Die Steine der Zwillinge - Wilma Borghoff - E-Book

Die Steine der Zwillinge E-Book

Wilma Borghoff

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Beschreibung

Nora verirrt sich in der Wildnis eines kanadischen Nationalparks. Ihre Zwillingsschwester Helene spürt die Gefahr und fliegt nach Kanada. Sie hofft, ihre Schwester dank ihrer telepathischen Verbindung finden zu können. Werden die beiden geheimnisvollen Steine, die die Schwestern seit ihrer gemeinsamen Reise auf dem Jakobsweg mit sich führen, sie wieder zusammenbringen? Die Daheimgebliebenen bangen um Nora und müssen sich mit Journalisten und einem Fremden, der seltsam vertraut wirkt, auseinandersetzen. Nora trifft auf viele Gefahren in den kanadischen Wäldern. Die Wildnis lebt. Und Nora mittendrin.

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Über das Buch

Nora verirrt sich in der Wildnis eines kanadischen Nationalparks. Ihre Zwillingsschwester Helene spürt die Gefahr und fliegt nach Kanada. Sie hofft, ihre Schwester dank ihrer telepathischen Verbindung finden zu können.

Werden die beiden geheimnisvollen Steine, die die Schwestern seit ihrer gemeinsamen Reise auf dem Jakobsweg mit sich führen, sie wieder zusammenbringen?

Die Daheimgebliebenen bangen um Nora und müssen sich mit Journalisten und einem Fremden, der seltsam vertraut wirkt, auseinandersetzen.

Nora trifft auf viele Gefahren in den kanadischen Wäldern. Die Wildnis lebt. Und Nora mittendrin.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Epilog

Die Steine ins Rollengebracht

Prolog

Stockdunkle Nacht. Schwärze. Stille. Ein Knacken durchbricht die Stille. Als hätte jemand einen Zweig zerbrochen. Neben ihrem Ohr. Nora wacht langsam auf – wo ist sie? Ist sie wach, oder träumt sie? Was hat sie geweckt? Sie hört es wieder – ein Knacken und Rascheln neben ihrem Ohr. Niklas, ihr Mann? Sie tastet zu ihrer linken Seite, dahin wo normalerweise ihr Ehemann liegt. Ein stechender Schmerz durchfährt ihren Arm. Erschreckt zieht sie die Hand zurück und greift vorsichtig an ihr linkes Handgelenk. Sie berührt Stoff, mehrere Schichten übereinander, ein Stück Holz, mit Stoffbahnen an ihrem Unterarm festgebunden. Ist das eine Schiene? Was ist passiert? Wo und wie hat sie sich verletzt? Ihr Handgelenk ist zweifellos lädiert, der sengende Schmerz macht ihr das klar. Und diese eigenartige provisorische Schiene – wer hat die an ihrem Arm angebracht? Sie selber? Sie schnuppert – die Stoffbahnen stinken erbärmlich. Wonach? Nach Abfall, nach Fett, Fäkalien? – Das Rascheln neben ihrem Ohr hat aufgehört, Nora überlegt, ob das eine gute oder schlechte Nachricht ist.

Langsam richtet sie sich zum Sitzen auf, vorsichtig, damit sie ihr linkes Handgelenk nicht belastet, sie stützt sich mit dem rechten Arm ab. Etwas Nasses streift beim Aufrichten über ihren Kopf – ein Zweig? Sie vermag noch immer nichts zu erkennen – wo ist ihr Handy? Damit könnte sie Licht erzeugen und endlich etwas sehen, die beängstigende Schwärze erhellen. Sie tastet den Anorak auf der Suche nach ihrem Handy ab – warum trägt sie beim Schlafen einen Anorak? Ihre Hand ist steif, von der Kälte. Warum ist es so kalt? Es ist doch Sommer? Oder nicht? - Sie kann kein Handy ertasten, nur einen Stein in ihrer rechten Tasche, sorgfältig mit dem Reißverschluss eingeschlossen. Warum hat sie einen Stein in ihrer Anoraktasche?

Allmählich haben ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt und sie sieht etwas Helligkeit zu ihr durchdringen. Es ist nicht mehr stockfinster, sie sieht Zweige, die ein dichtes Dach über ihr bilden. Woher scheint das Licht? Sterne? Mondschein? Eine Laterne?

Sie tastet vorsichtig um sich, fasst mit der rechten Hand in Matsch. Brr! Sie tastet weiter - neben ihr liegen Äste, dünne Zweige, Blätter und Erde. Und Matsch. Kein Bett. Sie grübelt – woran kann sie sich erinnern?

Ihr Name ist Nora Linde, das weiß sie. Sie ist 46 Jahre alt und IT Managerin von Beruf. Sie hat drei Kinder, und ihr Mann Niklas – was war mit Niklas? Irgendetwas ist mit ihm passiert. Sie erinnert sich nicht. Aber es wird ihr einfallen, zweifellos.

Sie schnuppert und bemerkt, dass ihre Nase verstopft ist. Trotzdem kann sie etwas riechen - Erde und Tannennadeln und nasses Laub. Und dass der Lappen an ihrem Handgelenk abscheulich stinkt. – Ihr Hals ist wie ausgedörrt, sie versucht zu schlucken, es fällt ihr schwer. Die Zunge liegt dick in ihrem Mund, wie ein trockener geschwollener Lappen, und sie hat einen unangenehmen Geschmack. Wann hat sie das letzte Mal die Zähne geputzt? Oder etwas gegessen? Ihr Magen knurrt vernehmlich, sie hat Hunger. Und quälenden Durst.

Warum glüht sie am ganzen Körper? Sie fasst an ihre Stirn, die ist heiß, sie hat Fieber. Sie wundert sich, mit welcher Ruhe sie ihre verschiedenen Probleme analysiert. Aber so sehr sie sich bemüht und ihren Kopf zerbricht – sie hat keine Idee, wie sie in diese sonderbare Lage geraten ist.

Sie lauscht – sie kann kaum etwas hören. Vorher ist sie doch von einem Rascheln geweckt worden. Die Geräusche des Waldes – denn sie liegt in einem Wald, das wird ihr klar – klingen nur gedämpft zu ihr. Sie tastet nach ihren Ohren – das rechte Hörgerät fehlt, und das linke funktioniert nicht. Warum nur? Sie verlässt nie das Haus ohne Hörgeräte und hat immer Ersatzbatterien dabei.

Schüttelfrost lässt ihren Körper erschauern, sie friert erbärmlich. Obwohl sie den Anorak anhat. Der ziemlich nass ist. Und Schuhe hat sie ebenfalls an – warum trägt sie beim Schlafen Schuhe? Sie bemerkt, dass ihre Blase drückt – sie muss dringend zur Toilette. Wo ist die? Unsinn!, tadelt sie sich, sie liegt im Wald. Da gibt es keine Toiletten.

Sie sieht angestrengt nach oben – es schimmern einige Sterne und eine schmale Mondsichel durch die Äste. Und sie kann Wolken erkennen, die vor dem Mond dahinjagen.

Der Stein – sie erinnert sich, sie darf den Stein nicht verlieren. Sie tastet nach ihrer rechten Jackentasche und zieht mühsam mit einer Hand den Reißverschluss auf. Sie fasst in die Tasche – da ist der Stein, kühl und glatt poliert. Ihr Jakobsstein, ihr Glücksstein. Warum ist der Stein so wichtig? Er erinnert sie an ihre Zwillingsschwester Helene. Das weiß sie. Aber wo ist sie nur? Wo ist Helene? Wo ist Niklas? Warum ist sie allein?

Sie legt den dröhnenden Kopf in ihre Arme. Angst und Verzweiflung breiten sich aus. Was ist passiert?

Kapitel 1

Karins Töchter Nora und Helene waren drei Jahre alt, als ihr auffiel, dass ihre Zwillinge anders waren als andere Kinder. Sie hatte es vorher nicht wahrhaben wollen und hatte die kleinen Auffälligkeiten ignoriert: Dass vor zwei Monaten Nora ohne ersichtlichen Grund weinte, als ihre Schwester sich verletzte. Dass die beiden meistens zu wissen schienen, wo die Schwester sich aufhielt. Und dass die Mädchen wenig zusammen redeten. Ihre Kommunikation funktionierte ohne Worte, sie verständigten sich häufig auf ein neues Spiel, ohne miteinander gesprochen zu haben. Beim Versteckspiel wurde die Schwester innerhalb kürzester Zeit gefunden, egal wie einfallsreich das Versteck war. Sie versteckten sich trotzdem häufig und quietschten begeistert, wenn sie die Zwillingsschwester fanden. Im Vergleich zu anderen Kindern ihres Alters waren die beiden schweigsam. Sie konnten sprechen, aber häufig wollten sie offensichtlich nicht. Sie hatten andere Methoden der Kommunikation untereinander entwickelt.

