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Paris hat eine dunkle Seite ...
Sie nennen sich selbst die Kämpfer der Schatten und haben der Stadt den Rücken gekehrt. Vom hellen Licht sind sie in das Reich der Dunkelheit hinabgestiegen, in die Katakomben tief unter Paris. Unter ihnen lebt Léon, der magische Fähigkeiten besitzt. Er allein weiß um die Macht des Meisters der Finsternis, dessen Ziel es ist, Paris zu vernichten. Als Léon eines Tages der schönen Claire das Leben rettet, ist es um sie beide geschehen. Léon nimmt Claire mit in seine düstere Welt; Licht und Schatten verbinden sich. Doch das Glück der beiden ist nicht nur dem attraktiven Adrien ein Dorn im Auge, der schon lange in Claire verliebt ist, sondern vor allem dem Meister der Finsternis selbst, der seine ganz eigenen Pläne mit Léon hat. Schon bald werden die beiden Liebenden zum Spielball dunkler Mächte.
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Seitenzahl: 604
Ulrike Schweikert
Er trat aus den Schatten
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1. Auflage 2016
© 2016 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik und Typografie,unter Verwendung von Motiven von © shutterstock (La Chernina, Bon Illustrateur, Vasya Kobelev, dwph)
Lektorat: Michelle Gyo
sk · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-17034-9V001www.cbt-buecher.de
Der Schatten
Er lauschte dem kaum hörbaren Schaben und Knirschen seiner Schritte, während er die riesige Kaverne durchquerte. Selbst wenn er den Blick nicht auf seinen Weg richtete, verrieten ihm die Geräusche, welcher Grund sich unter seinen Füßen befand: Der kalkige Gesteinsschutt im Süden unter der Stadt klang anders als der weiche Gips unter dem Montmartre. In den feuchten Bereichen mischte sich ein Seufzen unter seine Schritte, das vom Klang der Wassertropfen begleitet wurde, die in unregelmäßigen Abständen von der Decke fielen.
Ganz anders tönten seine Füße in den gemauerten Röhren und Gängen der égouts, wie man die Abwasserkanäle von Paris nannte, die sich, abgesehen vom Rauschen des Wassers, auch durch ihren durchdringenden Gestank in alle Sinne drängten. Hier in den alten Steinbrüchen, viele Meter unterhalb der Tunnel der Metro und der Kanalisation, war die Luft dagegen rein und kühl. Es roch nur ein wenig nach dem feuchten Kalkgestein, das seine Füße mit Bedacht überquerten.
Er schien keine Eile zu haben, dennoch ging er zielstrebig voran, ohne auch nur einmal innezuhalten. Der Weg war ihm vertraut. Er zögerte bei keiner der zahllosen Kreuzungen, die ihn immer tiefer in das Labyrinth aus unterirdischen Steinbruchkavernen und endlosen Felsgängen führten.
Hier unten war es bis auf seine Schritte und ein paar herabfallende Wassertropfen nicht nur totenstill, es herrschte auch undurchdringliche Finsternis, bei der man nicht die Hand vor Augen sah. Und dennoch ging er, ohne eine Lampe oder andere Lichtquelle bei sich zu tragen, unbeirrt weiter.
Jeder andere wäre hier unten verloren gewesen. So wie dieser Student Mathieu, der vor einigen Jahren zusammen mit seiner Freundin im sechzehnten Arrondissement in den Untergrund hinabgestiegen war. Lediglich mit einer Taschenlampe ausgerüstet, wollten die beiden in der geheimnisvollen Unterwelt von Paris ein Abenteuer erleben.
Das bekamen sie dann auch. Der Spaß endete jäh mit einem Schrei, als der Student samt der Lampe in einen Schacht fiel, wo er fünfzehn Meter tiefer aufschlug und wunderbarerweise nur mit ein paar Prellungen liegen blieb. Dennoch war das Leben der beiden in diesem Moment keinen Pfifferling mehr wert. Er war in dem Schacht gefangen und das Mädchen sollte nun in völliger Dunkelheit den Ausgang finden? Unmöglich für die von oben, für die Lichtmenschen, wie er sie manches Mal mit einem Hauch von Verachtung nannte.
Das Mädchen hatte sich auf die Knie sinken lassen und war wimmernd und fluchend durch die Finsternis gekrochen. Zwei Tage hatte er dem Elend seinen Lauf gelassen, dann hatte er genug und lotste die jämmerliche Kreatur zum nächsten Ausgang, der sie zurück ins Licht brachte.
Die Männer der GREP, eine Spezialeinheit der Feuerwehr, die sonst dafür zuständig war, Lebensmüde von Hausdächern oder dem Eiffelturm zu sammeln, befreiten Mathieu, der sich seitdem ganz sicher niemals wieder auch nur in die Nähe der Höhlen begeben hatte.
Ein Lächeln bewegte seine Lippen, das erstarb, als unvermittelt vor ihm ein grünlicher Schimmer aufglomm und sich zu einer diffusen Wolke ausweitete, die ihn in Licht hüllte. Ein Schatten schien aus dem Nichts aufzusteigen und zog sich zu einer großen, menschenähnlichen Gestalt zusammen, deren Körper von einem schwarzen Umhang verhüllt wurde, der ein wenig an eine Mönchskutte erinnerte. Das Gesicht blieb unter einer Kapuze verborgen. Nur die Augen, die sich auf den Ankömmling richteten, schienen im schwachen Licht zu glühen.
»Nun, Léon?«, begrüßte ihn eine heisere Stimme.
»Meister«, antwortete Léon und senkte kurz den Kopf. Er spürte den Druck des starren Blicks, doch er widerstand dem stummen Befehl, sich zu verneigen. Ganz im Gegenteil, er drückte den Rücken durch und sah unerschrocken zu der Stelle auf, wo er das Gesicht des Schattens erahnte.
Ein Geräusch wie ein kurzes Auflachen entrann der Kapuze. Noch immer ruhte der Blick des Schattens auf Léon, dem es vorkam, als könne er sich selbst durch die glühenden Augen beobachten, wie er in der riesigen, dunklen Höhle stand, wo einst die Steinbrecher des Mittelalters den begehrten Kalk für Pariser Kirchen und Paläste abgebaut hatten: ein junger Mann, vielleicht siebzehn Jahre alt, von großer, schlanker Gestalt, in schwarze Hosen und Pullover gehüllt, mit ebenso schwarzem Haar, Brauen und Wimpern, sodass nur das bleiche Gesicht aus der Finsternis leuchtete, angestrahlt von dem grünlichen Nebel.
Die Stille breitete sich in der Kaverne aus und lastete seltsam schwer auf Léons Schultern.
»Ihr habt mich gerufen, Meister«, erinnerte er. Er hatte plötzlich das Gefühl, es keinen Augenblick länger auszuhalten. »Was wünscht Ihr?«, fügte er mit Nachdruck hinzu und hörte selbst, dass seine Stimme aggressiv klang.
Wieder dieses trockene Lachen, das so gar nicht fröhlich war.
»Ja, ich habe nach dir gerufen, mein treuer Diener«, sagte der andere.
Léon machte eine unwillige Handbewegung, presste aber die Lippen aufeinander, um den Schatten nicht zu unterbrechen. Je eher er ihm gesagt hatte, was er von ihm wollte, desto früher konnte er sich zurückziehen und wieder seiner eigenen Wege gehen.
»Ich möchte dir eine Aufgabe übertragen, die du gewissenhaft ausführen wirst.« Er machte eine Pause, aber Léon schwieg noch immer. »Du wirst für mich nach oben steigen«, fuhr der Schatten fort.
»Wann? Heute Nacht?«, erkundigte sich Léon desinteressiert.
»Nein, jetzt!«, widersprach die Stimme aus der Dunkelheit.
Unwillkürlich wich Léon einen Schritt zurück. »Es ist früh am Morgen. Die Sonne ist bestimmt schon aufgegangen«, sagte er.
»Ich weiß«, bestätigte der Schatten sanft, »und ich kann dir sagen, dass es heute ein wunderschöner Tag für die dort oben werden wird. Keine Wolke trübt das Blau des Septemberhimmels, und es wird vermutlich noch einmal sommerlich warm werden in Paris, sodass sich die Straßencafés und die Parks mit Sonnenhungrigen füllen, während die Kinder darüber klagen, dass die Schule wieder begonnen hat.«
Das war eine ziemlich lange Rede für den sonst so wortkargen Schatten. Léon grübelte noch darüber nach, was das zu bedeuten hatte, als der andere schon weitersprach und ihm den Auftrag beschrieb, den er für ihn ausführen sollte.
»Hast du das verstanden?«
Léon nickte. »Ja, Meister.« Ich bin doch nicht blöd, dachte er.
Aus der grünen Wolke, die den Schatten umgab, drang ein Schnauben.
»Und wie lange?«, fügte Léon vorsichtig hinzu.
»So lange, wie es meinen Plänen dient. Ich werde dir sagen, wenn sich meine Anweisungen ändern«, gab der Meister zurück. Er machte eine Bewegung mit seinem Arm, die den schweren Stoff der Kutte wehen ließ. Der grünliche Nebel wallte noch einmal auf und verschwand.
