Lenas Kieselsteine - Wilma Borghoff - E-Book

Lenas Kieselsteine E-Book

Wilma Borghoff

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Beschreibung

Die vierzehnjährige Lena läuft von zu Hause weg. Weg von ihrer nachlässigen Mutter und deren Lebensgefährten, der das Mädchen ablehnt. Lena will zu ihrer Tante nach Bayern, wo sie als kleines Kind 'heile Welt' erlebte. Nach einer ereignisreichen Odyssee erwartet sie in Bayern Familienleben, aber auch Konflikte mit der Verwandtschaft. Ihre Tante Jasmin nimmt Lena nur zögernd auf, da sie mit Lenas Mutter Clara, ihrer Schwester, schlechte Erfahrungen gemacht hat. Lena lernt bald den Nachbarjungen Noah kennen und freundet sich mit ihm an. Allerdings schleppt Noah ein Trauma mit sich herum, das Lena nur allmählich aufdeckt. Eine schwarze Katze hilft Lena mehrmals aus brenzligen Situationen heraus. Gibt es eine Verbindung zu Lenas Geburtstermin am 30. April - der Hexennacht? Als Lenas leiblicher Vater unerwartet in Bayern auftaucht, fragt sie sich, ob er seine Tochter kennenlernen will oder andere Absichten hat. Ein spannender Roman über ein junges Mädchen und das Erwachsenwerden, über Familienbande, Emotionen und dunkle Geheimnisse.

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Für Alma

Über das Buch

Die vierzehnjährige Lena läuft von zu Hause weg. Weg von ihrer nachlässigen Mutter und deren Lebensgefährten, der das Mädchen ablehnt. Lena will zu ihrer Tante nach Bayern, wo sie als kleines Kind ‚heile Welt‘ erlebte.

Nach einer ereignisreichen Odyssee erwartet sie in Bayern Familienleben, aber auch Konflikte mit der Verwandtschaft. Ihre Tante Jasmin nimmt Lena nur zögernd auf, da sie mit Lenas Mutter Clara, ihrer Schwester, schlechte Erfahrungen gemacht hat.

Lena lernt bald den Nachbarjungen Noah kennen und freundet sich mit ihm an. Allerdings schleppt Noah ein Trauma mit sich herum, das Lena nur allmählich aufdeckt.

Eine schwarze Katze hilft Lena mehrmals aus brenzligen Situationen heraus. Gibt es eine Verbindung zu Lenas Geburtstermin am 30. April - der Hexennacht?

Als Lenas leiblicher Vater unerwartet in Bayern auftaucht, fragt sie sich, ob er seine Tochter kennenlernen will oder andere Absichten hat.

Ein spannender Roman über ein junges Mädchen und das Erwachsenwerden, über Familienbande, Emotionen und dunkle Geheimnisse.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Prolog

»Ein Hexchen!«, hatte die Hebamme mit einem verschmitzten Lächeln gesagt, als sie das schreiende Baby ihrer Mutter auf den Bauch legte. So hatte Clara es ihrer Tochter Lena erzählt. Die Hebamme war Mitte fünfzig gewesen, hatte schon viele Kinder entbunden und die werdenden Mütter liebevoll betreut. Sie hatte 23.59 Uhr am 30. April als Geburtstermin eingetragen.

»Wieso Hexchen?«, hatte Clara mit matter Stimme gefragt. Sie betrachtete fasziniert ihr Neugeborenes und strich zart über das rotgebrüllte Gesichtchen.

»Es ist Walpurgisnacht«, klärte die Hebamme sie auf, klemmte die Nabelschnur ab und durchtrennte sie rasch. Der Vater des Babys, der die Nabelschnur hätte durchtrennen sollen, war bei der Geburt nicht dabei.

»Um Mitternacht – also jetzt – versammeln sich doch die Hexen, am liebsten auf dem Brocken im Harz, und tanzen«, erläuterte sie. »Deine Tochter wird bestimmt viele Fähigkeiten entwickeln!«

Clara hatte lieber nicht nachgefragt, von welchen Fähigkeiten die Hebamme sprach. Geschichten über Hexchen, tanzende Hexen am Brocken und besondere Nächte interessierten sie nicht. Sie war erschöpft nach der Geburt, die zehn Stunden gedauert hatte, und sie fragte sich, wie es weitergehen sollte. Ohne Ausbildung, ohne Job, ohne Vater für das Baby.

Vierzehn Jahre später hatte Clara immer noch keinen Plan.

Kapitel 1

Es war allerhöchste Zeit, dass sie endlich weglief.

Weglief von ihrer ewig nörgelnden Mutter, deren Alkoholexzessen und wechselnden Launen, der kleinen muffigen Wohnung. Weg von den Geschirrbergen auf der Spüle, von dem stinkenden Mülleimer, von den leeren Wein- und Schnapsflaschen. Weg von dem Gebrüll, dem Jammern ihrer Mutter, den Flüchen des Stiefvaters.

Aber wo sollte sie bloß hin?

Lena hatte ihr Ausreißen nicht geplant. Sie war aus der Schule nach Hause gekommen, die schmutzige Treppe in dem Mietshaus emporgestiegen, in dem es nach Kohl, Bier, Abfall und Schweiß stank. Auf der zweiten Etage schloss sie die Tür auf mit dem Schlüssel, den sie an einer Schnur um den Hals trug. »Warum trägst du den Schlüssel am Hals, wie ein Schlüsselkind?«, hatte eine Mitschülerin kürzlich gefragt. Lena hatte keine Antwort gegeben, sie wusste es selber nicht und hatte sich bisher keine Gedanken darum gemacht. Vielleicht war das der sicherste Platz, um den Schlüssel nicht zu vergessen oder zu verlieren.

Und als sie die Tür geöffnet hatte, beschloss sie, dass sie den Schlüssel nicht mehr brauchte. Sie wollte diese Wohnung nie wieder betreten.

