Lesekompetenz bei multiplen Texten - Maik Philipp - E-Book

Lesekompetenz bei multiplen Texten E-Book

Maik Philipp

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  • Herausgeber: UTB GmbH
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Kompetenz beim Erfassen multipler Texte - eine zentrale Fähigkeit für den Bildungserfolg Der Band bietet erstmalig einen Überblick über Anforderungen, Prozesse und Einflussfaktoren des Lesens multipler Texte. Er beschäftigt sich zudem mit der Frage, wie diese Lesekompetenz an Schulen und Hochschulen gezielt gefördert werden kann und stützt sich dabei auf zahlreiche evidenzbasierte Beispiele. Der Band füllt eine Lücke im Bereich der Lesekompetenzforschung und ist unverzichtbare Lektüre für alle, die mit diesem zunehmend bedeutsamen Thema befasst sind.

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Seitenzahl: 396

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Maik Philipp

Lesekompetenz bei multiplen Texten

Grundlagen, Prozesse, Didaktik

A. Francke Verlag Tübingen

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8463-4987-8

Inhalt

1 Einleitung: Text ⨉ Text ⨉ Text ⨉ … – multiple Texte/Dokumente lesen und verstehen1.1 Ein Einstieg mithilfe eines Arbeitsauftrags1.1.1 Zu den Zielen dieses Bandes1.1.2 Ein konkretes Beispiel zur (durch Schreiben verarbeitenden) Lektüre multipler Texte – oder: Wofür gibt es Schule?1.1.3 Einige wichtige empirische Befunde zu Beginn1.2 Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches1.2.1 Etwas Einführendes zu den namensgebenden Begrifflichkeiten des Bandes1.2.2 Ein Gang durch die Kapitel1.2.3 Einige Gebrauchshinweise für einen optimalen Nutzen des Bandes, bevor es in medias res geht2 Theoretische Grundlagen zum Verstehen und Verwenden multipler Texte/Dokumente2.1 Statt diverser Grundlagen: eine bewusste Auswahl2.1.1 Zur Evolution von Grundlagen-Modellen – ein allgemeiner Überblick2.1.2 Ein vertiefender Überblick über die drei in diesem Band konsultierten Modelle2.2 Zwei relevante Vorläufermodelle: das Dokumentenmodell und das MD-TRACE-Modell2.2.1 Multiple Dokumente/Texte verstehen: das Dokumentenmodell2.2.2 Multiple Texte/Dokumente selektiv und zielbezogen lesen: das MD-TRACE-Modell2.3 Ein aktuelles Modell für das zielbezogene, problemlösende Verwenden multipler Texte/Dokumente: RESOLV2.3.1 Sechs Basisannahmen des RESOLV-Modells2.3.2 Das RESOLV-Modell im Überblick2.3.3 Drei wichtige Bestandteile von RESOLV im Überblick: Kontext-, Aufgaben- und Dokumentenmodell am konkreten (schulischen) Beispiel2.4 Zusammenfassung3 Empirische Befunde aus der Grundlagenforschung zum Vorgehen beim Finden, Lesen und Nutzen multipler Texte/Dokumente3.1 Das konstruktiv-responsive Lesen multipler (digitaler) Texte und Dokumente3.1.1 Lesestrategien im verstehenden Umgang mit multiplen Texten/Dokumenten und Hypertexten – ein erster Überblick3.1.2 Lesestrategien im Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten – ein erstes Exempel3.1.3 Hypertexte finden, lesen und nutzen – ein zweites Beispiel3.2 Wenn man liest, um zu schreiben3.2.1 Zur Einbettung von Schreib- in Leseprozesse3.2.2 Ein genauerer (quantitativer) Blick auf die eigenen Hilfs- und Zwischentexte: Notizen3.3 Muster im Vorgehen bei unterschiedlichen Personen3.3.1 Vergleich von unterschiedlich kompetenten bzw. leistungsstarken Personen im Vorgehen3.3.2 Muster beim Vorgehen – zu Typologien im Umgang mit multiplen Texten/Dokumenten3.4 Zum Zusammenhang zwischen Strategien und Leistungsmaßen3.4.1 Prozesse und Produkte – gehört zusammen, was zusammengehört?3.4.2 Zum Abschluss: Wenn es nicht so leicht ist, Zusammenhänge zwischen Prozessdaten und Produktmaßen zu finden3.5 Zusammenfassung4 In- und externe Einflussfaktoren des glückenden Umgangs mit multiplen Texten/Dokumenten4.1 Kognitive Faktoren innerhalb der lesenden Person4.1.1 Epistemische Überzeugungen4.1.2 Vorwissen4.1.3 Lesefähigkeiten4.2 Faktoren außerhalb der lesenden Person4.2.1 Verwendete Texte4.2.2 Aufgabenstellungen (nebst Hilfestellungen)4.3 Zusammenfassung5 Förderung des Verstehens und der kompetenten Nutzung multipler Texte/Dokumente – 15 finale evidenzbasierte Exempel5.1 Vorstrukturierende Bemerkungen zur Orientierungsstiftung in einem unübersichtlichen Terrain5.2 Lesestrategien – (Text-)Inhalte finden, beurteilen und kombinieren5.2.1 Fokus 1: Die Organisation und Struktur der Informationen in den Bezugstexten erkennen und nutzen5.2.2 Fokus 2: Den Umgang mit Quelleninformationen für den Aufbau von Intertextmodellen schulen5.3 Fokus 3: Materialgestütztes Schreiben – wenn Lese- und Schreibstrategien interagieren5.3.1 Beispiel 9: Historische Primärtexte lesen, mittels Fragen analysieren, mit anderen darüber diskutieren und dann selbst eine Argumentation schreiben5.3.2 Beispiel 10: Themen in eigenen Texten miteinander vergleichen lernen5.3.3 Beispiel 11: Argumentationen zu kontroversen Themen in kooperativen Schreibsettings synthetisieren lernen5.3.4 Beispiel 12: Farbbasiert zu Synthesen verschiedener Textinhalte (für eigene Forschungssynthesen) gelangen5.4 Fokus 4: Der entlastende Einsatz von Apps bei der Anwendung von Lese- und Schreibstrategien5.4.1 Beispiel 13: Sourcer’s Apprentice – ein virtuelles Bücherregal mit Mehrwert5.4.2 Beispiel 14: Met.a.ware – Texte aufbereiten und beurteilen5.4.3 Beispiel 15: Escribo – Schreibprozesse portionieren und entlasten5.5 Zusammenfassung6 Literatur

1Einleitung: Text ⨉ Text ⨉ Text ⨉ … – multiple Texte/Dokumente lesen und verstehen

Wenn Sie dieses Buch in die Hand nehmen bzw. es auf einem Display vor sich haben, haben Sie sich vermutlich schon zuvor mit mehreren bzw. multiplen Texten auseinandergesetzt, z.B. mit den Rechercheergebnissen in Datenbanken wie Suchmaschinen, Bibliothekskatalogen oder Buchhandel-Plattformen, möglicherweise als einem Eintrag auf der Liste der Seminarliteratur oder einer Kurzbeschreibung in einer Neuerscheinungsliste. Sie werden abgewogen haben, ob dieses Buch zu Ihrem Leseziel passt (zumindest für den Moment), ob Sie dessen Verfasser so weit trauen, dass Sie Lebens- und Lesezeit investieren, und Sie werden – das hoffen im hochschulischen Kontext zumindest Ihre Dozentin, ihr Dozent und/oder die Personen, mit denen Sie das Buch nutzen – die Inhalte dieses Buches mit dem gedanklich verknüpfen, was Sie wissen und was in anderen Texten steht. Sie werden also den einen oder anderen begründeten Anlass haben, sich mit dem Thema Lesekompetenz bei multiplen Texten auseinanderzusetzen. Warum sich die Beschäftigung mit der Thematik lohnt und was Sie in diesem Buch erwartet, erfahren Sie in diesem einleitenden Kapitel.

