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Der Lektüreschlüssel erschließt Theodor Fontanes "Jenny Treibel". Um eine Interpretation als Zentrum gruppieren sich 10 wichtige Verständniszugänge: * Erstinformation zum Werk * Inhaltsangabe * Personen (Konstellationen) * Werk-Aufbau (Strukturskizze) * Wortkommentar * Interpretation * Autor und Zeit * Rezeption * "Checkliste" zur Verständniskontrolle * Lektüretipps mit Filmempfehlungen
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Seitenzahl: 91
LEKTÜRESCHLÜSSELFÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER
Theodor Fontane
Von Hans-Georg Schede
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel. Stuttgart: Reclam, 1973, 2004 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 7635.)
Alle Rechte vorbehalten© 2009, 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Gesamtherstellung: Reclam, DitzingenMade in Germany 2013RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., StuttgartISBN 978-3-15-960191-5ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015418-2
www.reclam.de
1. Erstinformation zum Werk
2. Inhalt
3. Personen
4. Werkaufbau
5. Wort- und Sacherläuterungen
6. Interpretation
7. Autor und Zeit
8. Rezeption
9. Checkliste
10. Lektüretipps / Filmempfehlungen
Erste (undatierte) Aufzeichnungen zu seinem Berliner Roman Frau Jenny Treibel oder »Wo sich Herz zum Herzen find’t« machte Theodor Fontane vermutlich im Winter 1887/1888. Bald danach schrieb er, wohl zwischen Januar und Anfang Mai 1888, eine vorläufige Fassung des Romans nieder. Die erste direkte Äußerung zu dem neuen Buch findet sich in einem Brief an Paul Schlenther vom 26. April 1888: Fontane berichtet, dass er ein anderes Projekt (den kurzen Roman Stine) vorläufig habe hintanstellen müssen, »weil es mich so sehr drängt, das fertig zu schreiben, was ich jetzt gerade unter der Feder habe: ›Frau Kommerzienrätin oder Wo sich Herz zum Herzen findt‹, eine humoristische Verhöhnung unsrer Bourgeoisie [= Besitzbürgertum] mit ihrer Redensartlichkeit auf jedem Gebiet, besonders auf dem der Kunst und der Liebe, während sie doch nur einen Gott und ein Interesse kennen: das Goldene Kalb« (nach: ED, 64 f.). Zwei Wochen später, am 9. Mai, teilte Fontane seinem Sohn Theodor mit, er sei zuletzt, »und zwar mit immer steigendem Eifer, mit der Zuendeführung meines neuen Romans beschäftigt gewesen [...]. Nun ist er, im Brouillon [= im ersten schriftlichen Entwurf] fertig, vorläufig beiseite geschoben. [...] Zweck der Geschichte: das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunkts zu zeigen [...]. Ich schließe mit dieser Geschichte den Zyklus meiner Berliner Romane ab« (nach: ED, 70).
Trotz der anhaltenden Arbeitsfreude, mit der Fontane die erste Fassung niedergeschrieben hatte, blieb der Roman zugunsten anderer Projekte lange liegen. Erst im Frühjahr 1891 ging Fontane nach seiner üblichen Arbeitsweise an die gründliche Überarbeitung des Textes, um ihn in ein dichtes Gewebe von Anspielungen und motivischen Verknüpfungen zu verwandeln, während die erste Niederschrift vorwiegend zur Fixierung des Handlungsverlaufs der Geschichte diente. Im Herbst desselben Jahres wurde der fertige Roman von Julius Rosenberg, dem Herausgeber der renommierten Deutschen Rundschau, zum Vorabdruck angenommen. Rosenberg schlug noch einige Änderungen und Kürzungen vor, auf die Fontane bereitwillig einging. Um welche Passagen es sich dabei handelte, lässt sich allerdings nicht mehr rekonstruieren, da das Manuskript des Romans seit Ende des Zweiten Weltkriegs verschollen ist. Zuletzt wurde noch der vordere Teil des Titels in Frau Jenny Treibel geändert, nachdem Fontane zuvor »Die Frau Bourgeoise« bzw. »Frau Kommerzienrätin« vorgesehen hatte. Rosenberg brachte den Roman schließlich zwischen Januar und Juni 1892 in seiner Zeitschrift. 1893 folgte die erste Buchausgabe im Verlag von Fontanes Sohn Friedrich. Da diese jedoch fehlerhaft ist und auch nicht unter der direkten Aufsicht des Autors hergestellt wurde, liegt neueren Ausgaben des Romans in der Regel der Zeitschriftenabdruck von 1892 zugrunde.