Gebrüll schallte ihr entgegen. Ihre Mutter und deren Partner stritten sich wieder einmal. Lautstark. Schimpfworte flogen hin und her: »Du Schlampe«, »du Versager«, und Schlimmeres. Lena hatte gelernt, ihre Ohren zu verschließen. Der erbitterte Streit vom Vorabend klang ihr noch in den Ohren. Schnell weg mit den Gedanken an die Ursache des Streits.

Lena schlich sich leise und unbemerkt in ihr Zimmer. Sie öffnete ihren Kleiderschrank, auf dem obersten Regalbrett lag ihr Rucksack. Sie zerrte ihn hinunter und riss einige Winterpullover mit. Egal, es war Juli, sie würde keine Pullover brauchen. Sie kontrollierte rasch den Rucksack, er war intakt, ohne Löcher oder zerrissene Träger. Dann packte sie: mehrere T-Shirts, eine Jeans, eine beigefarbene Shorts, etwas Unterwäsche. Zum Glück hatte sie am Vortag gewaschen. Auf Zehenspitzen ging sie ins Badezimmer, nahm ihre Zahnbürste, eine Zahnpastatube, Gesichtscreme, einen Deoroller und ihre Haarbürste. Sie hatte vor einiger Zeit einen Kulturbeutel besessen, aber den fand sie nicht. Stattdessen stopfte sie die Toilettenutensilien in ein Seitenfach des Rucksacks.

Anschließend ging sie in die Küche und stolperte über einen Besen, der an die Wand gelehnt war. Mühsam unterdrückte sie einen Fluch und hoffte, dass die Erwachsenen nichts gehört hatten. Die Streitereien hatten aufgehört. Vorsichtig warf sie einen Blick ins Wohnzimmer: Ihre Mutter hatte einen arbeitsfreien Tag, sie und ihr Freund saßen nebeneinander auf der Couch und sahen fern. Eigentlich war es nicht der Freund, sondern der Ehemann ihrer Mutter, aber den Gedanken wollte Lena lieber verdrängen. Die beiden hatten am Vorabend ihren Hochzeitstag gefeiert und mit viel Alkohol begossen. Irgendwann war die Stimmung umgeschlagen und in einen lautstarken Streit gemündet. Die Ursache des Streits war sie, Lena, aber sie fühlte sich nicht schuldig.

Sie überlegte, was sie noch mitnehmen solle, und nahm zwei kleine Flaschen Mineralwasser, mehrere Äpfel und ein paar Müsliriegel und brachte sie in ihr Zimmer. Danach durchwühlte Lena die Schublade ihrer Kommode, in der sie ihre Socken aufbewahrte und geriet in Panik: Wo war ihr Geld? Hastig zerrte sie alle Socken heraus und zog sie auseinander. Endlich fand sie einige Banknoten, zusammen fünfundzwanzig Euro, in der hintersten Ecke, eingepackt in zwei Socken. Puh!

Nach kurzem Überlegen packte sie ihr Notizbuch, zwei Bleistifte und einen Spitzer ein. Das Notizbuch - mit einer stilisierten Katze auf dem Ledereinband – diente ihr als Tagebuch, in das sie unregelmäßig ihre Erlebnisse und Gedanken eintrug. Außerdem fertigte sie Skizzen von ihren Mitmenschen und ihrer Umgebung an. Ihr Zeichenlehrer sagte häufig, dass sie begabt sei, und hatte schon mehrfach versucht, ihre Mutter zu zusätzlichen Kursen außerhalb der Schule – zu überreden. Vergebens, Clara war noch nicht einmal zu einem Treffen mit dem Lehrer bereit gewesen. Aber Lena betrieb das Zeichnen weiter, manchmal half es ihr, Frust über die Zustände zuhause abzuladen. Besonders gelungen fand sie eine Skizze ihres Stiefvaters: das Gesicht verzerrt, Spucke spritzte aus seinem weit aufgerissenen Mund, der Zeigefinger war vorwurfsvoll ausgestreckt. Er zeigte auf sie, Lena.

Ups, beinah hätte sie das Ladekabel für ihr Handy vergessen. Sie stopfte es in die Vordertasche des Rucksacks, das Handy steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Fertig!

Ein erneuter Blick Wohnzimmer zeigte, dass ihre Mutter und der Mann mittlerweile auf der Couch eingeschlafen waren.

Kurz überlegte sie, ob sie eine Nachricht hinterlassen sollte, entschied sich aber dagegen. Die beiden im Wohnzimmer würden sie sicher nicht vermissen.

Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen dachte sie an ihren kleinen Bruder Leo, vier Jahre alt, Halbbruder genauer gesagt, der in der Kita war. Aber sie konnte ihn nicht mitnehmen. Er musste ohne sie klarkommen. Sie stellte den Küchenwecker auf kurz nach drei Uhr, damit Clara den Kleinen rechtzeitig von der Kita abholen konnte.

Lena legte den Wohnungsschlüssel auf die Kommode im Flur, schnappte ihre Jeansjacke und den Rucksack, ging hinaus und zog entschlossen die Tür hinter sich zu. Dann lief sie leichtfüßig die Treppe hinunter.

Kapitel 2

Lena hatte den Weg zum Bahnhof eingeschlagen, ihre Füße liefen wie von selber in diese Richtung. Der Bahnhof versprach Reisen, Freiheit, interessante Länder und wäre ein guter Start in ihr neues unabhängiges Leben.