1.1Ein Einstieg mithilfe eines Arbeitsauftrags

1.1.1Zu den Zielen dieses Bandes

Warum lohnt es sich ganz grundsätzlich, sich mit dem Lesen multipler Texte zu befassen? Dass diese Thematik der Beschäftigung wert ist, hat gleich mehrere gute bildungswissenschaftliche Gründe – vor allem den, dass die Thematik Lesekompetenz im Umgang mit multiplen Texten gerade beginnt, im nationalen wie internationalen Kontext stark an Bedeutsamkeit und Wichtigkeit zu gewinnen. Dafür lassen sich mindestens drei Indikatoren anführen:

Wendet man zuerst die Aufmerksamkeit dem internationalen Parkett zu, so lässt sich dort eine Intensivierung der Forschungs- und Theoriearbeit attestieren. Im Sommer 2017 hat beispielsweise die renommierte Zeitschrift Educational Psychologist ein Themenheft zur Theorieentwicklung beim Lesen multipler Texte vorgelegt (s. dazu den Überblicksbeitrag von List und Alexander, 2017a; eine (auch für diesen Band) wichtige Theorieskizze daraus ist unlängst als Buch erschienen: Britt, Rouet & Durik, 2017). In diesem Jahr wurde mit dem Handbook of Multiple Source Use (Braasch, Bråten & McCrudden, 2018a) ein weiteres wichtiges Grundlagenkompendium veröffentlicht.

Auch nationale bzw. deutschsprachige Publikationen widmen sich verstärkt dieser Thematik (Philipp, 2015b; Richter & Maier, im Druck; Stadtler, Bromme & Rouet, 2014). Unlängst hat etwa das verstehende Lesen multipler Texte mehr Zuwendung im Zuge der Debatte um das materialgestützte Schreiben in der deutschdidaktischen Forschung erfahren (s. dazu die Debattenbeiträge in den Ausgaben Nr. 42 und 43 der Didaktik Deutsch). In Buchpublikationen zum materialgestützten Schreiben (etwa Feilke et al., 2016, oder Philipp, 2017b) kommt die gebührende Würdigung der Komplexität dessen, was während des (aufgabenbasierten) Lesens multipler Texte als Grundlage des Schreibens eines eigenen Sachtextes geschieht, aber noch recht kurz. Das gilt übrigens auch für die Ratgeberliteratur zum wissenschaftlichen Arbeiten in der Hochschule, in der das kompetente Lesen multipler Texte immer noch einen blinden Fleck bildet.

Schließlich ist auch aus einem anderen, eher politisch zu nennenden Grund das Thema Lesen und Verstehen mehrerer Texte aktueller denn je. In Zeiten, in denen zum einen Schlagwörter wie „alternative Fakten“, „Fake News“ und „postfaktisch“ Teile des medialen Diskurses bestimmen und in denen zum anderen die digitalen Medien einen technisch nahezu ungefilterten Zugriff zu vielen Quellen unterschiedlichster Provenienz erlauben, gilt es, die eigene Mündigkeit als gesellschaftlich handlungsfähiges Subjekt durch kritisch-reflexive Teilhabe an der Medienkultur mitsamt ihren unterschiedlichen Angeboten aktiv und verantwortungsvoll zu sichern (Hurrelmann, 2002).

Aus verschiedenen Gründen lohnt sich also ein genauer und systematischer Blick auf die Thematik, wie Personen kompetent mit multiplen Texten umgehen und was sie dabei leisten (müssen), was ihre Verstehensleistungen beeinflusst und wie sich die komplexen Fähigkeiten im kompetenten Umgang fördern lassen. In dieser Aufzählung sind die wesentlichen Stationen und Ziele dieses Buches bereits angeführt, die sich auch in seinem Aufbau niederschlagen (s. dazu Teilkap. 1.2.2): Es geht darum, einen Überblick über verschiedene Bereiche eines weiten Feldes zu gewinnen. Dieser Überblick erstreckt sich zum einen auf theoretische Grundlagen (in Kap. 2) und zum anderen auf Befunde aus der Grundlagenforschung (Kap. 3 und 4) zu Prozessen und Determinanten des glückenden Umgangs mit multiplen Texten sowie – ganz am Ende des Bandes (in Kap. 5) – auf die angewandte Forschung zur erfolgreichen Lese- und Schreibförderung.

1.1.2Ein konkretes Beispiel zur (durch Schreiben verarbeitenden) Lektüre multipler Texte – oder: Wofür gibt es Schule?

Bevor es in diesem Buch bereits um konkrete wissenschaftliche Inhalte geht, soll ein kleiner Selbstversuch am Anfang stehen. Dabei handelt es sich um einen hochschulnahen Auftrag, den Studierende aus Frankreich in einer Studie handschriftlich bearbeiteten und dafür – ohne dass es eine Zeitvorgabe gab – durchschnittlich 40 Minuten benötigten (Escorcia et al., 2017).*1 Bitte absolvieren Sie diesen im nachstehenden Kasten befindlichen Auftrag und beobachten Sie dabei Ihre Vorgehensweise möglichst genau (indem Sie etwa kurz notieren, wie Sie vorgegangen sind). Achten Sie dabei genau darauf, inwiefern Sie die Texte wie lesen, wie die Inhalte des entstehenden Textes planen oder verändern und wie Sie die Inhalte der beiden Bezugstexte wiedergeben.

Ein Arbeitsauftrag zur Lektüre zweier Texte und die beiden Originaltexte
Arbeitsauftrag

Bitte schreiben Sie eine Synthese der beiden unteren Texte, welche die geäußerten Standpunkte von F. Mole und M. Crahay berücksichtigt, um diese Frage zu beantworten: „Wofür gibt es die Schule, und was sind ihre Ziele? Erklären Sie ihre Funktion.“ Ihr Text sollte 30 Zeilen umfassen. Stellen Sie sicher, dass die folgenden wichtigen Anforderungen erfüllt werden: Ihre Synthese muss lesbar sein, und Sie müssen gute Sätze konstruieren, korrekte Grammatik und Rechtschreibung verwenden und Abkürzungen vermeiden.

Text 1

Mole, F. (2013). Die einzelne Schule: kollektive oder individuelle Emanzipation? Von den Anfängen des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er. La Télémaque,103–104.

„Emanzipation durch Schule.“ Zusätzlich zu seiner intellektuellen Bedeutung hat dieser Ausdruck eine soziale Bedeutung, die man entweder aus einer kollektiven Perspektive oder von einem persönlichen Standpunkt verstehen kann. Gemäß der kollektiven Perspektive sollte Schule junge Menschen ermutigen, alle charakterlichen Züge der Unterordnung zu verbannen, um politisch autonomer zu werden. Gemäß dem individuellen Standpunkt gibt Schule den Individuen eine Möglichkeit, um sich von ihrem sozialen Hintergrund zu befreien. Es gibt zwei verschiedene französische republikanische Sichtweisen der Bildung:

Schule muss die Bedingungen schaffen, die man benötigt, um politische und soziale Demokratie zu fördern, indem man die intellektuellen Ressourcen der Menschen entwickelt. Letztgenannte werden als kollektives, beherrschtes Gebilde betrachtet, das frei von jeder Art von Autorität ist und seine Souveränität ausübt. Ein Jahrhundert nach Concordet sagte Jaurès2, dass Bildung es Individuen zu agieren erlaubt, eine bessere Republik und eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen.

Schulen müssen Individuen auswählen, die fähig sind, menschliche Belange in einer Gesellschaft zu behandeln, in der Funktionen und Status nicht das Ergebnis von Zufall sind. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts haben Reformatoren die Grenzen kritisiert, die zwischen verschiedenen Kontexten bestehen, und für eine stärker vereinte Art der Bildung plädiert, indem man die Gemeinschaft erweitert, aus der die Mitglieder der Elite rekrutiert werden und das Land sein Humankapital3 entwickelt, und gleichzeitig alle Individuen gerecht behandelt.

Text 2

Crahay, M. (2000). Können Schulen fair und effizient sein? Von der Chancengleichheit zur Gleichheit der Ergebnisse. Brüssel: De Boeck & Larcier.

Gemäß Dubet und Martuchelli (1996) haben alle Schulsysteme drei wichtige Funktionen zu erfüllen und können danach definiert werden, wie sie Funktionen hierarchisieren und artikulieren.

Die erste Funktion – Bildung – ist verbunden mit den persönlichen Projekten der Schüler, die, insofern sie zur Reflexion fähig sind, diese Projekte selbst regulieren und bestimmen, indem sie Situationen, in denen sie sich befinden, rational analysieren. Durkheim (1990) hat speziell diese Dimension hervorgehoben, indem er daran erinnerte, dass Schulen das Produkt eines christlichen Projekts sind, Individuen in ein anderes Leben zu überführen.

Die zweite Funktion ist Sozialisation. Schulen sollten das Aufkommen von Individuen fördern, die an die Gesellschaft angepasst sind. Für dieses Ziel müssen Schulen die Normen, Gewohnheiten, Wissensbestände und Werte integrieren, die von der sozialen Gruppe geschätzt wird, in der diese Individuen Mitglieder werden sollen.

