Leid – Die emotionalen Wellen des Lebens - Nady Mirian - E-Book

Leid – Die emotionalen Wellen des Lebens E-Book

Nady Mirian

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Beschreibung

»Mit großer Kraft und Liebe zum Leben erzählt dieses Buch von der Wärme, die sich freisetzt, wenn aus erlittenem Schmerz ein neues Sehen entsteht.« Marica Bodrožić

Dieses Buch hilft, den eigenen Weg durch Leidensphasen zu finden

Wer schon einmal eine schwere Lebensphase durchgemacht hat, kennt das Problem: Offenes, angemessenes Leiden ist ein gesellschaftliches Tabu. »Halb so wild« oder »das wird schon wieder«, heißt es da. Diese Haltung ist gleichermaßen tief in unserem Leistungsdenken verwurzelt wie auch schädlich. Denn die Bagatellisierung verhindert den Aufbau nötiger Resilienz, sagt Dr. Nady Mirian. Leid gehört unweigerlich zum Leben dazu. Was wir brauchen, ist ein neuer gesellschaftlicher Blick, der uns den Raum zur individuellen Verarbeitung von Trauer und Schmerz ermöglicht.

Dieses Buch ist ein mutmachender und wohlüberlegter Aufruf, unser Recht auf Leiden fernab von Tabus, Scham und Effizienzdenken zurückzuerobern.

»Nady Mirian ist eine einzigartige Kennerin der menschlichen Seele. Ein großes Buch für alle, die tiefer blicken wollen.« Gilda Sahebi

»Ein Universum existentieller Gefühle zwischen zwei Buchdeckeln, in dem Leid sein darf. Aushalten, atmen, annehmen.« Nora Hespers

»Ein Must-Read über das Menschsein – und eine nuancierte Antwort darauf, warum es sich lohnt, das Durcheinander namens Leben mit beiden Händen zu ergreifen.« Shila Behjat

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Seitenzahl: 248

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Über das Buch:

Wer schon einmal eine schwere Lebensphase durchgemacht hat, kennt das Problem: Offenes, angemessenes Leiden ist ein gesellschaftliches Tabu. »Halb so wild« oder »das wird schon wieder«, heißt es da. Diese Haltung ist gleichermaßen tief in unserem Leistungsdenken verwurzelt wie auch schädlich. Denn die Bagatellisierung verhindert den Aufbau nötiger Resilienz, sagt Dr. Nady Mirian. Leid gehört unweigerlich zum Leben dazu. Was wir brauchen, ist ein neuer gesellschaftlicher Blick, der uns den Raum zur individuellen Verarbeitung von Trauer und Schmerz ermöglicht.

Dieses Buch ist ein mutmachender und wohlüberlegter Aufruf, unser Recht auf Leiden fernab von Tabus, Scham und Effizienzdenken zurückzuerobern.

Über die Autorin:

Dr. Nady Mirian hat die Frage nach einem besseren Umgang mit Leid zum Kern ihrer Arbeit gemacht. Neben ihrer Tätigkeit als approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ist sie Dozentin an der Universität zu Köln für Historische Bildungsforschung und Bildungswissenschaften. Sie hat zudem an der Universität Paris-Nanterre gelehrt und intensiv zur Geschichte der Psychiatrie, Resilienz und Cybermobbing geforscht.

NADYMIRIAN

Warum schwere Lebensphasendazugehören und uns sogarwachsen lassen

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Alle in diesem Buch veröffentlichten Aussagen und Ratschläge wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden, ebenso ist die Haftung der Autorin bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Hendrik Heisterberg

Umschlag: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: © FinePic®, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-31744-7V001

www.koesel.de

Inhalt

Ein Buch für dich

1. Einleitung: Es gibt kein Leben ohne Leid

Über was sprechen wir eigentlich, wenn wir von Leid reden?

Raus aus der Seifenblasenrealität: Ohne Leid keine Resilienz

2. Unsere Gesellschaft sagt: »Betäube dein Leid«

Mythos Resilienz: Wir denken zu sehr in Schubladen

Die Zeit heilt keine Wunden, sondern du!

Vom Shitstorm zum Leidstorm: Kein Instagram-Like hilft deiner Leidverarbeitung

3. Resilienz – dein inneres persönliches Gummiband

Kein Schema F: Resilienz ist ein fließender Prozess

Leid aushalten – eine lebenslange Challenge

Lernen von Picasso: Wege der Leidbewältigung

4. Tanz mit deinen Dämonen – Was wir vom Leiden anderer lernen können

Prozess Akzeptanz – Du bestimmst das Tempo

Konfrontation macht resilient: Stell dich deinem Leid

Nutz deine Pain-Power: Mach das Unmögliche möglich

5. Pathei Mathos – durch Leiden lernen

Was das alles konkret für uns heißt

(Schluss-)Worte an dich

Danke

Literatur und Anmerkungen

Die Autorin

Ein Buch für dich

Wir alle haben eine Sache gemeinsam: Zum Menschsein gehört Leid. Doch ich glaube, dass umfassende Erkenntnis immer Leiden voraussetzt, und dass wir ohne diese Erfahrung keine Resilienz entwickeln können. Wie bereits die Philosophin Simone Weil einst schrieb: »Man muß das Leiden lieben, aber man darf es nicht suchen […].«1

Ich habe dieses Buch aus meiner eigenen Vulnerabilität heraus geschrieben, um zu verstehen, warum meine Leidverarbeitung keinen Platz in unserer Gesellschaft hat. Warum ich mich mit meinem Leid unter anderen Menschen oft »lost« gefühlt habe. Denn so habe ich oft empfunden und bin überzeugt, dass es heute vielen Menschen ganz ähnlich ergeht.