Und schließlich vermochte Karin die Augen nicht mehr vor den besonderen Fähigkeiten ihrer Kinder verschließen.

Sie besuchte mit den Zwillingen kurz nach deren drittem Geburtstag den örtlichen Zoo. Nach etlichen Regentagen schien endlich die Sonne, der Zoo war stark frequentiert, und als sie vor dem Robbenbecken standen, hüpfte nur noch Nora neben ihr. Karin hatte Helene verloren. Panisch suchte sie mit den Augen ihre Umgebung nach ihrer zweiten Enkelin ab.

»Wir müssen Helene suchen«, rief sie, fasste Nora an der Hand und wollte zurückgehen.

»Nein!«, Nora sträubte sich und stemmte sich gegen ihre Großmutter. »Helene ist da vorne.«

»Aber da hätte ich sie doch gesehen«, sagte Karin und sah Nora skeptisch an. »Oder hast du sie dahingehen gesehen?«

»Nein, aber ich weiß es«, antwortete Nora eigensinnig. Und sie wollte auf keinen Fall zurückgehen. Karin gab nach und eilte in die Richtung, in die Nora zeigte. Und wenige Minuten später hatten sie Helene gefunden. Woher wusste Nora das?

Nur wenige Wochen nach dem Zoobesuch führte ein weiteres Ereignis ihr die besondere Begabung ihrer Töchter vor Augen.

Das jüngere Mädchen Helene weilte bei der Großmutter, Karins Mutter Irene, als sie von der Schaukel fiel und sich den linken Arm brach. Nora war bei Karin geblieben, und ohne ersichtlichen Anlass begann sie unvermittelt zu weinen und jammerte über schlimme Schmerzen im linken Arm. Karin untersuchte den Arm sorgfältig, ohne eine Verletzung entdecken zu können. Kurze Zeit später rief die Großmutter an. Sie sei mit Helene auf dem Weg ins Krankenhaus und berichtete von dem verletzten Ärmchen.

»Ein glatter komplikationsloser Bruch«, erklärte der sympathische behandelnde Arzt. Noras Arm war oberhalb des Handgelenks gebrochen, sie bekam einen Gips und durfte nach Hause.

Abends erzählte Karin ihrem Mann Dieter von dem eigenartigen Verhalten der Zwillingsschwester.

»Es schien, als hätte Nora die Schmerzen ihrer Schwester gespürt«, erklärte sie. »Obwohl sie an unterschiedlichen Orten waren.«

Tatsächlich hatte Nora nach mehrfachen Checks keine Anzeichen für eine Verletzung gezeigt, und aufgehört zu jammern.

»Was willst du denn damit sagen?«, fragte ihr Mann mit zornig zusammengezogenen Augenbrauen. »Dass die beiden eine übersinnliche Verbindung haben oder was?«

Er sah seine Frau mit finsterem Blick an, und Karin erörterte das Thema nicht weiter.

Sie sprach mit keinem Menschen mehr über die eigenartige Verbindung zwischen ihren Töchtern, außer mit ihrer Mutter. Irene war nicht verwundert.

»Du willst es vielleicht nicht wahrhaben«, sagte sie nachdrücklich. »Aber die beiden haben eine telepathische Beziehung. – Es gibt noch mehr Beispiele von besonderen Fähigkeiten in unserer Familie.«

Irene bemerkte das ablehnende Gesicht ihrer Tochter und führte die speziellen Talente ihres Clans nicht weiter aus.

Wenige Wochen später - Helenes Arm war verheilt - erkrankte Nora an einer schweren Mittelohrentzündung, ihre Schwester blieb verschont. Die Kinderärztin verschrieb Antibiotika, die zunächst nicht anschlugen. Nora litt tagelang unter hohem Fieber, und Karin und Dieter bangten um ihre Tochter. Langsam genas sie, das Fieber sank und Nora durfte das Bett verlassen. Helene wollte während Noras Krankheit nicht nach draußen gehen, nicht einmal im Garten spielen, und verkroch sich die meiste Zeit im Kinderzimmer bei ihrer Schwester.

Als Nora sich endlich erholte, waren die Zwillinge fast unzertrennlich. Aber etwas war anders als vorher. Karin konnte lange nicht benennen, was anders war. Es dämmerte ihr erst einige Wochen später. Nora spielte allein im Garten, während ihre Schwester etwas aus dem Kinderzimmer holte. Karin rief ihre Tochter, um sie zum Kuchenbacken aufzufordern. Nora stand etwa zehn Meter von ihr entfernt, es war ruhig im Garten, lediglich das Zwitschern der Vögel war zu hören.

»Nora, komm Kuchen backen«, rief Karin. Keine Reaktion. Sie rief mehrmals, lauter werdend. Endlich drehte Nora sich um. »Mama, hast du mich gerufen?«, fragte sie.

Karin war erschüttert und fuhr am nächsten Tag zur Kinderärztin. Diese führte einen Hörtest durch – Noras rechtes Ohr hatte durch die Mittelohrentzündung nur noch 60% Hörvermögen, das linke Ohr etwa 30%. Sie brauchte ein Hörgerät. Ihre Eltern hatten nicht mitbekommen, dass Nora schlecht hörte, da ihre Schwester das ausgeglichen hatte. Karin machte sich bittere Vorwürfe. Warum war ihr das vorher nicht aufgefallen? Wie konnte Nora alles verstehen, wenn ihre Hörfähigkeit so eingeschränkt war? Karins einzige Erklärung lautete, dass Helene ihrer Schwester alles irgendwie – telepathisch? – übermittelt hatte.

Nora erhielt zwei Hörgeräte und lehnte sie zunächst kategorisch ab. Sie bekam ja alles mit, da ihre Schwester sofort bemerkte, wenn Nora etwas nicht hörte, und sie unauffällig unterstützte. Vermutlich war das Helene gar nicht bewusst. Und Nora ebenso wenig. Die meisten Menschen in ihrer Umgebung merkten überhaupt nicht, dass eines der Zwillingsmädchen unter Hörproblemen litt.

Karin war todunglücklich, dass ihre Tochter Hörgeräte tragen musste, aber ihr Ehemann tröstete sie: »Es gibt schlimmeres«, sagte er. »Sie kann alles sehen und hören, sie kann laufen, und sie macht einen glücklichen Eindruck.«

Er bemühte sich eine Weile, besonders aufmerksam zu seiner »behinderten« Tochter zu sein. Damit verärgerte er Karin, und er gab es nach kurzer Zeit wieder auf. Er schaffte es jedoch nie, deutlich zu sprechen, um das schlechtere Hörvermögen seines Kindes auszugleichen.

Und Karin bemerkte, dass Nora sich allmählich an die Hörhilfen gewöhnte und endlich mehr sprach. Das Reden – und das Hören - hatte sie seit der Krankheit weitgehend ihrer Schwester überlassen. Und die telepathische Verbindung zwischen den Zwillingen schwächte sich ab. Vielleicht bildete Karin sich das nur ein. Sie wollte diese besondere Kommunikation der Mädchen nie akzeptieren, suchte immer nach Erklärungen für das stillschweigende Verständnis der Kinder: Handzeichen und Gesten zwischen den beiden, Grimassen oder Absprachen. Und ihr Mann Dieter würde jede Form von Telepathie oder Ähnlichem keinesfalls zugeben. Er weigerte sich strikt, darüber zu reden.

Mit acht Jahren hatte Nora sich zu einer tollkühnen Draufgängerin entwickelt. Sie wollte die höchsten Bäume hinaufzuklettern, beim Eislaufen ebenso wie beim Radfahren die Schnellste sein, und ließ keine Gelegenheit für eine Mutprobe aus. Ihre Schwester Helene ahmte Noras Torheiten nur zögernd nach.

Karin bekam den Eindruck, dass Nora ihre Hörminderung durch ihr Draufgängertum ausgleichen wollte und keinesfalls als behindert gelten mochte.