Der Schatten war fort, das konnte Léon mehr fühlen als sehen. Trotzdem blieb er noch eine Weile in der Kaverne stehen und dachte über den seltsamen Auftrag nach, den der Meister ihm erteilt hatte. Vor allem die Frage nach dem Warum beschäftigte ihn. Was für Pläne hegte der Schatten und wozu um alles in der Welt brauchte er diese Informationen?
Léon fiel nichts dazu ein. Ratlos schüttelte er den Kopf, dann wandte er sich um und ging den Pfad zurück, den er gekommen war. Ihm war bewusst, dass dies nicht der direkte Weg zur Oberfläche war und er das Unvermeidliche nur hinauszögerte. Es kam ihm selbst ein wenig kindisch vor, und doch …
Léon blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Sein Blick wanderte die eiserne Leiter hinauf, die hier an der Abzweigung zweier Gänge ein Stockwerk hinauf und dann, nach einem engen Durchschlupf, zu einer in Fels gehauenen Treppe führte, die in der Nähe eines Zugangs zu den Abwasserkanälen endete. Von dort konnte er einige in eine Wand eingelassene Eisenkrampen hinaufsteigen, um die Unterwelt durch einen der wenigen nicht zugeschweißten Kanaldeckel zu verlassen. So käme er in eine stille Sackgasse im sechsten Arrondissement, ganz in der Nähe des Jardin du Luxembourg.
Léon seufzte. Es war wohl unvermeidbar.
Es war nicht so, dass sich Léon vor der Sonne fürchtete. Allerdings war sie ihm unangenehm mit ihrer Wärme und vor allem mit ihrem grellen Licht, das alles in bunten Farben erstrahlen ließ und ihn in den Augen schmerzte.
Unangenehm war vielleicht doch etwas zu milde ausgedrückt, dachte er und stieß ein Knurren aus. Das helle Licht bekam ihm einfach nicht. Es schadete ihm.
Man könnte mich glatt für einen Vampir halten, dachte er, als er in den Abwasserkanal stieg und der Geruch von Fäkalien und Verwesung ihn einhüllte. Er achtete nicht darauf. Kraftvoll trat er auf die eisernen Krampen, stieg behände bis zum Ende des Schachts hinauf und schob den Deckel zur Seite. Im Schutz der eng stehenden Häuser stemmte er sich an die Oberfläche und schob den Deckel wieder an seinen Platz.
Léon richtete sich auf. Er zögerte einen Moment. Noch stand er im kühlen Schatten, doch nur wenige Meter weiter schlug die Morgensonne eine grelle Schneise in den Asphalt. Léon holte tief Luft, dann ging er los und schritt energisch die Straße entlang, die ihn direkt zum Collège Lycée Montaigne führte.
Claire
Claire trat ans Fenster und sah hinaus. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, doch der zarte Himmel, dessen Blau mit jeder Minute heller wurde, verkündete einen prächtigen Morgen. Vielleicht würde es noch einmal sommerlich heiß werden. Selbst wenn nicht, er war definitiv zu schön für den ersten Schultag nach den Sommerferien. Und doch war es vielleicht gut so, dass die Tage endlich vorbei waren, die, nachdem der Umzugsrummel sich gelegt hatte, so seicht dahingeplätschert waren, und nun endlich etwas Neues begann.
Sie sah ihr eigenes Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelte. Es war schmal und ebenmäßig, die gebräunte Haut zum Glück rein. Ihr schulterlanges, lockiges Haar schimmerte in einem goldenen Blond, die Augen und Wimpern dagegen waren dunkelbraun. Groß und schlank war Claire mit einer sportlichen Figur. Keine Frage, sie war ein Mädchen, das auffiel und das an bewundernde Blicke gewöhnt war, und doch fragte sie sich ein wenig bang, ob es hier in Frankreich so sein würde wie drüben in Amerika.
Claire konnte nicht behaupten, dass sie sich auf die neue Schule in einem ihr noch fremden Land freute. Vielleicht vermisste sie ihre Freundinnen und selbst die Lehrer ihrer alten Schule in New York zu sehr, aber aufgeregt war sie und fest entschlossen, sich von den Franzosen auf keinen Fall unterkriegen zu lassen. Das hatte sie Nancy versprochen.
Bei dem Gedanken an ihre beste Freundin und die erste Cheerleaderin ihres Teams wurde ihr Herz schwer. Warum nur hatte Dad dem Drängen ihrer Mutter nachgegeben? Es war ihnen in New York super gegangen. Dad hatte mit seiner Immobilienfirma genug Geld verdient, um ihnen eine großzügige Wohnung in Manhattan und ein Ferienhaus in Long Beach zu bieten. Maman war selbst schuld, dass sie Kunstgeschichte als Studienfach gewählt hatte. Schwerpunkt: Die Malerei der italienischen Renaissance. Nun hatte sie endlich eine Stelle gefunden in Frankreich, im Louvre in Paris. Ein Traum ging für sie in Erfüllung.
Nur dumm, dass sie und Dad für den Traum ihrer Mutter leiden mussten. Claire verdrehte die Augen.
Nun gut, wenn sie ehrlich war, hatte ihr Vater gar nichts dagegen gehabt, eine Niederlassung in Paris aufzubauen, und Maman hatte schon immer Sehnsucht nach Frankreich gehabt, wo sie aufgewachsen war und noch einige Mitglieder ihrer Familie lebten. Ihr Vater dagegen war Amerikaner, dessen Eltern nördlich von New York an der Ostküste wohnten.
Die Sonne ging auf. Claire beschirmte ihre Augen und sah nach Osten, wo sich am anderen Ufer der Seine die Silhouette des Eiffelturms erhob. Vielleicht war Paris gar nicht so schlecht. Die Stadt mit ihren Cafés, Kinos und Theatern gefiel ihr sogar ganz gut. Die breiten Straßen mit den alten Bäumen vor den meist aus dem 19. Jahrhundert stammenden Häuserfronten waren so ganz anders als die in den Himmel ragenden Wolkenkratzer Manhattans. Vielleicht würde sie sich hier wohlfühlen. Das kam jedoch ganz darauf an, wie sich der heutige Tag entwickelte und wie es in der neuen Schule lief.
»Claire? Wo bleibst du? Wir sollten bald los. Komm runter, du musst noch etwas essen.«
Claire wandte ihren Blick vom Eiffelturm und der dahinter aufsteigenden Sonne ab und lief die Treppe hinunter in die Küche. Das Penthouse, das sie bewohnten, war groß, es erstreckte sich über zwei Stockwerke und verfügte über eine Dachterrasse, von der aus man über die Dächer des sechzehnten Arrondissements bis zum Champ de Mars mit dem Eiffelturm und zu der golden schimmernden Kuppel des Invalidendoms hinübersehen konnte.
»Guten Morgen, mein Schatz. Hast du vor deinem großen Tag gut geschlafen?«
Louise Nicolas legte ihrer Tochter den Arm um die Schulter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Nun mach kein Drama daraus«, wehrte Claire ab. »Du tust ja gerade so, als wäre ich sechs und würde heute eingeschult werden.« Claire wand sich aus der Umarmung und wischte mit dem Ärmel über ihre Wange.
Louise lächelte. »Ich weiß, du bist schon fast erwachsen, aber dennoch finde ich so einen ersten Tag aufregend. Also ich hatte an meinem im Louvre richtig Herzklopfen.«
Claire zog eine Grimasse. »Ein wenig Bauchweh habe ich schon«, gab sie zu, »aber ich schaff das irgendwie.«
»Das weiß ich doch, mein Liebling, aber nun iss ein Croissant und trink deinen Kaffee.«
Claire rutschte auf ihren Stuhl, nahm sich eines der noch warmen Croissants, riss ein Stück ab und tauchte es in ihren Milchkaffee.
»Ich gebe zu, die Croissants sind es wirklich wert, nach Frankreich zu ziehen«, behauptete sie und schob noch ein zweites Stück hinterher. Dann sprang sie auf und griff nach ihrer Jacke. »Ich muss gehen!«
»Ich bin gleich fertig«, versicherte ihre Mutter. »Wir haben noch ein paar Minuten, dann können wir losfahren.«
Claire zog eine Grimasse. »Ich nehme die Metro. Das ist viel schneller. Was glaubst du, was um diese Zeit auf den Straßen los ist? Du wirst so oder so nachher den Stau verfluchen und würdest zu spät zum Louvre kommen, wenn du noch den Abstecher zur Schule machen wolltest.« Claire schnappte sich ihre Tasche.
Louise zog eine Grimasse. »Ich habe verstanden. Du willst dich an deinem ersten Tag nicht von Maman zum Schultor bringen lassen.«
»Genau!«, bestätigte Claire und hauchte ihrer Mutter einen Abschiedskuss auf die Wange. »Der erste Eindruck zählt, hast du das nicht immer gesagt?«
Claire sah die Enttäuschung im Gesicht ihrer Mutter, die sie rasch zu verbergen suchte.
»Sie werden hingerissen von dir sein«, sagte Louise dann mit einem Lächeln und hielt Claire die Tür auf.
