Lemmy - White Line Fever - Lemmy Kilmister - E-Book

Lemmy - White Line Fever E-Book

Lemmy Kilmister

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Beschreibung

Heilig ist bei Ian Fraser Kilmister, in der Welt bekannt unter dem Namen Lemmy, nur der Geburtstag: der 24.12.1945. Ansonsten hat der Mann mit dem prägnanten Backenbart im Laufe seiner über 40-jährigen Musikerkarriere nichts ausgelassen. Bevor er 1975 die bis heute wegweisende Band Motörhead gründete, arbeitete er für Jimi Hendrix und spielte bei der Space-Rockband Hawkwind. Lemmy starb am 28.12.2015 - mit ihm ist einer der letzten echten Rockstars gegangen ...

In den Sechzigerjahren arbeitete Lemmy als Roadie für Jimi Hendrix und machte sich als Bassist der Space-Rock-Legende Hawkwind einen Namen, bevor er 1975 die Band Motörhead gründete, bis heute eine der wichtigsten und einflussreichsten Heavy-Metal-Bands aller Zeiten. Während die Musikszene um ihn herum laufend neuen Trends und Gesichtern unterworfen war, blieb Lemmy stets kompromisslos er selbst, was ihm weit über das Genre hinaus Respekt einbrachte.

»White Line Fever« ist seine Autobiografie, die jetzt von Steffen Chirazi auf den neuesten Stand gebracht wurde.

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Seitenzahl: 454

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Das Buch

In den Sechzigerjahren arbeitete Lemmy als Roadie für Jimi Hendrix und machte sich als Bassist der Space-Rock-Legende Hawkwind einen Namen, bevor er 1975 die Band Motörhead gründete, bis heute eine der wichtigsten und einflussreichsten Heavy-Metal-Bands aller Zeiten. Während die Musikszene um ihn herum laufend neuen Trends und Gesichtern unterworfen war, blieb Lemmy stets kompromisslos er selbst, was ihm weit über das Genre hinaus Respekt einbrachte. Bis zu seinem Tod am 28. 12. 2015 war Lemmy einer der letzten echten lebenden Rockstars, der ohne Rücksicht auf Verluste seinen ungezügelten Lebensstil durchzog. White Line Fever ist seine Autobiografie, die jetzt von Steffen Chirazi auf den neuesten Stand gebracht wurde.

Der Autor

Ian Fraser Kilmister, bekannt unter dem Namen Lemmy, wurde am Heiligabend 1945 in Stoke-on-Tent in Wales geboren. Nachdem er im frühen Alter als Gitarrist in Lokalbands erste Banderfahrungen sammelte, zog er frühzeitig nach Manchester, wo er als Bassist der Space-Rock-Band Hawkwind bekannt wurde, ehe er 1975 mit der Band Motörhead und seinem unnachahmlichen R-’n’-R-Lebensstil Geschichte schrieb. Lemmy starb am 28. Dezember 2015 in Los Angeles.

Lemmy Kilmister

Mit Janiss Garza

WHITE LINEFEVER

DIE AUTOBIOGRAPHIE

Aus dem Englischen von Klaas Ilseund Philip BradatschVollständig überarbeitet von Kai-Uwe Keup

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die OriginalausgabeWHITE LINE FEVER – THE AUTOBIOGRAPHYerschien bei Simon & Schuster UK Ltd.
Copyright © 2002, 2016 by Ian Fraser Kilmister und Janiss GarzaCopyright © 2018 dieser Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenCoverfoto: © Nicola Rübenberg/[email protected]: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, München – ZürichSatz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-23735-6V003
www.heyne-hardcore.de

Dieses Buch ist Susan Bennett gewidmet,die es hätte sein können.

Inhalt

VORWORT

PROLOG

ERSTES KAPITEL

Capricorn

ZWEITES KAPITEL

Fast and Loose

DRITTES KAPITEL

Jailbait

VIERTES KAPITEL

Metropolis

FÜNFTES KAPITEL

Speedfreak

Bildteil 1

SECHSTES KAPITEL

Built for Speed

SIEBENTES KAPITEL

Beer Drinkers and Hell Raisers

ACHTES KAPITEL

Keep us on the Road

Bildteil 2

NEUNTES KAPITEL

Back at the Funny Farm

ZEHNTES KAPITEL

(Don’t Let ’em) Grind Ya Down

ELFTES KAPITEL

Angel City

ZWÖLFTES KAPITEL

We Are Motörhead

DREIZEHNTES KAPITEL

Brave New World

EPILOG

Bildteil 3

NACHWORT

Die glorreichen letzten Jahre

DISKOGRAPHIE

REGISTER

Vorwort

Ich bin Lemmy mehrere Male begegnet. Das erste Mal auf der Berliner Funkausstellung, ich war noch Berufsschüler. Wir waren ein paar Punks, die sich in die Aufzeichnung einer Musiksendung geschlichen hatten. Wir stänkerten ein bisschen rum, bis besagter Herr Kilmister, der mit seiner Band dort auftrat, einem von uns einen Kugelschreiber derart hart in die Nase rammte, dass unser Kumpel noch stundenlang blutete. Das zweite Mal begegnete ich ihm in London in einer Disco. Ich saß da und trippte auf LSD, als ein großer Schatten auf mich fiel: Lemmy. Durch die Droge war der Eindruck natürlich um ein Vielfaches verstärkt, denn er kam mir wie ein Riese vor, noch dazu mit den längsten Haaren im ganzen Laden. Ein echter Rock-’n’-Roll-Gott.

Später einmal war ich an meinem Geburtstag auf einem Motörhead-Konzert in Berlin. Ich kannte seinen Tourmanager und der überraschte mich damit, dass Lemmy kurz nach der Show auftauchte und mir gratulierte. Danach zogen wir durch einige Bars, bis wir einen Laden mit Spielautomaten fanden. Ich durfte Herrn Kilmister von da an noch ein paar Tequila servieren, war aber ansonsten abgemeldet. Von dem Konzert hatte ich übrigens am nächsten Tag noch einen dermaßen starken Tinnitus, dass ich am Morgen nach dem Pinkeln die Toilettenspülung nicht hörte. All die nächsten Male, die ich ihn traf, konnte er sich nicht an mich erinnern, aber irgendwie hat mich das nie geärgert.

Vor ein paar Jahren sollten wir dann mit Motörhead auf einem Festival in der Schweiz spielen. Ich saß vor unserer Garderobe und genoss den Sonnenschein nach einem kurzen Platzregen, als Lemmy um die Ecke bog. Wir schauten uns kurz an, dann legte es die Rocklegende der Länge nach hin. Seine weißen Lederboots waren nicht geschaffen für den nassen Boden. Er stand auf, lächelte mich einfach nur an und ging in seine Garderobe. Und da war mir mit einem Mal klar, was ich an diesem Mann so bewundere, warum mich nicht mal seine Affinität zur Weltkriegsliteratur stört.

Natürlich ist Lemmy Kilmister das personifizierte Gewissen des Rock ’n’ Roll. Auf Lemmy kann man sich verlassen. Er ist der Fels in der Brandung, der stoisch jeder neuen Welle standhält und noch da ist, wenn diese längst abgeebbt ist. Und natürlich ist es auf gewisse Weise bewundernswert, dass Jack Daniels, Sex & Amphetamine nicht nur eine Phase im Hause Kilmister sind, sondern seit 40 Jahren seine Inspiration und Antriebskraft. Lemmy darf mit Drogen und Frauengeschichten kokettieren, und trotzdem gilt er als jemand, dessen Weisheiten uns etwas bedeuten. Das hat er gemein mit Johnny Cash, Elvis, auch Frank Sinatra und noch einer Handvoll der ganz, ganz Großen.

Aber was mich an diesem Festivaltag an Lemmy, mit seinen weißen Lederstiefeln im Matsch, so bewegte, war viel einfacher und toller als all das – es war seine Würde. Ob bewusst oder instinktiv, Lemmy Kilmister trägt mehr Würde mit sich herum als all die volltätowierten Betty-Ford-Patienten, die sich sonst so Rock ’n’ Roll nennen.

Bela B.