Die dritte Funktion ist Verteilung. Dies „betrifft die Rollen, die die Schule gemäß den Qualifikationen erfüllt, die vor dem Hintergrund des Faktes einen sozialen Nutzen haben, dass bestimmte Jobs, Positionen und Status das Vorrecht der Akademiker sind. Die Schule verteilt Güter, die einen bestimmten Wert in den Arbeitsmärkten und der sozialen Hierarchie haben“ (Dubet und Martucelli, 1996, S. 23).

(Quelle von Arbeitsauftrag und Texten: Escorcia et al., 2017, S. 269f., Hervorh. im Orig.; Fußnoten 2 und 3 stammen ebenfalls aus dem Orig.)

1.1.3Einige wichtige empirische Befunde zu Beginn

Hat Ihnen das Schreiben Schwierigkeiten oder Freude bereitet? Wie sind Sie vorgegangen? Wo haben Sie möglicherweise Schwerpunkte festgestellt? Wir kommen gleich auf diese Fragen zurück, wenn es um drei Gruppen geht, die in der Originalstudie hinsichtlich ihres Lese- und Schreibprozederes vorgefunden wurden.

In der besagten Studie aus dem Teilkapitel zuvor wurden fast zwei Dutzend Studierende gebeten, den Arbeitsauftrag aus dem Kasten mit den beiden Bezugstexten zu den konfligierenden Aufgaben der Schule zu bearbeiten. Dabei wurden sie gefilmt und verbalisierten in regelmäßigen Abständen ihre Vorgehensweisen (sog. „lautes Denken“). Die Beobachtungs- und verbalen Daten wurden im Anschluss statistisch ausgewertet. Aus der Fülle der Befunde – zum Beispiel, dass sich die größten Unterschiede zwischen den Personen vor allem in der Phase des Schreibens ergaben – sei einer besonders hervorgehoben: eine Typologie beim Vorgehen. Es gab nämlich drei verschiedene Gruppen mit je spezifischem Profil beim schreibenden Verarbeiten der beiden Texte (Escorcia et al., 2017*), denen Sie sich selbst eventuell anhand Ihres eigenen Vorgehens zuordnen können:

Die präzis Transkribierenden. Typisch für diese erste Gruppe war, dass die Studierenden durchgängig vor dem Schreiben und während des Textverfassens Bezug auf die Texte nahmen, um die dort enthaltenen Ideen möglichst präzise in eigenen Worten wiederzugeben. Die Studierenden lasen also nicht nur relativ viel, sondern taten es außerdem durchgängig. Typisch war ferner, dass sie vor dem Schreiben viele Notizen anfertigten und ihre Entwürfe häufig prüfend lasen.

Die aktiv Revidierenden. Diese Gruppe las nicht wie die Gruppe zuvor bis zum Schluss die Bezugstexte, sondern vor allem vor dem Schreiben. Dafür waren sie auffällig engagiert darin, ihre entstehenden Texte aktiv zu lesen und zu modifizieren (revidieren). Ihr Schreiben wies – anders als bei der Gruppe zuvor – eine Vorgehensweise auf, bei der aus eigenen Überlegungen die Textinhalte sukzessive elaboriert (also inhaltlich angereichert) wurden.

Die spontan Schreibenden. Diese zahlenmäßig größte Gruppe war im Vergleich mit den beiden anderen Gruppen insofern auffällig, als sie bei allen analysierten Aktivitäten die geringsten Häufigkeiten aufwiesen. Sie lasen also am wenigsten und planten und revidierten aus externer Sicht seltener. Anders als die beiden anderen Gruppen wirkte ihr Vorgehen weniger strategisch geplant, sondern insgesamt eher spontan.

Die drei Gruppen wiesen insgesamt also markante Profile in der jeweiligen Aufgabenbearbeitung auf:

Gruppe 1 war sehr planerisch und nutzte das Lesen intensiv für den entstehenden Text.

Gruppe 2 war demgegenüber sehr flexibel beim Schreiben und reparierte den entstehenden Text im Schreibprozess.

Gruppe 3 hingegen schien besonders kognitiv kostensparend vorzugehen.

Damit ist ein erstes wichtiges Ergebnis: Es gibt keine Standardverfahren, sondern unterschiedliche Herangehensweisen.

Nicht nur bei den Prozessen ergaben sich Differenzen zwischen den Gruppen, sondern auch bei den in mehreren Kriterien untersuchten Textprodukten (s. Abbildung 1). Bezogen auf die entstandenen Texte unterschieden sich die drei Gruppen, wenn auch nicht durchgängig statistisch signifikant. Gruppe 1 und 2 schrieben besser strukturierte und kohärentere Texte, in denen sie die gelesenen Inhalte besser miteinander verglichen. Dafür wählten die Mitglieder der Gruppe 3 relevantere Informationen aus, waren bei den Formulierungen besser und hatten im Vergleich mit Gruppe 1 bessere Werte in der Orthografie und Grammatik, die denen der Gruppe 2 ähnelten. In diesen differenzierten Befunden zeigt sich, dass die Gruppen 1 und 2 in einzelnen Dimensionen der Textprodukte im Vorteil waren (und sich diese beiden Gruppen eher ähnelten). Dafür waren sie der Gruppe 3 zum Teil unterlegen.

Abbildung 1: Profile der drei Gruppen bei sieben textbezogenen Variablen (Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Escorcia et al., 2017, S. 263*)

Stellvertretend für diverse andere Studien lässt sich an der exemplarischen Untersuchung aus Frankreich illustrieren, dass erstens mehrere Vorgehensweisen beim Lesen von (und Schreiben über) mehr als einem Text zu mehr oder minder geglückten Analyseprodukten führen. Zweitens muss man differenzieren, wenn man die Qualitäten der derlei entstandenen Texte betrachtet. Drittens zeigt sich in der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer von 40 Minuten der beiden Texte mit einem Gesamttextumfang von im Original 550 Wörtern, dass solche Aufgaben, in denen Lesen und Schreiben im akademischen Kontext interagieren, anscheinend hochanspruchsvoll sind, wenn sie so viel Zeit beanspruchen. Und viertens – und zumindest an dieser Stelle: letztens – deutet sich an, dass die (im Schreiben endende) Lektüre von mehr als einem Text anscheinend ausgesprochen dynamisch verläuft. Und genau um diesen letzten Punkt geht es in diesem Buch.

1.2Grundsätzliches zu zentralen Begriffen und zum Aufbau dieses Buches

In diesem Buch ist das Konzept des kompetenten Lesens multipler Texte der Hauptgegenstand. Um dieses Konzept gleich zu Beginn stärker zu schärfen, werden seine zwei Bestandteile – Lesekompetenz zum einen und multiple Texte zum anderen – im Teilkapitel 1.2.1 in aller gebotenen Kürze definiert. Im Anschluss fasst das Teilkapitel 1.2.2 vorgängig zusammen, worum es in den vier Hauptkapiteln des Buches geht.

1.2.1Etwas Einführendes zu den namensgebenden Begrifflichkeiten des Bandes

Im Namen dieses Bandes sind zwei Begrifflichkeiten miteinander verbunden, die in dieser Kombination bislang noch eher selten anzutreffen sind: „Lesekompetenz“ und „multiple Texte“. Das Zusammenführen beider Begriffe ist daher nicht selbstverständlich und sollte erläutert werden. Das gilt auf der einen Seite, weil multiple Texte als Ausgangspunkt des Lesens noch einen recht neuen Gegenstand der zunehmenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung bilden. Auf der anderen Seite ist das Konzept der Lesekompetenz im Licht der zunehmenden Bildungsforschung sehr prominent geworden und wird als Begriff zudem unterschiedlich verwendet. Deshalb wird an dieser Stelle knapp der kognitive Kern der Lesekompetenz mit dem alles andere als einheitlichen Lesematerial der Texte (bzw. im Weiteren auch Dokumente) verknüpft. Dies erfolgt in zwei Schritten, nämlich zunächst für die Lesekompetenz und dann für die multiplen Texte.