Claire sprang die Treppe hinunter und winkte noch einmal. »Salut, Maman!«
»Salut, Claire, bis heute Abend.«
***
Die ersten Schulstunden waren wie im Flug vergangen. Hauptsächlich mit organisatorischen Dingen. Die Lehrer stellten sich und ihre Fächer vor und wurden nicht müde zu betonen, dass nun im Gymnasium ein anderer Wind wehen würde als zuvor im Collège. Claire sah, wie sich zwei große, gut aussehende Jungen genervte Blicke zuwarfen. Einige Mädchen tuschelten und kicherten, andere tippten heimlich unter dem Tisch auf ihren Smartphones herum, bis Madame Girard es bemerkte und die Handys konfiszierte.
Claire hörte mit einem Ohr zu und schrieb die wichtigsten Dinge mit, während sie den Blick verstohlen über ihre Mitschüler schweifen ließ und zu erraten versuchte, wie sie wohl waren. Da ihre Mutter daheim oft französisch mit ihr gesprochen und sie in New York eine englisch-französische Privatschule besucht hatte, bereitete es ihr keine Schwierigkeiten, alles zu verstehen.
Sie waren fünfundzwanzig Schüler in dieser ersten Klasse des Lycée, das nach dem Abschluss des Collège folgte, welches alle Schüler gemeinsam besuchten. Erst dann entschied es sich, wer eine Lehre beginnen, in eine Berufschule wechseln oder einen der unterschiedlich orientierten Zweige des Gymnasiums besuchen würde, um dieses nach dem zwölften Schuljahr mit dem Baccalauréat abzuschließen.
Claire ließ den Blick über die Gesichter wandern und hatte das Gefühl, dass sie zu den Jüngeren der Klasse gehörte. Einige waren sicher schon sechzehn. Vielleicht hatten sie ein Jahr wiederholt? Das war in Frankreich nicht ungewöhnlich und kein großes Drama, hatte sie gehört.
Ihr Blick glitt wieder zu einem der beiden großgewachsenen Jungen, der auf der anderen Seite des Gangs eine Reihe weiter vorn saß. Er sah richtig gut aus mit den breiten Schultern und der sportlichen Figur, die sich unter seinem Shirt abzeichnete. Sein Haar war von einem warmen Braun, das sich in seinen Augen wiederholte, wie sie bemerkte, als er plötzlich den Kopf wandte und sie ansah. Er musste gespürt haben, dass sie ihn beobachtete. Nachlässig hob er eine Augenbraue, ohne den Blick von ihr zu wenden. Claire spürte, wie sie rot wurde. Um seine Mundwinkel zuckte es. Verdammt!
Da stieß ihm sein Sitznachbar in die Rippen und er wandte sich wieder seinem Freund zu. Es erschien Claire wie eine Erlösung, dass in diesem Moment die Glocke schellte und alle aufsprangen.
***
Sie traf ihre Mitschüler in der Mensa wieder, wo die meisten zu Mittag aßen. Claire trat mit ihrem Tablett zu dem langen Tisch, an dem sich ihre Klassenkameraden bereits versammelt hatten. Obgleich es für alle das erste gemeinsame Jahr im Gymnasium war, kannten sich die meisten offensichtlich bereits aus dem Collège oder hatten anderswo Freundschaft geschlossen. Keiner von ihnen schien Interesse an der Neuen aus Amerika zu haben. Trotz einiger freier Plätze zwischen den Cliquen bot ihr niemand an, sich zu ihnen zu setzen. Sie bemühten sich eher um den Anschein, keiner würde auch nur einen Blick an sie verschwenden.
Claire unterdrückte einen Seufzer. Da musste sie jetzt wohl durch, wenn sie nicht die nächsten Monate ihre Pausen allein an einem Nebentisch verbringen wollte.
»Ist da noch frei?«, fragte Claire höflich. Die meisten ignorierten sie weiterhin. Nur ein schmächtiges Mädchen mit Brille und Zahnspange, das vorhin in der ersten Reihe alleine in einer Bank gesessen hatte, wandte sich zu Claire um.
»Ja, setz dich neben mich. Ich heiße Inès.« Sie reichte ihr feierlich die Hand.
Claire hörte die anderen spöttisch wispern. Ihr war klar, dass Inès die Außenseiterin der Klasse sein musste, die man vermutlich nicht nur der Spange wegen hänselte. Dumm war sie sicher nicht. Vielleicht gehörte sie ja zu den richtig Guten im Unterricht, was ihr aber auch keine Sympathiepunkte einbrachte.
»Danke, ich bin Claire«, sagte sie und lächelte das Mädchen betont freundlich an.
»Soll ich dir was über unsere Lehrer erzählen?«, bot Inès an. »Wir kennen ein paar von ihnen schon oder haben zumindest von den Älteren einiges gehört.«
Claire nickte. Während sie aß und mit einem Ohr Inès lauschte, betrachtete sie die anderen und versuchte herauszufinden, wer hier das Sagen hatte.
Bei den Jungs war es auf alle Fälle Adrien, der sie im Unterricht so angesehen hatte. Sein engster Freund schien Philippe zu sein, der ihm gegenübersaß und ihm mit gedämpfter Stimme etwas erzählte. Aber es gehörten wohl auch die beiden Jungen Sébastien und Jacques zu seinen Anhängern.
Bei den Mädchen gab es eine Königin, die im Kreis ihrer Bewunderinnen Hof hielt: Nathalie war die Schönste, daran gab es keinen Zweifel. Sie war fast so groß wie Claire, aber ein wenig weiblicher gebaut. Ihr ganzer Stolz schien ihr hellblondes Haar zu sein, das ihr bis auf den Rücken fiel. Im Gegensatz zu Claires Haar war es nicht naturblond, was man am Ansatz erahnen konnte. Zu Nathalies Hofstaat gehörten Claudine, Michèle und Lucie, die nun ihre Köpfe zusammensteckten und albern lachten. Am besten gefiel Claire ein Mädchen, das Louna hieß und das zu keiner Clique zu gehören schien. Anders als Inès wirkte Louna, als würde sie sich ganz sicher nicht ungestraft hänseln lassen. Sie war nicht wirklich hübsch, doch sie hatte ein Gesicht, das man nicht so leicht vergaß. Ihr kastanienbraunes Haar war dicht und glänzte in der Sonne, die durch die Fenster hereinfiel. Claire beschloss, sie nachher anzusprechen. Sie wandte sich wieder ihrem Teller zu, schob den letzten Bissen in den Mund und zog dann die Schüssel mit der Nachspeise zu sich heran.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte Inès gerade. »Ich hoffe, wir werden Freundinnen!«
Claire mied den erwartungsvollen Blick. »Wer weiß«, sagte sie vage und schob sich einen Löffel voll Pudding in den Mund. Sie senkte den Kopf ein wenig, sodass ihr das Haar ins Gesicht fiel, denn sie spürte wieder Adriens Blick auf sich ruhen und sie wollte sich nicht die Blöße geben, zum zweiten Mal deswegen rot zu werden.
***
»Salut, Mathis.«
»Salut, Clément.« Der junge Mann hob lässig die Hand mit der brennenden Zigarette und bot dann dem Neuankömmling eine seiner selbst gedrehten und mit besonderem Stoff verfeinerten Kippen an.
Clément griff zu und ließ sich Feuer geben. Dann ging er neben Mathis in die Hocke. »Was steht an?«
Mathis hob die Schultern. Sein Blick war glasig, seine Bewegungen waren träge. Das war sicher nicht der erste Stoff, den er heute rauchte, aber das störte seinen Kumpel nicht.
Zwei junge Frauen gesellten sich zu ihnen. Ihr Äußeres unterschied sich wenig von den anderen ungepflegten Gestalten, die sich hier in der Kaverne unter der Rue Sarrette versammelt hatten. Die meisten trugen schmutzige Jeans mit so vielen Rissen und Löchern, dass sie kaum noch als Lumpen taugten, und irgendwelche Shirts mit grellen Webeaufdrucken, soweit man diese unter dem Schmutz noch erkennen konnte. Hände und Gesichter waren ebenfalls schmutzig, die Haare wirr und verfilzt, aber das schien keinen hier zu stören.
Aus der Finsternis der von der Kaverne abzweigenden Gänge tauchten drei weitere Gestalten auf und traten in den Lichtschein der altmodischen Petroleumlampe, die in der Mitte auf dem Boden stand. Ihrem schwachen Schein gelang es nicht, die gesamte Steinbruchhöhle auszuleuchten, die vor mehr als hundert Jahren als Brauereikeller gedient hatte und nun ein beliebter Treffpunkt der »Schattenkämpfer« war. Das war der Name, den sie sich selbst gaben. Von den Parisern wurden sie Kataphile genannt – wenn die überhaupt etwas von der so ganz anderen Gesellschaft ahnten, die tief unter ihren Füßen im Verborgenen hauste.
Bier wurde hier unter der Rue Sarrette nicht mehr gelagert, dafür hatten sich einige künstlerisch Ambitionierte die mächtigen, quadratischen Säulen und Wände vorgenommen und sich mit viel Farbe an ihnen ausgelassen. Die Stilrichtungen waren fast so vielfältig wie die gesammelten Werke im Louvre, wobei sich die meisten sicher nicht künstlerisch wertvoll nennen durften. Ausdrucksstark jedoch waren sie allemal!