Sie hätte mit dem Bus fahren können. Aber Weglaufen beinhaltete ‚Laufen‘, daher ging sie zu Fuß. Das Wetter war schön, warm, nicht zu heiß, die Sonne lachte vom blauen Himmel, und sie konnte auf dem Weg ihre Gedanken sortieren. Die Straßen waren belebt, sie begegnete einer Gruppe von Frauen mit Kopftüchern, eifrig schwatzend, eine junge Frau mit müdem Gesicht, die einen Kinderwagen schob, mehrere Jugendliche, die zusammenstanden und sich gegenseitig anrempelten. Lena bummelte die Straßen entlang, entspannt, gelassen. Die Abgase der Autos, die die Straßen verstopften, registrierte sie kaum. Sie hätte in die Luft springen können vor Freude, Freude darüber, dass sie endlich den Schritt weg von ihrer Mutter wagte.

Den kleinen Schatten, der zeitweise neben ihr herlief, bemerkte sie kaum. Mit einem schnellen Seitenblick sah sie eine magere schwarze Katze, die sich eng an die Häuser hielt, mit den Häusern zu verschmelzen schien, und zwischendurch zu Lena hochsah. Nach einiger Zeit war die Katze nicht mehr zu sehen und Lena fragte sich, ob sie halluziniert hatte.

Den Weg zum Hauptbahnhof konnte sie kaum verfehlen. Sie brauchte nur Richtung Kölner Dom zu gehen, der Bahnhof stand direkt daneben. Und der Dom überragte die Gebäude in seiner Nähe, immer wieder sah sie in den Straßen die Spitzen der beiden Türme über den Häusern aufragen. Unterwegs sah sie ihr Spiegelbild im Schaufenster eines Reisebüros. Lena blieb stehen und musterte sich. Jemand hatte ihr einmal gesagt, sie sähe ‚kapriziös‘ aus, was immer das bedeutete. Sie fand sich nicht hübsch, mit ihrem Gesicht, das meistens verdrossen in die Welt guckte, die Stirn gerunzelt, die Mundwinkel verdrießlich nach unten verzogen. Okay, der Kontrast zwischen ihren grünen Augen und den dunklen Augenbrauen und Haaren war anziehend. Aber hübsch? Außerdem war sie zu dünn, ihr Busen kaum entwickelt, trotz ihrer vierzehn Jahre. Ein Grund mehr, ihre Figur unter weiten T-Shirts und Hoodies zu verstecken. Sie war nicht geschminkt. Die meisten Mädchen in ihrer Klasse schminkten sich, trugen Wimperntusche und Lidschatten auf, versuchten mit Make-up die Pickel zu übertünchen. Aber Lena hatte nur wenige Pickel und wollte sich nicht schminken. Für wen auch? Schmuck trug sie ebenfalls kaum, lediglich eine billige Armbanduhr und mehrere Ohrringe.

Das Reisebüro, vor dem sie ihr Spiegelbild betrachtete, pries auf großen Plakaten Reisen in die Karibik an, in die Türkei und in die Alpen. Eine Gruppe von Jugendlichen wanderte einen Berg hinauf, mit Rucksäcken und Wanderstöcken.

Das Poster triggerte eine Idee: Sie würde ihre Tante in Bayern besuchen. Genial!, dachte sie und konnte nur mühsam ein zufriedenes Lächeln unterdrücken. Lena war in ihrem Leben vier oder fünf Mal in den Ferien bei der Tante gewesen, am schönen Starnberger See. Sie waren stets mit dem Zug hingefahren, und schon die Bahnfahrt hatte es ihr angetan. Das letzte Mal war schon ziemlich lange her, sechs Jahre mindestens. Aber sie konnte sich gut erinnern: Die Tante – wie hieß sie noch mal? Ach ja, Jasmin – war fast immer gut gelaunt. Sie sang in der Küche, lachte viel und hatte ihr Leben mit Job, großem Haus und Garten und Besuch von ihrer Schwester bestens im Griff. Und sie war Tierärztin! Ihre Tante hatte Lena in ihre Praxis mitgenommen, und einmal durfte sie mit der Tante zu einem kranken Pferd fahren. Das Pferd war braun-weiß gescheckt, Lena konnte sich genau daran erinnern, wie das Pferd auf der Weide gelegen und gestrampelt hatte. »Bauchschmerzen«, hatte die Tante ihr erklärt, und dem Pferd etwas gespritzt, das schnell gewirkt hatte. Seitdem stand für Lena ihr Berufswunsch fest: Sie wollte Tierärztin werden.

Lena kannte die Adresse der Tante nicht, nur dass das Haus in der Nähe des Starnberger Sees lag. Sie waren ein paar Mal im See schwimmen gewesen, das wusste sie noch. Das Wasser war ziemlich kalt und der Weg dahin mühsam gewesen. Das Ufer war mit Kieselsteinen unterschiedlicher Größe gespickt, und die Steine hatten sich in ihre empfindlichen Fußsohlen gebohrt, egal wie vorsichtig sie ihre Füße setzte. Aber die Qual hatte sich gelohnt, im See zu planschen war toll. Sie wollte damals unbedingt schwimmen lernen, und schaffte schon mehrere Schwimmzüge ohne abzusetzen, aber dann – was war noch mal passiert? Aus irgendwelchen Gründen war ihre Mutter auf einmal mit ihr nach Hause gefahren, bevor sie das Schwimmen erlernt hatte. Sie konnte sich genau an ihre tiefe Enttäuschung erinnern, daran, dass die Mutter keinerlei Erklärung für den plötzlichen Aufbruch gegeben hatte. Und seitdem hatte sie, Lena, kaum noch etwas von ihrer Tante Jasmin oder der Oma gehört. Jedes Jahr eine Weihnachtskarte und zum Geburtstag ein kleines Geschenk mit ein paar wenigen Zeilen. Keine Anrufe.

Sie überlegte – wie hieß die Tante mit Nachnamen? Es wäre sinnvoll, den Namen zu kennen, falls sie ihre Telefonnummer oder ihre Adresse suchen wollte. In ihrem Handy war die Nummer der Tante nicht gespeichert. Der Nachname wollte ihr nicht einfallen. Aber sie hatte Zeit zum Nachdenken, die Fahrt nach München dauerte einige Stunden.