Dieses Buch ist für die Menschen, die sich oft mit ihren leidvollen Emotionen alleingelassen fühlen, da die Gesellschaft wenig Raum für diese wichtigen und menschlichen Regungen schafft. Menschen, die leiden und sich nach Heilung sehnen. Die kritisch sind und Tiefe empfinden. Die verstehen wollen oder längst verstanden haben, dass es keine Anleitung für die eigene Leidverarbeitung gibt.

Dieses Buch ist für dich, wenn auch du emotional wachsen möchtest. Emotionales Wachstum braucht Mut, da du dich deinen inneren Dämonen stellen musst. Verletzlich sein braucht Mut und einen neuen Blick auf das Leiden. Denn deine Gefühle sind da, und sie bleiben – wir können nur verändern, wie wir ihnen begegnen. Es ist alles ein Prozess, ohne Gebrauchsanweisung.

Auf unserer gemeinsamen Reise werde ich dich herausfordern, mitzudenken, mitzufühlen und über das Leiden anderer zu lernen.

Dieses Buch ist für dich.

Lass nicht zu, dass die Gesellschaft dir vorschreibt, wie du fühlen sollst.

1

Einleitung: Es gibt kein Leben ohne Leid

»Lauf, Forrest, lauf!«2

Die Geschichte von Forrest Gump bewegte damals wie heute Millionen in den Kinos und vor den Fernsehern daheim. Im Kern bilden all die berührenden Anekdoten, die Tom Hanks in der Titelrolle uns da an einer Bushaltestelle sitzend und Pralinen naschend erzählt, eine Leidensgeschichte – und gleichzeitig eine Geschichte der Heilung. Forrest Gump lernt bereits im Kindesalter, vor seinem Leiderleben wegzulaufen: vor physischem Schmerz, als die anderen Kinder ihn mit Steinen bewerfen, aber auch vor psychischem Schmerz, als sie ihn ausgrenzen. Er läuft davon, als seine Mutter stirbt oder seine große Liebe Jenny ihn aus dem Nichts nach der ersten Liebesnacht verlässt. Und auch wenn dabei vermutlich den meisten von uns zum Weglaufen zumute wäre, spielt es im Leben unseres liebsten Krabbenfischers eine besondere Rolle: Laufen ist für Forrest Gump eine Bewältigungsstrategie, mit Leiderfahrungen umzugehen. Diese nutzt er – oder »integriert« er, wie wir in der Psychologie sagen würden – sein Leben lang. Mit dem Laufen kommt Forrest Schritt für Schritt näher an Heilung. Wir alle haben unsere eigenen Strategien, mit Leid umzugehen. Sie sind so individuell wie wir selbst. Das Schwierige am Leiden ist insofern nicht so sehr das Leid selbst, das wir erfahren – es ist vielmehr für uns, das zu finden, was Forrest Gump für sich im Laufen gefunden hat.

Heute begegnen wir Leid überall. Es ist ein omnipräsentes Phänomen: Auf den Straßen sehen wir Obdachlose, die um Spenden bitten. Online und offline werden wir mit dem Kummer und den Sorgen konfrontiert, die Menschen mit sich herumtragen. Europa ist gegenwärtig ein Schauplatz von Konflikten, die sich so nah vor unserer Haustür abspielen und die uns in einer Art und Weise betreffen, wie wir es hier in Deutschland lange nicht mehr erlebt haben. Schon alleine durch diese geografische Nähe, wirkt sich das viele Leid in der Welt somit auch für uns alle sehr unmittelbar auch auf unseren Alltag aus. Wir sehen die Welt zusammenbrechen, überall Krieg, Terror und Menschen, die zu Unrecht leiden. Wir lesen nicht erst seit der Wirtschaftskrise von Familien, die zu wenig Geld haben, um ihre Kinder zu ernähren.

Klar, Leid gehört zum Leben dazu, doch dieses Phänomen hat mehr als eine Seite: Es kann uns zuweilen in die Knie zwingen, aber auch aktivieren und motivieren, am Leben teilzunehmen. Diese Ambivalenz hat etwas Faszinierendes. Es steht außer Frage, dass uns das Betrachten des Leidens anderer berührt. Doch es kann uns auch inspirieren, neue Blickwinkel auf das Leben einzunehmen und unser eigenes Leben nochmals zu überdenken. Es kann uns motivieren, aktiv zu werden, um das Leiden zu lindern, sei es durch Selbstreflexion und intensive Arbeit an dir selbst, durch Spenden, freiwillige Arbeit oder politische Aktivitäten, die auf Veränderung abzielen. Leid verbindet uns – zumindest geht es mir so.

