Lesesozialisation in Kindheit und Jugend - Maik Philipp - E-Book

Lesesozialisation in Kindheit und Jugend E-Book

Maik Philipp

0,0

  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Wie werden Heranwachsende zu kompetenten Leserinnen und Lesern? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz? Und wie hängen diese drei Bereiche des Lesens vom Geschehen in der Familie, der Schule und in Peer-Beziehungen ab? Diesen Fragen geht die Forschung zur Lesesozialisation nach, ihre Befunde werden im vorliegenden Band vorgestellt. Er bietet einen aktuellen und systematischen Überblick zum internationalen Stand der Forschung und blickt aus zwei Perspektiven auf das Thema Lesesozialisation. Der erste Teil enthält Ergebnisse aus Untersuchungen zu den Bereichen Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz. Der zweite Teil fokussiert empirisch nachgewiesene soziale Einflüsse von familialen, schulischen und Peer-Variablen auf Lesefreude, -frequenz und -verstehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 293

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wie werden Heranwachsende zu kompetenten Leserinnen und Lesern? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz? Und wie hängen diese drei Bereiche des Lesens vom Geschehen in der Familie, der Schule und in Peer-Beziehungen ab? Diesen Fragen geht die Forschung zur Lesesozialisation nach, ihre Befunde werden im vorliegenden Band vorgestellt. Er bietet einen aktuellen und systematischen Überblick zum internationalen Stand der Forschung und blickt aus zwei Perspektiven auf das Thema Lesesozialisation. Der erste Teil enthält Ergebnisse aus Untersuchungen zu den Bereichen Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz. Der zweite Teil fokussiert empirisch nachgewiesene soziale Einflüsse von familialen, schulischen und Peer-Variablen auf Lesefreude, -frequenz und -verstehen.

Dr. Maik Philipp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Lesen an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz in Aarau.

Lehren und Lernen

Herausgegeben von

Andreas Gold Cornelia Rosebrock Renate Valtin Rose Vogel

Maik Philipp

Lesesozialisation in Kindheit und Jugend

Lesemotivation, Leseverhalten und Lesekompetenz in Familie, Schule und Peer-Beziehungen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eignes als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2011

Alle Rechte vorbehalten © 2011 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

ISBN 978-3-17-020412-6

E-Book-Formate

pdf:

epub:

978-3-17-028118-9

mobi:

978-3-17-028119-6

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Teil I: Grundlagen

1 Einleitung

2 Lesesozialisation

2.1 Was ist Lesesozialisation?

2.2 Wie verläuft idealtypisch eine gelingende Lesesozialisation aus Sicht der Lesebiografie-Forschung?

2.3 Wie lässt sich Lesesozialisation theoretisch fassen?

Teil II: Lesen

3 Lesemotivation

3.1 Wie lassen sich Arten der Lesemotivation theoretisch unterscheiden?

3.2 Welche unterschiedlichen Arten von Lesemotivation hat man bei Kindern und Jugendlichen in Studien ermittelt?

3.3 Bestehen Unterschiede zwischen den Geschlechtern und Angehörigen ethnischer Gruppen bei der Lesemotivation?

3.4 Wie verändert sich die Lesemotivation im Lauf der Schulzeit?

4 Leseverhalten

4.1 Welche Printmediengenres lesen Kinder und Jugendliche bevorzugt außerhalb der Schule?

4.2 Wie verändert sich das Freizeitleseverhalten von Kindern und Jugendlichen im Sinne der Lesefrequenz?

4.3 Wie verändert sich die Weise des Lesens?

5 Lesekompetenz

5.1 Was ist Lesekompetenz?

5.2 Wie schneiden deutsche Schülerinnen und Schüler in großen Leseleistungsstudien ab?

5.3 Existieren bedeutsame Geschlechterunterschiede im Leseverstehen?

5.4 Wie entwickelt sich die Lesekompetenz?

5.5 Gibt es einen Matthäus-Effekt bei der Entwicklung der Lesekompetenz?

6 Zusammenhänge zwischen Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz

6.1 Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Lesemotivation und -verhalten?