Helene war nicht mutig wie ihre Schwester, aber ausgesprochen musikalisch. Sie spielte mit Begeisterung und großem Talent Klavier. Beide Mädchen bekamen mit sieben Jahren Blockflöten, und Helene konnte nach wenigen Monaten hübsche Melodien spielen. Nora malträtierte ihr Instrument und die Ohren ihrer Mitmenschen mit schiefen Tönen, ohne dass ein Lied erkennbar wäre. Alle waren erleichtert, als Karin akzeptierte, dass ihre ältere Tochter völlig unmusikalisch war. Helene wechselte nach neun Monaten von Blockflöte auf Klavier und übte regelmäßig, mit wenig Druck vonseiten ihrer Mutter. Karin hatte ebenfalls mit sieben Jahren begonnen Klavier zu spielen, und in ihrem Wohnzimmer stand das Klavier aus ihrer Kindheit.

Nora war besser in Mathematik als ihre Schwester, und Karin fürchtete manchmal, dass ihre Töchter die telepathischen Fähigkeiten zum Schummeln, zum Übermitteln der richtigen Lösungen nutzten. Vielleicht irrte sie sich.

Kapitel 2

Die stürmischen Wellen der Costa Brava zogen Helene nach unten zum Meeresgrund und wollten sie nicht mehr hergeben. Helene kämpfte verzweifelt gegen die kraftvolle Strömung an und versuchte, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Vergebens, das Meer war stärker. Helene strampelte mit den Beinen, sie geriet in Panik und wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Sie ruderte wild mit den Armen, ihr Herz raste. Ihr schwanden die Sinne, sie hustete, sie hatte zu viel Meerwasser geschluckt und eingeatmet. Sie war kurz davor, aufzugeben, sich den Wellen hinzugeben.

Und Tausende Kilometer entfernt fühlte Nora, wie ihre Schwester verzweifelt nach Luft japste.

Die Zwillinge waren vierundzwanzig Jahre alt, hatten beide ein Studium erfolgreich beendet und planten, einen ausgedehnten Urlaub zu verbringen.

Sie fuhren zur gleichen Zeit, aber in unterschiedliche Richtungen. Sie waren schon mehrfach getrennt verreist, ihre derzeitigen Partner verstanden sich nicht gut genug für einen gemeinsamen Urlaub. Helene und Nora kauften für den Urlaub Handys, damit sie in Kontakt bleiben konnten. Jeden zweiten Abend telefonierten sie kurz miteinander und ignorierten die leicht genervten Blicke ihrer Miturlauber.

Helene fuhr mit ihrem Freund Markus an die Costa Brava nach Spanien. Sie war seit sechs Monaten mit ihm zusammen, sie hatten sich in einem Seminar an der Universität kennengelernt. Er war ein Jahr älter als sie, studierte BWL, und sah gut aus, Typ Latin Lover, mit seinen dunklen Augen und langen Haaren. Er witzelte öfters, dass er zwar Wirtschaftswissenschaftler sei, trotzdem eine romantische Ader habe. Er schrieb Gedichte, die Helene lesen durfte. Und er liebte die Sonne, das lockere mediterrane Leben und gutes Essen. Er mochte Helenes Schwester, hatte aber kein Gefühl für die tiefe Verbindung der beiden. Und Noras Freund empfand ähnlich.

Helene und ihr Freund fuhren mit Markus‘ altersschwachem VW, von dem sie hofften, dass er den Urlaub durchhielt, nach Spanien. Sie packten ein großes Zelt ein und fanden einen hübschen Campingplatz direkt am Meer. Tagsüber verbrachten sie ihre Zeit meist am Strand, mit sonnen, schwimmen und Beachball spielen. Abends kochten sie eine Kleinigkeit auf ihrem Gaskocher, manchmal holten sie etwas von einer der Imbissbuden - Currywurst und Pommes, oder Fish ‚n‘ Chips. Zweimal aßen sie in einem der typisch spanischen Fischrestaurants. Am späten Abend - wie in Spanien üblich – besuchten sie eine Diskothek oder eine Bar und kamen gegen Morgen zum Schlafen ins Zelt zurück.

Helenes Zwillingsschwester Nora war mit ihrem Freund Sven, ein Physikstudent, nach Island geflogen. Sven war drei Jahre älter als sie, schmächtig, hellblond mit grünen Augen und ein ausgewiesener Skandinavien-Fan. Er hatte es geschafft, Nora für Island zu begeistern. »Island, das Land voller Geheimnisse und Naturereignisse«, hatte er doziert. »Wo die Landschaft so karg ist, dass mancher eine Gruppe von zehn dürren Bäumen als Wald bezeichnet. Das Land der Märchen, das von Elfen, Gnomen und Trollen bewohnt wird, vom versteckten Volk, das die Isländer Huldufó nennen.« Kurz hatte Sven Nora gemustert, aber nach einem Blick auf ihr fasziniertes Gesicht fuhr er fort: »Die Huldufó beeinflussen das tägliche Leben und viele Bauprojekte. Die Straßenverwaltung in Island geht nach zahlreichen Protesten in der Vergangenheit mittlerweile Kompromisse ein: Straßen werden verlegt oder ziehen ungewöhnliche Schlenker, um vorhandene Elfenhäuser nicht zu zerstören. Und in vielen Reiseführern – auch in deinem - finden sich Darstellungen von Unfallschwerpunkten, die erst beruhigt werden konnten, nachdem die Straße um Elfensiedlungen herumgeführt wurde. Und sechzig Prozent der Isländer glauben an übernatürliche Wesen oder halten ihre Existenz zumindest für möglich.« Er grinste und fragte: »Und was ist mir dir? Glaubst du auch an Elfen?« Nora lachte nur und knuffte ihren Freund leicht in die Seite.

Nora und Sven waren mit einem befreundeten Pärchen unterwegs, Marita – dunkelhaarig, schmal, mit einem offenen fröhlichen Gesicht - und Jan, dünn, blond, kleines Bärtchen, das nicht richtig wachsen wollte. Beide waren ebenfalls Studenten. Sie hatten vor dem Urlaub alle vier gejobbt, sodass sie sich gemeinsam in Island ein Auto mieten konnten, einen etwas in die Jahre gekommenen japanischen Mittelklassewagen.

Sven wollte zelten, aber Marita und Nora waren strikt dagegen gewesen.

»Meinst du etwa, ich will im kalten windigen Island in einem dünnen Zelt dem isländischen Wetter mit Wind und Regen ausgeliefert sein?«, hatte Nora gefragt und die Arme in die Hüften gestemmt. Marita hatte bekräftigend genickt.

Sven hatte bereits die letzten beiden Jahre seine Ferien in Island verbracht und mit einem Freund gezeltet. »Näher kann man der Natur nicht sein«, hatte er geschwärmt. Nora und Marita wechselten genervt einen Blick, und Jan grinste. Nora vermutete, dass Jan auch keine Lust zum Zelten hatte und froh war, dass die Mädels sich durchgesetzt hatten. – Sie hatten sich schließlich auf Übernachtungen in Hostels oder in B&Bs geeinigt. Dafür überließen sie Sven, dem Islandkenner, die Reiseplanung. Er beabsichtigte, mit ihnen die berühmte Ringstraße abzufahren, die Straße, die mit dreizehnhundert Kilometern die Hauptinsel umrundet und an zahlreichen Attraktionen wie Wasserfällen, Vulkanen, Gletschern und Stränden vorbeiführt.

An ihrem fünften Urlaubstag waren Nora und Sven mit ihren Freunden zu Fuß auf dem Weg zu einem der zahlreichen aktiven Geysire. Nora konnte mittlerweile nachvollziehen, was Sven an Island faszinierte. Sie hatte vor dem Urlaub einen Reiseführer über die Insel gelesen und gelernt, dass Island einige aktive Vulkane hat. Aber ihr wurde erst vor Ort klar, wie die gesamte Insel von ihrem vulkanischen Ursprung beeinflusst wird. Sie sahen, dass ganze Landstriche nicht bewohnbar sind, und auf der versteinerten Lava nach Tausenden von Jahren nur Moose und Flechten wachsen.

Sie beobachteten eine Herde Islandpferde, die das karge Grün abweideten.