Der Hauptbahnhof empfing sie mit Lärm, Durchsagen über ab- oder einfahrende Züge, und vielen Menschen, die durch die Gänge eilten. Ein Kleinkind, das von seiner jungen Mutter im Kinderwagen zum Ausgang geschoben wurde, brüllte lauthals, sein Gesichtchen rot vor Anstrengung und Ärger. Lena blieb kurz stehen, sie hätte das Kind gerne getröstet, aber die Mutter drückte dem Kleinen einen Schnuller in den Mund und hastete weiter. Lena ging weiter und stolperte über einen Rollkoffer, den jemand hinter sich herzog.

»Pass doch auf«, schimpfte der Besitzer des Koffers, ein Mann in Anzug und Krawatte.

»Pass selber auf«, fauchte Lena zurück. Sie hatte wieder einmal nicht auf ihre Schritte geachtet, sondern dem Kleinkind nachgeguckt und war weitergegangen. So was passierte ihr häufig, ihre Mutter sagte ihr oft, sie sei tollpatschig. Lena fand sich nicht tollpatschig, sie hatte nur manchmal Pech. Und dann lief ihr ein Rollkoffer vor die Beine.

Rasch schüttelte sie diese Gedanken ab, wandte sich der großen Anzeigetafel zu und studierte die Information über die abfahrenden Züge. Zu ihrer Freude sah sie einen ICE Richtung München, der in sieben Minuten startete. Schnellen Schrittes ging sie den Gang entlang zu den Gleisen und rannte die Treppe zu den Schienen hinauf. Sie war oben angekommen, als die elegante silberfarbene Lokomotive langsam an ihr vorbeifuhr und anhielt. Lena stieg ein und ging an den Abteilen vorbei. Mit ihrer Mutter hatte sie immer in einem Abteil gesessen, da hatten sie es sich gemütlich gemacht, wie ihre Mutter sagte, mit Malbüchern, Getränken und Butterbroten. Lena wollte lieber für sich sein, ging weiter und suchte sich einen Sitzplatz im Großraumwagen.

Sie nahm den Rucksack ab, stellte ihn vor sich auf den Boden und ließ sich erleichtert in den Sitz plumpsen. Das wäre geschafft!

Kapitel 3

»Die Fahrscheine bitte!« Der Kontrolleur war mittleren Alters und von unauffälligem Äußeren, seine Stimme verhalten. Lena war in Gedanken vertieft gewesen und bemerkte den Bahnbeamten erst, als er die Reisenden in der Reihe vor ihr kontrollierte. Sie hätte sowieso nicht genug Geld für die Bahnreise nach München gehabt. Rasch stand sie auf, nahm den Rucksack, setzte ein möglichst neutrales Gesicht auf und ging den engen Gang entlang, an dem Kontrolleur vorbei. Sie fand ihr Verhalten raffiniert, dass sie nicht in die entgegengesetzte Richtung ging: Das hätte nach Flucht ausgesehen.

»Hey«, sagte der Beamte. »Deine Fahrkarte!«

»Ich bin gleich zurück«, antwortete Lena in möglichst ruhigem Tonfall und lächelte ihn kurz an. Dann ging sie weiter bis zur Toilette, öffnete die Tür, verriegelte sie und setzte sich auf den Toilettensitz. Was sollte sie jetzt tun? Ob sie einfach in der Toilette bleiben könnte, bis München?

Lena atmete mehrfach durch, lehnte sich hinten an und versuchte, es sich bequem zu machen. Den Rucksack hielt sie auf dem Schoß, sie mochte ihn nicht auf den Boden setzen.

Sie schloss die Augen, dachte an ihre Mutter und überlegte, ob die das Verschwinden ihrer Tochter bereits bemerkt hatte. Unwahrscheinlich. Ihre Gedanken schweiften weiter, zu ihrem kleinen Bruder, der sie bestimmt vermissen würde. Vermutlich war er der Einzige in Köln, dem sie fehlen würde. Keine ihrer Klassenkameradinnen würde ihr nachweinen, und Freundinnen hatte sie sowieso keine.

Das gleichmäßige Rattern des Zuges ließ sie eindösen. Bis es an der Tür klopfte und Lena zusammenzuckte.

»Aufmachen!«, verlangte jemand mit barscher Stimme. »Sonst muss ich die Tür öffnen.«

Lena wagte kaum, zu atmen. Durften die das? Die Tür öffnen? Sie hielt sich mucksmäuschenstill und rührte sich nicht, ihre Hände krampften sich um die Tragegurte ihres Rucksacks. Ihr Blick fiel zum Fenster, aber das war mit einer undurchsichtigen Folie überzogen. Sie hätte zu gerne gewusst, wo sie waren. Lena hörte und spürte die Bewegung des Zuges, also waren sie nicht in einem Bahnhof. Ein Niesreiz stieg in ihrer Nase hoch – ausgerechnet jetzt! Rasch hob sie den Arm und hielt ihre Nase zu. Beinah wäre ihr Rucksack auf den schmutzigen Boden heruntergerutscht. Bitte lass das Klopfen aufhören!, flehte sie lautlos.

Ihr Flehen wurde nicht erhört. Der Schaffner – ein anderer konnte es kaum sein – klopfte mehrfach an die Tür.

»Ich öffne jetzt!«, sagte jemand mit lauter schroffer Stimme. Nach wenigen Sekunden sah Lena, wie die Verriegelung sich drehte und die Tür geöffnet wurde. Lena war gewappnet, sie hielt den Rucksack mit beiden Armen vor der Brust und wollte losstürmen. Aber die Kontrolleure waren zu zweit, offenbar für diese Situation trainiert und hielten Lena an ihren Armen fest.

»Schön langsam,« sagte der Mann, der sie vorher im Wagen kontrollieren wollte. »Hast du einen Fahrschein?« Bei diesen Worten sah er kritisch in ihr Gesicht.