1.2.1.1Lesekompetenz

Mit dem Aufkommen von großen Schulleistungsstudien und dem dort prominent verankerten und umfassend getesteten Konstrukt Lesekompetenz ist dieser Begriff in breiter, mitunter babylonisch anmutender Verwendung wie der Terminus „Kompetenz“ allgemein (Grabowski, 2014). Lesekompetenz basiert auf dem Leseverständnis, also jener Fähigkeit, aus Texten Inhalte und Bedeutung unter Zuhilfenahme diverser Teilprozesse aktiv zu rekonstruieren. Das Konzept der Lesekompetenz ist inhaltlich breiter: Es umfasst nicht nur das realisierbare Leseverstehen durch kognitive Prozesse, sondern eine unter Zuhilfenahme weiterer Faktoren (wie Motivation) tatsächlich erbrachte Leistung, in diesem Fall bezogen auf das Lesen (Lenhard, 2013).

Wie sich bereits in der Unterscheidung von Leseverständnis und -kompetenz andeutet, gibt es Differenzen in der inhaltlichen Begriffsfüllung. Unstrittig ist der kognitive Kern des Konstrukts: Es sind diverse mentale Aktivitäten, die dazu führen, dass man Texte versteht bzw. auf der Basis des Textverstehens Leistungen erbringt. Im Fall der Lesekompetenz als ohnehin schon weiter gefasstem Konzept geht das unterschiedliche Begriffsverständnis noch weiter, was auch für diesen Band von Belang ist, da in ihm ebenfalls unterschiedliche Perspektiven auf das kompetente Lesen mehrerer Texte eingenommen werden, ohne dass dies immer eigens expliziert wird. Außerdem wirkt vieles, was gegenwärtig in der Wissenschaft zum Kompetenz-Konstrukt in der Domäne Lesen für das kompetente Lesen einzelner Texte diskutiert wird, deutlich anschlussfähig an das, was dem erst allmählich entstehenden Diskurs rund um das Leseverständnis von multiplen Texten innewohnt. Deshalb lohnt sich der Blick auf das Konzept Lesekompetenz mit dem inhärenten Bezugspunkt einzelner Texte (s. Tabelle 1).

Modellierung

differenziell-psychologisch

kognitionspsychologisch

pädagogisch-psychologisch

lesedidaktisch

lesesozialisatorisch

Lesekompetenz als …

messbares Produkt

beschreibbarer Prozess

trainierbare Fähigkeit(en)

beeinflussbares Mehrebenenkonstrukt

Enkulturations-prozess/kulturelle Praxis

Erkenntnisinteresse und Vorgehen

Testen von Fähigkeiten in der Domäne Lesen

Vergleich von Personen (inkl. Determinanten) bzw. für die Individual-diagnostik

Beschreibung und Modellierung von kognitiven Teilprozessen auf diversen Ebenen

integrative Betrachtung aller kognitiven Prozesse

gezielte Förderung von Leseprozessen auf verschiedenen Ebenen des Lesens

(überwiegend differenziell-psychologische) Überprüfung der Effektivität von Interventionen

systematische Verortung und Auswahl von Lesefördermaßnahmen auf verschiedenen Ebenen

Gestaltung der Erwerbsprozesse im schulischen Kontext

Verständnis ko-konstruktiver sozialisatorischer Prozesse

Rekonstruktion des Kompetenzerwerbs in diversen sozialen Kontexten

Tabelle 1: Fünf idealtypische Modellierungen von Lesekompetenz (bezogen auf einzelne Texte; Quelle: nach Philipp, 2015a, S. 31)

Besonders wichtig für diesen Band sind die drei psychologischen Kompetenzmodellierungen (genauer beschrieben bei Müller & Richter, 2014, und hier paraphrasiert), wobei die pädagogisch-psychologische Modellierung eine deutlich erkennbare Nähe zur (kulturwissenschaftlich und lesesozialisatorisch beeinflussten) lesedidaktischen Modellierung aufweist. Die drei psychologischen Kompetenzmodellierungen definieren Lesekompetenz als

messbares Produkt (differenziell-psychologische Modellierung), also als mittels Tests erfassbare Leistungen, die ihrerseits Einflussfaktoren (Determinanten) haben. Solch eine Sichtweise offenbart sich in den großen und kleinen Studien, in denen es darum geht, Lese(verstehens)leistungen empirisch zu erfassen. Diese Modellierung findet sich deutlich in Kapitel 4 wieder, in dem es darum geht, Einflussgrößen auf das Produkt Leseverstehen bei multiplen Texten zu systematisieren (für einen Überblick über interindividuelle Leistungen s. Barzilai & Strømsø, 2018).

beschreibbaren Prozess (kognitionspsychologische Modellierung), ein Zugang, welcher die kognitiven Aktivitäten erklärt, differenziert und systematisiert, die ihrerseits erst in ein messbares Produkt münden. Dieser Zugang zur Lesekompetenz ist vergleichsweise nahe am Leseverstehen zu verorten und ergänzt die Produktperspektive. Ihm ist in diesem Buch relativ viel Raum gewidmet, nämlich sowohl im umfassenden Theoriekapitel zu Modellen und Prozessen des Leseverstehens bzw. des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten (Kap. 2) als auch im Kapitel 3 mit Ergebnissen der Grundlagenforschung. Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass es dort nicht allein um Leseprozesse, sondern auch um jene des Schreibens geht, weil im Falle des Lesens multipler Texte häufig Aufgaben mit dem Schreiben zum Einsatz gekommen sind.

trainierbare Fähigkeiten (pädagogisch-psychologische und mit ihr eine der Lesedidaktik verwandte nahe Modellierung), mithin als ein förderfähiges und förderbares Konstrukt, bei dem es darum geht, durch gezielte Instruktion eine Verbesserung zu erzielen. Dieser Förderbarkeit, die sich auf die zu optimierenden Prozesse bezieht und sich in Produkten niederschlägt, steht ausführlich im Zentrum des Kapitels 5. Wie schon im Kapitel 3 wird zumindest partiell ebenfalls das Schreiben eine gewichtige Rolle spielen.

Der Überblick über die verschiedenen Begriffsfüllungen verdeutlicht, dass es sinnvoll und notwendig ist, sich zu vergegenwärtigen, mit welcher konkreten Bedeutung ein Terminus wie Lesekompetenz verwendet wird. Wichtig für die Begriffsverwendung in diesem Band ist die kognitionspsychologisch grundierte Fokussierung auf kognitive Prozesse. Da die Thematik des kompetenten Lesens multipler Texte wie schon erwähnt noch längst nicht so ausgewiesen ist wie bei dem Konstrukt zur Lesekompetenz einzelner Texte und weil sich die Anforderungen beim Lesen verschiedener Texte anders darstellen (s. Kap. 2), wird in diesem Buch inhaltlich zwar eine Nähe zum Konzept Lesekompetenz aufrechterhalten, aber es wird häufiger vom „verstehenden Umgang“ mit Texten die Rede sein. Dieser Griff zu einer anderen Formulierung soll keineswegs dazu dienen, selbst nolens volens für die zu Beginn dieses Teilkapitels beklagten babylonischen Verhältnisse zu sorgen. Stattdessen soll damit der momentan aus wissenschaftlicher Sicht noch partiell provisorische Charakter dieser Form des Lesens betont werden.

1.2.1.2Multiple Texte (und Dokumente)

Im Teilkapitel zuvor ging es um das Konzept der Lesekompetenz und die Brauchbarkeit für die Zwecke dieses Bandes, der das Lesen multipler Texte zentral behandelt. Ein hartnäckiges Problem der noch jungen Wissenschaft zum Lesen und Nutzen verschiedener Texte besteht in dem unklaren Sprachgebrauch dessen, was genau denn eigentlich mit dem Lesematerial gemeint ist. Dies schlägt sich auch in der im Folgenden systematisch vorkommenden Doppelnennung von „Text“ und „Dokument“ in diesem Band nieder. Das Problem ist in der Wissenschaft wohlbekannt und wird nicht nur als unbedeutende terminologische Angelegenheit betrachtet (Braasch, Bråten & McCrudden, 2018b; Goldman & Scardamalia, 2013). Ein Vorschlag, mit dieser begrifflichen Unschärfe produktiv umzugehen, stammt von Braasch und Kollegen (2018b) und ist in Tabelle 2 gegenübergestellt. Dieser Vorschlag bezieht sich ganz gemäß Erscheinungskontext des zitierten Buchkapitels, dem Handbook of Multiple Source Use, auf einen anderen Begriff („Quelle“), erscheint aber für die Zwecke dieses Buches anschlussfähig.