Ein Pärchen, das etwas gepflegter aussah als die meisten der Anwesenden, betrat die Kaverne, einen Kasten Bier zwischen sich.
»Wir haben da etwas gefunden«, verkündete die Frau, die vielleicht Anfang zwanzig war, fröhlich.
Die Aussage wurde mit Gelächter kommentiert. Allen war klar, was »gefunden« in diesem Fall bedeutete.
»Zoé, du bist ein Engel!«, rief Clément.
Sie warf ihm eine Kusshand zu. »Ich weiß. Kommt und bedient euch!«
Ihr Begleiter zog noch zwei Flaschen Rotwein aus den Taschen seines weiten Mantels und gab sie bereitwillig weiter.
Sie ließen sich auf Steinquadern oder auf dem staubigen Boden nieder und tranken einander zu. Stille kehrte ein. Einige Joints machten die Runde. Mathis legte sich auf den Rücken, den Blick starr zur verrußten Decke gerichtet. Mit ihm war heute nichts mehr anzufangen. Die anderen waren jedoch nicht nur gekommen, um zusammen zu trinken und zu rauchen. So einfach sie hier unten lebten, auch sie hatten Bedürfnisse, die befriedigt werden mussten, und dazu brauchten sie Geld. Oder sie mussten sich die Dinge auf andere Weise besorgen, wie den Kasten Bier, dessen Flaschen nun geleert im Staub lagen.
Schließlich ergriff Clément das Wort. »Hat jemand eine Idee? Ich finde, wir sollten mal wieder etwas Größeres ins Auge fassen. Die letzte Inspektion ist schon Wochen her, oder hat einer von euch die Männer der E. R.I. C. hier irgendwo rumschnüffeln sehen?«
Er blickte in die Runde. Alle schüttelten einmütig die Köpfe.
»Vielleicht hat sich unser verehrter Commandant Jean-Claude endlich zur Ruhe gesetzt«, vermutete Zoé.
Gabriel schnaubte. »Der doch nicht. Der jagt uns, bis er tot umfällt.«
»Vielleicht hat ihn der Teufel geholt?«, brummte ein riesenhafter Hüne, den alle Scorpion nannten.
»Der Teufel? Der hat hier unten nichts zu sagen. Wenn schon, dann hat ihn der Schatten geholt!«, kicherte ein Mädchen mit Dreadlocks, das ein seltsam geblümtes Kleid über einer verwaschenen Cargohose trug. Sie hob die schon fast geleerte Weinflasche an die Lippen und trank einen Schluck. Die anderen verstummten. Es breitete sich ein ungutes Schweigen unter den Bewohnern der Carrières aus, von dem nur Josette nichts zu bemerken schien. Genussvoll leerte sie die Weinflasche.
Schließlich räusperte sich Clément. »Egal, wenn es nicht Sabatier ist, dann jagt uns eben ein anderer Commandant der E. R. I. C.«
»Ganz egal ist es sicher nicht«, erklang da eine Stimme aus der Dunkelheit, die alle herumfahren ließ. Ein junger Mann trat in den Lichtschein. Er war groß und schlank. Sein schwarzes Haar, die dunklen Augen und Brauen standen in herbem Kontrast zu seiner weißen Haut. Alle starrten die Gestalt in ihrer schwarzen Kleidung an, die in ihrer gepflegten, aber eher asketischen Art so gar nicht zu ihnen passte.
»Hallo, Léon«, hauchte Zoé schließlich. Die anderen schwiegen noch immer. Es war so etwas wie eine respektvolle Stille, obgleich Léon aussah, als sei er einer der Jüngsten dieser seltsamen Versammlung.
»Euch ist anscheinend nicht bewusst, dass Commandant Sabatier uns alle mit einer gewissen wohlwollenden Nachlässigkeit behandelt, als seien wir Kinder, deren Streiche man nur augenzwinkernd rügt. Schlimm wird es, wenn er abtritt und ein Scharfmacher, der es mit seinen Säuberungsaktionen ernst meint, die Equipe für die Inspektion der Carrières übernimmt. Dann könnt ihr eure gemütlichen Lager hier unten vergessen. Wenn sie euch nicht gleich in eine nette Gefängniszelle stecken.«
»Dummes Zeug«, wehrte Clément ab. »Dazu müssten sie uns erst mal finden. Die da oben haben keine Ahnung, was für ein Labyrinth das hier unten ist. Es sind Hunderte Kilometer von Steinbruchsystemen auf bis zu vier Ebenen, die Metrotunnel und die Abwasserkanäle noch nicht einmal mitgerechnet. Nein, hier können sie uns nicht aufspüren, wenn wir es nicht wollen.«
Léon war nicht überzeugt. »Wenn ihr euch da nicht täuscht. Ich kann euch nur raten, fühlt euch nicht zu sicher. Ansonsten geht mich das nichts an.«
Es ging ihn nichts an. Warum also war er gekommen? Léon ließ den Blick schweifen, bis er an einem hübschen Mädchen von etwa sechzehn Jahren hängen blieb. Ihr langes Haar hatte sie zu zwei mädchenhaften Zöpfen geflochten. Neben ihr saß ein zehnjähriger Junge, der ihr ähnlich sah. Sie waren nicht wie die anderen. Lilou und Noah. Vielleicht war er ihretwegen gekommen. Léon wandte sich zum Gehen, als Josette sich plötzlich reckte, und obgleich ihre Aussprache schwammig war, durchdrang ihre Stimme klar die Kaverne:
»Das würde der Schatten nicht zulassen! Der Untergrund von Paris ist sein Reich.«
Wieder schien es, als würden die anderen vor Spannung die Luft anhalten. Josette starrte Léon an, doch der schüttelte den Kopf.
»Seid euch da nicht so sicher. Natürlich weiß er sich und sein Reich zu schützen, aber ob das euch mit einschließt?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob ihr in seinen Plänen vorkommt.«
Noch einmal hielt ihn Josette auf. »Er redet mit dir, nicht wahr?«
Wieder hob Léon die Schultern, doch er nickte dabei.
»Weißt du, was er vorhat?«
Nun schnaubte er verächtlich. »Du glaubst, dass er mich in seine Geheimnisse einweiht? Träum weiter! Selbst wenn er mir etwas sagen würde, wäre ich bestimmt nicht so dumm, es euch zu erzählen, die ihr ja so verschwiegen und vertrauenswürdig seid, vor allem, wenn ihr gerade bekifft seid und euch zugesoffen habt.«
»Jetzt ist es aber genug«, protestierte Lilou. »Es gibt hier einige, die gerne feiern, aber wir anderen suchen lediglich einen Platz, an dem man uns in Frieden leben lässt!«
Léon starrte sie an, dann teilten sich seine Lippen zu einem Lächeln. Seine Stimme klang nicht mehr so schroff. »Ich weiß, Lilou. Ich habe auch nicht dich und deinen Bruder Noah gemeint. Euch wird niemand etwas tun.«
Scorpion erhob sich und trat auf ihn zu. »Kannst ausgerechnet du ihr das versprechen?« Scorpion ließ seine gewaltigen Muskeln spielen.
Léon gönnte ihm nur einen Blick, dann wandte er sich ab und verschwand in der Finsternis. Die anderen sahen ihm nach, bis Clément wieder das Wort ergriff.
»Kommen wir zu dem großen Coup. Ich sage euch, das wird was. Das Risiko ist gering, und wenn wir Erfolg haben, dann kommen wir bestens durch den Winter!«
***
Nach dem Essen strömten die Schüler hinaus, um den Rest der Mittagspause bei dem schönen Wetter im Freien zu genießen. Claire folgte Louna durch das Tor.
»Wo geht ihr hin?«, erkundigte sie sich.
Louna blieb stehen und musterte Claire einige Augenblicke, dann deutete sie mit einem Kopfnicken zu den ausladenden Bäumen, die sich auf der anderen Straßenseite hinter einem schmiedeeisernen Zaun reihten.
»Wir suchen uns ein sonniges Plätzchen im Jardin«, antwortete sie.
»Ist es in Ordnung, wenn ich mich anschließe?«
Louna hob die Schultern. »Warum nicht? Wir gehen jetzt in eine Klasse. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, dass da ein wenig frisches Blut reinkommt und die abgestandene Collège-Suppe aufkocht.« Sie lachte spöttisch, als Nathalie an ihr vorbeirauschte, ihren Hofstaat im Schlepptau.
»Adrien, so warte doch auf mich«, rief sie den Jungen hinterher, die die Straße bereits überquert hatten.
Er tat ihr den Gefallen, was sie mit einem so süßen Lächeln belohnte, dass Claire glaubte, ihr würde gleich schlecht werden.
»Oh, Adrien, ich muss etwas mit dir besprechen«, verkündete sie so laut, dass es auch ja alle mitbekamen. »Ich muss einfach wissen, was der tollste Junge der Schule darüber denkt!«
Louna machte eine Geste, als müsse sie sich übergeben.
Claire zog eine Grimasse. »So jemand gibt es wohl in jeder Klasse«, sagte sie.