»Äh, ja, sicher«, stotterte Lena und spürte, wie die Röte in ihren Wangen hochstieg. »Ich muss ihn suchen, er ist irgendwo in meinem Rucksack. Lassen Sie mich los!«

»Das kennen wir schon,« brummte der Kontrolleur mit finsterer Miene. »Jetzt steigen wir erst mal aus.«

Lena warf einen Blick durch das Fenster der Zugtür nach draußen. Der Zug hatte verlangsamt und sie fuhren in einen Bahnhof ein. »Frankfurt« konnte sie beim Einfahren lesen.

Die beiden Kontrolleure stiegen langsam mit Lena aus, einer hatte ihren Rucksack über die Schulter geschwungen, jeder hielt eine Hand schraubstockartig um ihren Arm. Zu ihrem Verdruss musste sie feststellen, dass jeder Fluchtversuch sinnlos schien.

»Dann gehen wir jetzt mal zur Polizei«, sagte der Kontrolleur, als sie auf dem Bahnsteig standen. Der zweite Beamte hatte bisher keinen Ton von sich gegeben. Beide hielten Lenas Arme fest und sie gingen langsam los. Lena überlegte, ob sie sich wehren sollte, sich loszureißen versuchen. Aber jeder der beiden Beamten wog mindestens das Doppelte von ihr.

Ein Betrunkener kam ihnen schwankend entgegen. Er war untersetzt, nachlässig gekleidet und hatte einen ungepflegten Bart und wirre fettige Haare.

»Was macht ihr mit dem armen Mädchen?«, lallte er mit dröhnender Stimme und stieß den ersten Kontrolleur mit beiden Händen vor die Brust. Dieser taumelte zurück und ließ Lenas Arm los. Sein Kollege umklammerte Lenas Arm noch fester, so dass es schmerzte, und brüllte den Betrunkenen an: »Was fällt Ihnen ein?«

»Lassen Sie meinen Arm los!«, kreischte Lena. »Sie tun mir weh.« Dabei versuchte sie verzweifelt, ihren Arm wegzuzerren. Das gibt einen dicken blauen Fleck!, schoss es ihr durch den Kopf und sie fragte sich, ob sie keine anderen Probleme hatte. Der Betrunkene schlug mit beiden Fäusten auf den Kontrolleur, der ihren Arm immer noch umklammert hielt, ein. Lena stieg sein Geruch in die Nase, nach Alkohol, Schweiß und Urin. Sie wandte den Kopf ab.

»Lass das arme Mädchen los!«, brüllte der Alkoholisierte. »Ihr Schweine! Die hat euch überhaupt nichts getan.« Lena stutzte. Er lallt überhaupt nicht mehr, dachte sie, er hört sich ganz im Gegenteil hellwach an. Hatte er den Betrunkenen nur vorgetäuscht?

Die drei Männer rangen miteinander. »Los!«, wisperte der Fremde plötzlich und zwinkerte Lena zu. Dann drehte er sich einmal um sich selber und ließ sich mit dem zweiten Kontrolleur fallen, so dass dieser Lenas Arm endlich freigeben musste.

Lena erwachte aus ihrer Überraschung, schnappte ihren Rucksack, der auf den Boden gefallen war, und rannte los.

Sie lief den Bahnsteig entlang bis zum Schild ‚Ausgang‘, rannte die Treppe hinunter und so schnell sie konnte durch den Bahnhof. Dabei rempelte sie andere Reisende an und wäre einmal beinah hingefallen. Mehrere Passanten brüllten ihr erboste Flüche hinterher, aber niemand machte Anstalten, sie zu verfolgen. Schließlich bekam sie Seitenstechen und musste stehen bleiben. Keuchend lehnte sie an einer Wand zwischen einem Buchladen und einer Bäckerei, presste eine Hand in ihre linke schmerzende Seite und verwünschte die Kontrolleure aus tiefstem Herzen.

Kapitel 4

Ich war noch nie in Frankfurt, kam es Lena in den Sinn, als sie durch die breite Eingangstür aus dem Bahnhof hinaus auf den Vorplatz trat. Ich guck mir Frankfurt an! Was für ein tolles Gefühl, einfach tun und lassen zu können, was sie wollte. Sie konnte ein paar Stunden oder auch Tage in Frankfurt verbringen. Ihre Tante wartete ja nicht, sie wusste nichts von Lenas Plänen. Lena hätte jubeln können. Noch nie hatte sie sich so frei gefühlt!

Was gab es in Frankfurt Interessantes zu sehen? Schlagwörter fielen ihr ein: Finanzplatz, Banken, der Römer, der große Flughafen, der Zoo. Nichts, das sie unbedingt besichtigen musste. Lena sah sich um, dann schlenderte sie mit der Menge, ohne Ziel, sie ließ sich treiben.

Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Ein Supermarkt stach ihr ins Auge, mit zahlreichen Obst- und Gemüsekisten, die vor dem Schaufenster aufgestapelt waren und ihre appetitliche Ware zeigten. Lena hatte Hunger auf etwas Handfesteres. Sie ging hinein und streifte durch die Gänge, bis sie an der Bäckertheke stehenblieb. Es duftete verlockend nach frischem Brot und Brötchen, sie sah knusprige Croissants und süße Rosinenweckchen hinter Plexiglasscheiben. Lena nahm sich eine Zange und eine Papiertüte und griff zu: ein Brötchen, eine Laugenstange, ein Croissant und ein Rosinenweckchen. Die Tüte war voll. Auf dem Weg zur Kasse schnappte sie sich zwei Äpfel, dann drängelte sie sich an den vor der Kasse wartenden Kunden mit einem gemurmelten »Entschuldigung, mir ist schlecht!«, vorbei. Die Rufe der Kassiererin »Halt! Du musst noch bezahlen!«, ignorierte sie, da sie ihre schmale Barschaft schonen wollte, und rannte zur Tür hinaus, die Brötchentüte eng an sich gepresst. Lena lief die Straße hinunter, ohne sich umzudrehen, bis sie wieder Seitenstechen bekam. Dann ließ sie sich auf eine Bank in einer kleinen Grünanlage plumpsen und wartete, bis ihr Atem zur Ruhe gekommen war. Sie riss gierig die Tüte auf, schlang das Rosinenweckchen hinunter und biss mehrmals in einen Apfel. Selten hatte sie das Essen so genossen.