6.2 Bedingen Leseverhalten und -verstehen einander?

6.3 Lesemotivation und Textverstehen – was ist Ursache, was Folge?

Teil III: Sozialisation

7 Familie

7.1 Wie wird das Zusammenspiel von familialen und individuellen Merkmalen modelliert?

7.2 Wie beeinflusst die Familie die Lesemotivation von Kindern?

7.3 Leseverhalten von Eltern und ihrem Nachwuchs: Wie weit fällt der Apfel vom Stamm?

7.4 Welcher Zusammenhang besteht zwischen der sozialen Herkunft und dem Leseverstehen?

8 Schule

8.1 Welche Einflussdynamiken werden für die Schule vermutet?

8.2 Welche Effekte hat Schule auf die Lesemotivation bzw. kann sie haben?

8.3 Wie lässt sich das Verhältnis von schulischer und privater Lektüre beschreiben?

8.4 Verbessern Schule und Unterricht das Leseverstehen?

8.5 Welche Problembereiche zeichnen sich beim Literatur- bzw. Leseunterricht ab?

9 Peers

9.1 Welchen theoretischen Einfluss haben Peers auf das Lesen?

9.2 Welche Formen der Lesemotivation werden von Peers beeinflusst?

9.3 In welchem Zusammenhang stehen Peers und die Lesehäufigkeit?

9.4 Erhöhen Peers das Leseverstehen?

10 Zusammenspiel der Instanzen

10.1 Wie lässt sich das Geschehen in den Lesesozialisationsinstanzen theoretisch beschreiben?

10.2 Ist das Zusammenspiel der Instanzen bislang angemessen untersucht worden?

10.3 Was unterstützt generell die Lesesozialisation?

Literatur

Stichwortverzeichnis

Geleitwort

Die großen internationalen Vergleichsstudien zu Schul- und Schülerleistungen vom Beginn des Jahrhunderts haben spürbare Innovationen im gesamten Bildungssystem bis hinein in die konkreten unterrichtlichen Praktiken mit sich gebracht. Auch die Forschungslandschaft rund um das Lehren und das Lernen wurde durch diese Impulse nachhaltig beeinflusst und wirkt ihrerseits weiter auf die Entwicklung von Schule und Unterricht ein.

Eine der Lehren aus diesen Studien war die Anerkennung der Notwendigkeit von Interdisziplinarität: Lehren und Lernen, wissenschaftlich betrieben, kann nur durch das Zusammenspiel pädagogischer, psychologischer, fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien und Befunde befriedigend erklärt und gesteuert werden. In der pädagogischen Praxis kann keine Lerntheorie ohne Bezug auf eine konkrete Inhaltsdomäne und keine Lehrmethode ohne Curriculumsbezug und ohne Beachtung der individuellen Lernvoraussetzungen erfolgreich sein. Die je eigenen Perspektiven und Erkenntnisse der Psychologie, der Pädagogik und der beiden schulisch zentralen Fachdidaktiken Mathematik und Deutsch, vertreten in den Disziplinen der Herausgebenden, sollen in den einzelnen Bänden dieser Reihe jeweils zu einem kohärente Gesamtbild zusammengeführt werden. Neben der Interdisziplinarität liegt besonderer Wert auf einer – weit verstandenen – Empirie: Erfahrungswissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse zum Lehren und Lernen stehen jeweils im Mittelpunkt der Darstellung. Schließlich fokussieren alle Bände der Reihe den Anwendungsbezug: Die entfalteten Themen, Diskurse und Fachgebiete sind jeweils unmittelbar bedeutend für Schule und Unterricht. Insgesamt präsentieren die Bände die wichtigsten unterrichtlich relevanten Forschungsthemen und -ergebnisse aus den unterschiedlichen Disziplinen.