Louna rollte mit den Augen. »Ach ja? Ich dachte, das sei ein rein französisches Problem.«
»Keineswegs! Und ich nehme an, auch hier ist mit den Majestäten nicht leicht Kirschen essen.«
Louna hob die Schultern. »Das würde ich nicht so sagen. Wenn du ihr nicht widersprichst, dich immer einen Schritt hinter ihr hältst und ja nicht schöner oder besser bist als sie – ich meine außer in Mathe, also sorry, so schlecht kann man eigentlich gar nicht sein – nein, dann hast du mit ihr kein Problem.«
»Ach, so einfach ist das?«
»Ja, man kann das auf einen Punkt bringen: Diene oder du hast dir deine Schwierigkeiten selbst zuzuschreiben.«
Claire hob entschuldigend die Hände. »Ich bin im Dienen nicht besonders gut.«
Louna lachte auf. » Das klingt doch vielversprechend. Ich bin gespannt.«
Die beiden folgten den anderen in den Park und suchten sich auf dem frisch gemähten Rasen ein Sonnenplätzchen zwischen den alten Bäumen.
Die Jungen flegelten sich ins Gras, während Nathalie erst ihre Jacke ausbreitete, damit ihre Designerjeans keine Grasflecke bekam.
Louna und Claire setzten sich etwas weiter weg, während sich Nathalie betont nahe bei den Jungs niedergelassen hatte. Nachdem Adrien sie aber nicht beachtete und sich stattdessen leise mit seinen Freunden unterhielt, wandte sie sich ab und ließ den Blick gelangweilt über die anderen schweifen, bis er an Claire hängen blieb. Ein boshafter Ausdruck huschte über ihre Miene und machte dann einem Lächeln Platz, das so falsch war, dass Claire zum zweiten Mal dachte, ihr müsse schlecht werden. Nathalie erhob sich und kam mit lasziven Bewegungen zu ihr herübergeschlendert. Eine Hand auf die ausgestellte Hüfte gelegt, betrachtete sie Claire, als habe sie sie in diesem Augenblick gerade erst entdeckt.
»Sieh an, ein neues Gesicht. Du bist nicht von hier, das sieht man. Du kommst aus Amerika, habe ich gehört. Soll ich langsamer sprechen, damit du mich verstehst?«, erkundigte sie sich, wobei sie die Worte in die Länge dehnte, als rede sie mit einer Schwachsinnigen.
Claire versuchte, das Lächeln zu imitieren. »Danke, ich verstehe dich bestens!«
»Oh, eine Amerikanerin, die eine kultivierte Sprache spricht!«, rief Nathalie mit geheuchelter Begeisterung. »Aber sag, Kind, bist du hier nicht in der falschen Klasse? Ich meine, bist du nicht ein wenig jung fürs Gymnasium? Du kannst ja kaum fünfzehn sein, so wie du aussiehst.«
»Danke der Nachfrage, ich bin fünfzehn, aber ich verzichte gern darauf, mich mit Bergen von Make-up älter zu machen.«
Nathalie rollte mit den Augen. »Attraktiver, Kleine, nicht älter, da stehen die Männer drauf. Aber lass es gut sein, Süße, du kommst noch dahinter, wenn du so weit bist. Vielleicht ist es besser, wenn du dich vorerst auf den Unterricht konzentrierst. In Amerika mag das ja alles locker sein, aber hier?«
»Du meinst, hier muss man in der Schule tatsächlich etwas lernen?« Claires Stimme triefte vor Spott, aber dafür schien Nathalie nicht empfänglich zu sein.
»Ich meine ja nur, das könnte eine herbe Enttäuschung für dich werden.«
»Du meinst, falls ich sitzen bleiben würde? Ja, da könntest du recht haben. An so etwas bin ich, im Gegensatz zu euch, nicht gewöhnt. Bei euch gehört das ja offensichtlich fast zum guten Ton, ab und zu eine Runde extra zu drehen, und seine Jahre auf der Schule zu verschwenden. Wie viele Ehrenrunden hattest du schon, Nathalie? Eine oder zwei?«
»Touché«, hörte Claire Louna hinter sich sagen.
Nathalie schnaubte nur und warf ihre blonde Mähne über die Schulter zurück. »Es gibt eben wichtigere Dinge im Leben als Schule.«
»Hauptsache, man sieht dabei gut aus, nicht wahr?«, bestätigte Claire in einem Ton, der den der Diva gut traf.
»Ja, genau!«, sagte Nathalie scharf. »Aber von Mode hast du offensichtlich keine Ahnung. Dieser Goldton ist bei Blond völlig out. Diese Saison sind kühle Blondtöne angesagt.« Sie schüttelte ihre Haare erneut, doch Claire ließ sich nicht beeindrucken.
»Dafür ist mein Blond echt und ich muss nicht alle paar Wochen zum Frisör rennen.«
Nathalie schnaubte. Das schien ihr kein Argument zu sein. Sie murmelte nur »Amerikaner« und rollte mit den Augen. »Was will man erwarten, wenn jemand in einem so barbarischen Land aufgewachsen ist. Wenn ich nur daran denke, wie sich eure Männer beim Football gegenseitig die Köpfe einschlagen. Das ist ja wie in der Steinzeit. Alles, was zählt, sind Muskeln und rohe Gewalt. Und dann die Mädchen, die mit diesen albernen Puscheln am Spielfeldrand herumhüpfen.« Sie lachte schrill.
Zum ersten Mal fühlte Claire, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, doch sie versuchte, ruhig zu atmen.
Lass dich nicht provozieren, beschwor sie sich. Nathalie schien zu spüren, dass sie eine empfindliche Stelle gefunden hatte. Sie stemmte beide Hände in die Taille und betrachtete Claire.
»Oh, du warst eine von ihnen? Nicht wahr? Du bist auch halb nackt albern am Spielfeldrand herumgehüpft? Jungs, seht her, wir haben hier eine waschechte Cheerleaderin!«
Nicht nur die Jungen unterbrachen ihre Unterhaltung und sahen Claire an. Auch Nathalies Freundinnen starrten zu ihr herüber.
»Schade, dass du deine Puschel nicht dabeihast. Sonst könntest du uns etwas vorhüpfen«, legte Nathalie nach. »Ist vielleicht ja auch netter, als richtig Sport zu machen.«
Claire baute sich vor Nathalie auf, ohne überhaupt den Entschluss gefasst zu haben, aufzustehen. »Cheerleading ist richtiger Sport!«
»Dann lass mal was sehen!«, rief einer der Jungen. Die anderen applaudierten. »Ja, tanz uns was vor, Cheerleader!«, forderten sie. Die Mädchen lachten. In Nathalies Gesicht trat ein lauernder Ausdruck.
»Du hörst es, Kleine, dein Publikum verlangt nach dir«, sagte sie leise.
Claire hielt ihrem Blick stand. »Dann will ich es nicht enttäuschen!«, gab sie zurück und schlüpfte aus ihrer Jacke.
»Hältst du mal?« Sie hielt sie Louna hin.
Louna erhob sich und nahm die Jacke. Sie sagte nichts, doch sie wirkte eher entsetzt als ermutigend. Vielleicht war auch sie davon überzeugt, dass Claire sich blamieren musste.
Claire erwiderte ihren Blick mit einem Schulterzucken. So ganz sicher war sie sich auch nicht, dass das gut gehen würde. Das letzte Training war Monate her. Vorsichtig ging sie ein paar Mal in die Knie und beugte dann den Rücken, bis sie mit der Handfläche den Boden berührte, was mit spöttischem Applaus belohnt wurde. Claire streckte sich wieder und reckte die Arme in die Höhe. Dann ließ sie die Schultern kreisen und neigte sich nach rechts und nach links, um die Halsmuskeln zu lockern.
»Wow, ist das alles?«, rief einer der Jungs, doch sie ging nicht darauf ein. Claire spannte die Muskeln an, bis sie völlig gerade stand, dann machte sie zwei schnelle Schritte und entfernte sich mit drei Radschlägen von den anderen. Zwei klatschten in die Hände, doch ein Mädchen rief: »Das kann ich auch!«
Claire wandte sich von den anderen ab. Sie konnte sie frotzeln hören, doch sie versuchte, alles Störende aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie wippte ein paar Mal auf den Zehenspitzen, dann hob sie die Arme und sprang ab. In einem Bogen, die Beine perfekt gestreckt, schwang ihr Körper herum und landete auf den ausgestreckten Armen. Mit Schwung ging es in den nächsten Flickflack an den Mitschülern vorbei, die sie anstarrten. Nach dem dritten sprang sie mit aller Kraft ab, drehte einen Salto und landete sauber auf beiden Füßen. Sie streckte die Knie und Arme durch und erhob sich noch einmal auf die Zehenspitzen.
Die anderen waren verstummt. Claire schlug noch einmal ein Rad und drückte sich dann zu einem Vorwärtssalto ab, aus dem sie genau vor ihren Mitschülern landete. Noch einmal hob sie ein Bein an, griff nach ihrem Knöchel und zog es gestreckt bis an die Schulter hoch. Sie hörte eines der Mädchen aufkeuchen. Ihre Jeans knackte bedrohlich. Claire zögerte einen Moment. Alles oder nichts!
Dann ließ sie sich in einen Spagat fallen und hob ein letztes Mal in Siegerpose die Arme.
Totenstille. Schließlich begann Louna zu applaudieren. Die anderen fielen ein. Nur Nathalie stand wie erstarrt da und konnte es nicht fassen.