Oktober 2006

Prolog

Am Heiligabend 1945 erblickte ich als Ian Fraser Kilmister das Licht der Welt. Fünf Wochen zu früh. Ohne Fingernägel, ohne Augenbrauen und knallrot. Dafür hatte ich wunderbar goldenes Haar, das mir jedoch, sehr zum Leidwesen meiner schrulligen Mutter, fünf Tage später wieder ausfiel. Meine früheste Erinnerung ist, dass ich geschrien habe – warum und wieso, weiß ich nicht mehr so genau. Wahrscheinlich ein Tobsuchtsanfall. Oder aber ich habe schon mal geprobt. Ein Spätzünder war ich noch nie.

Mein Vater war jedoch alles andere als erfreut über mein Erscheinen. Wir zwei haben uns von Anfang an nicht so richtig verstanden – drei Monate später hat er sich einfach verpisst. Vielleicht lag es an meiner nicht vorhandenen Haarpracht oder er hatte einfach nur Angst, dass ich zu sehr nach ihm kommen würde.

Während des Krieges war mein Vater Feldkaplan in der Royal Air Force. Meine Mutter war eine sehr hübsche junge Bibliothekarin, die keine Ahnung von der Doppelmoral der heiligen Kirche und ihrer Vertreter hatte. Wie kann es denn angehen, dass diese Leute den Menschen ernsthaft erklären, dass der Heiland von einer Jungfrau – die zudem von einem Geist geschwängert wurde – auf die Welt gebracht wurde? Und dieses Ammenmärchen ist die Grundlage für eine der Weltreligionen? Ich habe da meine Zweifel. Wenn Joseph das wirklich geglaubt hat, war es mehr als gerecht, dass er in Ställen schlafen musste.

Da ich mich an meinen Vater nicht erinnern konnte, habe ich ihn auch nicht sonderlich vermisst. Meine Mutter und meine Oma haben mich auch ohne seine Hilfe ganz gut verzogen.

Fünfundzwanzig Jahre später traf ich ihn in einer Pizzeria an der Earls Court Road. Offenbar überkam ihn urplötzlich ein Anfall von Reue und er wollte »mir helfen«. Keine Ahnung, was er wirklich wollte, aber meine Mutter und ich hatten nur einen Gedanken: »Vielleicht können wir etwas Kohle aus dem Scheißkerl rausholen!« Also ging ich hin, um mir den erbärmlichen Kerl mal genauer anzuschauen.

Ich erkannte ihn sofort. Er war ein zusammengekauerter kleiner Wicht mit Brille und einer kahlen Stelle, die sich über seinen ganzen Kopf ausbreitete.

Ich schätze, er fühlte sich so richtig beschissen, schließlich saß er mir jetzt gegenüber und hätte eigentlich seit fünfundzwanzig Jahren mein Ernährer sein sollen. Stattdessen fünfundzwanzig Jahre lang kein Wort – unangenehme Situation. Also sagte er: »Ich würde deiner Karriere gern etwas auf die Sprünge helfen, um so zu versuchen, wieder gutzumachen, dass ich dir kein richtiger Vater gewesen bin.« Ha!

»Hör zu, nichts leichter als das. Ich bin in einer Rock-’n’-Roll-Band und ich brauche etwas Equipment. Also, wenn du mir einen Verstärker und ein paar Boxen kaufen kannst, sind wir quitt, okay?«

Es folgte eine Pause: »Ah.«

Er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.

»Das Musikgeschäft ist furchtbar unsicher«, sagte er. Wahrscheinlich war der feine Herr zu seiner Zeit ein hervorragender Konzertpianist gewesen, aber seine Zeit war abgelaufen!

»Ja«, entgegnete ich, »ich weiß, aber ich verdiene damit meinen Lebensunterhalt.« (Okay, eine Lüge … zumindest zu diesem Zeitpunkt!)

»Also«, sagte er, »ich habe da an etwas anderes gedacht. Vertreter zum Beispiel. Ich zahle dir den Unterricht, die Fahrstunden und …«

»Verpiss dich«, sagte ich und ging. Sein Glück war, dass die große Familienpizza noch nicht serviert war, denn sie wäre sein neuer Hut geworden.

Wo wir gerade von falschen Bastarden sprechen – 1991 war meine Band, Motörhead, für einen Grammy nominiert. Ein typischer Versuch der Musikindustrie, sich bei uns mal wieder einzuschleimen. Also stieg ich in Los Angeles ins Flugzeug – nach New York ist es dann doch ein zu langer Fußmarsch. In meiner Tasche eine Flasche Jack Daniels – wirkt immer noch Wunder beim Nüchternwerden. Als wir auf die Startbahn rollten, genehmigte ich mir einen Schluck und sinnierte über den Sinn des Lebens, als ich eine Stimme hörte: »Geben Sie mir die Flasche!«

Sie gehörte einer Stewardess mit Betonfrisur, die plötzlich vor mir stand und ständig diesen Satz wie eine tibetanische Gebetsmühle wiederholte: »Geben Sie mir die Flasche!«

Nun, ich weiß nicht, was Sie getan hätten, verehrter Leser, aber das Scheißding war gekauft und bezahlt. Das war nicht drin. Diese Information gab ich ihr. Die Betonfrisur antwortete darauf: »Wenn Sie mir diese Flasche nicht geben, befördere ich Sie aus dem Flugzeug!«

Es wurde interessant. Wir waren ungefähr das fünfte Flugzeug in der Warteschlange zum Abflug, hatten ohnehin Verspätung, und dieses dumme Miststück wollte uns aus der Schlange nehmen. Wegen einer Flasche Jack Daniels?

»Na schön«, sagte ich, »dann tun Sie, was Sie nicht lassen können und befördern meinen Arsch aus diesem Scheißflugzeug«, oder etwas in der Art. Und ob man’s glaubt oder nicht, die dumme Schlampe hat es tatsächlich getan! AHAHAHAHAHAHAHA!! Ihretwegen waren all die Leute spät dran und verpassten ihre Anschlussflüge in New York, alles wegen einer Flasche des bernsteinfarbenen Muntermachers … Na und? Scheiß auf sie! Auf was für einem hohen Ross sitzen die eigentlich alle? Ich nahm einen anderen Flug, anderthalb Stunden später.

Das kann ja heiter werden, wenn es schon so losgeht, dachte ich mir. Und es kam noch schlimmer. In der Radio City (Home of the Stars) trugen alle geliehene Smokings wie die Pinguine, um möglichst genauso wie die Arschlöcher auszusehen, die ihnen ihr Geld abknöpfen! Ich trage keinen Smoking – ich finde, das passt nicht zu mir. Und ich glaube nicht, dass die Platzanweiser das eiserne Kreuz mochten.

Egal, da wir für unser erstes Album bei Sony für einen Grammy nominiert worden waren, nahm ich törichterweise an, dass sich zumindest die Plattenfirma freuen würde. Aber ich glaube, die hatten von der Nominierung keinen blassen Schimmer! Eigentlich ist mir so etwas auch egal und ich bin nicht verbissen ehrgeizig, aber ein »Hallo« oder »Schön, dass du an Bord bist« oder auch ein einfaches »Hey, Alter« hätten ausgereicht. Aber nichts dergleichen. Gar nichts. Nada. Einen Scheiß. Und bis zum heutigen Tage hatte ich noch nicht die große Ehre, auch nur einen winzigen Blick auf den sagenumwobenen Tony Mottola zu erhaschen. An jenem Abend war er vermutlich zu beschäftigt damit, Mariah Carey in ihrer Garderobe herumzujagen. Also bin ich auf die Party von Sire gegangen. Die war eh viel besser. Habe einen weggesteckt. Noch Fragen?

Also scheiß auf sie. Und scheiß auf die hohen Rösser, auf denen sie daherkommen.

ERSTES KAPITEL

Capricorn

Mein Leben begann in Stoke-on-Trent, in den westlichen Midlands von England. Stoke besteht aus einer Gruppe von ungefähr sechs Städten. Burslem war am übelsten, kein Wunder, dass ich dort geboren bin. Die Gegend wird »Potteries« – Töpfereien – genannt, und die Landschaft war früher schwarz von der Schlacke der Kohle. In den Brennöfen wurde hauptsächlich Keramik hergestellt – auch das berühmte Wedgwood. Überall gab es hässliche Schlackehaufen und die Luft war entsprechend verschmutzt. Nachdem sich mein Herr Erzeuger davongemacht hatte, zogen meine Mutter, meine Oma und ich nach Newcastle – das heißt nach Newcastle-under-Lyme, nicht weit von Stoke. Nach kurzer Zeit ging es weiter nach Madeley, einem nahe gelegenen Dorf. Es war wirklich nett da. Wir lebten gegenüber einem großen Teich, auf dem sich sogar Schwäne wohl fühlten.