Ich kenne niemanden, der noch nie gelitten hätte. Wer leidet, hat meist keine Ausweichmöglichkeit, da Krisenphasen (wie die Geburt und der Tod) Abschnitte im Lebenslauf darstellen, auf deren Eintreten oder Ausbleiben wir wenig eigenen Einfluss haben. Denn obwohl wir gern versuchen, Kontrolle auszuüben und unser Leben in bestimmte Bahnen zu lenken, kommt das Außen, die emotionalen Wellen des Lebens, immer wieder auf uns zu. Das kann Wellen von Glück, Freude oder auch Leid bedeuten.

Der Lebenslauf ist im Kern ein variabler, unkontrollierbarer und wandelbarer Prozess. In meiner beruflichen Tätigkeit und in zahlreichen Gesprächen rund um die Psyche, habe ich oft beobachtet, dass sich viele Menschen aufgrund starker Schamgefühle nicht erlauben, »für sich« und auf ihre eigene Art und Weise zu leiden. Wir alle kennen es wahrscheinlich, dass wir uns beispielsweise automatisch entschuldigen, wenn wir vor anderen weinen. Es entsteht eine tiefe Scham in uns, die wir nicht zuordnen können. Das Umfeld setzt uns unbewusst und automatisch unter Druck, indem es tröstend reagiert. Doch warum schämen wir uns überhaupt, wenn wir vor anderen weinen? Ich denke, dies hängt damit zusammen, dass wir externe Kategorien des »Leidendürfens« und »Nichtleidendürfens« internalisiert haben.

Wenn wir beispielsweise nach dem Ende einer romantischen Beziehung zu lange leiden, erwartet man von uns ein Bewusstsein dafür, dass es auch Schlimmeres auf der Welt gibt. Zusprüche wie »Unternimm doch was Schönes«, »Lenk dich ab« oder »Probier’s mal mit Sport« sollen uns helfen, unser Leid zu lindern. Trennungsschmerz ist jedoch ein Gefühl, das für die Aufarbeitung der Verlusterfahrung seine Berechtigung hat, auch wenn es uns eher in eine Starrheit versetzt, sodass es sich möglicherweise nicht einfach mit Sport und Unternehmungen wegschieben lässt.

Natürlich hilft es, sich trotz Kummer zu bewegen und an die frische Luft zu gehen. Doch man kann sich durchaus die Frage stellen, ob emotionales Leiden mit derartigen Tipps und Tricks sinnvoll zu bearbeiten sind. Ich gehe stark davon aus, dass keiner dieser Kniffe den tiefen Schmerz der Trennung bereinigen kann, egal wie gut er rational betrachtet erscheinen mag. Gefühle haben nun mal keinen An- und Abschaltknopf. Jeder braucht seine individuelle Zeit und individuelle Wege der Leidverarbeitung.

In der heutigen Zeit der Schnelllebigkeit und der Selbstdarstellung, vor allem in den sozialen Netzwerken, lassen wir uns zunehmend von externen Ratgebern und Pseudoheilungstipps leiten, um emotionalen Schmerz »erfolgreich« zu bewältigen. Scheinbar beschäftigt diese Sehnsucht nach Bewältigung heute so viele von uns, dass sie längst zu einem regelrechten Trend geworden ist. Doch nicht jeder Trend ist immer auch ein positiver: Denn zum einen streben wir gesamtgesellschaftlich nach Glück und Freude – zum anderen kann dieser extreme Drang nach Glück aber auch dazu führen, dass wir immer unzufriedener mit unserem Leben sind, wie es mittlerweile zum Beispiel auch Zeitschriften wie die Brigitte immer häufiger thematisieren.3

Für mich ergibt das Sinn, da wir einerseits nur Glück empfinden wollen und andererseits bei Nicht-Glücksempfinden auf »Heilung« setzen – ein Begriff, der mich sehr aufbringt, da er impliziert, danach sei alles besser. Allerdings überspringen die meisten Menschen den Prozess der Heilung, was unter anderem bedeuten würde, das Leid zu fühlen. Stattdessen beschäftigen sie sich häufiger in den sozialen Netzwerken mit Selbsthilfe-Accounts, wie beispielsweise dem der renommierten Existenzialpsychologin Dr. Sara Kuburuic (bekannt unter @millennial.therapist) oder auch dem des Meditationslehrers Diego Perez (bekannt unter @yung_pueblo).

Ich bestreite nicht, dass Selbsthilfe-Accounts hilfreich sein können, um sich impulsgebend zu reflektieren, aber man sollte sich nicht nur daran orientieren. Heilung beinhaltet Leidverarbeitung und vor allem Leidintegration. Ich glaube nicht, dass ich durch das Betrachten von Instagram-Zitaten ein tieferes Bewusstsein entwickeln kann. Sie können mir nur kurzfristig helfen, etwas zu reflektieren oder mich verstanden zu fühlen.