»Wow, die macht was her, die amerikanische Lady«, rief Philippe, und auch Michèle gratulierte ihr begeistert.
Claire sprang auf, schob sich die Haare hinter die Ohren zurück und nickte ihren Mitschülern zu. »Louna, gibst du mir meine Jacke?« Während sie hineinschlüpfte, sah sie sich noch einmal zu Nathalie um, die von Claire um einige Zentimeter überragt wurde. »Ach und übrigens, nenn mich nicht Kleine!« Dann ging sie über den Rasen davon, ohne noch einmal zurückzusehen.
Adrien
»Hi, Dad.« Claire trat von hinten an den Sessel heran, in dem ihr Vater mit aufgeschlagener Zeitung saß. Sie beugte sich vor, legte die Arme um ihn und schmiegte ihre Wange an seine Schulter.
»Hi, mein Darling, wie war dein erster Schultag?«
»Frag nicht, ich habe mir meine neue Jeans ruiniert.«
Ihr Vater wandte den Kopf und sah sie prüfend an. »Hast du dich auf dem Schulhof geprügelt?«
Claire zog eine Grimasse. »So ähnlich könnte man das sehen – zumindest im übertragenen Sinn.«
Er sah sie noch immer an, während sie ihn losließ und auf einem Sessel ihm gegenüber Platz nahm. »Wie ist die Sache ausgegangen?«, erkundigte er sich vorsichtig.
»Bis auf die Hose? Ich denke, ich darf mir den ersten Sieg auf meine Fahne schreiben.«
»Aber du denkst, es gibt Revanche?«
Claire nickte. »Das ist totsicher. So schnell lässt sich eine wie Nathalie nicht von ihrem Thron schubsen.«
Ihr Vater nickte, auch wenn Claire sich nicht sicher war, ob er eine Vorstellung von echtem Zickenkrieg in der Schule hatte. »Gibt es auch angenehme Zeitgenossen in deiner Klasse?«
Claire zuckte mit den Schultern. »Ich denke schon.«
»Jungs?«
Claire sah ihren Vater empört an. »Du brauchst gar nicht so zu grinsen. Das geht dich überhaupt nichts an.«
»Bitte! Nur ein kleiner Tipp.«
Claire schüttelte den Kopf, sagte aber: »Na gut, einen gibt es, der mir durchaus gefallen könnte, aber …«
»Aber was? Ah, ich ahne es, du müsstest mit dieser Nathalie, die deine Hose auf dem Gewissen hat, um ihn kämpfen.«
Claire musste wider Willen lachen. »Du hast es erfasst.«
»Anscheinend sind Schulen überall gleich: echte Haifischbecken! Aber sag mir, mein liebste Claire, wirst du den Kampf aufnehmen?«
Sie setzte eine hoheitsvolle Miene auf. »Das weiß ich noch nicht, Dad. Ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen. Ich weiß doch noch gar nicht, ob sich das lohnt.«
»Ich wusste es bei deiner Mutter, kaum dass ich sie das erste Mal erblickt habe«, behauptete er und verschwand dann wieder hinter seiner Zeitung.
»Ein Mythos, Dad«, behauptete Claire. »Im Laufe der Geschichte werden viele Tatsachen romantisch verklärt.«
Ein Auflachen erklang hinter der Zeitung. »Lass das nur nicht deine Mutter hören!«
Claire lachte auch. »Und wie war es bei dir?«, wechselte sie das Thema. »Hast du irgendwelche Kunden um ein paar Millionen erleichtert und neue wichtige Leute kennengelernt?«
Noch einmal sank die Zeitung herab. »So wie du das sagst, klingt das, als würde ich die Leute übers Ohr hauen«, wehrte sich ihr Vater empört. »Ich verhelfe ihnen zu ihren Traumvillen.«
»Und erleichterst ihre Konten um ein paar Millionen«, wiederholte Claire.
»Ja, aber was bekommen sie dafür? Ich mache sie glücklich!«
Claire gluckste. »Dann ist es ja recht. Und, gibt es jemand Wichtiges in Paris, den du glücklich machen darfst?«
Ihr Vater nickte. »Womöglich. Ich habe heute den Polizeipräfekt kennengelernt, Monsieur Michel Charron, der auf der Suche nach einem neuen Domizil für seine Familie ist.«
»Charron, sagtest du?«, wiederholte Claire. »Soso, der Monsieur Polizeipräfekt. Na, dann streng dich an, Dad, damit er mit dir zufrieden ist und dich allen anderen hohen Tieren von Paris empfiehlt.«
Thomas Davidson nickte. »Ich sehe, du hast das Prinzip verstanden, wie die großen Geschäfte überall auf der Welt gemacht werden.«
»Ja, das habe ich«, stimmte ihm Claire nachdenklich zu.
***
Fünf Männer warteten in dem kleinen, vollgestellten Büro. Zwischen Aktenstapeln, Papierhaufen und einem überladenen Bücherregal lehnten sie an den einzig freien Stellen an der Wand oder am Schreibtisch, von dessen Oberfläche man allenfalls winzige Flecken erkennen konnte. Einer öffnete eine Schachtel filterlose Zigaretten und verteilte sie an seine Kollegen.
Endlich waren draußen auf dem Gang Schritte zu hören.
»Bonjour, Commandant«, grüßten die Männer.
»Bonjour«, erwiderte Jean-Claude Sabatier und zog angewidert die Nase kraus. »Habe ich euch schon mal gesagt, dass man in öffentlichen Gebäuden nicht mehr rauchen darf?«
Die Männer lachten.
»Macht wenigstens das Fenster auf«, entgegnete der Commandant unwirsch und ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen. »Alain!«
Der Lange ließ die warme Herbstluft in das stickige Büro. Staub tanzte im Sonnenlicht. Jean-Claude seufzte und starrte finster vor sich hin.
»Was ist los, Commandant?«, wagte Alain zu fragen und strich sich über das unrasierte Kinn. »Was für eine Laus ist Ihnen über die Leber gelaufen?«
Jean-Claude knurrte. »Wenn es nur das wäre. Die Laus ist eine ganz große und heißt Michel Charron!«
Die Männer warfen sich Blicke zu.
»Charron? Unser Polizeipräfekt?«, erkundigte sich der Neuling der Truppe, ein bartloser Jüngling von neunzehn Jahren mit noch weichen Gesichtszügen und dichtem, schwarzem Haar.
»Genau der, Evard«, bestätigte der Commandant. »Er hat mich abgefangen, noch ehe ich das Kommissariat betreten habe.«
»Was wollte er?«, erkundigte sich Pascal.
»Oh, nichts weiter, nur mir vorwerfen, dass ich meine Pflichten vernachlässige und meine Inspektionen nicht richtig durchführe!«
Die Männer protestierten, doch Jean-Claude Sabatier hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Nun fordert er Erfolge beim Aufspüren und Vertreiben von Kataphilen und sonstigem Gelichter, das sich unter Paris herumtreibt und die Sicherheit der Bürger bedroht. So hat er sich ausgedrückt.«
Alain schnaubte abfällig. »Der hat keine Ahnung von unserer Arbeit.«
»Und außerdem sind die meisten, die dort hausen, nur arme Teufel und völlig harmlos«, fügte René hinzu.
»Oder irgendwelche Teenager feiern mal wieder eine abgedrehte Fete. Das haben wir früher auch gemacht«, sagte Evard.
»Und was machen wir nun, Chef? Müssen wir dem Präfekt ein paar Verhaftungen präsentieren, um ihn wieder ruhigzustellen?«
Der Commandant überlegte. »Wir machen weiter wie bisher. Wir können morgen eine Sonderschicht einlegen und mal wieder die Kavernen unter dem fünfzehnten und unter dem achten Arrondissement kontrollieren. Wenn wir jemand Verdächtiges aufspüren, können wir ihn verhaften, wenn nicht, dann eben nicht.«
»Und wenn das dem Herrn Präfekt nicht genügt, dann soll er doch selbst mal den Blaumann anziehen und durch die Gänge dort unten kriechen«, fügte Evard frech hinzu.
»Gott bewahre«, brummte Jean-Claude Sabatier. »Dann wären wir ja nicht einmal mehr unter der Stadt vor einer unverhofften Begegnung mit ihm sicher.«
***
Der nächste Tag war so schön wie der vorherige. Als es zur Mittagspause läutete, strahlte die Sonne von einem tiefblauen Himmel. Nach dem Essen machten sich die Schüler der Seconde wieder auf den Weg in den Jardin du Luxembourg. Claire und Louna folgten den beiden Cliquen. Selbst die stets gehänselte Inès schloss sich ihnen an. Nathalie warf Claire ab und zu einen hochmütigen Blick zu, sprach sie aber nicht an. Ansonsten bemühte sie sich, Adriens Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch das Ergebnis war nicht ganz das, was sie wollte. Zwar wandte sich Adrien ihr immer mal wieder zu, sah sie intensiv aus seinen braunen Augen an und schenkte ihr ein Lächeln, das einem die Knie weich werden ließ. Dann neckte er sie und flirtete mit ihr, nur um sich im nächsten Augenblick wieder seinen Freunden zuzuwenden und Nathalie völlig zu ignorieren. Als sie es wagte, ihn zu unterbrechen, erntete sie eine kühle Abfuhr. Claire sah, wie es in ihren blauen Augen zornig aufblitzte. Sie starrte mit einem Blick auf seinen Rücken, der ihn wie eine Klinge durchbohren musste, doch Adrien tat so, als würde er es nicht bemerken. Wütend rauschte Nathalie davon und setzte sich zu ihren Freundinnen.