Für meine Mutter war es hart, denn sie musste drei Personen durchbringen: meine Oma, meine Wenigkeit und sich selbst. Als Erstes arbeitete sie als TBC-Krankenschwester. Ein verdammt beschissener Job, denn sie begleitete die Patienten mehr oder minder auf ihrem letzten Weg. Vergleichbar mit einem heutigen Job auf einer Krebsstation. Tuberkulose ist eine wirklich beschissene Krankheit, denn sie verändert auch die Chromosomensätze. Sie sah Neugeborene mit Schuppen und mit rudimentären Federn. Schließlich kündigte sie, um als Bibliothekarin zu arbeiten. Dann hörte sie ganz auf zu arbeiten. Damals konnte ich den Druck nicht verstehen, unter dem sie stand. Nachdem sie meinen Stiefvater geheiratet hatte, arbeitete sie wieder. Als Bardame.

In der Schule hatte ich von Anfang an Probleme. Eigentlich hatte ich keine, aber die Lehrer und ich waren unterschiedlicher Meinung. Sie wollten, dass ich was lerne, und ich nicht. In Mathe war ich schon damals eine Null. Um mir Algebra beizubringen, hätte man mit mir ebenso gut Suaheli sprechen können. Also gab ich frühzeitig auf, da mir klar war, dass ich auf keinen Fall eine Unikarriere als Mathematikprofessor einschlagen würde. So habe ich mich von der Schule weitestgehend fern gehalten.

Den ersten Ärger gab es schon in der Grundschule. Wir Jungs sollten Stricken lernen. Diese blöde Pute wollte das wirklich! Es war völlig sinnlos, siebenjährigen Jungs so etwas beizubringen. Wahrscheinlich war sie eine verkappte Emanze. Und obendrein war sie auch noch brutal – es bereitete ihr ziemlichen Spaß, Kinder zu schlagen. Ich wollte auf keinen Fall stricken. Stricken war was für Memmen. Damals gab es noch richtige Memmen. Heute sitzen diese Memmen in den Parlamenten und regieren die Welt. Ich sagte ihr, dass ich es nicht kann und sie schlug mich. Nach einer Weile hatte sie ein Einsehen und hörte auf, mich zu schlagen.

Eine Tracht Prügel hat noch keinem geschadet, der etwas ausgefressen oder sonst wie Scheiße gebaut hat. Nicht aber, wenn man willkürlich geschlagen wird, nur weil man etwas falsch macht. Ich hab’s regelmäßig abbekommen: Ich kriegte es mit dem Tafellineal oder der Zeichenschiene, die neben der Tafel hing. Die Lehrerin stellte sich hinter uns und schlug uns damit gegen den Hinterkopf. Der Physiklehrer verprügelte uns später sogar mit dem Bein eines Hockers. Das Bein habe ich jedoch nie zu spüren bekommen, denn in Physik war ich gut. Das heißt, bis ich die Schule im gegenseitigen Einvernehmen verließ.

Wenn man einen ordentlichen Schlag ans Ohr kriegt, dass es eine halbe Stunde klingelt, dann hört man anschließend brav zu und tut, was man gesagt bekommt. So lief Erziehung damals ab. Jetzt ist das anders. Für mich und meine Generation hat das ganz gut funktioniert, denn soweit ich das beurteilen kann, sind wir schlauer als die gerade heranwachsende.

Jedenfalls heiratete meine Mutter wieder als ich zehn war. Sein Name war George Willis. Kennen gelernt hat sie ihn durch meinen Onkel Colin, ihren einzigen Bruder. Ich glaube, die beiden waren in der Armee befreundet gewesen (das heißt, Colin und George …). Er war Fußballprofi bei den Bolton Wanderers, und er hat sich alles hart erarbeitet, wie er immer wieder betonte. Ein richtiger Selfmademan mit einer eigenen Fabrik, die für Schaufenster Schuhständer aus Plastik herstellte. Drei Monate, nachdem er meine Mutter heiratete, ging sie Pleite. In Sachen Humor besaß er eine ganz eigene Auffassung. Als er einmal gestohlene Waschmaschinen und Kühlschränke verticken wollte, wurde er verhaftet und verschwand für dreißig Tage von der Bildfläche. Meiner Mutter erzählte er bloß, dass er auf Geschäftsreise müsse: »Schatz, ich werde ungefähr einen Monat unterwegs sein«, und dann saß er seine dreißig Tage im Knast ab. Es hat eine Weile gedauert, bis wir herausbekamen, was er so wirklich trieb. Aber letzten Endes war er ganz in Ordnung.

Aus seiner vorherigen Ehe brachte er zwei Kinder mit – Patricia und Tony. Da ich der Jüngste war, wurde ich ständig schikaniert. Das Verhältnis zu meinem Stiefvater war leicht angespannt, denn meine Mutter sah in mir ihr einziges Kind. Sie verteidigte mich immer wie eine Löwin und machte es ihm nicht gerade leicht. Patricia träumte davon beim Finanzministerium zu arbeiten, was sie schließlich auch schaffte. Tony ging für zehn Jahre zur Handelsmarine und schrieb uns fast zwanzig Jahre nicht. Mein Stiefvater dachte schon, er wäre tot. Heute lebt Tony in Australien. Er ist in Melbourne Leiter irgendeiner Plastikabteilung (ich wusste nicht, dass Plastik erblich ist).

Als meine Mutter und mein Stiefvater heirateten, zogen wir in sein Haus in Benllech, ein Seebad auf Anglesey. In der Schule war ich das einzige englische Kind unter ungefähr siebenhundert Walisern – eine Art Außerirdischer, der zur Belustigung beizutragen hat. Aus dieser Zeit habe ich auch meinen Spitznamen Lemmy. Da war ich ungefähr zehn Jahre alt. Allerdings hatte ich nicht immer diesen Bart … den habe ich erst, seit ich elf Jahre bin.

Ich beschäftigte mich viel mit mir selbst und hatte meinen Spaß, indem ich die Küste von Anglesey mit Hilfe von Plastiksprengstoff veränderte. Die gesamte Kanalisation des Ortes musste erneuert werden. Da sie im Sommer nicht fertig wurden, verstauten die Arbeiter ihr Werkzeug und den Sprengstoff in einem Bauwagen vor Ort, um im Frühjahr ihr Werk zu vollenden. Ende Oktober brach ich mit ein paar Freunden in den Bauwagen ein. Für uns Zehnjährige war das so ähnlich wie einen geheimen Schatz zu finden: Mützen, Overalls, Werkzeuge, Zündkapseln, Zündschnüre und der Plastiksprengstoff. Anschließend gruben wir am Strand ein Loch und versenkten darin den Sprengstoff. Die Zündkapsel befestigten wir an der Zündschnur und steckten sie in den Plastiksprengstoff. Zu guter Letzt legten wir einen großen Stein oben drauf, zündeten die Schnur an und rannten wie bescheuert davon. Und BUMM – der Stein flog fünfzehn Meter durch die Luft. Es war toll! Später mischten wir uns unter die Schaulustigen und hörten zu, was sie zu murmeln hatten: »Was denkst du?« – »Weiß nicht – Außerirdische?« Ich habe keine Ahnung, was dem Dorfpolizisten durch den Kopf schoss, als er die Explosionen hörte. Schließlich musste er feststellen, dass das halbe Kliff ins Meer gerutscht war. Fast zwei Meilen der Küste waren nach unserem kleinen Experiment verschwunden! Nur ein unschuldiger Spaß, oder? Schulkinder bauen eine Menge Scheiße, warum auch nicht? Das ist doch ihre Aufgabe, oder? Den Erwachsenen auf die Nerven gehen, damit diese ein Kreuz zu tragen haben; wozu sind sie denn sonst gut?

Natürlich war das nichts im Vergleich zu meinem wachsenden Interesse am anderen Geschlecht. Sie müssen sich vor Augen halten, dass es zu der Zeit, in den Fünfzigern, noch keinen Playboy und kein Penthouse gab. Das höchste der Gefühle waren damals diese Magazine, die Sachen wie Tennis spielende Nudisten brachten – Health and Efficiency und so’n Scheiß. So waren die Fünfziger. Und manche Leute nennen sie die Zeit der Unschuld. Scheiß drauf – versuch’ mal darin zu leben!