»Hey, zeigt uns den Tölt«, rief Nora. Eines der Pferde sah kurz hoch, senkte aber gleich wieder den Kopf. Keines fiel in den berühmten Tölt, die Gangart, die nur die Islandpferde beherrschen. - Das Wetter war typisch für die Insel, die Sonne hatte sich nach Spanien verzogen. Nora zitierte ein bekanntes Sprichwort: »Wenn euch das Wetter auf Island nicht passt, dann wartet fünf Minuten, dann sieht es schon wieder ganz anders aus.«

Für isländische Verhältnisse war es warm, mindestens 15°C. Nora waren weitere Unterschiede zu Helenes Urlaub in Spanien aufgefallen: Sie tranken kaum Wein, der für Studenten fast unbezahlbar war. Dafür hatten sie mehr Platz. Und es blieb abends lange hell, dummerweise wurde es relativ früh zu kalt, um draußen sitzen zu bleiben.

Nora, Sven und ihre Freunde sahen bereits die Fontäne des Geysirs in einiger Entfernung hochspritzen, als ein Gedanke sich in Nora ausbreitete: »Helene!« Der Gedanke dehnte sich in ihr aus, bis er ihr ganzes Denken beherrschte: Helene war etwas passiert. Ihre Schwester hatte große Angst, sie war in Gefahr. Nora wusste es. Sie wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Sven wurde aufmerksam und drehte sich zu ihr um.

»Was ist los?«, fragte er und sah ihr forschend ins Gesicht. »Kannst du nicht mehr weiter?«

Nora winkte ab, sie hörte ihn kaum, versuchte, sich auf ihre Schwester zu konzentrieren. Versuchte, zu erfahren, was passiert war. Sie fasste sich mit beiden Händen an den Hals. »Helene!«, stammelte sie.

Sven legte den Arm um seine Freundin. »Nora, was ist los? Ist was mit deiner Schwester?«

Ihre Freunde Jan und Marita waren ebenfalls stehen geblieben und zu Nora zurückgegangen.

Nora atmete allmählich ruhiger. Sven hielt sie immer noch im Arm und streichelte ihr sacht über den Rücken.

»Es ist Helene. Ihr ist etwas passiert«, stieß Nora atemlos hervor. Die Verbindung zu ihrer Zwillingsschwester war abgerissen. Sie straffte ihre Schultern. »Ich muss sie anrufen«, sagte sie, holte mit zitternden Händen ihr Handy aus dem Rucksack und tippte die Telefonnummer ihrer Schwester ein. Die Mailbox meldete sich und Nora bat dringend um einen Rückruf.

»Ich glaube, es geht ihr besser«, erklärte sie ihren Freunden und steckte das Handy wieder weg.

»Ich glaub, den Geysir besuchen wir ein andermal«, schlug Sven vor. »Mir ist jedenfalls das Interesse daran für heute vergangen.«

Jan und Marita wechselten einen skeptischen Blick, dann brummten sie zustimmend, und alle trotteten langsam zum Auto.

Zurück am Campingplatz mussten sie warten, gefühlt viele Stunden, bis endlich ein Rückruf von Markus, Helenes Freund, Nora erreichte.

»Wie geht es Helene?«, fragte Nora sofort. »Kann ich mit ihr sprechen?«

Markus berichtete ihr, immer noch aufgeregt: »Helene wäre beinahe ertrunken. Du weißt sicher, wie hoch die Wellen hier sein können. Helene wollte trotz roter Flagge schwimmen gehen und ist umgerissen worden. Ich hab das erst spät bemerkt, tatsächlich hatten wir uns gestritten, weil ich sie abhalten wollte, ins Meer zu gehen. Aus Protest hab ich mich auf ein Bierchen in eine Strandbude gesetzt. Ein anderer Besucher der Strandbude hat beobachtet, dass Helene in Schwierigkeiten war, und uns alle darauf aufmerksam gemacht. Daraufhin bin ich mit zwei Männern zu ihr gerannt, und wir konnten sie rausholen. Wir mussten uns gegenseitig halten, damit wir nicht auch umgerissen wurden. Helene war ohne Bewusstsein, als wir sie endlich zum Strand gezogen hatten, aber nach kurzer Zeit hat sie das Meerwasser ausgespuckt und ist wieder zu sich gekommen. – Ich hab den Schreck meines Lebens gekriegt, das kannst du mir glauben.« Markus machte eine Pause. »Sie hat sich hingelegt und schläft. - Warum hast du eigentlich angerufen? Was gibt es?«

Nora zögerte. »Hm, das hat sich erledigt. Sag doch bitte Helene, sie soll mich heute Abend zurückrufen, wenn sie sich erholt hat. Und – Danke!« Sie legte auf.

Sven hatte mitgehört und starrte sie an. »Was war das denn jetzt? Hast du gespürt, dass deine Schwester am Ertrinken war?«

»Ja«, antwortete Nora, ohne ihn anzusehen. »Wir haben manchmal diese Verbindung.«

Sven öffnete den Mund für weitere Fragen, aber Helene erhob abwehrend ihre Hände. »Stop!«, sagte sie mit fester Stimme. Sie und Nora sprachen äußerst ungern über ihre telepathische Beziehung, vermutlich weil ihre Mutter diese Fähigkeit nicht wahrhaben und noch weniger ansprechen wollte.

Aber jetzt wurden Jan und Marita neugierig. »Ist das so was wie Telepathie?«, fragte Marita und beugte sich gespannt vor. »Wisst ihr immer, wo die andere ist? Und wie es ihr geht?« Sie lachte etwas nervös.

»Quatsch!« Nora zog die Brauen ärgerlich zusammen. Sie dachte, dass sie den Freunden vermutlich eine Erklärung schuldete, auch wenn sie keine Lust dazu verspürte. Sie war immer noch ausgelaugt von dem Schrecken und versuchte, sich kurzzufassen.

»Seit wir klein sind, haben Helene und ich ab und zu eine telepathische Verbindung und wir spüren starke Emotionen der Schwester. Helene hatte heute Todesangst, und ich habe diese Angst mitempfunden. Wir können die Verbindung nicht steuern. Und leider keine Mathelösungen transferieren.« Das war immer die beliebte Frage, wenn sie von der Verbindung erzählte. »Und es sind häufig die negativen Gefühle, die bei der Schwester ankommen, nicht unbedingt die übermäßige Freude, oder großes Glück oder so. Tja, so ist das bei uns.«

Marita und Jan fragten nach, verlangten, mehr Beispiele zu hören. Aber Nora winkte nur ab. »Sorry Leute, ich muss mich hinlegen, ich bin völlig groggy.«

Sven brachte das Thema später wieder auf und wollte es genauer erörtern: »Das ist ja allein vom naturwissenschaftlichen Standpunkt her sehr interessant«, meinte er, der Physikstudent. »Wie kommt diese Übertragung denn zustande? Das sind Tausende Kilometer bis zu deiner Schwester. Passiert das in Echtzeit? Vielleicht kannst du das trainieren? Das könnte man für alles Mögliche verwenden, zum Beispiel in der Raumfahrt. Ich hab da mal ein Buch gelesen, da hat die NASA Zwillingspaare mit telepathischen Fähigkeiten trainiert, um…«

»Es reicht!« Nora beendete entschlossen die Diskussion. Merkte Sven nicht, dass sie zutiefst erschöpft war? Sie ärgerte sich über seine mangelnde Sensibilität.

Aber Marita war ebenfalls höchst interessiert: »Ihr könntet euch doch gegenseitig signalisieren, wenn irgendwo eine tolle Party läuft. Oder es etwas Interessantes zu sehen gibt. Oder wenn sich eine von euch langweilt. Oder…«

Sie war so begeistert, dass Sven in Lachen ausbrach und alle anderen einstimmten. Damit war die ernsthafte Diskussion endlich vorbei.

»Was machen wir heute Abend? Sollen wir ausnahmsweise mal essen gehen?«

Helenes Diskussion mit ihrem Freund Markus verlief wesentlich kürzer.

»Warum hat Nora denn eben angerufen?«, fragte er, als sie aus dem Zelt herauskam. »Sie hörte sich ziemlich seltsam an, so als hätte sie sich total Sorgen um dich gemacht. Aber von deinem Fast-Ertrinken konnte sie doch nichts wissen, oder kann sie in die Zukunft sehen?«

Er sah seine Freundin argwöhnisch an. Das Thema behagte ihm nicht. Außerdem hatte er ein schlechtes Gewissen, dass andere Strandbesucher Helenes Schwierigkeiten mit den Wellen bemerkt hatten, er nicht.

»Ach, das war bestimmt nur so ein dummes Gefühl«, tat Helene die Frage mit einer Handbewegung ab. Markus gab sich damit zufrieden, und seine Freundin ärgerte sich über seine mangelnde Empathie.

Abends fuhren Nora und ihre Freunde durch ein typisch isländisches Dorf an einem kleinen Souvenirgeschäft vorbei.