»Unterhaltsamer als jede Fernsehsoap«, kommentierte Louna ungerührt.
Claire wandte ihren Blick von Nathalie ab und sah wieder zu den Jungs hinüber, die über irgendetwas sprachen, aus dem sie sich keinen Reim machen konnte, da sie nur wenige Worte und Satzfetzen hörte. Sie glaubte mitbekommen zu haben, dass es um eine Fete ging, die anders laufen sollte als das, was üblicherweise bei den anderen Schülern so abging. Philippe sprach von einem Bunker, der irgendwo unter der Schule sein sollte, aber Adrien hatte Bedenken, ob es ihnen gelingen konnte, sich unbemerkt Zugang zu verschaffen. Er schlug etwas vor, das er Salle Z nannte und das unter dem Val de Grâce liegen sollte. Sebastien hatte einen anderen Vorschlag und nannte einige Begriffe oder Namen, die Claire nichts sagten, dann lachten sie und senkten ihre Stimmen.
»Weißt du, worüber die sprechen?«, erkundigte sich Claire bei Louna. »Ist der Bunker eine Bezeichnung für einen Teil der Schule?«, fragte sie.
Louna schüttelte den Kopf. »Nein, es geht um einen echten Bunker aus dem zweiten Weltkrieg. Die Deutschen haben ihn unter unserer Schule gebaut. Ich glaube, das war 1940. Es gab für die Pariser natürlich noch andere Bunker und Schutzräume in alten Steinbruchkammern und in den Metrostationen, doch hier unter dem Montaigne haben die Deutschen während der Besatzungszeit ihr Hauptquartier eingerichtet. Die Schule war von der Luftwaffe beschlagnahmt worden.«
»Und diese Bunkerräume gibt es noch?«, fragte Claire erstaunt.
Louna nickte. »Überall sind noch Schilder, Schaltkästen und Kabel und sogar diese Tonnen, die als chemische Toiletten dienten.«
»Du warst dort unten?«
Wieder nickte Louna. »Ja, normalerweise ist alles verrammelt und verriegelt, aber wir haben mal mit unserem Geschichtslehrer eine Führung gemacht. Es ist echt gruselig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schrecklich das gewesen sein muss, dort unten eingesperrt zu sein, während über der Stadt Bomben abgeworfen wurden.«
»Und da wollen die Jungs ihre Fete feiern?«
Louna hob die Schultern. »Wollen vielleicht schon, aber dazu müssten sie erst einmal reinkommen, was ihnen nicht gelingen dürfte. Die Bunker sind mit Stahltüren gesichert. Nein, da ist es sicher einfacher, irgendwo anders in die Katakomben oder Stollen zu gelangen.«
Claire überlegte laut, ob das alles nur ein seltsamer Scherz sei, doch Louna versicherte ihr, dass sich mehr unter den Straßen von Paris im Verborgenen abspiele, als die meisten Bürger vermutlich ahnten.
»Mein Bruder war letztes Jahr nach seiner Aufnahme an der Universität unten«, mischte sich Inès ein. Claire sah sie fragend an. Mit eifriger Miene rückte Inès näher.
»Simon studiert an der École des Mines, hier ganz in der Nähe. Bei denen gibt es schon seit Ewigkeiten ein Aufnahmeritual, bei dem die Studenten in den Untergrund steigen müssen. Am 4. Dezember, am Tag der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, müssen die Neulinge eine ganz besondere Prüfung ablegen. Sie klettern zwanzig oder mehr Meter hinunter in die alten Gänge und Steinbrüche unter der Stadt und müssen da so eine Art Hindernisparcours bewältigen: durch enge Löcher kriechen und dann in den Katakomben zwischen den ganzen alten Schädeln und Knochen eine Art Schwur leisten. Simon sagt, es war ein echter Spaß. Ich habe das alles leider noch nie gesehen. Ich habe so gebettelt, aber er will mich nicht mitnehmen.«
Claire schüttelte sich. »Mich würden da keine zehn Pferde runterkriegen. Finsternis, enge Schächte und dann auch noch überall Skelette? Nein, danke, ich steh nicht auf Geisterbahn.«
Sie sah erst zu Louna und dann zu Inès, doch die beiden Mädchen erwiderten ihren Blick nicht. Sie starrten über Claires Kopf hinweg. Verblüffung machte sich in ihren Mienen breit.
Claire wandte sich langsam um und ließ ihren Blick an den Hosenbeinen hinaufwandern, die nun kaum zwei Meter von ihr entfernt standen, über den wohlgeformten Oberkörper bis zu den einnehmenden Gesichtszügen, die von einem Lächeln erhellt wurden, von dem Claire weiche Knie bekommen hätte, säße sie nicht im Gras.
»Was gibt es?«, erkundigte sie sich, nachdem Adrien keine Anzeichen machte, sie anzusprechen.
Adrien wirkte ein wenig verlegen und hob die Schultern. »Ach, nichts. Ich denke, es klingelt gleich. Wir sollten zurückgehen.« Sein Blick huschte zu Inès und Louna und dann wieder zu Claire. Nach einem Zögern wandte er sich ab und wartete auf seine Freunde, die sich nun ebenfalls erhoben und auf das Tor des Parks zuschlenderten. Die Mädchen folgten ihnen.
Claire ließ sich ein wenig zurückfallen. Sie hatte das Gefühl, als könne sie noch immer seinen Blick auf sich spüren. Claire erreichte als Letzte das Tor, als Adrien plötzlich hinter einem Busch hervortrat. Claire merkte, wie sich ihr Atem beschleunigte, doch sie versuchte, ganz cool zu bleiben.
»Das war gestern eine tolle Vorstellung«, sagte er und passte seinen Schritt dem ihren an, als sie die Straße überquerten.
»Danke«, antwortete Claire schlicht und hoffte, dass sie nicht schon wieder rot wurde.
»Ich wusste gar nicht, dass Cheerleader so richtig ernsthaft turnen.«
»Tja, das tun sie. Neben den Tanzelementen gibt es viel Akrobatik mit Hebefiguren und Überschlägen. Wir haben dreimal die Woche trainiert.«
Sie spürte, wie er sie von der Seite betrachtete. »Deshalb hast du eine so gute Figur.«
»Danke«, sagte sie noch einmal. Nun wurde Claire doch rot. Sie wandte den Kopf, um sich zu fassen, und hatte plötzlich das Gefühl, Adrien wäre nicht der Einzige, der sie anstarrte. Ein eisiges Prickeln rann über ihren Rücken. In ihrem Nacken richteten sich die feinen, blonden Härchen auf. Claire blickte zum Park zurück, doch sie konnte nur das dichte Grün der Büsche und Bäume sehen. Und doch war sie sich sicher, dass irgendjemand sie beobachtete.
»Was sagtest du?«
Wie von fern drang Adriens Stimme in ihren Geist.
Claire riss den Blick von den Parkbäumen los und wandte sich wieder ihrem Begleiter zu. »Wie bitte? Was hast du gesagt? Entschuldige, ich war abgelenkt.«
»Ich sagte, dass ich dich näher kennenlernen möchte.«
»Oh«, hauchte Claire.
»Und ich habe dich zu meiner Party am Freitag eingeladen, wenn du kommen möchtest.«
»Ja, gerne«, stimmte sie zu und strahlte ihn an.
Adrien lächelte zurück. »Dann ist das abgemacht.«
Das wird Nathalie aber gar nicht schmecken, dachte Claire und stellte beschämt fest, dass ihr der Gedanke gefiel.
Zusammen betraten sie das Schulgebäude. Die anderen waren nicht mehr zu sehen. Vielleicht war das ganz gut so. Claire legte keinen Wert darauf, den Nachmittag über ständig Blicke wie Messer im Rücken zu spüren.
Als sie die Tür zu ihrem Klassenzimmer erreichten, blieb Adrien noch einmal stehen. »Zieh dich am Freitag warm an – und lieber keine Pumps. Ich habe einen ganz besonderen Ort zum Feiern ausgesucht. Lass dich überraschen!«
Claire dachte an den Bunker aus dem zweiten Weltkrieg, von dem Louna gesprochen hatte, und ihr wurde ein wenig mulmig. Aber sie war auch neugierig und bereit, für Adrien bis in die tiefsten Katakomben hinunterzusteigen.
***
»Maman?« Claire trat ins Wohnzimmer und blieb in der Tür stehen. »Ich geh heute Abend weg.«
Ihre Mutter ließ das Buch sinken, in dem sie gelesen hatte. Claire erhaschte einen Blick auf Hochglanzfotos von irgendwelchen alten Gemälden. Natürlich. Was sonst.