Weiter Begriff

Enger Begriff

Verständnis von „Quelle“

Bezeichnung des Ursprungs von Informationen

Synonyme Verwendung von „Informationsressource“, „Text“, „Dokument“, „Material“ und multimodaler „Multimediaressource“

Bezeichnung des Ursprungs von Informationen

Vorhandensein von Metainformationen/Metadaten (zu Herkunft, Kontext, Absicht etc.), die inner- oder außerhalb der Informationsquelle liegen

Verständnis des Umgangs mit Quellen

Individuelle Fähigkeit, auf der Basis vielfältiger Prozesse Bedeutung aus verschiedenen Ursprüngen von Informationen zu konstruieren

Beispiele: Aufgaben interpretieren; Informationen lokalisieren, auswählen, analysieren, evaluieren, verstehen; in einzelnen und über einzelne Quellen hinweg Informationen prüfen, integrieren und konstruieren

Individuelle Fähigkeit, vorhandene oder verfügbare in- bzw. externe Metadaten zu erkennen, zu repräsentieren, zu beurteilen und anzuwenden

Beispiel: Prüfung von verzerrten Sicht- und Darstellungsweisen mittels quellenbezogenen Daten

Tabelle 2: Gegenüberstellung von weitem und engem Verständnis des Begriffs „Quelle“ und des kompetenten Umgangs mit Quellen (eigene Darstellung basierend auf Braasch et al., 2018b, S. 2)

Besonders bedeutsam ist nicht nur, wie der Begriff „Quelle“ je nach weiter oder enger gefasstem Terminus gefüllt wird (nämlich zum einen eher im Sinne eines medialen Verständnisses beim weiten Begriff oder zum anderen hinsichtlich einer Kombination von Informationen und Metainformationen beim eng gefassten Begriff). Vielmehr erstreckt sich die Begriffsfüllung ebenfalls auf die mit ihr verbundenen Anforderungen/Fähigkeiten einer Person im Umgang mit Quellen. In diesem zweiten Punkt, den nötigen Fähigkeiten für einen kompetenten Umgang – also der Kompetenz (s. Teilkap. 1.2.1.1 ) –, offenbart sich die bedeutsame Differenz beider Begriffsverständnisse:

Der weite Begriff von Quellen und der Umgang mit ihnen zielt primär auf ein Verständnis von Informationen unterschiedlicher Herkunft und medialer Modalität.

Der enge Begriff geht darüber hinaus, weil es zusätzlich um einen versierten Umgang mit Metadaten geht, die bei der Bedeutungskonstruktion verwendet werden.

In den einzelnen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die diesem Band zugrunde liegen, werden sowohl enger als auch weiter gefasste Begrifflichkeiten verwendet, teils sogar synonym. Der enger gefasste Begriff ist allerdings jener, den dieses Buch bei aller Heterogenität in den Konzepten und Termini besonders klar ins Auge fasst. Wenn im Folgenden also von einem verstehenden Umgang mit multiplen Texten/Dokumenten die Rede ist, dann geht es zuvorderst darum, Inhalte von Texten/Dokumenten gezielt (mit ihren Metadaten) kognitiv zu kombinieren und für ein verstehendes Lesen zu nutzen.

1.2.2Ein Gang durch die Kapitel

Eine so komplexe Thematik wie das kompetente Lesen von und der Umgang mit multiplen Texten und Dokumenten erfordert eine klare thematische Gliederung und inhaltliche Entfaltung. Das Buch gliedert sich in insgesamt fünf Hauptkapitel inklusive dieses einleitenden Kapitels:

Nach dieser Einleitung behandelt Kapitel 2 Grundlagen zum verstehenden Umgang mit multiplen Texten bzw. Dokumenten. Dabei stehen drei aufeinander aufbauende theoretische Modelle im Zentrum. Diese kognitionspsychologisch grundierten Modelle bilden das Rückgrat für die weiteren Ausführungen und helfen dabei, inhaltliche Verortungen der später behandelten Themen vorzunehmen. Das aktuellste der drei Modelle, das RESOLV-Modell, wird im Verlauf der Darstellung immer wieder eine wichtige Verortungsmöglichkeit für die in den Kapiteln jeweils behandelte Thematik bieten und der gedanklichen Strukturierung dienen.

Kapitel 3 eröffnet den Blick auf die Ergebnisse der empirischen Grundlagenforschung. Dabei werden verschiedene Bereiche betrachtet, nämlich zu den strategischen Prozessen im verstehenden Umgang mit multiplen Texten, worunter auch das Schreiben über mehrere Texte fällt. Das Kapitel geht zudem auf sich abzeichnende personenübergreifende Muster bei der Aufgabenbewältigung mit multiplen Texten ein und behandelt die Frage, ob und wie sich Zusammenhänge zwischen (meta-)kognitiven, strategischen Prozessen und Produkten von Aufgaben mit mehreren Texten nachweisen lassen.

Kapitel 4 nimmt ebenfalls eine empirische Perspektive ein, indem es ausgewählte Determinanten behandelt, also differenziell-psychologische Einflussgrößen des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten/Dokumenten. Dabei werden allein schon aus Platzgründen nicht sämtliche Einflussgrößen behandelt, sondern aus zwei Gruppen solcher Determinanten jene, für die es erstens ausreichend empirische Belege gibt und die zweitens eine Nähe zu Kognitionen aufweisen. Deshalb kommt die (selbstverständlich wichtige) Motivation in diesem Band (noch) nicht vor. Stattdessen geht es bei der ersten Gruppe von Determinanten um insgesamt drei internale kognitive Komponenten: epistemische Überzeugungen, thematisches Vorwissen und Lesefähigkeiten. In der zweiten Gruppe, die aus einer fachdidaktischen Perspektive nicht minder von Interesse ist, geht es um die Gestaltung der externen Aufgabenumgebung sowohl mittels bedacht ausgewählter Texte/Dokumente als auch dank sorgfältig konstruierter Aufgabenstellungen und der Bereitstellung von Hilfestellungen.

In Kapitel 5 öffnet sich der Blick auf das Feld der pädagogisch-psychologisch geprägten Lese- und Schreibförderung im Umgang mit multiplen Texten. Dazu werden 15 verschiedene Beispiele evidenzbasierter, also hinsichtlich ihrer Wirksamkeit empirisch überprüfter Förderansätze steckbriefartig auf jeweils wenigen Seiten vorgestellt. Dieser von einer vorgängigen knappen Systematisierung flankierte Gang durch die Befunde in einem erst allmählich entstehenden Bereich der Förderung schriftsprachlicher Fähigkeiten zeigt: Die Förderung lohnt sich und kennt schon heute viele Ansatzpunkte und Herangehensweisen.

1.2.3Einige Gebrauchshinweise für einen optimalen Nutzen des Bandes, bevor es in medias res geht

Bücher, zumal wenn sie wie dieses eine Einführung bieten wollen, stehen vor der Herausforderung, ihren optimalen Nutzen bei einer Gruppe unterschiedlich vorgehender Nutzerinnen und Nutzer entfalten zu wollen. Dieser Band bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Um den Nutzwert möglichst zu erhöhen, folgen an dieser Stelle noch einige knappe Hinweise:

Der Band ist modular aufgebaut. Dennoch ist es ein Kapitel, das besonders wichtig für das Gesamtverständnis ist, nämlich wie schon im Teilkapitel zuvor erwähnt das zweite Kapitel. Die theoretischen Grundlagen sind nicht nur besonders wichtig, sondern sie erfordern es auch, sich auf eine vermutlich eher unvertraute Thematik einzulassen. Hier ausreichend Lesezeit zu investieren und sich die Grundlagen anzueignen, lohnt sich mit Blick auf den Gesamtnutzen des gesamten Bandes. Das gilt umso mehr, als die drei Modelle im Kapitel 2 allmählich entfaltet werden und eine je spezifische Sicht auf den verstehenden Umgang mit multiplen Texten insbesondere in (hoch-)schulischen Kontexten erlauben.

Der Gegenstand des Bandes ist zum Teil komplex. Um dennoch die Nützlichkeit zu erhöhen, steht ausnahmslos am Ende der Kapitel 2 bis 5 jeweils eine Zusammenfassung mit dem Wichtigsten der Kapitel. Eiligen Leserinnen und Lesern seien diese Zusammenfassungen besonders ans Herz gelegt.

Für die Verwendung des Buches für hochschulische Lehrveranstaltungen, für Weiterbildungen und andere Zusammenhänge stehen die Abbildungen als Downloadmaterial zur Verfügung (http://www.utb-shop.de/9783825249878, „Zusatzmaterial“). Downloadmaterial ist in diesem Band mit dem folgenden Symbol gekennzeichnet: .

