis, über die Begebenheit mit Fritz berichten zu müssen, wollte sie aus Taktgefühl nicht kommen. Es lag ihr fern, zur Gerüchteküche beizutragen, die ohnedies schon stark genug brodelte.
Auf dem Weg zurück zum Grand Hotel rief sie sich die Szene in der Lobby noch einmal in Erinnerung. Fritz hatte Bernhard tatsächlich damit gedroht, ihn umzubringen, aber sie hatte dem keine weitere Bedeutung zugemessen. Fritz war eben Fritz, und wenn er betrunken war, durfte man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.
Als Valerie im obersten Stock des Hotels aus dem Lift trat, kam ihr ihre Mutter ungeduldig entgegen.
»Da bist du ja. Das wurde auch Zeit, mein Schatz. Ich hatte schon die Befürchtung, dass Leonore pünktlich ihr Frühstück auf dem Tisch haben will und das Gebäck noch nicht da ist.« Maria sah gestresst aus. »Auf diese verachtende Mimik, die sie draufhat, wenn ihr etwas zuwider ist, kann ich wahrlich verzichten. Setzt du dich zu uns?« Hoffnungsvoll sah sie Valerie an, deren Telefon just in dieser Sekunde klingelte.
»Danke fürs Angebot, Mama, aber du siehst, ich kann nicht. Ich hab noch wichtige Dinge zu erledigen. Viel Spaß euch dreien.« Eilig hob sie die Hand zum Gruß und ging zu ihrer eigenen Appartementtür, erleichtert, einem Frühstück mit Leonore entkommen zu sein.
Sie kramte ihr Handy aus der Tasche und war überrascht, Sophies Namen zu lesen. Flugs wischte sie übers Display und begrüßte Bernhards Tochter schwungvoll.
»Sophie, das ist aber schön. Was verschafft mir die Ehre, dass du mich schon in der Früh anrufst? Hast du gestern im Hotel etwas vergessen?«
Doch die Freude währte nicht lange, vielmehr machte sie einer eisigen Kälte Platz, die sich in Valeries Brustkorb ausdehnte. Ihre Kehle wurde eng. Krächzend schaffte sie es noch zu sagen: »Bleib ganz ruhig, Sophie. Ich komme, so schnell ich kann.« Dann entglitt ihr das Telefon, und sie schlug die Hände vors Gesicht.
VIER