»Hier gibt es bestimmt schöne Reiseandenken, lasst uns doch mal nachsehen«, schlug Marita vor. Sie hielten an und betraten das Geschäft. Der Laden bot wie erwartet einige typisch isländische Andenken – Pullover, Socken, Mützen, Lakritze, außerdem unzählige Kobolde, Trolle und Elfen.

Nora schlenderte lange in dem kleinen Geschäft umher, hob einen der Kobolde an, dann einen der Trolle, und wog mehrere Elfen in der Hand. »Was suchst du eigentlich?«, fragte Sven ungeduldig. »Kann ich dir helfen?«

»Nein, ich hab’s gefunden«, gab Nora zurück. Sie nahm zwei kleine zierliche Figuren aus Kunststoff in die Hand und ging zur Kasse.

»Das sind Elfen«, erklärte sie ihrem Freund. »Eine für mich und eine für Helene. Die sollen uns immer daran erinnern, wie schnell unser schönes Leben vorbei sein kann.«

Später rief Nora noch mal ihre Schwester an, sie musste sich vergewissern, dass alles in Ordnung war. Die horrenden Kosten für das Telefongespräch ignorierte sie. Sven war mit Jan und Marita eine Runde joggen.

Helene berichtete, dass Markus auf eine Sangria mit den Männern, die sie gerettet hatten, weggegangen war.

»Alles in Ordnung?«, fragte Nora mehrmals, und Helene versicherte ihr, dass sie wohlauf war. »Ehrlich gesagt, ist der Urlaub ohne dich nicht so toll«, meinte Nora ernüchtert.

»Ich glaube, das nächste Mal fahren wir wieder zusammen«, stimmte Helene ihr zu.

»Und wenn es mit Markus und Sven nicht klappt, müssen wir uns eben andere Freunde suchen«, beschloss Nora.

Und wenige Monate nach diesem Urlaub trennten beide sich kurz nacheinander von ihren Freunden. Bei ihren weiteren Bekanntschaften achteten sie sorgsam darauf, dass die Männer mit der Schwester gut auskamen.

Kapitel 3

Zweiundzwanzig Jahre später geschah es abermals. Während eines Urlaubs geriet eine der Schwestern in Lebensgefahr. Wieder spürte die Zwillingsschwester die Notlage, wieder empfand sie die Todesangst der anderen. Diesmal war es Nora, die unbedacht in eine gefährliche Situation geriet, bei einer Wanderung in Kanada. Helene war tausende Kilometer entfernt, als sie die Angst und Verzweiflung ihrer Schwester empfing und überlegen musste, wie sie Nora helfen konnte.

Sie nahm an der verhängnisvollen Wanderung nicht teil, eine Entscheidung, die sie bitterlich bereuen würde. Die Diskussion über die Wanderung fand im Januar statt, an einem kalten regnerischen Abend, als Nora und Helene über einen Urlaub in Kanada sprachen. Sie konnten zu dem Zeitpunkt nicht ahnen, welche Gefahren in Kanada auf Nora warteten. Und wie sehr Helene bereuen würde, dass sie nicht mit ihrer Schwester nach Kanada geflogen war.

Nora und Helene waren seit ihrer Jugend häufig, aber nicht immer, zusammen in Urlaub gefahren. Meistens zog es sie Richtung Süden, in die Sonne. Sie hatten beide ein Studium absolviert, Nora – mit ihrem Faible für Mathematik und Naturwissenschaften - studierte Physik an der örtlichen Universität, Helene – eher praktisch veranlagt – hatte sich für Bauingenieurwesen an der TH Aachen eingeschrieben. Helene war gleich zu Studienbeginn in eine Wohngemeinschaft mit zwei Kommilitonen – ein Mann und eine Frau – nach Aachen gezogen.

Sie genossen es, einen Hörsaal oder eine Diskothek betreten zu können, ohne aufzufallen. Ohne dass sich Köpfe nach ihnen, den Zwillingen, umdrehten. An der Universität traten sie einzeln auf, sie zogen trotzdem die Blicke auf sich, nicht weil sie Zwillinge waren, sondern weil sie Frauen waren. In ihren Vorlesungen gab es nur wenige Studentinnen, über 95% der Plätze waren von Männern besetzt. Vermutlich reizte es Nora und Helene ebenso wie früher ihre Mutter, sich in einer männlich geprägten Umgebung durchzusetzen. - Für die Professoren waren sie Studierende, nicht ‚die Zwillinge‘, wie es an der Schule geheißen hatte.

Sie heirateten kurz nach dem Studium, Männer die gut miteinander auskamen. Sie bekamen Kinder, und Helene wurde Witwe. Die Beziehung zwischen den Zwillingsschwestern war eng geblieben, auch wenn sie gerne wegen der unterschiedlichen Studiengänge – auf der einen Seite Noras theoretisches Fach Physik, auf der anderen Seite Helenes praktisches Studium als Bauingenieurin – gegeneinander stichelten. Und beide spürten meistens, wenn die Schwester starke Empfindungen hatte.

Helene war als Erste der Zwillingsschwestern schwanger geworden. Elias war ungeplant, aber hochwillkommen. Nora spürte die übergroße Euphorie ihrer Schwester, als Elias endlich auf der Welt war. Und ein Jahr später empfand Helene Noras Entzücken bei Sarahs Geburt. Nora gab nie zu, dass ihre Tochter ebenfalls ein »Unfall« war, lächelte bei entsprechenden Fragen nur vielsagend. Fünfzehn Monate nach Sarah brachte Nora ihren Timo zur Welt, Helenes zweites Kind Hanna kam vier Jahre nach Elias.

Ein Jahr nach Hanna passierte die Tragödie. Helenes kleine Mia wurde still geboren, und eine übergroße Traurigkeit ergriff Nora, noch bevor sie telefonisch über das tote Baby informiert wurde. Sie hatte sich auf die kleine Nichte gefreut und litt fast genauso unter dem Verlust wie die verwaiste Mutter.

Acht Jahre nach Timo kam Dominik zur Welt, der jüngste Sohn von Nora, ungeplant und ungewollt. Aber Dominik eroberte mit seinem sonnigen Wesen und seinem strahlenden Lächeln alle Herzen im Sturm. Er half seinen Eltern, seiner Tante Helene und allen vier Kindern über Mia hinweg.

Beide Schwestern achteten nach Möglichkeit auf eine ausgewogene Balance zwischen Berufs- und Familienleben. Sie unternahmen häufig gemeinsame Aktivitäten mit ihren Kindern, Radtouren, Ausflüge in den Zoo oder zu Freizeitparks, Spielplatzbesuche und vieles mehr. Oft fuhren beide Familien zusammen in Urlaub, manchmal getrennt.

Und nun war es Zeit, den nächsten Urlaub zu planen.

Es war ein typisch deutscher Januarabend – kalt, grau, nass, windig. Schnee hatte sich bisher kaum blicken lassen, die Sonne ebenso wenig.

Helene und Nora waren mit ihren Partnern zum Abendessen in einem italienischen Restaurant verabredet. Nora und ihr Ehemann waren wie meistens zu spät.

Das Restaurant war vor Kurzem renoviert worden. Helene ließ ihre Blicke schweifen und dachte, dass das Lokal mit den grauen Wänden und dem Terrakottaboden eine gewisse Kühle ausstrahlte. Vor der Renovierung sah es gemütlicher aus, urteilte Helene. Nur wenige Tische waren besetzt, obwohl es Samstag war. Möglicherweise hatten andere Gäste ebenfalls das vorherige Ambiente vorgezogen. Oder sie waren bei dem ungemütlichen Wetter lieber zu Hause geblieben.

Helenes Lebensgefährte Sandro war kurz in die Küche gegangen: »Alte Zeiten aufleben lassen«, hatte er gesagt. Er war mit dem Betreiber des Restaurants weitläufig verwandt, und daher bekamen sie immer eine Vorzugsbehandlung. Behauptete Sandro zumindest.

Helene studierte die Speisekarte. Der appetitanregende Duft von Knoblauch und Kräutern strömte aus der Küche und ließ Helenes Magen knurren.

Sie hatte sich für das ‚Menue des Tages‘ entschieden, als Nora und ihr Mann Niklas endlich eintrafen. Sie setzten sich Helene gegenüber an den Tisch, Sandro hatte sich aus der Küche lösen können und neben Helene gesetzt.

»Wir wollen dieses Jahr im Juni nach Kanada zum Wandern fahren.« Nora strahlte bei diesen Worten.