Selbstheilung ist heute ein kapitalistisches Verkaufsgeschäft. Die meisten Selbsthilfe-Expert*innen in den sozialen Netzwerken machen mit ihren Instagram-Accounts inklusive Healing-Tipps finanziellen Gewinn, wie etwa durch Buchveröffentlichungen oder vermehrte mediale Auftritte. Diese Instagram-Accounts, die immer wieder Heilung versprechen und thematisieren, profitieren davon, dass Menschen sich tatsächlich mehr auf Heilung als auf Leidannahme konzentrieren. Ich glaube, darin äußert sich der extreme Drang nach Heilung in unserer Gesellschaft insgesamt, und auch eine gewisse Schwere, die wir alle in uns tragen. Der Psychiater Carl Gustav Jung, der sich viel mit der Bedeutsamkeit von Leid beschäftigte, beschrieb Leiden als einen realen Zustand, genauso wie das Glücksempfinden, jedoch bedingen sie einander, was bedeutet, dass es kein Leiden ohne Glück und kein Glück ohne Leiden gibt. Heilung entsteht daher nach Jung durch das Eindringen in das Unbewusste: »Der Abstieg in die Tiefe führt zur Heilung.«4 Dieser Teil wird vor allem in den sozialen Netzwerken wie Instagram über das Teilen vieler persönlicher Leiderfahrungen übersprungen. Dies wird besonders deutlich auf Instagram-Accounts von Influencer*innen, die ihr Leiderleben öffentlich teilen, etwa Verlusterfahrungen oder andere schwerwiegende Krisen. Es erfordert natürlich viel Mut, derartig leidvolle Erfahrungen nach außen zu tragen, wofür ich diese und andere Menschen durchaus bewundere, jedoch hat die Präsentation im Kontext sozialer Medien für mich auch einen kommerziellen Wert, der unvermeidbar mitschwingt.

Aus beruflicher und persönlicher Erfahrung weiß ich, dass Menschen Leid auf unterschiedliche Weise verarbeiten. Jedoch ist das Teilen von derartigen Leiderfahrungen in sozialen Medien eventuell auch mit dem Ziel verbunden, virtuell zu wachsen, also mehr Follower, Kommentare und Likes zu bekommen – vielleicht teilweise sogar, ohne dass diese Komponente den Menschen, die sich im Netz offenbaren selbst im Moment des Postens klar bewusst sein muss. Das Teilen von Leiderfahrungen in sozialen Netzwerken kann daher einen kapitalistischen Ansatz haben: Wir zeigen unsere Tränen in Instagram-Storys, externalisieren unser Leid und erhalten dafür Anerkennung in Form von Likes und neuen Followern. »Storytelling is Storyselling«, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han.5 Im Kapitalismus ist das Erzählen von Geschichten ein entscheidender Mechanismus, der es ermöglicht, Emotionen zwischen den Erzählenden und dem Publikum zu verknüpfen. Auf diese Weise entsteht eine Beziehung, die das Kaufverhalten, den Verkauf und den Konsum von Produkten und Ideen beeinflusst: »Storys sell«.6

Ich erkenne ähnliche Muster vor allem in Leiderzählungen, da diese sich gespannter gestalten lassen. Jedoch wird das Leid (ich könnte auch sagen »Problem«) der leidenden Person vielleicht nur kurzzeitig durch ein Like oder einen Kommentar virtuell betäubt, aber nicht gelöst. Diese Form der Leidexternalisierung verdeutlicht mir, dass wir uns schwer damit tun, geeignete Bewältigungsstrategien zu finden und uns mehr Unterstützung im Umgang mit Leid wünschen. Das Auslagern von Leid führt jedoch nicht zur Bewältigung desselben. Ganz im Gegenteil: meiner Meinung nach kann es das empfundene Leid schlimmstenfalls sogar banalisieren. Der Post zum schwerwiegenden emotionalen Erlebnis ist schließlich für alle, die ihn betrachten, im wahrsten Sinne des Wortes schnell zur Seite gewischt, wenn sie sich ihrerseits nicht damit beschäftigen wollen. Streng genommen muss ich mich als Beobachterin nicht emotional mit dem Leid der Person in Social Media beschäftigen, da der Post einfach wegswipebar ist. Es gibt viele Menschen, die sogar überfordert sind, wenn jemand leidet. Auch um diese Überforderung nicht zu erleben, wird der Post weggewischt. Es bringt zwar unter anderem Follower*innen aber kaum einen eigenen Umgang mit dem Leid. Bewältigung erfordert eine persönliche Entwicklung, zu der ein langsamer Prozess mit viel Akzeptanz, Konfrontation und auch Selbstreflexion gehört. Sie kann nicht einfach durch einen Moment (virtuellen) Wachstums erreicht werden. Trotz unserer häufigen Interaktion über virtuelle Profile sind wir keine Maschinen – das sollten wir nicht vergessen.