Meine sexuelle Erziehung begann sehr früh – ich war gerade den Windeln entwachsen. Meine Mutter brachte ungefähr drei Onkel mit nach Hause, bevor wir uns auf einen als Vater einigten. Für mich war das immer okay. Sie war einsam und schuftete den ganzen Tag, um mich und meine Oma zu ernähren. Ich hatte kein Problem damit, etwas früher ins Bett zu gehen. Und wenn man auf dem Land aufwächst, stößt man des Öfteren auf Leute, die es auf den Feldern, hinter Büschen und im Wald treiben. Zudem gab es auch auf dem Land Autos, deren Fenster beschlagen waren – wenn man Glück hatte, konnte man einen Blick auf ein nacktes Bein oder eine Brust erhaschen, wenn das Pärchen vom Vordersitz auf den Rücksitz kletterte. Zu der Zeit waren diese Röcke mit den zwei Petticoats darunter in Mode. Die konnte man rumsausen lassen, wenn man den Jive tanzte – also tanzte ich eine Menge. Ich hörte damit allerdings auf, als der Twist aufkam, denn beim Twist durfte man die Frau auf einmal nicht mehr berühren. Eine Beleidigung für einen Tänzer wie mich! Und dabei hatte ich gerade erst die pubertäre Wollust entdeckt. Ich wollte dicht herankommen, die direkte Erfahrung, die Wärme fühlen. Das gegenseitige Befummeln und so was.

So richtig los ging es dann mit vierzehn. Ich arbeitete in einer Reitschule und ich entdeckte mein Verlangen nach Frauen: egal ob groß oder klein, dick oder dünn. Selbst Konfession, Alter, politische Überzeugung und Haut- und Haarfarbe waren mir egal. Hauptsache Frau. Ganz Manchester und Liverpool schienen im Sommer in unser kleines Seebad zu kommen. Während ihrer Ferien vergnügten sich Collegestudentinnen in unserer Reitschule. Und die Pfadfinderinnen kamen jedes Jahr en masse – die ganze Truppe, mit Zelten und Zeug. Aber mit nur zwei Pfadfinderführerinnen, um auf sie aufzupassen – ha! Wem wollten die etwas vormachen? Wir würden zu den Miezen kommen, und wenn wir Taucheranzüge anziehen mussten! Und die Mädchen fühlten offenbar genauso. Sie waren lernbegierig und wir waren lernbegierig. Und so lernten wir gemeinsam. Glauben Sie mir, wir lernten jede Scheißnote.

Den Job in der Reitschule nahm ich an, weil ich Pferde mochte. Das tue ich immer noch, denn Pferde machen Frauen scharf. Ein Pferd hat sexuelle Kraft. Frauen mögen es, ohne Sattel zu reiten, und nicht aus den offensichtlichen Gründen. Ich denke, dass sie ohne Sattel reiten, um den Körper des Tieres direkt auf der Haut zu spüren. Ein weiterer Grund, warum Frauen auf Pferde stehen, ist die Stärke dieser Tiere. Ein Pferd kann mit dir tatsächlich machen, was es will, was es aber nicht tut, denn bis auf wenige Ausnahmen sind es keine launenhaften Tiere. Sie beugen sich dir. Ich schätze, das ist es, was Frauen an Pferden mögen – ein starkes Wesen, das nachgibt, ohne Widerstand zu leisten, oder wenigstens seine Rechte zu behaupten. Ein Pferd kann zwar nicht abspülen, aber diesen kleinen Schönheitsfehler nehmen Frauen gern in Kauf.

Ich hatte mich in Ann verliebt. Sie war fünf Jahre älter als ich, was in dem Alter eine unüberwindbare Kluft darstellt. Ann war sehr groß. Sie bestand hauptsächlich aus Beinen und hatte zudem eine gebrochene Nase, aber ich fand sie unwiderstehlich – ich war verliebt. Alles in allem war sie sehr attraktiv. Doch sie hatte einen kleinen Fehler. Sie ging mit diesem wirklich hässlichen Kauz aus. Das konnte ich nicht verstehen. Einmal habe ich sie beim Bumsen in einer Scheune erwischt. Als ich auf Zehenspitzen wieder hinausschlich, dachte ich nur: »Mein Gott!« Aber die lustigste Episode aus der Pfadfinderinnenzeit erlebte ich mit meinem Freund Tommy Lee.

Tommy hatte nur einen Arm. Er war Elektriker. Einmal legte er seinen Finger auf den falschen Draht und der Schlag hat ihm den Arm bis zum Bizeps abgebrannt. Sie mussten den Rest auch noch entfernen und seine Schulter vernähen. Danach war er nicht mehr derselbe. Tommy hörte eine Menge Dinge, die nur er hören konnte. Aber wie dem auch sei, er hatte diesen falschen Arm mit einem schwarzen Handschuh dran, den er an seinem Gürtel festhakte oder in die Tasche steckte. Eines Nachts statteten wir den Pfadfinderinnen mal wieder einen unserer Besuche ab. Wir krochen unter der Hecke durch und weiter durch die Brennnesseln – wenn man vierzehn ist, macht einem das nichts aus –, für ein Mädchen tut man alles. Tommy verschwand mit seinem Mädchen in einem Zelt und ich mit meinem in ein anderes. Nur das unregelmäßige Quietschen der Feldbetten störte die nächtliche Pfadfinderruhe. Danach bin ich etwas eingedöst, wie Leute das eben so tun, weil es sich alles so nett anfühlt – deshalb tue ich es heute immer noch. Plötzlich wurde ich aufgeschreckt.

»[Zack] Au! [Zack] Au! [Zack] Au! [Zack] Au!«

Ich schaute verdattert unter der Zeltklappe hervor und ich sah Tommy. Nackt. Die Klamotten unter seinem einen Arm, rannte er wie ein Verrückter umher. Ihm dicht auf den Fersen eine wütende Pfadfinderführerin, die Tommy mit seinem eigenen Arm auf den Kopf schlug! Ich konnte mich vor lauter Lachen nicht von der Stelle bewegen, ich war einfach hilflos. Ich musste so sehr lachen, dass sie mich erwischten!

Nachdem ich also den Sex für mich entdeckt hatte, war es Zeit für Rock ’n’ Roll. In den ersten zehn Jahren meines Lebens hat der Rock ’n’ Roll quasi überhaupt nicht existiert. Es gab nur Frank Sinatra und Rosemary Clooney und »How Much Is that Doggie in the Window?« – das war monatelang an der Spitze der Charts! Ich habe die Geburt des Rock ’n’ Roll aus erster Hand erlebt. Als Erstes hörte ich Bill Haley & The Comets – ich glaube, es war »Razzle Dazzle«. Dann kamen »Rock Around the Clock« und »See You Later Alligator«. Die Comets waren bei Tageslicht betrachtet eine eher schwache Band, aber sie waren zu der Zeit die Einzigen. Und der einzige Sender der Rock ’n’ Roll spielte, war Radio Luxemburg. Den allerdings in Wales zu empfangen, war alles andere als einfach. Ständig wurde das Signal schwächer und so musste man immer am Senderknopf drehen, um überhaupt etwas zu empfangen. Da sie nur zu Beginn des Liedes den Interpreten ankündigten, brauchte ich Monate um herauszufinden wer »What Do You Want to Make Those Eyes at Me For?« singt: Emile Ford and the Checkmates. Emile Ford and the Checkmates hatten fünf Hits in England und Emile war ein Star, bis man ihn dabei erwischte, wie er einem Kind Geld für ein Autogramm abnehmen wollte. Das hat ihn erledigt. Die Checkmates haben noch eine Weile alleine weitergemacht, aber das war nichts mehr.

Platten musste man damals bestellen. Die konnte man nicht einfach im Laden kaufen. Bis die Platte dann eintraf, konnte schon mal ein Monat vergehen. Die erste 78er, die ich mir kaufte, war von Tommy Steele, der britischen Antwort auf Elvis Presley. Dann bekam ich »Peggy Sue« von Buddy Holly. Von ihm ist auch mein erstes richtiges Album The Buddy Holly Story, das ich mir kurz nach seinem Tod besorgte. Ich habe Buddy Holly noch live gesehen, im New Brighton Tower. Ein Beweis, dass ich ganz schön alt bin – ich habe Buddy Holly live gesehen!