Die Zwillinge waren 46 Jahre alt, attraktiv und beruflich erfolgreich. Noras Ehrgeiz hatte sie zur IT Managerin eines Pharmaunternehmens mit einem großen internationalen Team befördert. Sie war schick und modisch gekleidet, bevorzugte kräftige Farben, war sorgfältig geschminkt, und trug gerne teuren Schmuck. Sie trieb Sport, so oft es ihre anspruchsvolle Position erlaubte, und hatte im Laufe der Jahre nur wenige Kilo zugenommen. Jeden Monat ging sie zum Friseur, und ihre Frisur wechselte sie ebenso wie die Haarfarbe alle paar Monate. Zurzeit waren ihre Haare halblang zu einem modischen Bob geschnitten und kastanienrot getönt.

Helene sah ihrer Schwester noch immer ähnlich, aber sie bevorzugte einen anderen Stil. Sie favorisierte gedeckte Farben – »erdfarben« - und war wenig geschminkt. Außer Ohrringen und ihrer Armbanduhr trug sie kaum Schmuck. Zu ihrem Kummer war sie etwas mollig, was sie auf das gute italienische Essen ihres Freundes zurückführte. Ihre Haare - die zu einer flotten Kurzfrisur geschnitten waren - waren früh ergraut, Helene mochte sie aber nicht färben: »Die grauen Haare gehören genauso zu mir wie meine paar überzähligen Kilos«, meinte sie. Sie würde niemals zugeben, dass sie – mit etwa fünfzehn Kilo zu viel auf den Hüften - neidisch auf ihre Schwester Nora war, die sich ihre schlanke Figur erhalten hatte.

Wie so oft dachte sie nach einem Blick auf ihre Schwester, dass sie sich schicker anziehen könne. Nora trug ein leichtes lilafarbenes Shirt mit Lochstickerei am Ausschnitt zu einem schwarzen Rock, der am Knie endete, dazu eine schwarze ärmellose Weste mit Kunstpelzbesatz, und hochhackige Schuhe, die ihre wohlgeformten Beine in den dunklen Nylonstrümpfen betonten. Um den Hals hatte sie eines der farbenfrohen indischen Seidentücher geschlungen, die sie in großen Mengen von ihren Dienstreisen nach Mumbai mitbrachte. Sie trug goldene Kreolen, ein elegantes Collier im Panzerkettendesign, ein passendes Armband, außerdem mehrere Ringe und eine teure Armbanduhr. Sie war eine auffallende Erscheinung.

Helene sah neben ihr unauffällig aus, sie trug eine braunkarierte Jeans mit einem hellbraunen Rollkragenpulli, dazu dunkelbraune Pumps. Sie hatte ebenfalls ein indisches Seidentuch um den Hals gelegt, rosafarben mit kleinen braunen Elefanten. An den Ohren trug sie einfache Perlenstecker, dazu eine Swatch um ihr Handgelenk. Wie immer achteten die Zwillinge darauf, im Restaurant nicht nebeneinanderzusitzen, um die Vergleiche und Kommentare der anderen Besucher zu erschweren.

»Wollt ihr vielleicht mitkommen? Wir würden uns freuen.« Nora sah ihre Schwester herausfordernd an. Sie hatten die Vorspeise genossen: gemischte italienische Antipasti für Sandro, Bruschetta für Helene und Salat für Nora und Niklas.

»Hm, warum den weiten Flug unternehmen nur zum Wandern? Das können wir doch in den Alpen ebenso gut machen«, war Sandros unwillige Reaktion. Er war kein Freund vom Wandern und hatte in den fast zwei Jahren, die er mit Helene zusammen war, keine einzige Wanderung mitgemacht.

»Seit wann wanderst du denn in den Alpen?«, fragte Niklas mit überraschter Stimme und sah Sandro herausfordernd an.

»Jetzt sag doch nicht sofort nein«, fügte Helene hinzu, ihre Brauen verärgert zusammengezogen. »Ich war noch nie in Kanada, wir könnten doch wandern und Sightseeing verbinden. Wo wollt ihr denn überhaupt hin? Kanada ist groß.«

»Wir haben an die Westküste gedacht«, antwortete ihre Schwester. »An einen der Nationalparks in den Rocky Mountains in der Provinz Alberta, Banff oder der Yoho Nationalpark. Die sind wohl so richtig wild und ursprünglich. Und ja, Sightseeing ist auch eingeplant. Wir wollen ein Auto mieten und fangen gerade mit der Streckenplanung an.« Sie sah ihre Schwester ermunternd an. »In Kanada wandern ist natürlich was anderes als in den Alpen. Das ist pure Natur und echtes Abenteuer.«

Ihr Mann nickte bekräftigend. »Nur für durchtrainierte Wanderer«, fügte er mit einem Grinsen hinzu. »Nichts für Warmduscher.«

Niklas war 48 Jahre alt, 2 Jahre älter als seine Frau. Er joggte einmal in der Woche und betrieb zusätzlich Krafttraining, hatte zu seinem Kummer trotzdem an Gewicht zugelegt. Seine Herkunft konnte er nicht verleugnen, wenn er redete, konnte man die singende Sprachmelodie der Rheinländer hören. Er sprach nicht Dialekt, flocht aber gerne kölnische Begriffe ein. »Su’n Driss« sagte er, wenn er sich ärgerte. Er fand das charmanter als »scheiße«.

Helene warf einen kurzen Blick auf ihren Lebensgefährten. Dessen Gesicht und Körperhaltung strahlten pure Ablehnung aus.

»Was sagt denn eigentlich Sarah zu euren Reiseplänen?«, wollte sie wissen. »Der Flug nach Kanada ist doch wesentlich schädlicher für das Klima als eine Autofahrt in die Alpen.«

Die neunzehnjährige Sarah, das älteste Kind von Nora und Niklas, war eine engagierte Klimaschützerin. Und sie hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg.

»Die Diskussion hatten wir bereits«, antwortete Nora mit einem leisen Seufzer. »Sie hat ja durchaus recht. Aber Niklas hat ihr erklärt, dass wir normalerweise nicht fliegen, im Gegensatz zu vielen anderen. Und dass sie das einfach mal akzeptieren muss.«

Sarah hatte ihre grüne Einstellung definitiv nicht von ihrem Vater geerbt. Helene musste ein Grinsen unterdrücken, sie konnte sich die Diskussion zwischen Vater und Tochter lebhaft vorstellen. »Lass uns drüber nachdenken«, sagte sie beschwichtigend. »Wir melden uns bei euch.«

»Wer war eigentlich der Mann, der eben vor dem Restaurant stand? Er hat uns so angeguckt, als wollte er was sagen.« Helene lenkte ab, sie wollte offenbar eine weitere Diskussion über Wandern und Kanada vermeiden.

»Mir ist er auch aufgefallen«, antwortete Nora, erleichtert über den Themenwechsel. »Ich hab überlegt, ihn anzusprechen, aber da hat er sich abgewandt und ist gegangen. – Er kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich habe keine Idee, ob und wo oder wann ich ihn schon mal gesehen habe. – Er hat eine teure Armbanduhr getragen, eine Rolex, und eine Goldkette um den Hals«, fügte sie hinzu. Typisch, dachte Helene, solche Sachen fielen Nora auf.

Die beiden Paare sprachen nicht mehr über Kanada, sondern wandten sich anderen Themen zu und versuchten, das Beisammensein und das Essen zu genießen. Aber der Kanadaurlaub schwebte den restlichen Abend wie eine grün-graue Wolke über ihnen.

Dann passierte es: Nora wedelte beim Erzählen lebhaft mit der Hand, dabei kippte sie ihr Weinglas um und der Rotwein ergoss sich auf den Tisch und floss auf ihren Rock. Das Glas rollte zum Rand, fiel hinunter und zerbrach in tausend Scherben. Der Rotwein auf dem weißen Tischtuch sah aus wie ein großer Blutfleck und vergrößerte sich stetig.

Die Zwillinge schauten sich betroffen an: So ein schlechtes Omen!, dachten beide, obwohl sie nicht abergläubisch waren. Und sie sahen dem Gesicht der Schwester an, dass diese denselben Gedanken hatte. Das gab der Stimmung endgültig den Rest.

Nora säuberte ihren Rock notdürftig mit einem Handtuch, das der Kellner eilfertig brachte. Sie nahmen den obligatorischen Espresso und beendeten das Dinner, kurz nachdem sie den Grappa – auf Kosten des Hauses - getrunken hatten.