Wie in den meisten seiner Romane nahm Fontane auch in Frau Jenny Treibel wirkliche Personen und Ereignisse zur Grundlage der von ihm dann allerdings frei entwickelten Geschichte. So verkehrte er Anfang der 1880er-Jahre für kurze Zeit im Hause eines Berliner Großindustriellen, in dem aber vor allem seine Schwester Jenny Sommerfeldt (1823–1904) ein häufiger Gast war. Jenny, die als Frau eines Apothekers in großem Wohlstand lebte, war für ihren Bruder ein Muster einer Bourgeoise, und in seinen Briefen hat er sie immer wieder als eine solche bezeichnet. Die ihr befreundete Großindustriellenfamilie entsprach in vieler Hinsicht den Treibels in Fontanes Roman. Die Hausherrin entstammte ebenfalls bescheidenen Verhältnissen und hatte ihren Mann, einen jovialen Herrn, gegen den Willen seiner Eltern geheiratet. Sie lag in ständigem Konflikt mit der Frau ihres ältesten Sohnes, einer extra-vornehmen jungen Dame, die wie Helene Treibel im Roman den Plan verfolgte, ihre jüngere Schwester mit ihrem Schwager zu verheiraten, und diese Absicht schließlich auch durchsetzte. Die Villa dieser Familie soll bis ins Einzelne als Modell für die Treibel’sche Villa im Roman gedient haben. Auch einige Nebenfiguren des Romans lassen sich unschwer auf Personen des Freundeskreises der Großindustriellenfamilie zurückführen: Den Schwestern Felgentreu entsprach das Geschwisterpaar Felgentreff und der ehemalige Opernsänger Adolar Krola hat sein Vorbild in einem Herrn Woworski. Darüber hinaus hat Fontane dem Gymnasialprofessor Wilibald Schmidt und seiner Tochter Corinna offenbar manche Züge seiner selbst und seiner Tochter Mete verliehen. Der gesellige Kreis von Kollegen, dem Schmidt im Roman angehört (die »Sieben Waisen Griechenlands«), erinnert an das »Rütli«, eine ähnliche gesellige Runde, die 1852 entstanden war und von Fontane über 35 Jahre hinweg mehr oder weniger erfolgreich zusammengehalten wurde.
All diese Wirklichkeitssplitter ergeben noch keinen Roman. Sie tragen jedoch dazu bei, dass Frau Jenny Treibel, wie Fontanes andere Romane auch, beispiellos genaue und plastische Einblicke in die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs am Ende des 19. Jahrhunderts bietet.
An einem Spätfrühlingstag eines ungenannten Jahres gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin stattet die Kommerzienrätin Jenny Treibel der Tochter ihres Jugendfreundes, des Gymnasialprofessors Wilibald Schmidt, einen Besuch ab, um sie zu einer Abendgesellschaft einzuladen, die die Treibels am nächsten Tag zu Ehren eines englischen Geschäftsfreundes ihres älteren Sohnes Otto geben werden. Obwohl Jenny Treibel seinerzeit Wilibald Schmidts Hoffnungen auf ihre Hand enttäuscht und stattdessen reich geheiratet hat, besteht zwischen ihr und ihrem einstigen Verehrer nach wie vor ein freundschaftlicher Verkehr, und Jenny Treibel betrachtet sich als »mütterliche Freundin« von Schmidts lebhafter und ausnehmend gescheiter Tochter Corinna. Diesmal soll Corinna zu der Gesellschaft hinzugezogen werden, um den Gast mit englischer Konversation zu bezaubern. Die junge Frau nimmt dankend an.
Jenny Treibel überkommen in dem ihr seit vierzig Jahren bekannten Vorderzimmer der Schmidt’schen Wohnung sentimentale Anwandlungen. Als Tochter eines kleinen Ladenbesitzers in derselben Straße aufgewachsen, besteht sie darauf, eine poetische Seele zu besitzen. Ihr Sinn für das Schöne und Ideelle findet jedoch unter den prosaischen Menschen ihrer nunmehrigen Sphäre keine Nahrung, worunter sie sehr zu leiden vorgibt. Corinna spricht sich dagegen entschieden für den Wohlstand und gegen die Verklärung der kleinen Verhältnisse, in denen sie selbst zu leben hat, aus. Die Kommerzienrätin hält ihr daraufhin Corinnas ebenfalls zu dem Diner eingeladenen Cousin Marcell als Muster vor Augen, der sich ungeachtet der in der ›heutigen Jugend‹ vorherrschenden materialistischen Tendenz einen Sinn fürs Ideale bewahrt habe. Sie versichert, sie könne ihn sich aus Sympathie für diese Haltung, hätte sie eine Tochter, durchaus als Schwiegersohn vorstellen. Corinnas schelmische Entgegnung, sie könne solche Absichten ja bei ihrem noch unverheirateten jüngeren Sohn Leopold wahr machen und diesem eine solche ideale Schwiegertochter, vielleicht eine Schauspielerin, zuführen, stößt bei der Kommerzienrätin allerdings auf deutliche Missbilligung. Das Thema wird fallengelassen, zumal nun auch Wilibald Schmidt nach beendetem Unterricht nach Hause kommt. Bald danach bricht die Kommerzienrätin auf.