Die Leidverarbeitung, also das eigene Leid anzunehmen und bewusst zu bearbeiten, überspringen wir häufig auch aus dem Grund, da wir es als persönliches Scheitern interpretieren. Wir gehen davon aus, dass wir unseren Alltag ohne gute Laune nicht bewältigen und so auch nicht proaktiv in unseren Positionen funktionieren, sei es die Position auf der Arbeit, im Freundeskreis oder in den privateren Beziehungen. Wir wollen nicht persönlich scheitern, da wir in unserer kapitalistischen Gesellschaft gelernt haben, dass wir funktionieren müssen, um unsere Funktion in der Gesellschaft zu erfüllen: Leid hindert uns demnach daran, das Leisten aufrechtzuerhalten und im Hamsterrad der Leistung zu funktionieren.

Das war aber nicht immer so. Es gab Zeiten, in denen Leid als ein Bestandteil des Lebens betrachtet wurde. Die praktische Lebensphilosophie der Stoiker war von der Akzeptanz der Realität geprägt und führte dazu, dass sie bewusster und gesünder lebten, als viele von uns es heute tun. Die Stoiker interpretierten Leid wertfrei, indem sie es in einen neuen Kontext einbetteten und mit Gelassenheit und Weisheit behandelten. Anstatt sich darauf zu versteifen, Dinge zu kontrollieren, die außerhalb unserer Macht liegen – wie zum Beispiel der Tod –, lenkten sie ihre Kontrolle auf ein bewussteres Leben. Das Bewusstsein für die Endlichkeit unseres Lebens mag beängstigend sein, aber es eröffnet auch die Möglichkeit, unser Leiden aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und eine tiefere Weisheit über das Leben zu erlangen.

Der Youtube-Star Philipp Mickenbecker wurde während der letzten drei Monate seines Lebens in einer Netflix-Dokumentation mit einer Kamera begleitet. In seinem jungen Leben wurde bei ihm dreimal Krebs diagnostiziert. Zweimal konnte der Tumor medizinisch behandelt werden, und er überlebte, doch beim dritten Mal gaben die Ärzte die Hoffnung auf. Sie teilten ihm mit, dass ihm nur noch wenige Wochen oder Monate blieben, da sich der Krebs so schnell ausbreite, dass lebenswichtige Organe betroffen seien.7 Ich habe mir die Dokumentation angesehen und schon in diesem Abschnitt viele Tränen vergossen.

Es war nicht nur die Diagnose, die mich bewegte, sondern auch die Erscheinung dieses strahlend glücklichen jungen Mannes, der so viel Lebenswillen verspürte. Seine Resilienz war bemerkenswert und berührte mich zutiefst. In den letzten Monaten seines Lebens entwickelte er seine Bewältigungsstrategie – in seinem Fall die Liebe zu Gott – und einen selbst erwählten Umgang mit seiner Erkrankung zu finden. Aus dieser schöpfte er viel Kraft, die letzte Zeit in vollen Zügen zu genießen. Ich denke, Philipp kam zu der stoischen Ansicht, dass unsere Seele unvergänglich ist – eine Erkenntnis, die ihm half, das Leben aus einem anderen, positiveren und rationaleren Blickwinkel zu betrachten: »Das ist mir bewusst geworden, dass jede Minute im Leben wertvoll ist, die man nie zurückbekommen kann. Und dass ich mich jeden Tag auch frage, warum mache ich grade das, was ich mache?«8

Wir vergessen schnell, dass unser Leben nicht unendlich ist. Wir glauben, der Tod sei nur im Außen, jedoch ist die Realität eine andere. Die Dokumentation über Philipp Mickenbecker zeigt die Bedeutsamkeit vom bewussten Umgang mit dem Leben und unserem Leiderleben: Leid betrifft uns alle, so wie auch der Tod. Es sind Abschnitte unseres Lebens. Wir alle sollten uns viel mehr den Gedanken vorhalten, dass das Leben immer eine Momentaufnahme ist und wir es bewusster leben können, wenn wir diesen Gedanken nicht vergessen. Eines Tages trifft es uns alle.

Ich weiß, das klingt alles andere als positiv. Doch ich bin nicht pessimistisch. Ich möchte dir nur das Leben nahebringen, um Bewusstsein für dich selbst zu schaffen: Keiner von uns ist unsterblich. Darum sind mir die zahlreichen Ratschläge zur sogenannten Heilung die Pseudo-Resilienztipps für ein ewiges Leben und die idealisierte Vorstellung von Glück ein Dorn im Auge. Diese Ratgeber-Versprechen werden uns nicht weiterbringen. Es ist emotional erleichternd, das Leben anzuerkennen und von dort aus zu handeln, anstatt uns in Illusionen zu verlieren, so meine Devise.

Ich persönlich glaube, dass Bewusstsein entsteht, wenn wir unsere leidvollen Emotionen zulassen, unsere Wunden kennenlernen und auch die Kürze des Lebens anerkennen. Wenn du die Unsterblichkeit ausschließt, kannst du deine Leiderfahrungen auch geschmeidiger in den Alltag integrieren und begreifen, dass sie Teil deines Lebens sind, und dass es irgendwann wie vorher ohne Leiderleben weitergeht. Es ist eine Phase, es ist vielleicht auch mehr als nur eine Phase, jedoch wird das Gefühl irgendwann anders und schwächer. Versuch es erst mal auszuhalten.

Über was sprechen wir eigentlich, wenn wir von Leid reden?