Danach verstaute sie die Tüte und den zweiten Apfel in ihrem Rucksack, stand auf, streckte sich und sah sich um. Sie ging zurück zur Einkaufsstraße, bummelte an den Geschäften vorbei und betrachtete die Auslagen. Eine Jeansjacke stach ihr ins Auge, blau, kurz, am vorderen Oberteil mit zahlreichen Perlen bestickt. Lena betrat den Laden und sah sich um: Da hing sie, direkt hinter dem Eingang, an einer runden Kleiderstange. Sie zerrte die Jacke vom Kleiderbügel – es war ihre Größe! Rasch nahm sie den Rucksack hinunter, streifte ihren schwarzen Hoodie ab und zog die Jacke an, wobei sie den Rucksack im Auge behielt. Lena bewunderte ihr Spiegelbild: Die Jacke steht mir supergut, dachte sie. Sollte sie sie mitnehmen? Ohne zu bezahlen? Oder war das jetzt ihr Weg ins Verderben, Richtung Gefängnis? Es war eine Sache, Brötchen und Äpfel zu klauen, aber eine andere, eine Jeansjacke für sechzig Euro ohne Bezahlung mitzunehmen. Aber egal, die Jacke gefiel ihr, und sie sollte sich einmal etwas gönnen! Wann hatte sie das letzte Mal ein neues Kleidungsstück bekommen? Sie konnte sich nicht erinnern.

Betont lässig hob sie den Rucksack auf ihren Rücken, nahm den Hoodie und legte ihn locker um ihre Schultern, dann ging sie die wenigen Schritte zum Ausgang. Schon ertönte die Stimme, eine männliche empörte Stimme: »Halt! Wolltest du die Jacke nicht bezahlen? Stehenbleiben!«

Lena riss sich den Hoodie vom Hals, damit sie ihn beim Laufen nicht verlieren konnte, und rannte los. Sie rempelte mehrfach andere Personen an, für eine Entschuldigung reichte ihr Atem nicht. Sie hörte den Mann hinter ihr keuchen, bis seine Schritte leiser wurden und ganz aufhörten. Etwas langsamer geworden lief sie weiter, bis sie nicht mehr konnte. Lena war inzwischen nicht mehr in der belebten Einkaufsstraße, sondern in einer kleinen Seitenstraße gelandet, wo sie sich in einen Hauseingang stellte und wartete, bis ihr Atem normal ging. Langsam schlenderte sie weiter und ließ ihren Blick schweifen. Die Häuser sahen armselig aus, mit zerrissenen Gardinen in den Fenstern, Putz bröckelte von den Wänden, überlaufende Mülleimer standen vor den Häusern, Pappkartons, aufgeplatzte Plastiktüten und leere Flaschen daneben. Lena spürte, wie ein Schauder sie plötzlich überlief. Die Straße strahlte etwas Bedrohliches aus, so als wollte sie Lena in einen der Pappkartons einsaugen. Kein Mensch war zu sehen oder zu hören, es war beängstigend still. Lena fragte sich, ob überhaupt jemand in dieser Straße wohnte, obwohl der Müll vor den Häusern auf Leben hinzuweisen schien.

Eine kleine schwarze Katze rannte plötzlich in der Mitte der schmalen Straße auf Lena zu. Sie schien aus dem Nichts gekommen zu sein. Die Katze stoppte vor Lena ab, lief um ihre Beine herum und hätte sie beinah zu Fall gebracht. Dann tippelte die Katze weiter, in die Richtung, aus der Lena gekommen war. Lena war stehengeblieben und sah ihr verdutzt nach. Nach wenigen Metern drehte die Katze sich um und maunzte laut, als wolle sie Lena zum Mitkommen auffordern. Lena stutzte und überlegte, ob sie der Katze folgen solle, als direkt vor ihr eine Haustür aufging und ein junger Mann herauskam. Er blieb abrupt stehen und sah sie forschend an.

»Hallo!«, sagte er und lächelte. »Was machst du denn hier?« Er hatte eine angenehme Stimme und einen leichten hessischen Akzent. Seine Augen wanderten von ihrem Gesicht ihren Körper entlang bis hinunter zu den Schuhen. Lena tat das Gleiche und musterte ihn. Gut sah er aus, einen Kopf größer als sie, in Jeans und schwarzem Tanktop, das seine Muskeln betonte, Flipflops an den schmutzigen Füßen. Seine braunen Augen sahen sie durchdringend an, er hatte ein schmales Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen, das von einer blonden Haarmähne umrahmt wurde. Eine dicke Strähne hing in seine Stirn und gab ihm ein verwegenes Aussehen. Er war älter als sie, Lena schätzte ihn auf siebzehn oder achtzehn Jahre.

»Ich bin übrigens Marvin«, sagte er und lächelte wieder. »Und wie heißt du?«

»Äh, Lena«, stotterte sie und spürte zu ihrem Ärger die Röte in ihren Wangen hochsteigen. Warum interessierte sich dieser gutaussehende Junge für sie?

»Lena, ein schöner Name«, sagte Marvin. »Darf ich dich Leni nennen?« Er beugte seinen Kopf etwas herunter, zu ihrem Gesicht, und schien ihren Mund zu studieren.