Die vorliegende Reihe umfasst thematisch den Vorschul-, Grundschul- und weiterführenden Schulbereich bis etwa zur zehnten Klassenstufe. Konzipiert ist sie für (zukünftige) Lehrende, auch für PädagogInnen und PsychologInnen in weiteren Anwendungsfeldern im Bildungssystem. In „Lehren und Lernen“ werden die oben angesprochenen politisch-praktischen Veränderungen im pädagogischen und fachlichen Feld und in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern aufgegriffen, indem die Ergebnisse der empirischen Forschung in den zentralen Bereichen des Lehrens und Lernens aus interdisziplinärer Perspektive für professionelle Anwender verständlich und kompakt dargestellt werden.

Andreas Gold, Cornelia Rosebrock, Renate Valtin & Rose Vogel

Teil I:Grundlagen

1 Einleitung

Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum Sie gern lesen, Ihre Geschwister oder ehemaligen Klassenkameraden und -kameradinnen aber nicht, oder umgekehrt? Dieser Frage nach den Wegen zum Lesen oder Nicht-Lesen geht die Lesesozialisationsforschung nach. Ob Heranwachsende gern, häufig und kompetent lesen oder nicht, ist für jeden Lehrer und für jede Lehrerin von essentieller Wichtigkeit, denn mit Texten hat jedes Kind und jede(r) Jugendliche in der Schule zu tun. Zugleich unterscheiden sich Heranwachsende beim Lesen in Motivation, Fähigkeiten, Einstellungen und der Verfügbarkeit von personalen Unterstützungsressourcen. Die Fragen, welche empirisch fassbaren Unterschiede in Lesemotivation, -verhalten und -verständnis bestehen, welches Verhältnis diese drei Bereiche zueinander haben und wie sie von sozialen Interaktionen innerhalb Familie, Schule und Peers beeinflusst werden, sind Gegenstand der Lesesozialisationsforschung und damit dieses Buches.

Die Lesesozialisationsforschung lässt sich keiner einzelnen Wissenschaftsdisziplin eindeutig zuzuordnen. Entsprechend haben Kommunikations- und Literaturwissenschaft, Deutschdidaktik, empirische Pädagogik, Psychologie und Soziologie mit ihren spezifischen Sichtweisen Beiträge geleistet und leisten sie nach wie vor. In Deutschland hat vor allem das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Schwerpunktprogramm zur „Lesesozialisation in der Mediengesellschaft“ für eine rege Forschungsaktivität gesorgt. Diese Ergebnisse sind in einem gleichlautenden Sammelband gebündelt (Groeben & Hurrelmann, 2004b) und für angehende Deutschlehrkräfte aufbereitet worden (Garbe, Holle & Jesch, 2008; Garbe, Philipp & Ohlsen, 2009). Daneben liegt auch ein aktueller Überblick zur literarischen Sozialisation vor (Graf, 2007). Eine weitere, spezifische Einführung für Lehramtsstudierende des Fachs Deutsch ist aus sieben Gründen wichtig:

Besonderer Fokus auf die Schule:

Auch wenn über die Rolle der Schule in der Lesesozialisation aus Studien wenig bekannt ist, wird ihr in diesem Band viel Raum gegeben. Neben empirischen Ergebnissen wird vor allem das spannungsreiche Verhältnis von problematischen und förderlichen Aspekten der Schule, des Unterrichts und der Lehrperson thematisiert.

Aufbau ausgehend von drei Bereichen des Lesens:

Die Variablen Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz werden systematisch betrachtet, zunächst jeweils für sich, dann in ihren wechselseitigen Zusammenhängen und zu guter Letzt in Abhängigkeit von der Lesesozialisation in Familie, Schule und Peer-Beziehungen.