Dieses Buch arbeitet stark mit verschiedenen Elementen. Neben dem Fließtext sind dies diverse Grafiken, Tabellen und Kästen. Im Falle der Kästen gibt es Unterschiede zu den Funktionen der jeweiligen Kästen, die Verschiedenes leisten:

Exemplarische Beispiele und Vertiefungen – Kästen mit dieser Kennzeichnung entlasten den Hauptteil des Textes, indem sie verschiedene exemplarische Inhalte enthalten. Das können Beispiele sein oder die Beschreibungen von einzelnen Studien. Diese Textteile unterstützen und vertiefen Themen aus dem Haupttext.

Bündelungen – Einige Kästen enthalten zentrale Informationen, die sie bündeln. Solche Kästen sind besonders wichtig.

Arbeitsaufträge – Solche Kästen enthalten entweder authentische oder exemplarische Arbeitsaufträge, die sich an Sie als Leserin/Leser richten oder sich an Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Studien gerichtet haben.

Weiter lesen, weiter denken – Diese Kästen stehen jeweils am Ende der fünf Hauptkapitel. Sie enthalten ganz bewusst nur wenige ausgewählte Lektüreempfehlungen zu Einstiegslektüren, um sich vertiefend mit den Themen der Kapitel auseinanderzusetzen.

Weiter lesen, weiter denken – Empfehlungen für einen ersten Überblick

Ein Buch wie dieses will einen Überblick verschaffen, zugleich will es weitere Denk- und Leseanstöße bieten. Deshalb steht am Ende jedes Kapitels eine kurze Liste knapp kommentierter Lesetipps, in diesem Fall beginnend mit solchen zum Überblick.

Braasch, J.L.G., Bråten, I. & McCrudden, M.T. (Eds.). (2018). Handbook of Multiple Source Use. New York: Routledge. (Das Handbuch macht seinem Namen alle Ehre: International renommierte Forscherinnen und Forscher bündeln den Forschungsstand zu verschiedenen Themen und in sechs Themenkomplexen (wie Theorie, Domänenspezifika, Förderung und Messung bei der Nutzung multipler Texte). Besonders hervorhebenswert ist der interdisziplinäre Zugang.)

Bråten, I., Braasch, J.L.G. & Salmerón, L. (in press). Reading Multiple and Non-Traditional Texts: New Opportunities and New Challenges. In: E.B. Moje, P. Afflerbach, P. Enciso & N.K. Lesaux (Eds.), Handbook of Reading Research. Volume V. New York: Routledge. (Dieses exzellent geschriebene Kapitel arbeitet die Unterschiede zwischen traditionellem Lesen singulärer Texte und dem von multiplen (Hyper-)Texten heraus. Es skizziert individuelle Unterschiede und ist insbesondere zum Verständnis von Leseprozessen ausgesprochen hilfreich.)

2Theoretische Grundlagen zum Verstehen und Verwenden multipler Texte/Dokumente

Die Theorie zum Verstehen und Verwenden mehrerer (multimodaler, digitaler) Texte steckt, auch wenn das Phänomen – zumal im hochschulischen Kontext – eine recht lange Tradition aufweist, derzeit immer noch in wissenschaftlichen Kinderschuhen. Erst in letzter Zeit haben sich die Bemühungen stark intensiviert, das Phänomen angemessen zu fassen und zu beschreiben (Cromley, in press). Obwohl das Gesamtbild bei dieser Thematik also noch unvollständig ist, so erlauben es die vorgelegten verschiedenen Modelle inzwischen, einzelne Teile des Gesamtbildes klarer zu sehen.

In diesem Kapitel geht es um einen Ausschnitt der theoretischen Grundlagen. Konkret werden drei chronologisch und inhaltlich aufeinander aufbauende theoretische Modelle zu kognitionspsychologisch grundierten Repräsentationen von Text- und weiteren Inhalten entfaltet. Der Grund, warum statt einem gleich drei Modelle bemüht werden, hat damit zu tun, dass sich bei den drei Modellen nicht nur jeweils die Perspektive ändert und ausweitet, sondern auch einzelne Bestandteile aus Vorgängermodellen in Nachfolgervarianten übernommen wurden und teilweise erst dort eine inhaltliche Beschreibung bzw. Extension erhielten, die man nicht ohne Weiteres aus den Vorgängermodellen mit anderen Zielen und Prämissen extrapolieren kann. Deshalb erscheint es für das Gesamtverständnis geboten, die Evolution der Modelle mit Blick auf die allmähliche inhaltliche Verfeinerung gesamthaft zu fokussieren. Daher auch der Hinweis an Sie als Leserin bzw. als Leser, wenn Sie mit der Thematik unvertraut sind: Folgen Sie nach Möglichkeit der Reihenfolge dieses Kapitels, um ein möglichst tiefes Verständnis der Thematik zu erzielen.

Das Kapitel ist in insgesamt drei Teilkapitel unterteilt. Im ersten Teilkapitel (2.1) wird die eben schon angesprochene Evolution wissenschaftlicher Theorien zum Ausgangspunkt gemacht, um sodann einen ersten (tabellarischen) Überblick über die drei zentralen theoretischen Modelle zu erhalten. Die drei theoretischen Modelle werden in den verbleibenden beiden Teilkapiteln 2.2 und 2.3 betrachtet. Zunächst geht es um die beiden Vorläufermodelle.

Das erste Modell, das Dokumentenmodell, beschreibt, wie man sich die Komponenten und Prozesse vorstellt, die zu einer adäquaten mentalen Repräsentation der Inhalte aus verschiedenen Dokumenten verschiedener Autorinnen und Autoren führen.

Das zweite Modell, das MD-TRACE-Modell, ergänzt das Dokumentenmodell um ein den Umgang mit Texten steuerndes Aufgabenmodell. Dadurch wird die Lektüre in den Kontext einer Aufgabenbearbeitung gestellt und damit das reine Leseverstehen relativiert – das erklärt auch, warum im Titel dieses Kapitels vom „Verwenden multipler Texte/Dokumente“ die Rede ist. Das Dokumenten- und das MD-TRACE-Modell, die beide an einem Beispiel erläutert werden, bilden den Gegenstand des zweiten Teilkapitels (2.2).

Das dritte und damit letzte theoretische Modell RESOLV setzt nochmals einen anderen Akzent, indem es das MD-TRACE-Modell um eine weitere systematische Perspektive ergänzt, nämlich um den Kontext, in welchem eine lesebezogene Aufgabe bearbeitet wird (s. Teilkap. 2.3). In dem RESOLV-Modell kommen entsprechend drei, innerhalb einer Person miteinander verbundene kognitive Repräsentationen zusammen: Kontext-, Aufgaben- und Dokumentenmodell.

2.1Statt diverser Grundlagen: eine bewusste Auswahl

2.1.1Zur Evolution von Grundlagen-Modellen – ein allgemeiner Überblick

Das Verstehen von multiplen Texten ist zwar im hochschulischen, akademischen Kontext durchaus üblich und traditionsreich. Dennoch besteht hier ein typisches „Hase-Igel-Phänomen“: Während die Praxis des (exegetischen) Lesens mehrerer Texte in verschiedenen Kontexten längst Usus ist, steht die systematische Grundlagenforschung (nebst Theoriebildung) zum Teil noch am Anfang. Erst allmählich erfreut sich das Thema einer gewissen Konjunktur im Wissenschaftsbetrieb – nicht zuletzt beim Vorlegen von Modellen zum Verstehen und zielgerichteten Nutzen multipler Texte/Dokumente.1 Hinzu kommen die bereits jetzt kaum noch zu überschauenden empirischen Arbeiten zu spezifischen Fragestellungen, die insbesondere in der internationalen Forschung vorgelegt wurden und werden. Auffällig ist bei alldem: Es gibt diverse Erkenntnisinteressen und Fokussierungen, was der Übersichtlichkeit wenig zuträglich ist, auch wenn der Kenntnisstand insgesamt davon profitiert.