»Ja klar«, antwortete Lena und ging einen Schritt zurück. Eigentlich hasste sie diese Verniedlichung, aber diesem attraktiven Jungen konnte sie nichts abschlagen.

»Hübsch bist du«, stellte Marvin mit einem Lächeln fest. »Du siehst - hm – irgendwie kapriziös aus. Wie eine Katze. Oder eher ein Kätzchen. Ganz grüne Augen.« Er streichelte ihr leicht mit der Hand über die Haare. Lena konnte sich nicht rühren. So was hatte ihr noch nie ein Junge gesagt. Hübsch! Kapriziös! Wie eine Katze. Er wurde ihr immer sympathischer.

»Ich bin auf dem Weg zu einer kleinen Party, willst du mitkommen?«, fragte Marvin und zwinkerte ihr zu. »Es wird dir ganz bestimmt gefallen, und du siehst so aus, als hättest du nichts Besonderes vor.«

Wie kommt er da nur drauf?, fragte sich Lena. Aber er hatte ja recht, sie hatte nichts vor, außer irgendwann nach München weiterzufahren. Und sie fühlte sich geschmeichelt, dass dieser coole Junge mit ihr auf eine Party gehen wollte. Irgendwo in ihrem Hirn tauchte die Frage auf, welche Party denn um 17 Uhr anfangen würde, aber diese Frage drängte sie schnell zurück.

»Äh, bin ich denn für eine Party richtig angezogen?«, fragte sie mit dünner Stimme und hoffte, dass die Röte endlich aus ihren Wangen gewichen war.

»Ja klar, du siehst klasse aus!«, versicherte Marvin und nahm ihre Hand. Wieder ließ er den Blick über ihr Gesicht und ihren Körper schweifen. »Obwohl du in anderen Klamotten sicher noch hübscher wärst.« Er zwinkerte ihr zu.

»Willst du mir den Rucksack geben? Der sieht schwer aus.« Bei diesen Worten griff er mit der freien Hand nach dem Gurt und streifte dabei leicht ihre Brust.

»Nein!«, wehrte Lena ab und trat einen Schritt zurück. Marvin hatte ihre Hand festgehalten, wie in einem Schraubstock!, schoss es durch ihren Kopf.

»Okay, okay, bleib cool«, beschwichtigte der Junge und ging los, Lena an der Hand leicht hinter sich herziehend. Er ging zügig voran, und Lena musste ein paar Schritte laufen, um aufzuholen. Marvin durchquerte mehrere Straßen und warf ihr ab und zu einen aufmunternden Blick zu.

»Wir sind da!«, verkündete er nach einiger Zeit. Lena bereute bereits, dass sie mitgegangen war. Sie kannte ihn ja überhaupt nicht. Und die Häuser, die sie passierten, sahen ausgesprochen armselig aus.

Sie standen vor einem schäbigen Mehrfamilienhaus, die Haustür stand offen, aus den Briefkästen neben der Tür ragten Faltprospekte und Werbezeitungen. »Hier geht es lang«, sagte Marvin und zog sie zur Seite, wo eine Betontreppe einige Stufen hinunterführte. Lena ließ sich mitzerren. Marvin stieß eine alte Holztür auf, deren Farbe abblätterte. Das Quietschen der Tür wurde von dröhnender Musik abgelöst, schrilles Lachen und laute Gespräche waren zu hören. Lena blinzelte, bis ihre Augen sich an das schummrige Licht gewöhnt hatte und sie etwas erkennen konnte. Die Luft war geschwängert von Zigarettenrauch und Alkohol. Sie befand sich in einem niedrigen Kellerraum. Einige abgewetzte Sofas und Sessel standen drin, davor einige niedrige verschmutzte Tische. Der Tür gegenüber befand sich eine holzgetäfelte Bar, dahinter ein Regal mit zahlreichen Flaschen und Gläsern. Es waren etwa fünfzehn Personen in dem kleinen Raum, sie saßen auf den Sofas, einige auf Barhockern, andere standen an die Wand gelehnt. Etwa die Hälfte von ihnen waren Mädchen oder Frauen, die meisten stark geschminkt, alle sahen älter aus als Lena. Die meisten Besucher hatten Bierflaschen in der Hand, einige der Mädchen Weingläser. Auf der Theke und auf den Tischen lagen offene Tüten mit Paprika Chips und mehrere Erdnussdosen.

Beim Eintreten von Marvin gab es ein großes Hallo. »Schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt!«, brüllte ein junger Mann, Anfang zwanzig, mit zahlreichen Pickeln im Gesicht. »Wen bringst du uns denn hier?« Er ging auf Lena zu, legte die Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an. Sein Atem stank nach Zwiebeln und Bier.

»Lass das!«, rief Lena empört und schlug seine Hand weg.

»Oho, hast du eine Wildkatze aufgegabelt?« Der Junge musterte Lena langsam und aufdringlich von oben bis unten, wobei sein Blick lange auf ihren Brüsten verweilte.

»Lass sie in Ruhe«, beschwichtigte Marvin und legte den Arm um Lenas Schultern. »Ich nehm mal deinen Rucksack.« Mit diesen Worten streifte er ihren Rucksack ab und stellte ihn auf einen Sessel. »Was möchtest du trinken?« Er führte Lena zur Bar.

»Eine Apfelschorle«, antwortete Lena, und Marvin brach in schallendes Gelächter aus.

»Apfelschorle!«, wiederholte er und sah seine Freunde grinsend an. »Ich mix dir was mit Apfelsaft!« Mit diesen Worten ging er hinter die Bar, schüttete aus mehreren Flaschen etwas in ein trübes Wasserglas, an dessen oberen Rand eine Ecke herausgebrochen war, und reichte das Glas Lena.