»Wo willst du hin?«
Claire schob die Hände in die Hosentaschen. »Zu einer Party. Ein Klassenkamerad – Adrien – hat mich eingeladen. Du hast doch nichts dagegen?«
Louise lächelte sie an. »Aber nein. Ich freue mich für dich, dass du hier so schnell Freunde findest. Wie kommst du nach Hause?«
»Ich nehme die Metro.«
Claire konnte den inneren Kampf im Gesicht ihrer Mutter beobachten. Die Vorstellung, dass ihre Tochter nachts mit der Metro unterwegs war, schmeckte ihr nicht, aber sie wollte ihr den Spaß auch nicht verbieten.
»Das heißt, du bist bis eins zurück?«, sagte sie schließlich.
Claire hob vorsichtig die Schultern. »Das kann ich doch jetzt noch nicht sagen. Ich kenne die meisten ja noch nicht und habe keine Ahnung, wie es wird.«
Ihre Mutter schlug das Buch zu. »Claire, du bist fünfzehn! Ich will kein Spielverderber sein, aber das geht so nicht. Die Metro schließt irgendwann gegen eins und fährt dann erst um fünf wieder. Ich erlaube dir auf keinen Fall, dich die ganze Nacht herumzutreiben, und ich will auch nicht, dass du nach elf allein auf irgendwelchen Bahnhöfen herumstehst.«
»Maman!«, protestierte Claire. »Ich bin kein Kind, das du um zehn ins Bett schicken kannst. Was denken dann die anderen von mir? Die meisten sind sechzehn oder noch älter. Die lachen mich ja aus.«
Ihre Mutter seufzte. »Das habe ich nicht gesagt. Ich verlange ja auch nicht, dass du am Wochenende um elf von einer Party daheim bist, aber ich will, dass du sicher nach Hause kommst. Also, wenn es dir dort gefällt und es später wird, dann rufst du mich an, und ich hole dich ab. Abgemacht?«
Claire eilte zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Abgemacht. Aber willst du wirklich so lange aufbleiben?«
Ihre Mutter schnitt eine Grimasse. »Ich muss sowieso noch einige Abhandlungen lesen und mit deinem Vater ist heute sicher auch nicht vor Mitternacht zu rechnen.«
»Also dann, bis später.«
Claire wollte sich abwenden, doch ihre Mutter hielt sie zurück. »Gehst du so?«, erkundigte sie sich verwundert und betrachtete ihre Tochter, die feste, flache Schuhe und einen warmen Pullover trug. Nicht gerade das übliche Partyoutfit.
Claire erwiderte verlegen den Blick. »Wir feiern draußen, im Garten, weißt du, und es wird jetzt nachts schon recht frisch.«
Ihre Mutter nickte langsam. »Ach so, na dann viel Spaß.«
Claire schlüpfte aus dem Wohnzimmer, ehe ihre Mutter noch weitere Fragen stellen konnte. Sie log nicht gern, aber in diesem Fall wäre ihre Mutter von der Wahrheit bestimmt nicht begeistert und würde ihr vermutlich verbieten, Adriens Einladung anzunehmen. Das wollte sie auf keinen Fall!
Im Flur blieb sie in der Garderobe stehen. Ihr Blick huschte zwischen ihrer schicken Lederjacke und einem warmen Anorak hin und her. Sie griff nach der Lederjacke, klemmte ihre Handtasche unter den Arm und eilte aus dem Haus.
Wie versprochen wartete Adrien zwei Straßenecken weiter auf sie. Der Bruder seines Freundes Philippe, der zwei Klassen über ihnen war, hatte bereits den Führerschein und war bereit, sie mitzunehmen. Auf dem Beifahrersitz saß seine Freundin, eine hübsche Brünette, die Claire mit einem Lächeln zunickte. Claire quetschte sich zu Philippe und Adrien auf die Rückbank des Renaults. Sie hatte kaum die Tür zugezogen, als Orson mit quietschenden Reifen anfuhr. Wie gut, dass sie darauf bestanden hatte, dass man sie nicht vor der Haustür abholte!
Die anderen unterhielten sich lebhaft, während Orson den Wagen über die Seinebrücke steuerte und dann am Champ de Mars Richtung Südosten fuhr. Claire drückte die Nase an die Scheibe und sah zu dem nun hell erleuchteten Eiffelturm hinauf. Ein Schild, das zum Friedhof Montparnasse wies, huschte vorbei.
»Wohin fahren wir?«, erkundigte sich Claire.
»Lass dich überraschen«, gab Adrien mit einem geheimnisvollen Lächeln zurück. »Wir sind gleich da. Ich verspreche dir eine Nacht, die du nicht so schnell vergessen wirst.«
»Wir nehmen nicht den direkten Zugang, oder?«, mischte sich Philippe ein.
Adrien tauschte mit seinem Freund einen Blick. »Nein, ich dachte mir, wir gönnen Claire den ganzen Genuss und nehmen den Zugang am Denfert-Rochereau.«
Philippe und sein Bruder Orson lachten. Claire schielte zu Lucille hinüber, die sich ebenfalls zu amüsieren schien. In diesem Moment war sie froh, nicht alleine mit den Jungs unterwegs zu sein. Was um alles in der Welt hatten sie mit ihr vor? Claire dachte an die Geschichte, die Inès über ihren Bruder und das Einführungsritual der Studenten erzählt hatte. Ein wenig mulmig fühlte sie sich schon, aber das schien auch deren Absicht zu sein. Claire versuchte sich an einer sorglosen Miene. Sie würde sich keine Blöße geben, schwor sie sich.
Party
Es war schon dunkel, als die Männer vor dem Kommissariat im 18. Arrondissement eintrafen. Gemeinsam holten sie ihre speziellen Uniformen aus dem Spind.
René griff nach seinem robusten Blaumann und schlüpfte hinein. Die weißen Buchstaben auf dem Rücken reflektierten hell im Schein der Lampe. »POLICE«, stand dort für jeden klar erkennbar geschrieben. Das ebenso schimmernde dienstliche Wappen der E. R.I. C. zierte die rechte Brust. Jeder der Männer nahm sich seinen weißen Helm mit Stirnlampe, dann verließen sie die Umkleidekabine.
Jean-Claude Sabatier stand bereits im Hof neben seinem Dienstwagen, doch seine Miene war nicht heiter entspannt wie sonst, wenn es in die Tiefe zu einer Inspektion der Höhlensysteme ging. Ganz im Gegenteil. Der Commandant der Truppe blickte äußerst finster drein.
»Was gibt es, Chief?«, wollte Alain wissen.
»Männer, wir werden die Inspektion heute nicht alleine durchführen. Auf speziellen Wunsch unseres Polizeipräfekten wird uns eine Einheit der Police Nationale aus der Cité begleiten.«
Als hätten sie auf ihr Stichwort gewartet, fuhr ein Kleinbus vor, aus dem ein Dutzend dunkel gekleideter Männer mit schwarzen Helmen und Schnürstiefeln stieg. Mit offenem Mund starrte Evard auf das Waffenarsenal, das die Polizisten bei sich trugen. Es waren lauter junge, durchtrainierte Männer mit akkurat geschnittenem Haar und ernsten Mienen.
»Was?«, keuchte Alain. »Wir sollen diese Möchtegernrambos mitnehmen?«
»Was denkt der Präfekt, was wir dort unten heute aufspüren?«, fragte Laurent.
Jean-Claude hob die Schultern. »Das weiß ich auch nicht. Ich bin überzeugt, dass wir auf nichts stoßen, mit dem wir nicht fertigwerden, und dass wir die da ganz sicher nicht brauchen. Aber es hilft nichts. Lasst uns aufbrechen und es hinter uns bringen«, befahl er. »Wir fangen am Friedhof Montparnasse an, kontrollieren dann die Katakomben und steigen nachher in die untere Ebene, um die Steinbrüche drüben unter den Hospitälern zu inspizieren.«
***
Orson bog in einen dunklen Hinterhof ein und stellte den Motor ab. Er ging mit Philippe auf einen Kellerabgang zu. Claire wollte ihnen folgen, aber Adrien hielt sie zurück.
»Das ist eine schöne Jacke«, sagte er und umfasste ihren Arm. »Vielleicht lässt du sie lieber hier. Ich habe noch einen warmen Parka im Kofferraum.«
Er hielt ihr die in militärischer Tarnfarbe gehaltene Jacke hin, die robust und warm war, in der man anderseits aber keine gute Figur abgeben würde. Claire zögerte.
Lucille, die offenbar keine Schwierigkeiten hatte, Claires Gedankengängen zu folgen, lachte spöttisch. »Ich würde ihn nehmen«, riet sie. »Es macht keinen Spaß, wenn man friert, und außerdem würdest du dich ärgern, wenn du deine schöne Jacke versaust.«
Claire gab nach, warf ihre Lederjacke in den Kofferraum und schlüpfte in den Parka. Dann folgte sie den anderen eine kurze Eisentreppe mit verrosteten Stufen hinunter, die vor einer ebenso rostigen Tür endete, die in einen harmlos wirkenden Keller führte. Am Ende des Raums war noch eine Tür. Orson zog einen Schlüssel hervor. Claire war froh, dass ihre Eltern keine Ahnung hatten, was sie hier trieben.
Orson beugte sich vor und machte sich an dem Schloss zu schaffen, bis es klickte und die Tür aufschwang. Adrien holte einladend mit der Hand aus.
»Arrête! C’est ici l’empire de la mort«, sagte er theatralisch.