Kapitelstrukturierung anhand von Leitfragen:

Dieses Buch muss nicht strikt von Anfang bis Ende gelesen werden, stattdessen kann man es auch themenweise angehen. Einzelne Themen werden mittels mehr als 30 Leitfragen in kompakten Unterkapiteln behandelt, die dann in zusammenfassenden Merksätzen am Ende des jeweiligen Abschnitts beantwortet werden.

Aktualität

: Vielfältige und zahlreiche aktuelle Befunde gewährleisten eine höhere Anbindung an den gegenwärtigen Kenntnisstand der Leseforschung.

Einbezug angelsächsischer Forschungsergebnisse:

Gemeinhin konzentrieren sich die auf dem Markt erhältlichen Überblicksdarstellungen stark auf den deutschen Sprachraum. Dies scheint zwar gerechtfertigt, da Lesesozialisation sich in Abhängigkeit gesellschaftlicher Zustände vollzieht, die einem historischen kulturellen Wandel unterliegen (Groeben, 2004a; Hurrelmann, 2004a), verengt jedoch den Blick auf den Gegenstand. Das will der vorliegende Band ändern, indem konsequent angelsächsische Forschungsbeiträge berücksichtigt werden, die in großer Zahl vorliegen, bislang aber kaum rezipiert wurden.

Verknüpfung von Theorien:

Die derzeit erhältlichen Forschungsüberblicke haben unterschiedliche theoretische Perspektiven auf den Gegenstand gewählt. In Grafs (2007) Einführung gibt es beispielsweise keine theoretische Erklärung für lesesozialisatorische Prozesse. Das ist anders bei Groeben und Hurrelmann (2004b). Dort legt man ein soziologisches Mehrebenen-Modell, die Ko-Konstruktion (Groeben, 2004a), zugrunde und beschreibt mit einem Fokus auf Lesemotivation und -verhalten, wie sich in Kindheit und Jugend die Lesesozialisation vermutlich vollzieht. Die große Schwachstelle dieses Modells ist, dass es sich lediglich um ein Rahmenmodell handelt. Es geht zwar von einem aktiv handelnden Individuum aus, das seine soziale Umwelt wahrnimmt, interpretiert und durch seine Handlungen durchaus verändern kann. Warum es welche Handlung vollzieht, bleibt jedoch ausgespart und bedarf, wie mehrfach betont wird (Groeben, 2004a; Groeben & Hurrelmann, 2004a; Groeben & Schroeder, 2004), einer weiteren Theorie. In diesem Buch wird deshalb das von Möller und Schiefele (2004) entwickelte Erwartungs-×-Wert-Modell hinzugezogen, um so die Individuen besser in den Blick zu nehmen.

Berücksichtigung der Ergebnisse der pädagogischen Psychologie:

Unter den Aspekt der Ausweitung der Perspektive fällt auch, dass die Befunde und Theoreme der pädagogischen Psychologie, die seit langer Zeit Lesemotivation und -kompetenz Heranwachsender untersucht, wenig in deutschdidaktischen Zusammenhängen auftauchen. Dies greift der Band auf, indem er – wo sinnvoll und möglich – längsschnittliche psychologische Befunde einbezieht. Aus Gründen der Lesbarkeit wird zwar auf technische Details verzichtet, allerdings sind an vielen Stellen Effektstärkenmaße angegeben. Damit können die Zusammenhänge bzw. Unterschiede besser eingeschätzt werden (s. Kasten).

Das Buch besteht aus insgesamt drei Teilen. Nach einer Begriffsbestimmung von Lesesozialisation (Kap. 2) im ersten einführenden Teil schließen sich die beiden großen thematischen Teile des Buches an: Teil II zum Lesen und Teil III zur sozialen Bedingtheit des Lesens. Im zweiten Teil geht es konkret um die drei zentralen Zielbereiche der Lesesozialisation, nämlich die Veränderungen von Lesemotivation (Kap. 3), -verhalten (Kap. 4) und -kompetenz (Kap. 5) sowie die empirischen Zusammenhänge zwischen diesen drei Bereichen (Kap. 6). Der dritte Teil fragt nach der Sozialisation von Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz im Schulalter und führt die Instanzen der Lesesozialisation in der Reihenfolge ihrer lebensgeschichtlichen Bedeutsamkeit ein. Zunächst stehen die Einflüsse der Familie in der Lesesozialisation im Zentrum des Erkenntnisinteresses (Kap. 7), dann die Wirkung der Schule (Kap. 8) und schließlich die Effekte der Freundinnen und Freunde und Freundesgruppen (Kap. 9). Wie diese wichtigsten Instanzen der Lesesozialisation theoretisch zusammenspielen, wird im letzten Kapitel (10) beschrieben.