Die Erklärungen des Begriffs »Leid« in den Medien und zum Teil auch in der Wissenschaft halte ich für undifferenziert. Googelt man beispielsweise »Leid, Psychologie, Definition«, so heißt es direkt bei einem der ersten Treffer, im Lexikon der Psychologie, dass Leiden wie folgt definiert wird: Es sei ein »negatives Gefühl«, welches »z. B. durch Schmerz, depressive Verstimmungen und andere unangenehme Zustände (z. B. Trauma)«9 hervorgerufen wird. Es gibt zahlreiche andere Definitionen, die mit dieser einhergehen und denen ich widerspreche: Erstens stellen sie Leid als etwas Negatives dar, obwohl es ein Teil unseres Lebens ist, zweitens führt die mangelnde Differenzierung zur Massenverwendung von psychologisch wichtigen Begriffen. Vor allem fehlt mir in der zitierten Definition und auch in anderen die Differenzierung zwischen Leid und Leidensdruck. 

Wenn wir Leid aus psychologischer Perspektive betrachten, stimmt es durchaus, dass es sich dabei um ein an sich subjektiv belastenderes Gefühl handelt. Jedoch würde ich fachlich gesehen Gefühle nicht pauschal in die Kategorien negativ oder positiv stecken, da unsere Gefühle nicht schwarz-weiß sind. Darüber hinaus ist es wichtig zu verstehen, dass beispielsweise Depressionen oder andere psychischen Erkrankungen nicht über Leid, sondern über Leidensdruck entstehen. In meinem Beruf arbeite ich fast ausschließlich mit Menschen zusammen, die Leidensdruck empfinden. Doch Leid und Leidensdruck sind für mich zwei unterschiedliche Zustände: Wenn wir Leid erleben, also leiden, können wir mental in einem Tief sein, uns aber gleichzeitig auch mit der Situation arrangieren, sie zulassen und weiterhin am Leben teilhaben. Leidensdruck dagegen ist mit psychischen und/oder physischen Symptomen verbunden, die uns in unserem Lebensstandard und unserer Funktionsfähigkeit einschränken. Die Symptome variieren je nach den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und der Diagnose.

Während das Leiden teils auch mit leichten Symptomen einhergehen kann, hindern uns unsere Symptome unter Leidensdruck maßgeblich daran, den Alltag zu bewältigen – so sehr, dass die eigene Lebensqualität stark gemindert wird und das Gefühl aufkommen kann, es nicht allein zu schaffen. Hier ist es nötig, sich Unterstützung zu suchen, denn Leidensdruck hat einen Einfluss auf die Entwicklung von psychischen Erkrankungen.

Leid ist somit nicht direkt mit Leidensdruck gleichzusetzen. Dies bedeutet wiederum, dass jemand, der leidet, nicht automatisch mit psychischen Schwierigkeiten kämpft oder sogar krank ist, wie es uns das gesellschaftliche Narrativ gern weismacht.

Auch bei den Begriffen depressive Verstimmungen und Trauma bedarf es einer genaueren Differenzierung in Bezug auf Leid. Das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit ist nicht so linear, wie wir es häufig betrachten. Eine depressive Verstimmung liegt vor, wenn einzelne Symptome einer Depression bis zu zwei Wochen anhalten. Zu diesen Symptomen zählen zum Beispiel verminderte Lust auf soziale Aktivitäten oder Niedergeschlagenheit. Obwohl diese Symptome den Alltag, die Funktionalität und die Lebensqualität beeinträchtigen, erreichen sie nicht das Ausmaß oder die Dauer, die für eine klinische Depression typisch sind. Depressive Verstimmung meint also eine temporäre Veränderung deiner Stimmungslage, zum Beispiel in den Wintermonaten. Jedoch muss man auch hier darauf achten, dass nach einer Verlusterfahrung Symptome der Trauer einer depressiven Verstimmung ähneln und als Teil des Trauerprozesses gelten.10 Diese Art von Empfinden ist daher keine pathologische Depression, sondern gehört zum erlebten Verlust dazu.11 Es ist menschlich, sich nach einer Verlusterfahrung etwas zurückzuziehen, nicht ständig Appetit oder auch keinen entspannten Schlaf zu haben. Mir ist es wichtig, dass derartige Differenzierungen beschrieben werden, da dieser Ausdruck von Leid menschlich ist: Jemand Geliebtes ist nun weg. Dasselbe Problem sehe ich mit dem Gebrauch des Begriffs Trauma, welcher in meinen Augen ebenso zu inflationär ist. In der Psychotherapie werden Traumata nicht, so wie in der oben genannten Einordnung, nur als rein »unangenehme Zustände« beschrieben, sondern viel tiefgründiger betrachtet:

Menschen, die von einem Trauma betroffen sind, erleben einen erheblichen Leidensdruck.12 Oft waren sie gravierenden Katastrophen ausgesetzt, wie psychischem und körperlichem (sexuellem) Missbrauch, Kriegserfahrungen oder einem sehr plötzlichen Verlust nahestehender Menschen. Um weiterhin am Leben teilnehmen zu können, verdrängen sie diese Erlebnisse unbewusst aus ihren Erinnerungen. Unser Gehirn hat den natürlichen Drang, uns zu schützen und am Leben zu erhalten, dennoch bleiben die emotionalen und psychologischen Auswirkungen eines Traumas präsent.