Es dauerte lange, bis ich eine Elvis-Presley-Platte kaufte – die erste war glaube ich »Don’t Be Cruel«. Sein Stil, sein Aussehen waren toll und er war wirklich einmalig, aber ich fand, dass er lange nicht so gut wie Buddy Holly und Little Richard war. Presleys Problem waren seine schlechten B-Seiten. Alben waren damals anders: Ein Album konnte die Sammlung der letzten sechs Hitsingles und deren B-Seiten sein. Also waren Elvis’ Alben zur Hälfte Mist. Er begann erst gute B-Seiten zu machen, als er »I Beg of You« aufnahm. Buddy Holly hat nie ein schlechtes Stück gespielt, soweit ich das hören konnte. Ein weiteres Vorbild für mich war Eddie Cochran. Er arbeitete damals in einem Studio in Hollywood, und wenn jemand eine Stunde früher fertig war, ist er rein und hat eine Platte gemacht. Und er hat all seine Sachen selbst geschrieben und produziert. Er war der Erste, der das getan hat – ein sehr innovativer Kerl. Ich wollte ihn mir auf dem zweiten Teil seiner England-Tournee ansehen, aber dann hatte er den tödlichen Unfall in der Nähe von Bristol. Sein Tod hat mich sehr erschüttert. Wegen ihm und Buddy Holly griff ich selbst zur Gitarre.

Aber die Mädchen waren mindestens zu sechzig Prozent dafür verantwortlich, dass ich spielen wollte. Am Ende des Schuljahres entdeckte ich, was für ein unglaublicher Muschi-Magnet Gitarren waren. Nach dem Examen hängt man eine Woche im Klassenraum rum, ohne etwas zu tun, und ein Typ brachte eine Gitarre mit. Er konnte überhaupt nicht spielen, aber er war sofort von Frauen umringt. Ich dachte: »Ah, also das sieht viel versprechend aus!« Meine Mutter hatte eine alte Hawaiigitarre, die an einer Wand in unserem Haus hing – sie hatte sie als Kind gespielt, und ihr Bruder spielte Banjo. Ein Glücksfall, denn nicht viele Leute hatten 1957 eine Gitarre im Haus. Hawaiigitarren waren damals gerade sehr in. Wie Steelgitarren hatten sie einen flachen Hals und angehobene Bundstäbchen. Die von meiner Mutter war mit eingelegten Mustern aus Perlmutt versehen.

Ich schleppte das verdammte Ding mit in die Schule. Und es hat tatsächlich funktioniert! Obwohl ich überhaupt nicht spielen konnte, war ich augenblicklich von Frauen umringt. Das war das einzige Mal in meinem Leben, dass etwas so unmittelbar funktionierte. Schließlich musste ich feststellen, dass die Mädchen von mir erwarteten, das Ding auch zu spielen. Auf einer Hawaiigitarre mit angehobenen Saiten war das ziemlich schwierig.

Mit fünfzehn konnte ich dann »Rock Around the Clock« spielen, was ich auf einer Klassenfahrt nach Paris an einem Abend drei Stunden lang zum Besten gab. Obwohl ich mir kurz zuvor mit einem Klappmesser beinahe meinen Zeigefinger abgeschnitten hatte. Doch die Mädchen fanden es cool, als das Blut über meine Gitarre strömte. So müssen sich Indianer gefühlt haben, die mit bloßen Händen einen Grizzly erledigen wollten. Für sie bluten!

Zu Hause wussten meine Mutter und mein Stiefvater genau, was ich vorhatte. Es war ziemlich offensichtlich – sie sahen die Mädchen kommen und gehen. Mittlerweile wohnte ich in der Garage, in der ich auch die Mädchen verführte. Ich glaube mein Stiefvater war ein Voyeur. Er kam öfter rein, immer dann, wenn ich gerade loslegte. »Weißt du, dass du auf einem Mädchen liegst?«, rief er scheinheilig.

»Klar weiß ich, dass ich auf einem Mädchen liege«, antwortete ich. »Wie machst du es denn?«

Kurz nach der Parisfahrt flog ich von der Schule. Mit ein paar Freunden hatte ich mir frei genommen. Wir nahmen am Nachmittag den Zug zum anderen Ende der Insel und kamen gerade rechtzeitig zurück, um den Bus nach Hause zu erwischen. Aber wie es der Zufall nun mal so wollte, hatten uns ein paar Scheißkerle aus einer anderen Klasse auf dem Bahnsteig gesehen und uns verpfiffen. Ich wurde zum Schulleiter gerufen. Er war ein richtiger Schwachkopf, ein Vollidiot. Ich glaube, er ist nur Schulleiter geworden, weil er zu alt war, um was Richtiges zu werden. Zwei verdammte Wochen versuchte er mich kleinzukriegen. Jede Pause musste ich in seinem Büro antreten.

»Du bist von zwei Holyhead-Jungs gesehen worden, als der Zug wendete«, erzählte er mir.

»Das war ich nicht«, behauptete ich. »Ich war nie da.«

Da lernte ich zu lügen. Ein weiterer Nebeneffekt der Disziplin. Denn wenn du nicht lügst, steckst du in der Scheiße. Der langen Rede kurzer Sinn, er wollte mir den Stock geben, zwei auf jede Hand. Das war direkt nach meinem Missgeschick mit dem Klappmesser in Paris. Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis es zu heilen anfing. Können Sie sich vorstellen, wie man aus so einer Schnittwunde blutet? Jedes Mal, wenn dein Herz schlägt – ba-bumm – spritzt das Blut geradewegs durch das ganze Zimmer! Ich muss zu der Zeit einen halben Liter verloren haben. Ich fragte den Schulleiter: »Könnte ich vier auf eine Hand kriegen, wegen meines Fingers?«

Aber nein, das kam nicht in Frage. Er stand gelassen da, hob meine Hand hoch und – Zack! Überall das Scheißblut! Und als wäre nichts geschehen, sagte er: »Nimm die andere Hand hoch.«

»Du Scheißkerl«, dachte ich und als der Stock niederfuhr, schnappte ich ihn mir und schlug ihm auf seinen Kopf.

»Ich denke, du wirst einsehen, dass deine Gegenwart hier nicht mehr erwünscht ist«, sagte er mit einem zornigen Blick.

»Ich wollte eh nicht wiederkommen«, sagte ich ihm, und damit war ich zur Tür raus.

Es waren sowieso nur noch sechs Monate übrig, und sie kamen nie zu mir wegen unentschuldigten Fehlens. Daheim erzählte ich nichts, sondern verließ brav jeden Morgen das Haus, als würde ich zur Schule gehen. Stattdessen ging ich zum Arbeiten in die Reitschule. Ich hatte noch jede Menge anderer Jobs – Zeit hatte ich ja jetzt im Überfluss. Ich war Anstreicher bei einem schwulen Typen, Mr. Brownsword. Was für ein Name? Absolut perfekt für einen Schwulen. Mr. Brownsword mochte mich nicht. Er war vielmehr hinter meinem gut aussehenden Freund Colin Purvis her. Was mir ganz recht war, so hatte ich meine Ruhe, denn ich musste nur sagen: »Mr. Brownsword, Colin streicht hier drin. Ich gehe schon mal nach oben.«

Dann zogen wir von der Insel runter auf eine Farm in Conwy, an der Küste von Wales, direkt oben in den Bergen. Ich bin mit den Hirtenhunden durch die Felder gestreift. Dort habe ich gelernt, alleine zu sein, ohne dass es mir was ausmacht. Bis heute macht es mir nichts aus, alleine zu sein. Viele Leute finden das seltsam, aber ich finde es großartig.

Mein Stiefvater besorgte mir dort einen Job in einer Fabrik. Einer Waschmaschinenfabrik! Meine Aufgabe bestand darin, vier Messingmuttern auf ein Ding zu schrauben. Dann kam eine Maschine herunter und trieb Wellen in ihre Seiten. Dann musste ich die Teile abnehmen und in einen Karton schmeißen. 15.000 Stück. Wenn du mit der Ladung fertig warst und irgendwie das Gefühl hattest, doch etwas geleistet zu haben, dann kam so ein Idiot und hat den Karton mitgenommen, um dir einen leeren wieder hinzustellen. Wenn man nicht ’ne Schraube locker hat, dann kann man so etwas nicht machen. Ehrlich. Denn diese Art von Arbeit macht doch jeden halbwegs intelligenten Menschen total wahnsinnig. Ich weiß nicht, wie die anderen Leute das gemacht haben. Ich schätze, sie haben ihre Intelligenz am Fabrikeingang abgegeben oder zumindest ausgeschaltet, weil sie Verpflichtungen hatten.