Zur Interpretation von Zusammenhangs- und Differenzwerten Werden Korrelationen (Koeffizient: r) angegeben, kann ihr Wert zwischen -1.0 und +1.0 liegen. Im ersten Fall läge ein perfekter negativer Zusammenhang vor, im zweiten Fall ein positiver. Bei Effektstärken (Koeffizient: d) geht es um Unterschiede zwischen zwei Gruppen, hier kann der Wert zwischen 0 (kein Unterschied) bis deutlich über 1 liegen. Wie die Werte ohne Null vor dem Dezimalpunkt beurteilt werden, ist nicht einheitlich geregelt. Allerdings hat sich folgende Konvention eingebürgert: Ein Korrelationskoeffizient r zwischen .10 und .29 weist auf einen schwachen Zusammenhang hin, liegt er bei .30 bis .49, besteht ein mittlerer Zusammenhang, bei Werten größer als .50 ist von einem starken Zusammenhang auszugehen. Bei den Effektstärken d gelten Werte zwischen .20 bis .50 gilt als klein, liegt der Wert zwischen .51 und .80, spricht man von einem mittleren und ab .81 von großen Effekten (Rost, 2007).

Der Aufbau des Buches folgt einem gleich bleibenden Schema. Die Unterkapitel beginnen mit einer übersichtsartigen Darstellung der Kapitelinhalte. Die Inhalte orientieren sich an Leitfragen, welche am Ende der Unterkapitel in Kästen („Das Wichtigste kurz und knapp“) beantwortet werden. Am Ende der Hauptkapitel befinden sich außerdem Zusammenfassungen über die Themen der zusammengehörigen Unterkapitel. Da sich dieser Band vor allem auf Forschungsergebnisse und theoretische Hintergründe bezieht und weil der für diese Reihe geplante Band „Lesekompetenz“ eine Übersicht über erfolgreiche Interventionen gibt, enthält der vorliegende Band keine konkreten reihentypischen didaktischen Inhalte. Stattdessen geht es mehrheitlich um „urwüchsige“ Effekte, denen kein Gedanke einer bewussten Veränderung schulischen Alltags bzw. Unterrichts innewohnt.

Zu guter Letzt sei noch einer Handvoll Menschen gedankt, ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre. Cornelia Rosebrock und Andreas Gold danke ich für die konstruktiv-kritische Sichtung und die vielen hilfreichen Rückmeldungen zu einer ersten Fassung des Manuskripts. Afra Sturm hat eine überarbeitete Variante des Textes mit ihren kritischen Kommentaren bereichert.

2 Lesesozialisation

Warum werden manche Heranwachsende zu Lesern und andere nicht? Die unterschiedlichen Wege zum Lesen und Nicht-Lesen bilden den Hauptgegenstand der Lesesozialisationsforschung. In diesem Kapitel werden in einem ersten Teil anhand von zwei Fallbeispielen Einflussfaktoren der Lesesozialisation bestimmt und danach der Begriff Lesesozialisation definiert (Kap. 2.1). Im zweiten Abschnitt wird ein prototypisches Verlaufsschema der Lesesozialisation von der Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter vorgestellt und beide Fallbeispiele darin verortet. Dadurch lassen sich zugleich die Grenzen des Modells bestimmen (Kap. 2.2). Eine theoretische Perspektive auf den Gegenstandsbereich nimmt der letzte Teil ein, in dem zwei Modelle der Lesesozialisation beschrieben werden: das soziologische Rahmenmodell der Ko-Konstruktion und das psychologische eines Erwartungs-×-Wert-Modells (Kap. 2.3).