Unter den theoretischen Überlegungen überwiegen wenig überraschend jene, die aus der kognitionspsychologisch orientierten Grundlagenforschung stammen und zunächst einmal die beteiligten mentalen (kognitiven) Prozesse des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten bzw. Dokumenten angemessen zu fassen und zu beschreiben versuchen. Diese kognitionspsychologischen Modelle werden von weiteren flankiert, die zum Beispiel die Rolle der Motivation berücksichtigen. Da zurzeit die Lage in Bezug auf die Rolle der Motivation noch recht unübersichtlich ist (s.a. Bråten, Ferguson, Anmarkrud & Strømsø, 2013; Guthrie, 2018; Salmerón, García & Vidal-Abarca, 2018, und Strømsø & Bråten, 2009) und die einflussreichen Modelle auf Kognitionen fokussieren, stehen solche Modelle auch in diesem Band im Zentrum. Entsprechend offeriert der selektive Überblick über sieben zentrale bzw. vielversprechende Modelle in Tabelle 3 eine Perspektive auf kognitionspsychologisch grundierte Modellierungen mit verschiedenen Zielen und Erklärungsansätzen. Die ersten vier Modelle stellen sukzessiv vorgelegte Erweiterungen eines Modells aus einer Forschungsgruppe dar. Die letzten drei in Tabelle 3 bauen aus der Perspektive anderer Leseforscherinnen und -forscher das MD-TRACE-Modell (Nr. 2 in der Liste) mit verschiedenen inhaltlichen Fokussierungen aus, um den Umgang mit konfligierenden Informationen – sei es zwischen den Texten, sei es zusätzlich zwischen Textinhalten und den innerhalb der lesenden Person zu lokalisierenden Annahmen zum Sachverhalt – zu beschreiben.

Bezeichnung des Modells (Kurzbeleg)

Kurzcharakterisierung des jeweiligen Modells

1) Dokumentenmodell(Perfetti et al., 1999)

Das Modell beschreibt zwei miteinander verknüpfte Hauptbestandteile (Intertextmodell und mentales Modell), um der Besonderheit des Leseverstehens multipler Texte/Dokumente (dessen Ergebnis ist das namensgebende Dokumentenmodell) gerecht zu werden. Das Modell trennt sachlogisch inhaltliche und quellenbezogene Informationen aus multiplen Texten für ihre Beiträge am Dokumentenmodell; beide Information(sart)en sind wichtig für das gelingende Leseverstehen.

2) MD-TRACE(Rouet & Britt, 2011)

Das MD-TRACE-Modell (Multiple-Document Task-Based Relevance Assessment and Content Extraction) ist eine Erweiterung des Dokumentenmodells. Es berücksichtigt insbesondere konsequenter die (stark von einer konkreten Aufgabe und deren individuell repräsentierten Anforderungen beeinflussten) Prozesse des Umgangs mit Texten/Dokumenten und beschreibt die wichtigsten hierbei involvierten in- und externen Ressourcen. Neuer und wichtiger Bestandteil ist das Aufgabenmodell, welches die Lese- und Auswahlprozesse steuert.

3) RESOLV(Britt et al., 2017)

Das RESOLV-Modell (Reading as Problem SOLVing) ist eine Weiterentwicklung von MD-TRACE. Kernelemente des Vorgängermodells blieben weitestgehend erhalten, dafür kamen neue wichtige Bestandteile hinzu, darunter das Kontextmodell, das dem Aufgaben- und dem Dokumentenmodell vorangeht, zugleich aber dynamisch mit ihnen verbunden ist. RESOLV betont vor allem die Selbstregulation beim Lesen verschiedener Texte/Dokumente innerhalb eines umfassenden Problemlöseprozesses.

4) MD-TRACE und Dokumentenmodell + epistemische Überzeugungen(Bråten, Britt et al., 2011)

Es handelt sich um eine Erweiterung des Dokumenten- und MD-TRACE-Modells bei der Konstruktion des Dokumentenmodells (als Bestandteil des MD-TRACE-Modells) und Aufgabenmodells um individuelle epistemische Überzeugungen, also subjektive wissensbezogene Theorien, innerhalb der lesenden Person. Diese verschiedenen Überzeugungen erleichtern oder erschweren je nach ihrem konkreten Bezugspunkt und ihrer Ausprägung systematisch die adäquaten Verstehensleistungen. Dies erfolgt durch die Beeinflussung der kognitiven Prozesse im Umgang mit multiplen Texten/Dokumenten vor allem beim Aufbau von Intertext- und mentalem Modell.

5) Modell zur Integration von Inhalt und Quellen(Stadtler & Bromme, 2014)

In dem Drei-Phasen-Modell wird der Umgang mit konfligierenden Informationen aus Texten/Dokumenten behandelt; es geht also um inhaltliche Konflikte, die sich aufgrund von intertextuell widersprüchlichen Informationen ergeben. Einer ersten Phase der Problemerkennung (Kohärenzprobleme aufgrund von Widersprüchen entdecken) schließt sich eine zweite Phase der Problemregulation an, sei es durch Ignorieren, Bilden von überbrückenden Schlussfolgerungen oder das Begründen und Verknüpfen mit Merkmalen der Quelle. Die dritte und letzte Phase der Problemlösung bezieht sich auf eine abschließende Prüfung und Nutzung des Vorwissens und/oder der Quellen.

6) Diskrepanzinduziertes Verständnis von Quellen(Braasch & Bråten, 2017)

Zentral für dieses Modell ist die wahrgenommene Diskrepanz zwischen den Inhalten aus gelesenen Texten/Dokumenten, wobei für die lesende Person nicht klar ist, welche Quelle recht hat. Das Erkennen der Diskrepanz geschieht zunächst in einem ersten Schritt. In einem zweiten Schritt wendet eine lesende Person ihre Aufmerksamkeit auf die Metadaten aus den Quellen und beginnt mit einer Prüfung dieser Metadaten, um die Diskrepanz möglichst aufzulösen. Durch die gesteigerte Fokussierung auf quellenbezogene Metadaten werden diese bei der Konstruktion des Gesamtverständnisses stärker berücksichtigt, um ein kohärentes Gesamtverständnis zu entwickeln.

7) Zwei-Schritte-Modell der Verarbeitung konfligierender Informationen(Richter & Maier, 2017)

Das Modell beschreibt, dass lesende Personen aufgrund impliziter Vorannahmen Texte/Dokumente lesen und bei Konflikten von externen, textbezogenen Informationen und internen, eigenen Vorannahmen in zwei Schritten reagieren. Der ohne Absicht ablaufende Schritt eins hat die Funktion, mittels metakognitiver Überwachung die Plausibilität von Informationen vor dem Hintergrund eigener Annahmen wahrzunehmen. Ohne Korrektur kommt es zu einem von Vorannahmen einseitig verzerrten Verständnis. Erfolgt allerdings im zweiten Schritt eine – insgesamt sehr voraussetzungsreiche – willentlich gesteuerte Beurteilung und Anreicherung der konfligierenden Informationen unter Nutzung diverser kognitiver Ressourcen, gelingt ein balanciertes Gesamtverständnis.

Tabelle 3: Überblick über sieben zentrale, primär kognitionspsychologische Grundlagenmodelle zum Verstehen und zur Nutzung multipler Texte/Dokumente (Auswahl, eigene Darstellung)

Es ist allein schon mit Blick auf die komplexe, in Tabelle 3 selektiv zusammengefasste Lage in der Theorie und die sich daran anschließende Empirie geboten, eine sinnvolle Auswahl aus der breiten Forschungsliteratur – auch und gerade hier in diesem Kapitel zu Grundlagen – vorzunehmen. Deshalb fiel die Entscheidung, sich im Rahmen dieses Buches auf drei miteinander verbundene deskriptive Modelle des Lesens multipler Texte zu beschränken. Die angesprochene Verbindung der drei Modelle besteht darin, dass sie zum einen vom Kern eines Forschungsteams in jahrzehntelanger Arbeit vorgelegt und weiterentwickelt wurden. Zum anderen ist in den drei Modellen deutlich eine Art der „Evolution“ und damit einhergehend Verfeinerung von theoretischen Überlegungen erkennbar. Außerdem – und das ist ein dritter wichtiger Grund für die Auswahl dieser Modelle – haben sich die ersten beiden Modelle (vorgestellt in Teilkap. 2.2) in der Vergangenheit als sehr einflussreiche, wirkmächtige und in der Scientific Community breit rezipierte theoretische Grundlagen erwiesen. Ob dies auch auf das neueste Modell – vorgestellt im Teilkapitel 2.3 – zutreffen wird, wird die Zukunft zeigen. Weil es konsequent einerseits den wissenschaftlichen Fortschritt und andererseits die wissenschaftliche Kontinuität aufgreift, soll das in Teilkapitel 2.3 vorgestellte, lesedidaktisch ertragreich wirkende RESOLV-Modell stellvertretend für andere neue Modellierungen mit sich zum Teil inhaltlich überschneidenden, aber auch divergierenden Modellen stehen (List & Alexander, 2017a; Stadtler, 2017; Strømsø, 2017).