»Trink!«, befahl er und sah sie durchdringend mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

Lena nahm das Glas und roch daran, es roch nach Alkohol. Nach viel Alkohol. Ihr wurde es zunehmend unbehaglich zumute. Das Glas mit Alkohol, die vielen Leute, die sie erwartungsvoll anstarrten. Eine der jungen Frauen machte eine verächtlich klingende Bemerkung und mehrere Frauen lachten schrill.

Lena schüttelte sich leicht und stellte das Glas auf einem niedrigen Tisch ab. »Ich muss aufs Klo!«, sagte sie und sah sich auf der Suche nach einem Schild, das zur Toilette wies, um.

»Du musst aufs Klo!«, echote Marvin und lachte schon wieder, ein gemeines Lachen, fand Lena. Einige der anderen Barbesucher stimmten ein, sie stießen sich gegenseitig in die Seite und schienen sich köstlich zu amüsieren. Marvin sieht gar nicht mehr so attraktiv aus, dachte Lena. Selbst sein Lächeln ist nicht mehr charmant, sondern eher höhnisch. Und dass er sich schon wieder über sie lustig machte, stieß sie noch mehr ab. Er zündete sich eine Zigarette an und zeigte auf eine Tür am hinteren Ende des Raumes. »Da ist das Klo«, sagte er. »Pass auf, dass du nicht reinfällst.« Wieder allgemeines Grölen.

Lena atmete tief durch und ging zögerlich zu dem Sessel, auf dem ihr Rucksack lag. Sie wollte nur noch weg, weg von diesen Leuten, weg aus dem verräucherten Kellerraum. Was hatte ihr bloß an Marvin gefallen? Er war ordinär und lachte sie aus. Warum war sie bloß mit ihm mitgegangen? Ihre Augen tränten und ihre Ohren dröhnten von der lauten Musik und vom Gelächter der anderen. Ob es wohl in dem Toilettenraum ein Fenster gab?

»Was will denn diese Scheißkatze hier?«, rief auf einmal eines der Mädchen mit schriller Stimme. Die Tür, durch die Marvin und Lena in den Raum getreten waren, hatte sich geöffnet, und im Rahmen stand eine kleine pechschwarze Katze. Lena fragte sich überrascht, ob die Katze die Tür geöffnet hatte oder ob diese von selber aufgegangen war. Beim Eintreten mit Marvin hatte die Tür laut gequietscht und Marvin hatte kräftig gegen die Tür drücken müssen. Wer hat die Tür geöffnet?

Die Katze blieb einen Moment in der Tür stehen und schien sich im Raum umzusehen. Dann machte sie einen Buckel, sprang auf einen der Tische und fauchte die Personen, die darum saßen, an. Die Mädchen kreischten und wichen zurück, ein Sessel fiel um. Einer der jungen Männer griff nach der Katze. Im nächsten Moment brüllte er laut auf und hielt die Hand an das Gesicht, das drei blutige Striemen zeigte.

Für einen Augenblick waren alle wie erstarrt, keiner rührte sich, keiner sagte ein Wort, es war nur die laut dröhnende Musik zu hören.

Die schmale Katze stand immer noch mitten auf dem Tisch, mit Buckel und gesträubtem Schwanz. Sie fauchte wieder und wandte den Kopf zu Lena. Lena kam es so vor, als wollte die Katze sie zu etwas auffordern.

Sie erwachte aus ihrer Erstarrung, schnappte ihren Rucksack, rannte zur offen stehenden Tür und über die Treppe hinauf auf die Straße. Ihre Füße schienen zu schweben, so als hätten sie ein Eigenleben entwickelt. Auf der Straße angekommen blickte sie sich kurz um. Die Katze folgte ihr. Sonst niemand.

Kapitel 5

Weglaufen bedeutete »Laufen«. Lena dachte, dass sie mehr hätte trainieren sollen, bevor sie weglief. Schon wieder Seitenstechen! Aber immerhin war sie Marvin und seinen Freunden entkommen. Sie hatte sich nicht getraut, zurückzublicken um zu prüfen, ob ihr jemand folgte. Als sie anhalten musste und sich die schmerzende Seite hielt, war jedenfalls niemand zu sehen. Vielleicht war ihr keiner hinterhergelaufen? Wie groß war das Interesse von Marvin und seinen Kumpanen an ihr? Was hatten sie vorgehabt? Vermutlich nichts, was ihr gefallen hätte. Während Lena keuchend versuchte, wieder zu Atem zu kommen, ließ sie sich das Geschehen durch den Kopf gehen. Marvin – was hatte er nur vorgehabt? Was wollte dieser gutaussehende Junge von ihr, der Vierzehnjährigen? Sie war doch viel zu jung für ihn. Und wie konnte sie nur so blöd sein, diesem Kerl zu folgen? Das war ja klar, dass er nichts Gutes im Sinn hatte. War sie so verzweifelt gewesen? Hatte sie Gesellschaft gesucht? Ob das einer dieser »Loverboys« war? Die jungen Mädchen vormachten, dass sie sie liebten und dann dazu zwangen, auf den Strich zu gehen? Zumindest hatte sie ein kleines Abenteuer erlebt. War trotz allem besser als sich immer nur über ihre Mutter und Lennart zu ärgern. Ob sie die Polizei über Marvin und seine Kumpane informieren sollte? Den Gedanken schob sie gleich wieder weg, Marvin hatte nichts Illegales getan. Und seine Absichten kannte sie ja nicht. Wie gut, dass die kleine schwarze Katze gekommen war und alle abgelenkt hatte! Das war seltsam gewesen, die Szene mit der Katze. Die hatte genauso ausgesehen wie die Katze, die auf einmal vor Marvins Haus aufgetaucht war. Die um ihre Beine gestrichen und weggetippelt war, so als hätte sie sie von diesem Haus weglocken wollen. Hm! Hoffentlich ging es ihr gut.

Lena atmete tief durch; das Seitenstechen hatte aufgehört, und sie war Marvin entkommen. In Zukunft würde sie vorsichtiger sein, mit wem sie mitging.