2.1 Was ist Lesesozialisation?

Wie unterschiedlich Lesesozialisation verlaufen kann, lässt sich erahnen, wenn man Selbstauskünfte von jungen Erwachsenen konsultiert. Dies geschieht in diesem Kapitel anhand von zwei Beispielen. Das erste ist eine Leseautobiografie einer Lehramtsstudentin des Faches Deutsch, die in einem Seminar ihre eigene Lesegeschichte aufgeschrieben hat. Das zweite Porträt stammt aus einem Forschungsprojekt, in dem Interviews mit ehemaligen Hauptschülerinnen und -schülern geführt wurden (Pieper, Rosebrock, Wirthwein & Volz, 2004).

Beispiel 1: Die Leseautobiografie einer 19-jährigen Studentin „Meine ersten Kontakte mit Büchern hatte ich als Kleinkind. Mein Vater beschaute mit mir jeden Abend über eine lange Zeit ein und dasselbe Bilderbuch. Ich war immer völlig begeistert, und es war egal, dass dieses Bilderbuch nur vier Seiten hatte. Etwas später war es dann eher meine Mutter, die mir als Gutenachtgeschichten Märchen vorlas.

Sobald ich selber lesen konnte, wurde ich zu einer richtigen ‚Leseratte‘. Ich malte mir in meiner Fantasie die Geschichten bunt aus und geriet nicht selten ins Träumen. Jedes Kinderbuch, welches mir in die Hände fiel, wurde sofort von mir verschlungen. Mit besonders großer Freude las ich Bücher von Astrid Lindgren, wie zum Beispiel ‚Madita‘, ‚Michel‘ und allen voran ‚Pippi Langstrumpf‘. Ich träumte mich in die Welten der Protagonisten und schmückte die Geschichten in meiner Phantasie aus. Ich glaube, ich habe die Bücher über Pippi Langstrumpf weit über zehn Mal gelesen, weil sie mich immer wieder fesselten und nicht losließen. Das Ganze ging so weit, dass ich Pippi als Vorbild nahm. Ich wollte so stark, so frech und so gerecht wie sie sein und himmelte sie förmlich an.

Nach dieser Zeitspanne, bestimmt von Astrid-Lindgren-Literatur, kam eine Phase in der ich überwiegend Enid-Blyton-Bücher durchlas. Neben Jugendkrimis à la ‚Fünf Freunde‘ schmökerte ich mit viel Vergnügen in Internatsgeschichten wie ‚Hanni & Nanni‘ oder ‚Dolly‘. Beim Lesen bildeten sich vor meinem inneren Auge immer richtige Bilder, fast wie in einem Film! Ich war eine so begeisterte Leserin, dass ich mit viel Freude meiner kleinen Schwester vorlas, die sich ebenso mitreißen ließ. Dann kam später die Zeit, in der ich begann, Romane für Erwachsene zu lesen. Liebes- und Kriminalromane standen weit oben auf meiner Hitliste, z. B. Ken Follett.