In der Gründerzeitvilla der Treibels finden sich am frühen Abend des folgenden Tages die Gäste ein. Als zweiter Ehrengast neben dem jungen Engländer Nelson aus Liverpool wird der ehemalige Leutnant und nunmehrige selbsternannte Wahlkampfstratege Vogelsang erwartet, eine groteske und peinliche Figur, auf dessen Hilfe Treibel, der politische Ambitionen verfolgt und unter konservativer Flagge den Wahlkreis Teupitz-Zossen zu erobern hofft, angewiesen zu sein glaubt. Otto Treibel, der ältere Sohn des Hauses, und seine aus Hamburg stammende hübsche, jedoch dünkelhafte Frau Helene treffen als Erste ein; dann folgen die übrigen Gäste, darunter zwei adlige alte Damen, die zu ihrer Zeit bei Hofe eine gewisse Rolle gespielt haben. Man begibt sich ins Esszimmer.
Die Unterhaltung bei Tische teilt sich in mehrere Gruppen und kreist, jeweils dem Alter und den Interessen der nebeneinander Platzierten entsprechend, um unterschiedliche Themen. Treibel lässt sich von den beiden adligen Damen, um die er sich als Tischherr kümmert, mit Neuigkeiten vom Kaiserhof versorgen und erläutert der Majorin von Ziegenhals, warum er sich gegen die Fortschrittspartei (üblicherweise die politische Heimat des Unternehmertums) und für den Konservatismus entschieden hat: Als Berliner-Blau-Fabrikant stehe er ganz natürlich für das monarchische Prinzip ein. Die Kommerzienrätin, die zwischen dem ehemaligen Opernsänger Adolar Krola, einem langjährigen Hausfreund, und dem ihr widrigen Vogelsang sitzt, muss wohl oder übel den Letzteren unterhalten, der ihre Geduld durch seine hochfahrende Art und seine ausdrückliche Verachtung alles Poetischen – er hält das für »überwundene Standpunkte« – stark auf die Probe stellt. Am unteren Ende der Tafel, bei den jungen Leuten, führt Corinna Schmidt das Wort. Mit allen Mitteln ihres Witzes und Übermuts verdreht sie dem jungen Nelson den Kopf. Dieser ist, ebenso wie der weitgehend stumm dabei sitzende Leopold Treibel, von ihrer Aufführung ganz hingerissen, während Helene, die Hamburger Schwiegertochter der Treibels, und auch Marcell, Corinnas Cousin, mit verhaltenem Ärger registrieren, wie sich Corinna in Szene setzt. Dann bringt der Kommerzienrat einen Toast auf die beiden Ehrengäste aus und Vogelsang antwortet taktlos und anmaßend – und zur hellen Empörung des jungen Nelson – mit einem politischen Glaubensbekenntnis zur »Royaldemokratie« (seine höchsteigene Erfindung). Danach wird die Tafel aufgehoben.
Während sich ein Teil der Gesellschaft für den Kaffee nach draußen begibt, zieht sich Treibel mit dem etwas verloren dastehenden Vogelsang in sein Arbeitszimmer zurück, wo dieser erneut ins Schwadronieren gerät. Der Kommerzienrat wird erlöst, als der Polizeiassessor Goldammer und Otto sich zu ihnen gesellen und Goldammer die Herrenrunde mit pikanten Geschichten zu unterhalten anfängt. Bald darauf beginnt nebenan der musikalische Teil des Abends, dem sich die Herren dann allerdings nicht verweigern dürfen. Hausfreund Krola produziert sich mit ein paar seiner Zugnummern, und am Ende trägt auch die Kommerzienrätin mit dünner Singstimme ihr Leiblied vor, dessen Verse einst Wilibald Schmidt für sie gedichtet hat.
Nachdem das Fest vorüber ist, wirft Marcell seiner Cousine auf dem gemeinsamen Heimweg vor, auf herzlose Weise Komödie gespielt zu haben. Ihre Koketterie gegenüber Mr. Nelson sei ganz darauf berechnet gewesen, dem armen Leopold Treibel den Kopf zu verdrehen. Corinna streitet das zunächst ab, räumt aber dann doch ein, dass Marcell richtig beobachtet hat. Sie verfolgt (nicht zuletzt aus finanziellen Überlegungen) ernsthaft den Plan, Leopold dazu zu bringen, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Marcells empörten Einwand, dass Leopold viel zu unbedeutend für sie sei, schiebt sie beiseite, ohne ihn ausdrücklich zurückzuweisen.