Helene war still geworden. Beim Hinausgehen nahm sie ihre Schwester kurz beiseite.

»Nora, ist die Kanadareise wirklich eine gute Idee?«, raunte sie ihr zu. »Ich habe ein sehr schlechtes Gefühl. Mir wäre es ganz bestimmt lieber, wenn du nicht fliegst.«

»Ich habe schon zugesagt«, gab ihre Schwester ebenso leise zurück. »Ich kann jetzt nicht mehr zurück. Und Niklas denkt, ich wär ihm was schuldig.«

»Nimm wenigstens den Jakobsstein und die Elfe mit«, drängte Helene ihre Schwester.

Nora versprach, sowohl die isländische Elfe als auch den Jakobsstein, den sie von einer gemeinsamen Wanderung auf dem Jakobsweg mitgebracht hatten, einzupacken. – Die Zwillinge hätten sich an diesem Abend nicht vorstellen können, welche Rolle die »Talismane« im Kanada-Urlaub spielen würden.

Niklas hatte kaum Alkohol getrunken und brachte zunächst Helene und Sandro nach Hause. Er fuhr eine große Limousine eines Premiumherstellers, Nora einen schnittigen kleinen Sportwagen. Helene besaß eine »Familienkutsche«, wie sie ihren dunkelblauen Kombi nannte. Und für Sandro kamen nur Autos von italienischen Herstellern in Frage.

An Helenes Haus blinkte die Weihnachtsbeleuchtung, eine kitschig bunte Lichterkette, die Helene noch nicht entfernt hatte, es war erst Anfang Januar. Und vor der Haustür zog ein kleines Rentier einen Schlitten mit Nikolaus drauf. Alles in vielen Farben beleuchtet.

Helene und Sandro stiegen aus und bedankten sich fürs Heimbringen. »War ein netter Abend«, schummelte Helene und erntete einen giftigen Blick ihres Lebensgefährten. Niklas und Nora winkten und fuhren nach Hause.

Kapitel 4

Nora und Niklas wurden von ihrer eigenen dezenten Weihnachtsbeleuchtung erwartet: Warmgelbe Lichterketten hingen unter den Fenstern und über dem Garagentor, das Niklas mit der Fernbedienung öffnete. Vor der Haustür standen ein kleiner Schneemann und ein roter Nikolaus aus Porzellan.

Sie hatten ihr Haus vor achtzehn Jahren gebaut, als Nora mit Timo hochschwanger war, eine schmucke Doppelhaushälfte mit einem gepflegten Garten, in einer ruhigen Seitenstraße gelegen. Niklas erledigte die anfallende Gartenarbeit, dabei konnte er sich am besten entspannen, sagte er. Helene hatte ihr Reihenhaus zwei Jahre vor der Schwester gekauft, und Nora ärgerte sich, dass sie das Grundstück für das Doppelhaus nicht eher entdeckt hatten. Sie würde gerne neben Helene wohnen. - Aber immerhin lebten sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt.

»Wir trinken noch ein Glas Rotwein«, schlug Niklas vor, als sie im Haus waren.

»Gerne«, gab Nora zurück. »Ich geh nur noch kurz zu den Jungs.«

Ihr jüngerer Sohn, Dominik – zehn Jahre alt – schlief noch nicht, er lag im Bett und spielte auf seinem Handy.

»Jetzt wird es aber Zeit zu schlafen,« ermahnte Nora ihn und küsste ihn zärtlich. Dominik war verschmust, und sie durfte ihn küssen, selbst wenn seine Freunde dabei waren. – Andererseits war ihr Jüngster ein kleiner Chaot, er konnte alles zum Basteln gebrauchen: Pappkartons, aus denen er ein Häuschen für sich baute, welches Nora dann erst Tage später entfernen durfte. Aus Styropor fabrizierte er ein Labyrinth für eines der Tiere, die seine Schwester Sarah aufpäppelte, und produzierte andere nützliche und weniger nützliche Gegenstände. Und meistens räumte er hinterher nichts weg, zum Verdruss seiner Eltern. Aber man konnte ihm nicht lange zürnen – Dominik strotzte vor Energie und hatte fast immer gute Laune. Er spielte Fußball im örtlichen Verein und hatte viele Freunde. Er war ein hübscher Junge, mit dunklen Augen und mittelblonden Haaren, für den Geschmack seiner Oma zu dünn. »Du musst endlich zusehen, dass er zunimmt«, sagte sie in regelmäßigen Abständen zu Nora. »An ihm ist ja überhaupt nichts dran.« Nora störte sich mehr an den Jogginghosen, die er in letzter Zeit fast nur trug, normale Jeans waren ‚out‘.

Sie klopfte an Timos Zimmertür, ihrem Achtzehnjährigen. Sie erinnerte sich, dass ihre neunzehnjährige Tochter Sarah mit einer Freundin – oder mit ihrem Freund Tarik? - ausgegangen war und spät nach Hause kommen würde. Timo sah nur kurz von seinem Schreibtisch auf – büffelte er etwa für die Schule?

Nora gab einige anerkennende Worte von sich. Bei Timo freute sie sich besonders über Schulerfolg und seinen Eifer. Er war Legastheniker und hatte es zu Beginn seiner Schulzeit schwer. Nora tippte zunächst auf Faulheit, bis die Kinderärztin endlich die richtige Diagnose stellte und sie gemeinsam daran arbeiteten, dass er die Schule schaffte. Nora war über sich selber überrascht, wie wenig Probleme ihr die leichte Behinderung ihres Sohnes bereitete. Ihre eigene war wesentlich schwerwiegender und bewirkte eine gewisse Toleranz gegenüber den Schwächen anderer. Sogar zu der Schreib-Lese-Beeinträchtigung ihres Sohns. Nach einer Ehrenrunde brachte Timo mittlerweile akzeptable Noten nach Hause. Und er kannte und beherrschte alle Korrekturprogramme für seine Computeranwendungen.

Sie wünschte ihrem älteren Sohn ebenfalls eine angenehme Nacht, lief die Treppe ins Erdgeschoss hinunter und setzte sich zu ihrem Mann auf die braune Ledercouch.

Ihr Wohnzimmer war hell und freundlich eingerichtet, mit großen Fenstern und einer eindrucksvollen Bücherwand. Niklas – der Journalist – hatte die meisten Bücher gelesen, er interessierte sich für Geschichte und las gerne historische Romane. Nora las ebenfalls häufig, vorwiegend Science-Fiction und Fantasy, manchmal schnulzige Liebesromane. Sie ging zum Fenster und ließ die Rollläden herunter, dabei ärgerte sie sich über Timo, der das längst erledigt haben sollte. Es war Januar und seit mehreren Stunden dunkel.

Nora zündete eine Kerze an und der Vanilleduft verstärkte die weihnachtliche Stimmung im Raum. Sie kuschelte sich in die rotkarierte neue Decke, die sie im November erworben hatte.

»Das war ein blöder Abend«, meinte sie mit einem Seufzer.

»Sandro ist aber auch wirklich ein Weichei«, stimmte Niklas sofort ein. »Was findet Helene nur an ihm? Mit Thomas konnte man Pferde stehlen, und mit Sandro? Beim Italiener essen gehen, sonst ist doch nichts mit ihm los.«

Ups, das ist heftig!, dachte Nora. Sie wusste, dass Niklas an Helenes verstorbenem Mann gehangen hatte, Thomas war für ihn fast wie ein Bruder gewesen. Sie empfand ähnlich für den Schwager, aber Niklas‘ Abneigung gegen Sandro teilte sie keinesfalls. Seit zweiundzwanzig Jahren war sie mit Niklas verheiratet. Sie sah ihn aufmerksam an. Niklas, achtundvierzig Jahre alt, hatte ein markantes Gesicht, dem die randlose Brille einen intellektuellen Touch verpasste. Seine dunkle Lockenpracht war zu seinem Leidwesen im Laufe der Jahre einer Glatze mit einem dünnen Haarkranz gewichen.