Im Gegensatz zu normalen Stresssituationen, wie Stress am Arbeitsplatz, können Menschen, die ein Trauma erlebt haben, oft nicht einfach aus der stressigen Situation herauskommen. Selbst wenn die belastende Situation vorbei ist, werden die Erinnerungen an das traumatische Ereignis bei geringsten Anzeichen von Gefahr im Gehirn reaktiviert, da sie dort weiterhin präsent sind. Dies führt dazu, dass Betroffene auch lange nach dem eigentlichen Ereignis unter den Auswirkungen des Traumas leiden und sich in einem ständigen Zustand erhöhter Wachsamkeit oder Angst befinden können.13 Traumata gehen meist auch mit verschiedenen klinischen Symptomen einer Depression oder Schlafstörungen einher. Ebenso kann es bei den Betroffenen zu Drogen- und/oder Alkoholmissbrauch kommen, um die belastenden Gefühle zu sedieren.

Leid ist demnach nicht direkt mit (klinischen) Diagnosen zu labeln: Handelt es sich auch um ein unschönes Gefühl, ist es (ähnlich wie Schmerz – ein Begriff, der viel lieber gebraucht wird) emotional bedingt und unvermeidbarer Bestandteil unseres Lebens. Leid beschreibt jedoch nicht nur eine emotionale Tiefe, wie das Gefühl Trauer, sondern vereint verschiedene sozial vermeintlich negative Gefühle wie Wut, Angst und Ohnmacht. Jeder leidet im Leben einmal, mehrmals oder über längere Strecken.

Schmerz beschreibt dagegen ein akutes Gefühl des Unbehagens und trifft im allgemeinen Sprachgebrauch häufig eher auf den Körper als auf die Seele zu. Er bildet für mich daher den physischen Gegensatz zum Leid, welches eine breitere Palette von Emotionen und psychischen Zuständen umfasst, die mit Erfahrungen und Emotionen wie Trauer, Verlust, Enttäuschung und anderen Formen von psychischem Unwohlsein verbunden sind. Leid möchte ich daher als eine Art psychologischen Gegensatz zum reinen physischen Schmerz einführen, da es sich auf eine tiefer gehende, emotionalere Ebene bezieht.

Die Aussage »Ich habe Schmerzen« ist weniger lang anhaltend schreckhaft für andere konnotiert als »Ich leide«. Uns ist direkt klar, was gemeint ist: Leid ist mehr als nur ein reiner Bestandteil deines Lebens, der zwar hin und wieder vorkommt, aber einen Zweck erfüllt. Mit unseren unausweichlichen Leiderfahrungen überdenken wir unser Leben ganz anders: Rückblickend wärst du nicht da, wo du jetzt bist, wärst du keinen Leiderfahrungen ausgesetzt gewesen.

Wie gesagt, erkannte auch schon der Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung diesen Zusammenhang zwischen Glück und Leiden.14 Jung praktizierte eine für mich sehr authentische Psychologie, da er die dunklen Seiten im Leben eines Menschen nicht ausließ. Die analytische Psychologie schaut auf den Menschen als Ganzes und hat das Ziel, dass Klient*innen eine Einsicht für ihren psychischen Leidensdruck entwickeln, um so in den Heilprozess zu kommen.

Jung schrieb nicht nur viel über das Thema Leid, sondern auch über die dazugehörigen Sinnfragen, die unter anderem seelisches Leid verursachen. Er prägte einen Gedanken, nämlich dass Leiden zum Leben dazugehört und ein Bestandteil unseres Lebens ist, da wir ohne Leid »niemals irgendetwas tun würden«.15 Was uns stattdessen als Menschen in Bewegung versetzt, ist, dass wir »Immer wieder versuchen […] dem Leiden auszuweichen«, heißt es bei ihm.16 Daher plädierte Jung für ein stärkeres Bewusstsein der Bedeutsamkeit von Leidverarbeitung und Integration. Ihm war es wichtig, dass Menschen lernen sollten, Leid »zu ertragen« und nicht wegzuschieben.17

Ich lehne mich an Jungs Theorie an, weil ich den Begriff Leid neu einführen möchte. Ich möchte ihn gesellschaftlich legitimieren und zu seiner Enttabuisierung in unserem Alltag beitragen. Dem erlernten assoziierten Schrecken, den wir mit Leid verbinden, wenn wir das Wort hören oder es jemand verwendet, möchte ich entgegenwirken: Klingt der Satz »Ich leide« für dich in diesem Moment emotional belastender als »Ich habe Schmerzen«? Falls ja, wird sich das hoffentlich bis zum Ende dieses Buches ändern. Bestenfalls lernen wir über unsere Leiderfahrungen, schneller die Freude des Lebens zu erkennen und bedächtiger an das Leben zu gehen.