Jeder sucht doch etwas Besseres und geht von zu Hause weg. Doch am Ende kehren sie alle wieder zurück. Ich hatte aber andere Pläne mit meinem Leben. Also ließ ich meine Haare wachsen, bis die Fabrik mich feuerte. Ich wäre lieber verhungert, als dorthin zurückzugehen. Ich hatte sehr viel Glück und war auf gewisse Art und Weise privilegiert, dass ich die Kurve noch kriegte.

ZWEITES KAPITEL

Fast and Loose

Ich brauchte einen Kameraden und den fand ich in Ming. Er nannte sich Ming nach dem Kaiser in Flash Gordon. Ming hatte lange Haare und einen langen, runterhängenden Schnurrbart. Unsere meiste Zeit verbrachten wir in Cafés und Tanzlokalen. Wir hingen rum und spannten nebenbei den anderen Kerlen einfach die Mädchen aus.

Nachdem wir das eine Zeit lang getan hatten, kamen wir auf die großartige Idee, Drogen zu nehmen. Einer meiner Freunde von Anglesey, Robbie Watson aus Beaumaris, versorgte uns mit allem, was wir wollten. Robbie hatte einige Zeit in Manchester gelebt und sehr lange Haare, was uns mächtig beeindruckte. Zuerst rauchten wir ein wenig Dope. Doch eines Abends in der Venezia Coffee Bar in Llandudno gab mir Robbie eine Ampulle Speed – Methamphetaminhydrochlorid – mit einem kleinen Totenschädel und gekreuzten Knochen drauf. Man sollte sie in seinen Arm spritzen.

Doch schon damals verspürte ich wenig Lust, mir irgendetwas in den Arm zu rammen, und bis zum heutigen Tag bin ich von meiner Überzeugung keinen Millimeter abgerückt. Denn man gewöhnt sich sonst an das beschissene Ritual. Ich habe Leute gesehen, die einen unheimlichen Scheiß mit Nadeln angestellt haben: Sie spritzten Wasser, nur um eine Ausrede zu haben, sich die Nadel in ihre Arme zu jagen. Robbie war so einer und er wollte es mir schmackhaft machen. Aber ich schüttete es in eine Tasse mit Schokolade und trank es.

Zu ihrem Unglück stand an jenem Abend eine besonders gut aussehende Bedienung hinter dem Tresen. Ich habe sie ohne Punkt und Komma mehrere Stunden vollgelabert. Robbie versicherte ich immer wieder, dass es bei mir nicht wirkt, und in der nächsten Sekunde kaute ich schon wieder der Bedienung ein Ohr ab. Die Arme. Keine Ahnung, wie sie mein Gesabbel ausgehalten hat, aber ich fühlte mich einfach großartig – ich war einfach der King! Leider gibt es ein Problem – irgendwann lässt die Wirkung nach. Robbie war lange Zeit mein bester Freund, denn er besaß eine ganz spezielle Art von Humor, die äußerst selten geworden ist. Trocken, mit einer gehörigen Portion Ironie. Seit mehr als zwanzig Jahren ist er schon tot – eine Nadel zu viel. Noch Fragen? Aber zurück zu Ming und mir.

Mit ihm verließ ich Wales und wir zogen östlich, um unser Revier zu erweitern. Nach Manchester. Der Grund waren natürlich ein paar Mädchen, die wir in den Ferien in Colwyn Bay aufgerissen hatten. Es war richtig ernst – ich war sechzehn – mit Heiraten und dem ganzen Scheiß. Doch am Ende lief es natürlich wieder nur auf das eine hinaus: Sex. Und wenn wir ehrlich sind, so sind sie auch besser dran, als wenn sie mit uns vor den Altar getreten wären.

Wie das Mädchen von Ming hieß, weiß ich beim besten Willen nicht mehr, aber meine Auserwählte hörte auf den Namen Cathy. Sie war gerade fünfzehn Jahre alt, aber wissbegierige fünfzehn. Am Ende der Ferien gingen die zwei Mädchen zurück nach Stockport und wir einfach hinterher. Mit Ming nahm ich mir eine Wohnung in der Heaton Moor Road. Sehr schnell gingen bei uns die Leute ein und aus. Da die meisten keine richtige Bleibe hatten, schliefen sie bei uns auf dem Sofa oder einfach auf dem Boden. Innerhalb eines Monats waren wir sechsunddreißig in einem Zimmer! Der Einzige, an den ich mich erinnere, war ein Typ, der sich Moses nannte. Und wenn man dem Charlton-Heston-Film glauben darf, sah er ihm sogar sehr ähnlich.

Dann wurde Cathy schwanger … ich meine, sie war wunderbar, aber sie war fünfzehn – ich sah mich hinter Gitterstäben! Ihr Vater schrieb Briefe an meinen Stiefvater, in denen er mich einen walisischen Beatnik im Exil nannte. Die zwei werdenden Großväter arbeiteten einen von jenen »zweckmäßigen« Plänen aus. Das Baby, Sean, wurde nach der Geburt adoptiert. Trotz der besonderen Umstände machte Cathy ihre Abschlussprüfungen im Entbindungsheim, wo ich sie oft besuchte. Sie legte gewaltig zu, und ich heiterte sie so gut es ging auf, indem ich sie mit »Hallo Dicke« begrüßte, was sie ebenfalls mit Humor nahm. Sie war ein tolles Mädchen, meine erste Liebe. Später habe ich Cathy aus den Augen verloren – keine Ahnung warum. Doch vor zwei, drei Jahren hat sie mich kontaktiert, gerade rechtzeitig für dieses Buch … Sie erzählte, dass sie Sean gefunden hatte, aber das werde ich hier nicht vertiefen – er soll sein eigenes Leben haben.

Was meine Wohnsituation angeht, so saßen wir – meine sechsunddreißig Zimmergenossen und ich – sehr schnell auf der Straße. Irgendwie hat der Vermieter wohl die Gasrechnung, die sich zu dem Zeitpunkt wohl geschätzten £ 200.000 angenähert haben dürfte, zu Gesicht bekommen. Ich war plötzlich allein. Denn mein »furchtloser Abenteurer« Ming zog es vor, zurück nach Wales zu kehren, um schließlich als Bürohengst im Sozialamt sein Heil zu finden. Und mir will immer alle Welt weismachen, dass es einen Sinn im Leben gibt.

Zu jener Zeit war unter den jungen Menschen auf dem Land eine besondere Beschäftigung sehr weit verbreitet: das Herumtreiben. Natürlich wurde ich sofort Teil dieser Jugendbewegung. Als Erkennungsmerkmal haben wir alle US-Armeejacken getragen. Die wasserdichten mit dem doppelten Futter. Die waren sehr billig und alle die man kannte, mussten sich mit ihrem Namen auf der Jacke verewigen. Jeder hatte praktisch ein Autogramm von jedem. Wir trampten durchs Land und übernachteten bei Mädchen. Oder in abgestellten Bahnwagen oder sonst irgendwo, immer auf der Suche nach den Mädchen. Es war eine große Sache, »unterwegs« zu sein. Es war die Zeit von Bob Dylan – nur die Gitarre und ein Schlafsack auf dem Rücken. Eine Menge Mädchen stehen auf Abenteuer mit Durchreisenden. Bei Tageslicht betrachtet ist es eine der ältesten Traditionen: der Zirkus, die Soldaten, die Piraten, die Rockbands auf Tour – die Mädchen finden sie immer. Ich glaube, die Frauen sehen etwas Romantisches darin und stehen darauf, wenn der Typ heute hier und morgen da ist. Ich steh auch drauf, was aber nicht weiter verwunderlich ist, denn schließlich bin ich ja selbst ein Typ. Die Zeiten, Anfang der Sechziger, waren der Wahnsinn. Wir ließen unsere Haare bis zum Arsch wachsen, lebten einfach in den Tag und auf Kosten der Mädchen. Denn die plünderten die Kühlschränke ihrer Eltern, um uns zu verpflegen. Wir kamen uns vor wie verurteilte Verbrecher auf der Flucht, denen die Frauen Zuflucht und eine Mahlzeit gewährten. Die Mädchen sahen es wohl ähnlich. Sie suchten den besonderen Kick und wir etwas zu essen.