Niklas und Nora hatten während ihrer Ehejahre einige Höhen und Tiefen gemeistert. Angefangen mit Helenes totgeborener Tochter Mia, dann die Lese-Schreibschwäche von Timo, der Tod der Großmutter Irene und des Schwagers Thomas – sie konnten es gemeinsam bewältigen. Selbst als Niklas sich vor sieben Jahren entschied, Vegetarier zu werden – zugegebenermaßen ein kleines Problem - gab es nur wenig Schwierigkeiten mit dem Speiseplan, obwohl Nora gerne und häufig Fleisch aß. Das führte zu regelmäßigen – teils heftigen – Diskussionen mit ihrer Tochter Sarah, die ein Jahr nach ihrem Vater zur Vegetarierin wurde. Und leider bei weitem nicht so tolerant wie Niklas war. Zum Glück aßen Timo und Dominik gerne Fleisch und Wurst, und vertraten die Ansicht, dass zu einem richtigen Barbecue ein gutes Steak gehörte.

In letzter Zeit hatte es eine massive Krise bei Nora und Niklas gegeben. Nora hatte eine Affäre mit einem Kollegen aus der benachbarten Marketingabteilung, Daniel, sieben Jahre jünger als sie, leichtlebig, witzig, gutaussehend, sinnlich. Eine Kollegin von ihr steckte das Techtelmechtel Niklas. Nora vermutete, dass diese selber Interesse an Daniel hatte.

Niklas war erschüttert. »Ist das so ein Familiending?«, hatte er zornbebend gefragt. Nora hatte ihm mal in einer schwachen Stunde erzählt, dass ihr Vater häufig fremd gegangen war. Nora wollte ihre Familie nicht für die Affäre aufs Spiel setzen. Sie hoffte, dass ihre Kinder nichts mitbekommen hatten, und beendete das Ganze zögernd. Nach fünf Monaten.

Und sie schlug im Januar den Kanadaurlaub vor, da sie wusste, dass das ein Jugendtraum von Niklas war. Sozusagen als Start in eine neue vertiefte Beziehung. Helenes verstorbener Ehemann Thomas wäre der ideale Partner für Niklas‘ Reise in den Norden Amerikas gewesen, die beiden hatten vor einigen Jahren mit der Planung angefangen. Niklas hatte ein kleines Zelt und zwei Schlafsäcke gekauft, sie beabsichtigten, mehrere Tage in einem Nationalpark zu wandern und zu campen. Als er mit Nora über den Kanadaurlaub sprach, schlug er vor, ein paar Nächte auf einem der vielen Campgrounds mitten im Nationalpark zu verbringen. Das lehnte seine Frau aber vehement ab: »Einen schweren Rucksack mit Zelt und allem schleppen? Und mich nachts vor Bären und Wölfen fürchten? Auf gar keinen Fall!«, hatte sie gesagt.

Aber Thomas war tot. Seit vier Jahren.

»Sandro ist halt ganz anders als Thomas«, verteidigte sie den Lebensgefährten ihrer Schwester. »Er ist charmant, witzig, er verwöhnt Helene und kommt super mit ihren Kindern aus.«

»Von wem sprichst du?«, gab Niklas zurück und lächelte seine Frau an.

Nora erinnerte sich voller Trauer an ihren Schwager und seinen allzu frühen Unfalltod. Dann riss sie sich aus ihren Gedanken. »Aber jetzt zurück zu unserem Urlaub – wir zwei machen doch die Tour? Du hattest nicht ernsthaft erwartet, dass Sandro mitkommt. Also fangen wir einfach mit der Planung für uns beide an. Ob wir wohl auf Bären treffen? Oder Wölfe hören?«

Kapitel 5

»Ich bin müde und gehe schlafen.« Helene und Sandro waren nach dem Restaurantbesuch mit Nora und Niklas kaum in ihrem Haus, als Sandro auf der Treppe stand und nach oben Richtung Badezimmer eilte. Er hatte die ganze Rückfahrt ein mürrisches Gesicht gezeigt und kein Wort gesprochen.

Helene ärgerte sich. Das ist wieder mal typisch Sandro, dachte sie, Probleme nach Möglichkeit umgehen, und bloß nicht drüber sprechen.

»Es ist noch nicht mal 23 Uhr, morgen haben wir Sonntag und können ausschlafen!«, sagte sie mit scharfer Stimme. »Jetzt lass uns doch mal kurz über die Reise reden!« Sie deutete auf das Sofa.

»Da gibt es nichts zu reden, ich komme auf keinen Fall mit!«, erwiderte Sandro in bestimmtem Tonfall. Er war auf der Treppe stehengeblieben.

»Ist der Grund, dass dein Englisch nicht gut genug ist? Oder ist es zu anstrengend? Oder willst du einfach nicht mit meiner Schwester und meinem Schwager verreisen?«

Helene hörte, dass ihre Stimme schrill wurde. Mit ihrem früheren Ehemann Thomas war sie - zumindest die ersten Jahre - oft mit Nora und Niklas in Urlaub gefahren, häufig zum Wandern.

Sandro war anders als Thomas, und das hatte fraglos Vorteile. Er stammte aus Italien, seine Eltern waren vor dreißig Jahren aus dem italienischen Süden nach Deutschland gezogen. Er streute gerne italienische Wörter ein und verstärkte damit seinen Charme, der Helene sofort angezogen hatte. Er war mit seinen 43 Jahren drei Jahre jünger als sie, und betonte sein mediterranes Äußeres mit einem gepflegten 3-Tage-Bart. Er hatte eine große Familie, in Deutschland und in Italien, die häufig zu Besuch kam, oder die sie besuchten. Er hatte fünf Nichten und Neffen, aber keine eigenen Kinder, obwohl er Kinder mochte und Lehrer an einer Grundschule war.

»Warum sollte ich Kinder in die Welt setzen? Ich habe genug in der Schule«, pflegte er zu sagen.

Zu Beginn ihrer Romanze hatte Sandro Probleme, die enge Beziehung seiner Frau zur Schwester zu akzeptieren. Welche Rolle blieb für ihn in ihrem Leben? Dieses tiefe Verständnis würde er nie zustande bringen, und probierte es folglich gar nicht. Aber er lernte, dass die Zwillingsschwester ihm die Mühe abnahm, sich alle Probleme anzuhören und Helene bereitwillig akzeptierte, wenn er alleine mit Freunden ausging.

Mit Helenes Kindern Elias und Hanna kam er ausgezeichnet aus, obwohl – oder weil - er immer betonte, dass er ihnen nicht den Vater ersetzen konnte und wollte. Helene hatte zunächst argwöhnisch aufgepasst, dass er nicht eines der Kinder vorziehen würde. Zum Glück hatten die Kids unterschiedliche Ansprüche und Sandro liebte beide in gleichem Maße. Er baute ein kumpelhaftes Verhältnis zu beiden auf und entwickelte viele Ideen für gemeinsame Unternehmungen. Als erstes brachte er ihnen pokern bei, und sie organisierten kleine Pokerturniere, zu denen Freunde von allen dreien eingeladen waren.

Sandro konnte nicht nur pokern, er war außerdem ein Ass beim Kickern und beim Dart spielen – Helene sagte immer, dass es in seiner Familie einen Engländer gegeben haben musste. Den Kickertisch hatte ihr verstorbener Ehemann Thomas vor Jahren im Keller aufgestellt, aber eher selten benutzt. Und die Dartscheibe war einer der ersten Gegenstände, die Sandro für seine neue Familie anschaffte. Sie veranstalteten zusätzlich zu den Pokerturnieren Turniere für Kickern und Darts. Die Freunde von Elias und Hanna sagten, dass Sandro sich überhaupt nicht wie ein Lehrer benahm. Er interpretierte das als Kompliment.

Faktisch war Sandro mit den Kindern wesentlich aktiver, als es Thomas je gewesen war. Thomas gehörte zu den Vätern, die bei Kindergeburtstagen Überstunden ableisten ‚mussten‘ und froh waren, wenn alle Gäste bei der Heimkehr schon gegangen waren. Und die Freundinnen beneideten Helene um ihren attraktiven ‚Latin Lover‘.

Hanna hatte sogar angefangen, Italienisch zu lernen, ‚die schönste Sprache der Welt‘, wie Sandro immer sagte. Allerdings hörte sie bald wieder auf, nachdem Sandro aus Versehen eines ihrer getöpferten Kunststücke zerbrach. Es war eines ihrer Lieblingsstücke, aufwändig in der Herstellung. Eine kleine Tiergruppe, Fantasy Wesen, eines davon sah Carlos ähnlich, dem treuen Hund der Familie, mit einem schmalen Drachenkörper und imposanten Flügeln. Sandro meinte tröstend, er könne es wieder kitten, aber das war nicht möglich, das Kunstwerk war in tausend Teile zersplittert. Hanna warf ihr Italienischbuch in den Mülleimer.