Der deutsche Philosoph Artur Schopenhauer erkannte ebenso, dass Leben auch leiden bedeutet. Er betrachtete Leid nicht als negativ, sondern realistisch als Bestandteil unseres Lebens. Schopenhauer ist nicht für jede*n, das ist mir bewusst – doch die Ansätze seiner Leidensethik sind hochspannend. Nicht zuletzt versuchen wir auch heute das Leiderleben auf dem Weg zur Heilung zu ›überspringen‹: »Zwar wünschen Alle erlöst zu werden aus dem Zustande des Leidens und des Todes: sie möchten, wie man sagt, zur ewigen Säligkeit gelangen, ins Himmelreich kommen; aber nur nicht auf eigenen Füßen; sondern hingetragen möchten sie werden, durch den Lauf der Natur […]«, schreibt er.18 Schon alleine wegen vielversprechender Erkenntnisse wie dieser könnte sich ein genauerer Blick auf seine Ideen lohnen.

Raus aus der Seifenblasenrealität: Ohne Leid keine Resilienz

Tod und Geburt sind Teil unserer Existenz: Leid fängt somit mit der Geburt an. Das erscheint zwar zunächst alles andere als Zuversicht erweckend, doch müssen wir diese Aussage nicht zwangsläufig pessimistisch verstehen. Denn Schopenhauers Erkenntnis hat auch eine versteckte Seite: Wenn mir von klein auf bewusst ist, dass das Leben Höhen und Tiefen bereithält, dass ich nicht in einer Seifenblase der Heilskultur wabere, so wie wir sie verstärkt in den sozialen Netzwerken erleben, dann kann ich einen positiven Umgang mit Leid als Bestandteil meines Lebens pflegen. Positiv bedeutet an dieser Stelle, dass es keine Resilienz, kein inneres Wachstum ohne Leid gibt. Du kannst nicht wissen, ob du resilient bist, solange du keine Leiderfahrungen »erfolgreich« – das heißt, ohne psychische und physische Langzeitfolgen – bewältigt hast. Leid und Resilienz bilden für mich ein Kontinuum. Ohne das eine, gibt es auch das andere nicht.

Die Wissenschaft sieht das ähnlich, genauer gesagt die Resilienzforschung, die sich etwa seit 1970 damit beschäftigt, wie man trotz durchlebter vulnerabler Phasen innere Widerstandskraft entwickeln kann. Heute weiß man, dass der Umgang mit solchen Lebenssituationen und Leiderfahrungen kein Knopfdruck ist, sondern ein dynamischer Anpassungsprozess. Dieser findet selbstverständlich nicht dadurch statt, dass ich meine Leidgeschichte auf Instagram teile, sondern indem ich meine eigenen Kompetenzen näher kennenlerne und erweitere. Anschließend kann ich das Leid mit den entsprechenden Bewältigungsstrategien behandeln, die wir alle subjektiv entwickeln.

Das Paradoxe in unserer Gesellschaft: Einerseits inszenieren wir unser Leiden – andererseits steht Leid immer noch zu sehr im gesellschaftlichen Hintergrund. Geradezu reflexhaft versuchen wir, Leid über verschiedene Strategien wie übermäßigen Sport, übermäßig gesunde Ernährung und Selbsthilfe-Posts auf Instagram wegzuschieben, womit wir verdeutlichen, dass wir gesellschaftlich keine gesunde, keine angemessene individuelle Leidkultur haben. 

Damit meine ich nicht, dass wir unser Leid nicht mit anderen teilen sollen. Eher meine ich, dass wir lernen müssen, richtig mit unserem Leid umzugehen und es anzunehmen. Die Gesellschaft, die sozialen Medien, unsere Freund*innen, Familie oder Bekannten machen uns bewusst und unbewusst Druck, dass es immer weitergehen soll. Über Leid gibt es so viele kitschige Sprüche, die wir im Alltag gern nutzen, nur wollen wir es nicht als wertvolle Ressource betrachten, da wir Leid als Gefahr wahrnehmen. So kommt es oft zu einer Leid-Bagatellisierung und Zusprüchen wie »Das wird schon«, »Ist doch nicht schlimm«, »Lass uns über was anderes sprechen« und so weiter. Solche Reaktionen helfen uns allerdings nicht wirklich dabei, unsere Gefühle adäquat wahrzunehmen.

Wir verschließen uns mit dem Leid, öffnen uns weniger dem Umfeld, da wir Angst entwickeln, die anderen zu »nerven«. Dieses Verschließen führt zu einer Internalisierung unserer Leiderfahrung, und wir fühlen uns elend, da wir zu allem Überfluss noch Schamgefühle entwickeln. Und diese Scham bringt uns nicht weiter, sondern bewirkt das Gegenteil.

Deshalb befürworte ich eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema Leid, obwohl dies nicht einfach ist, wenn man sich in einem gesellschaftlichen Umfeld bewegt, das keine offene Verarbeitung zulässt – und vor allem kaum Perspektivenwechsel, um nach Lösungen zu suchen. In unserer kapitalistischen Gesellschaft stehen Selbstoptimierung und Leistungsdruck im Zentrum unseres täglichen Lebens.