Doch es war nicht immer spaßig, denn des Öfteren wurde ich beim Trampen auch verprügelt. Die Arschlöcher von Lastwagenfahrern hielten einfach an, um mir einen überzubraten. Oder wenn man besonderes Glück hatte, stieg man zu einem schwulen Lastwagenfahrer in die Kabine.

»Hallo, Sohn. Wie weit soll’s denn gehen?«

»Manchester.«

»Manchester, alles klar. Ich würde gern deinen Schwanz lutschen.«

»Ich steige dann hier aus.«

Unsere Wohnung in Heaton Moor entwickelte sich in der kurzen Zeit zu einer Kommune. Wenn einer ein Mädchen hatte, war es mörderisch: Du warst in der Dunkelheit von riesigen Augen umgeben, und du konntest dir sicher sein, dass die Typen besser sehen konnten als irgendwelche Nachtsichtgeräte des KGB. Aber Sex hat damals wesentlich mehr Spaß gemacht – es waren nicht so furchtbare Dinge damit verbunden wie heute. Sex sollte Spaß machen, anstatt all dieser Stigmatisierung – »Oh, du willst nur das Eine!« Also, natürlich will ich, du nicht?! Wenn es keinen Spaß mehr macht, dann hör damit auf, um Gottes willen.

Wir sind damals alle zum Mersey Square betteln gegangen. Unsere »Einnahmen« teilten wir dann brüderlich. Hauptsächlich ernährten wir uns von Ambrosia Sahnereis. Wie beim Dosenschießen wird ein Loch in die Reisdose gemacht und dann der Inhalt herausgesaugt. Eine echte Delikatesse damals – und kalt viel schmackhafter. In dieser Zeit habe ich meine Vorliebe für kaltes Essen entwickelt, die ich bis heute nicht abgelegt habe – ich kann kaltes Steak essen, kalte Spaghetti, sogar kalte Pommes Frites, und da gehört einiges dazu! Hauptsache sie sind ordentlich salzig.

Manchester ist nicht weit von Liverpool entfernt, und in den frühen Sechzigern kam unglaubliche Musik aus den beiden Städten. Durch beide Städte fließt der Fluss Mersey. Deshalb wurde die örtliche Musikszene Merseybeat getauft. Einige Bands gingen so weit, den Flussnamen in ihren Bandnamen einfließen zu lassen, wie etwa die Merseybeats oder die Mersey Squares, die unserem Bettelplatz mit ihrem Namen ein Denkmal setzten. Es gab Hunderte von Bands, die aus Manchester und Liverpool kamen, und sie alle spielten die gleichen zwanzig Songs – »Some Other Guy«, »Fortune Teller«, »Ain’t Nothing Shaking but the Leaves on the Trees«, »Shake Sherry Shake«, »Do You Love Me« … Alle Bands von 1961 bis 1963 waren Coverbands – auch die Beatles.

Um sich voneinander zu unterscheiden, mussten die Bands auf irgendeine Art und Weise ihre Originalität unter Beweis stellen. So konnte es passieren, dass an einem Abend die Vorband stolz verkündete: »Wir spielen jetzt »Fortune Teller« von den Merseybeats.« Dann kamen die Merseybeats auf die Bühne und kündigten denselben Song wie folgt an: »Jetzt spielen wir »Fortune Teller« von Benny Spellman.« Sehr originell. Oder die Bands nahmen sich einen alten Standard und haben diesen aufgepeppt. Rory Storm and the Hurricanes haben zum Beispiel aus »Beautiful Dreamer« alles rausgeholt. Das hat gerockt. Aber eine Band, die sich wirklich von den anderen unterschied, war Johnny Kidd and the Pirates. Johnny trug eine Augenklappe, ein gestreiftes Hemd und Piratenstiefel. Das war etwas anderes – einfach ein originelles Bühnen-Outfit. Und die Pirates sind die Erfinder des Stroboskoplichts – ihr Roadie musste den Lichtschalter einfach sehr schnell an- und ausschalten. Für ihren Gitarristen Mick Green habe ich immer das Equipment getragen, so dass ich für ihre Shows nichts zahlen musste. Jahre später habe ich eine Platte mit Mick aufgenommen. Doch Einzelgänger wie er kamen damals nicht groß raus. Der Einzige, der es trotz seiner Eigenbrötlerei geschafft hat, ist Eric Clapton. Wie Sie wissen ist er heute ein Weltstar.

Eine weitere tolle Band waren die Birds – nicht zu verwechseln mit den amerikanischen Byrds. Diese Birds hatten Ronnie Wood, der später mit den Rolling Stones Karriere machte, an der Gitarre. Die Birds waren pure Magie, verdammt gut, ihrer Zeit weit voraus. Nach nur drei Singles waren sie wieder verschwunden, aber in ihrer aktiven Zeit folgte ich den Birds überallhin – ich schlief sogar in ihrem Bus. Ich spielte zu der Zeit in der Band The Motown Sect, und wir hatten die Ehre, mit den Birds zu spielen. Das Line-up der Birds: Ali McKenzie sang, Ron und Tony Munroe spielten die Gitarren, Pete McDaniels war am Schlagzeug und Kim Gardner am Bass. Kim war ein großartiger Bassist und betreibt heute ein Restaurant in Hollywood: Cat and the Fiddle. Die Birds waren eine sehr gut aussehende Band, allen voran Ronnie in seinem braunen Tweedanzug mit Fischgrätenmuster, seinen zweifarbigen Schuhen und seiner weißen Telecaster. Von ihrer Erscheinung her erinnerten sie an Mods, nur dass ihre Haare länger waren als bei den Mods. Das gefiel mir besonders, denn ich hatte meine Haare auch sehr lang – für die damalige Zeit zumindest. Was die Mode betrifft war England schon immer der Zeit voraus. Die Mods waren eine sehr merkwürdige Spezies. Sie hatten sehr kurze Haare und meistens einen Seitenscheitel, so wie John F. Kennedy. Ihre Hosen waren aus sehr dünnem Cordmaterial, die sie mit knallbunten Jacken und zweifarbigen Schuhen kombinierten. Das amerikanische Äquivalent wären wohl die Beach Boys gewesen, aber wir hatten mit Surfen nichts am Hut, denn bei uns spielte sich eher alles in den Städten ab. Und die Mods hatten Augen-Make-up, besonders die Jungs. Die Gruppe, zu der ich gehörte, mochte die Mods nicht, aber rückblickend war es nicht schlimmer, als das, was wir machten. Ich meine, wir hielten sie für Memmen und sie hielten uns für Penner – und wir hatten beide Recht.

Damals traf ich eine Menge Musiker, die später richtig Karriere machten, wie zum Beispiel Jon Lord. Er war und ist ein perfekter Musiker. Er spielte später bei Deep Purple, Whitesnake und Rainbow. Zu jener Zeit hieß seine Band The Artwood. Ron Wood ist der Bruder des Sängers Art Wood. Doch dazu später mehr.

An der Strandpromenade von Llandudno war das Washington, eine Kneipe, in deren Obergeschoss regelmäßig Konzerte stattfanden. Los ging es mit Jazz- und Bluesabenden wie mit Graham Bond, Ginger Baer und Dick Heckstall-Smith. Später dann die Downliner Sect, Alan Skidmore und dann eines Abends die Artwoods.

Ich war im Publikum – bewunderte vor allem ihr immenses Equipment – und sie spielten ziemlich gut, wie ich von meinem hohen Kritikerthron in Nordwales befand. Nach der Show unterhielt ich mich mit Jon Lord und er bot mir an, mich mit zurück nach Colwyn Bay zu nehmen. Eine Entscheidung, die er später sicher sehr bereut hat, denn der arme Trottel gab mir seine Adresse in West Drayton, in der Nähe von London. Drei Wochen später zog ich los. Ich glaubte wirklich, dass dieser Rockstar in einer riesigen Villa residiere und für mich bestimmt ein Plätzchen in einer seiner unzähligen Dienstbotenkammern hätte. Und er würde mich den ganzen anderen Rockstars vorstellen, mit denen ich dann meine Karriere starten würde.

Leider nur Träume. Die Adresse entpuppte sich als Haus in einer Sozialbausiedlung. Um drei Uhr morgens klingelte ich Sturm.

Eine süße alte Dame öffnete die Tür: »Ja, wer ist da?«

»Ich bin’s«, sagte ich, »Lemmy aus Nordwales.«

»Hä?«

»Jon Lord wird sich an mich erinnern. Von ihm habe ich die Adresse.«

»Oh, nein, mein Lieber, er ist auf Tour in Dänemark!«

Warum hatte ich diese Möglichkeit nicht bedacht? Ich war jung und dumm, darum.