2.1.2Ein vertiefender Überblick über die drei in diesem Band konsultierten Modelle

Drei komplementäre Grundlagen-Modelle aus dem Kontext der Kognitionspsychologie bilden das theoretische Rückgrat dieses Bandes: das Dokumentenmodell, das MD-TRACE-Modell und schließlich das RESOLV-Modell. Diese schon im Teilkapitel 2.1.1 in Tabelle 3 in aller Kürze skizzierten Modelle ergänzen einander und werden in Tabelle 4 vergleichend gegenübergestellt. Anhand des systematischen Vergleichs wird deutlich, wie die Modellierungen aufeinander aufbauen und inhaltlich immer etwas mehr integrieren, als dies bei den jeweiligen Vorläufer-Modellierungen der Fall war.

Vergleichsdimension

Modell des verstehenden Umgangs mit multiplen Texten/Dokumenten

Dokumentenmodell

MD-TRACE

RESOLV

Inhaltlicher Fokus des theoretischen Modells

Komponenten bei der verstehenden Lektüre multipler Texte

Prozesse und Entscheidungen beim selektiven, aufgabenbezogenen Leseverstehen multipler Texte

Interaktion von kontextuellen und aufgabenbezogenen Verständnissen einer lesenden Person samt deren Interaktion mit Leseprozessen innerhalb eines Problemlöseprozesses

Aufgabeninterpretation

nicht spezifiziert

Aufgabenmodell

Aufgabenmodell

Repräsentierter Lesekontext

nicht spezifiziert

nicht spezifiziert

Kontextmodell

Rolle der Ziele und Pläne (inklusive Strategien)

nicht spezifiziert

Ziele der lesenden Person bestimmen Aufmerksamkeit für die und Repräsentation der Inhalte multipler Texte

Ziele sind persönliche Aufgabeninterpretationen innerhalb eines Kontextes; Ziele bestimmen Aufmerksamkeit für die und Repräsentation der Inhalte multipler Texte

Prozesse (bzgl. Entscheidungen beim Lesen)

nicht spezifiziert

einzelne Arten von dichotomen Entscheidungen

Routine- und Nicht-Routine-Entscheidungen mit kontinuierlichen Schwellenwerten bei den Entscheidungen

Stufen vs. dynamische Entscheidungen beim Lesen

nicht spezifiziert

geordnete Stufen, die zum Teil rekursive Abläufe erlauben

hochdynamische Entscheidungen

Rolle der Motivation

nicht spezifiziert

Teil der inneren Ressourcen, aber nicht spezifiziert

mit Zielen und Plänen verbunden, allerdings noch unterspezifiziert

Tabelle 4: Vergleich des Dokumenten-, MD-TRACE- und RESOLV-Modells (Quelle: Rouet et al., 2017, S. 212; sprachlich und für diese Publikation leicht vereinheitlicht und beim Dokumentenmodell sowie einzelnen Vergleichsdimensionen ergänzt)

Die drei Modelle in Tabelle 4 unterscheiden sich in ihren Eigenheiten und inhaltlichen Foki sehr deutlich voneinander:

Das Dokumentenmodell als erster vorgelegter theoretischer Zugang fokussiert vor allem darauf, wie eine lesende Person zu einem Verständnis multipler Texte gelangt. Hierfür, und darin liegt das Verdienst des Modells, wird die grundsätzliche Architektur der wichtigsten kognitiven Komponenten innerhalb der lesenden Person beschrieben. Merkmale des Kontextes, darunter auch die der Aufgabe, sowie interne prozessuale und motivationale Merkmale sind nicht Gegenstand des Dokumentenmodells.

Das ändert sich beim MD-TRACE-Modell, denn in diesem Modell wird insbesondere das Zusammenspiel von in- und externen Ressourcen durch einen komplexen, strategisch grundierten und damit zielbezogenen Entscheidungsprozess betont. Dabei wirkt die als Aufgabenmodell bezeichnete interne Repräsentation/Interpretation als Steuermodul für den umfassenden Leseprozess und bildet eine zweite Komponente der für eine lesende Person wichtigen mentalen Repräsentationen.

Noch einmal erheblich weiter geht das RESOLV-Modell, das zum einen den Kontext und dessen Repräsentation als eigenständige, dritte Repräsentation (Kontextmodell) innerhalb einer lesenden Person ergänzt. Zum anderen beschreibt RESOLV Lesen als einen stark zielgerichteten Prozess einer umfassenden Problemlösung mithilfe der (nicht zwingend auf vollständiges Verstehen abzielenden) Lektüre von Dokumenten. Hier spielen motivationale Merkmale und diverse Entscheidungen bis zum Schluss eine gewichtige Rolle.

Damit zeigt sich: Die drei theoretischen Modellierungen des Lesens multipler Texte setzen jeweils eigene Akzente und bauen aufeinander auf. In Folgemodellen wurden Komponenten aus den Vorgängern integriert, gleichzeitig wurden die Modelle immer komplexer und dynamischer. Das hat auch mit ihren jeweiligen Zielsetzungen zu tun, also damit, was in und mit den Modellen inhaltlich erfasst werden soll:

Das Dokumentenmodell modelliert Komponenten (und partiell: Prozesse) des Leseverstehens,

MD-TRACE deren Einbindung in eine Aufgabenstellung samt notwendiger in- und externer Ressourcen nebst Prozessen und

RESOLV zusätzlich eine kontextuelle Rahmung, welche für die Verstehensprozesse eine filternde Wirkung hat.

Aus einer lesedidaktischen Perspektive ist dies alles andere als trivial, sondern im Gegenteil sehr ergiebig. Denn durch die nachvollziehbare inhaltliche Ausweitung auf Aufgaben und Kontexte samt den – zum Teil vorläufig wirkenden – Implikationen ergeben sich Ansatzpunkte für die sinnvolle Nutzung des Lesens und der Nutzung multipler Texte für eine Leseförderung (auch im Sinne des Fachlernens).

Bei der Auswahl der drei Modelle für diesen Band muss noch zu guter Letzt konzediert werden, dass es sich nicht um Modelle handelt, in denen der Nutzen von mehreren digitalen Dokumenten und Texten genauer beschrieben wird. Es gibt allerdings durchaus diverse empirische Daten dazu, dass bei deren Nutzung Eigenheiten bestehen (Afflerbach & Cho, 2009; Bråten et al., in press; Cho & Afflerbach, 2017; Salmerón et al., in press). Wie so oft klafft also die Empirie-Theorie-Lücke überdeutlich auch bei dieser Thematik (Cromley, in press). Wenn im Folgenden also theoretische Grundlagenmodelle präsentiert werden, in denen digitale Texte nur am Rande Gegenstand sind, soll im Folgenden das gewählte erläuternde Beispiel mit digitalen Texten gezielt und bewusst ein Gegengewicht bilden.

2.2Zwei relevante Vorläufermodelle: das Dokumentenmodell und das MD-TRACE-Modell

Im Teilkapitel 2.1 wurde dargelegt, dass drei aufeinander aufbauende theoretische Modelle das Rückgrat für den Grundlagenteil dieses Bandes bilden. In diesem Teilkapitel sollen zunächst zwei Vorläufermodelle konsultiert werden. Die Darstellung beginnt mit dem Dokumentenmodell (2.2.1) zum Leseverstehen mehrerer Texte. Es folgt das darauf aufsetzende MD-TRACE-Modell zum Lesen multipler Texte in Abhängigkeit von lesebezogenen Aufträgen (2.2.2).

2.2.1Multiple Dokumente/Texte verstehen: das Dokumentenmodell

Einen ersten wichtigen Ansatz auf dem Weg zur theoretischen Modellierung, wie wir Menschen Texte verstehen, wenn wir mehr als einen Text/ein Dokument lesen, hat eine internationale Forschungsgruppe rund um Anne Britt, Charles Perfetti und Jean-François Rouet in jahrelanger Arbeit vorgelegt (Britt et al., 1999; Perfetti et al., 1999; Rouet, 2006; Rouet & Britt, 2011; Britt & Rouet, 2012; Britt, Rouet & Braasch, 2013; Rouet & Britt, 2014 – s. für eine knappe deutschsprachige Beschreibung: Philipp, 2017b, S. 39–44, und Schüler, 2017, S. 168–188). Die entscheidende Grundannahme ist, dass bisherige kognitionspsychologische