»Oh …«, stammelte ich.

Sie sah mich an. Ich sah sie an.

»Äh«, stammelte ich erneut. Es wurde still zwischen uns.

Dann sagte sie etwas, für das ich ihr ewig dankbar sein werde: »Na ja, macht nichts, Sie können auf dem Sofa schlafen und wir sehen morgen früh weiter.« Das hat man nicht sehr oft in unserer schönen neuen Welt!

Beim Aufwachen sah ich Ron Wood und drei andere Gestalten, die sich über mich beugten und mich anstarrten. »Ey, was machste ’n auf ’m Sofa meiner Mutter, hä?« Ich hatte auf dem Sofa von Mrs. Wood übernachtet, der Mutter von Ron und Art. Und nebenbei beherbergten sie auch noch Jon Lord. Wenn das mal kein Zufall ist, oder? So kam es, dass ich abends zu einem Gig der Birds ging, und dann ging ich nach Sunbury an der Themse – aber dazu später mehr.

Doch die beste Band der Welt waren die Beatles, und so etwas wie die Beatles wird es niemals wieder geben. Wahrscheinlich muss man wirklich dabei gewesen sein, um zu verstehen, was ich gerade gesagt habe. Heute denken vor allem die Jüngeren, dass die Beatles nur eine Band waren, aber das waren sie nicht. Sie waren ein weltweites Phänomen. Jeder veränderte sich durch die Beatles, sogar Politiker. Der Daily Mirror berichtete täglich auf einer ganzen Seite darüber, was die vier geraten taten. Stellen Sie sich vor: eine überregionale Tageszeitung widmet eine Seite pro Tag einer Band? Sie waren riesiger als riesig.

Die Beatles revolutionierten den Rock ’n’ Roll, und sie veränderten auch das Aussehen der Leute. Heute erscheint es lächerlich, aber für damalige Zeiten hatten sie verdammt lange Haare. Ich dachte nur: »Wow! Wie kann ein Kerl so lange Haare haben?« Tatsächlich waren sie nur nach vorne gekämmt, mit ein paar Fransen über dem Kragen. Wir hatten damals alle Tollen – vor den Beatles gab es nur Entenärsche und Elvis.

Ich hatte das Glück, sie noch in ihren Anfangstagen spielen zu sehen. Im Cavern Club in Liverpool. Sie waren wirklich lustig, sie aßen Käsebrötchen, während sie sangen, und sie erzählten fortlaufend Witze. Sie waren urkomisch. Sie hätten eine Comedytruppe sein können. Und sie hatten seltsame Gitarren, wie sie keiner von uns zuvor gesehen hatte. John hatte seine Rickenbacker und Paul hatte diesen violinenförmigen Bass. Wir anderen spielten alle Stratocasters; ich meine, eine Strat war das beste, was man sich erhoffen konnte, Gibsons gab es noch nicht einmal. Und George spielte, glaube ich, eine Hofner Futurama, Gott steh ihm bei. Später hatte er eine Reihe von Gretsch’s. Diese seltsamen Typen mit ihren langen Haaren und den komischen Gitarren posierten in Hemdsärmeln, mit herausgezogenen Schlipsen! Alle anderen trugen diese fürchterlichen, steifen Anzüge, eingezwängt in diese schrecklichen italienischen Jacketts mit zehn Knöpfen, die ihnen die Luft nahmen. Die Beatles waren einfach eine Offenbarung.

Brian Epstein machte sie massentauglich, aber sie waren alles andere als Memmen. Die Beatles waren hart, denn sie waren aus Liverpool, was wie Hamburg oder Norfolk, Virginia, ist – eine raue Hafenstadt. Voll mit Dockarbeitern und Matrosen, die die Scheiße aus dir rausprügeln, wenn du sie nur schief anschaust. Ringo kommt aus Dingle, was der Bronx ziemlich ähnlich ist. Die Rolling Stones waren dagegen die reinsten Muttersöhnchen – sie waren alle Collegestudenten aus den Randgebieten von London. Sie gingen nach London, um zu hungern – aber sie taten das freiwillig! Ich mochte die Stones, aber sie kamen nie an die Beatles heran – nicht, was den Humor betraf, die Originalität, die Songs oder die Art der Darbietung. Alles, was sie hatten, war der herumtänzelnde Mick Jagger. Zugegeben, die Stones machten tolle Platten, aber auf der Bühne waren sie immer Scheiße, wohingegen die Beatles überragend waren.

Ich erinnere mich an einen Gig der Beatles im Cavern. Brian Epstein war gerade ihr Manager geworden. Jeder in Liverpool wusste, dass Epstein schwul war, und irgend so ein Typ im Publikum schrie: »John Lennon ist ’ne verdammte Schwuchtel!« Und John – der auf der Bühne niemals seine Brille trug – nahm seine Gitarre ab, ging von der Bühne ins Publikum und fragte: »Wer hat das gesagt?« Worauf der Typ antwortete: »Ich, verdammt noch mal.« John ging auf ihn los, und – gab ihm den Liverpooler Kuss, verpasste ihm ein Ding – und noch eins! Und der Typ ging zu Boden in einer Masse aus Blut, Rotz und Zähnen. Dann kletterte John wieder auf die Bühne zurück.

»Noch jemand?«, fragte er. Keiner wagte es auch nur zu atmen. »Also gut dann. ›Some Other Guy‹.«

Die Beatles öffneten die Tür für alle Bands aus der Gegend. Es war so, wie Seattle in den frühen Neunzigern – die Plattenfirmen kamen an und nahmen alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war, unter Vertrag. Oriole Records ließ die Gruppen drei Tage lang in einem Ballsaal vorspielen. Sie stellten Equipment auf und über siebzig Bands spielten je einen Song. Das Label nahm ungefähr die Hälfte von ihnen unter Vertrag.

Epstein hatte noch andere Bands neben den Beatles. Eine der Wenigen, die er hatte, die es nicht geschafft haben, waren die Big Three. Johnny Gustafson, der später bei Quatermass, Andromeda und dann den Merseybeats war, spielte Bass. Die Band hatte einen phantastischen Gitarristen, Brian »Griff« Griffiths, der diese alte, angeschlagene Hofner Colorama hatte – eine verdammt fürchterliche Gitarre mit einem Hals wie ein Baumstamm, aber er spielte unglaublich. Und der Schlagzeuger, Johnny Hutchinson, sang ganz alleine, was damals einmalig war – ein singender Schlagzeuger! Sie waren eine hervorragende R&B-Band, aber das Geschäft hat sie lahmgelegt. Die Band veröffentlichte eine Platte, mit der sie zufrieden waren, aber sie floppte. Sie hatten danach noch zwei Titel von Mitch Murray am Hals – er schrieb eine Menge dieser zuckersüßen Popsongs (einer davon war »How Do You Do It?« für Gerry and the Pacemakers). Irgendwie schafften sie es nicht und Epstein ließ sie fallen. Schade, denn sie waren eine tolle Band.

Ich war damals ebenfalls die ganze Zeit in Bands. Ich hatte schon das typische Lokalband-Ding in Wales mitgemacht. Aber zu der Zeit war es alles andere als einfach eine Band zusammenzustellen. Die erste Hürde, die es zu nehmen galt, war das Equipment. Denn ob einer gut Bass spielen konnte, war nicht so wichtig. Viel wichtiger war überhaupt einen Bass zu besitzen. Wenn er zudem noch über einen Verstärker verfügte, über den die andern auch spielen konnten, war er definitiv dabei. Ich hatte Glück, dass ich meine Hofner-Club-50-Gitarre hatte. Die hatte ich aus dem Wagstaff’s, einem Musikgeschäft in Llandudno. Der alte Wagstaff – er war ungefähr 107 und er war voll in Ordnung – führte sein Geschäft auf sehr altmodische Art und Weise. Für ein paar Pfund Anzahlung konnte man sich das Objekt der Begierde mitnehmen. Da nicht alle den vollständigen Preis bezahlten, machte er irgendwann pleite. Sein Sohn übernahm den Laden und hat ihn umgehend verkauft. Es wurde ein Geschäft für Damenunterwäsche.

Ich beschloss Gitarrist zu werden, nachdem ich Oh Boy (möglicherweise die beste Rockshow überhaupt) und 6-5 Special