Dann kam die Pubertät, und mit ihr ging einher, dass ich mir nur noch äußerst selten Zeit zum Lesen nahm. Es reichten völlig die Lektüren, die von der Schule aus vorgeschrieben wurden. Doch langweilten diese mich oftmals und animierten mich nicht unbedingt zum Spaß am Lesen. In der Oberstufe bekam ich Gott sei Dank einen neuen Deutschlehrer, der wirklich mal fähig war … Die Texte, die wir lasen, waren größtenteils interessant, und die Zusatzinformationen und Interpretationen nahm ich nicht mehr als unbequeme Pflicht wahr, sondern empfand Freude dabei, mich mit den tieferen Inhalten eines Textes auseinanderzusetzen. So erging es mir nicht selten wie beim Lesen von ‚Der Verwandlung‘ von Franz Kafka. Nach dem ersten Lesen sprach man mit Freunden noch lachend über das Buch: ‚Der Kafka muss doch bewusstseinserweiternde Substanzen genommen haben, von denen wir heute gar nichts mehr ahnen. Wer kommt denn bitte auf die Idee, über einen Typen zu schreiben, der aufwacht und sich plötzlich in einen Käfer verwandelt fühlt …?‘ Doch je öfter ich ‚Die Verwandlung‘ las und mich mit dem Stoff auseinandersetzte, desto genialer fand ich Kafka. So erging es mir bei vielen Lektüren später in der Schule, doch meistens reichte es mir, diese Pflichtlektüren vorzunehmen. Privat las ich weiterhin eher weniger, eigentlich nur während der Busfahrten zur Schule oder mal in den Ferien.

Und so in etwa ist auch heute noch mein Leseverhalten. Meistens habe ich keine Lust, neben Texten, die für die Uni relevant sind, noch privat zu Hause zu lesen, und so lese ich meistens nur im Zug. Dann glauben oftmals Kriminalromane oder auch witzvolle Liebesgeschichten dran, und ich kann dann wunderbar abschalten.“ (Quelle: Leseautobiografie-Korpus Philipp)

Beispiel 2: Die Lesegeschichte eines 18-jährigen ehemaligen Hauptschülers Beim Interview ist Ali 18 Jahre alt. Aufgewachsen in Marokko, lebt er seit fünf Jahren in Deutschland. Nach dem Besuch der Hauptschule in Frankfurt am Main hat er seinen externen Realschulabschluss gemacht. Zurzeit absolviert er eine vom Arbeitsamt finanzierte Berufsausbildung zum Hotelfachmann. Alis Eltern sind Analphabeten ohne Schulabschluss. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater arbeitet als Maurer. Ali hat zwei Schwestern und einen Bruder und lebt noch zu Hause.

Ali bezeichnet sich selbst als Nicht-Leser, als Typ, der nicht gern lese. Gleichwohl nutzt er täglich die Bild-Zeitung: „Doch Zeitungen, Bildzeitungen les ich, aber halt zu Hause. Bücher mein ich, so halt Liebesdrama, das les ich nicht so. Weil, d- man liest und liest, man kapiert nix […]. Deswegen wozu soll ich lesen, aber Bildzeitung kauf ich halt jeden Tag.“ (Pieper et al. 2004, S. 80)

Ali berichtet nicht davon, dass ihm als Kind vorgelesen wurde oder Geschichten erzählt wurden, denn „in Marokko haben wir nur geschlafen, das war’s“ (ebd., S. 83). Einzig an die biografischen Erzählungen seiner Großmutter kann er sich erinnern. Dominant ist in der Kindheit die Fernsehnutzung gewesen. Das ist auch heute noch der Fall: „Ohne Fernseher kann ich halt nicht aushalten, weil man ok, es gibt ja halt Radio, aber man hört ja nur, aber beim Fernsehen hört man, sieht man. Deswegen ist viel interessanter. Und also ohne Fernseher kann ich halt auf gar keinen Fall auskommen“ (ebd., S. 80). Ali ist HipHop-Fan, daher ist Musik für ihn ebenfalls wichtig. Dasselbe gilt für das Handy. Als weiteres Medium nutzt er den Internetchat.

Alis Erinnerungen an den Deutschunterricht werden von einem speziellen Ereignis geprägt: der Lektüre von Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“. Das Erstellen einer Inhaltsangabe des Buches und einer Charakterisierung des Protagonisten als Teil einer Prüfung bereitete ihm Schwierigkeiten, die er jedoch gemeinsam mit einem Sozialpädagogen aus einem Jugendzentrum lösen konnte: „Ich hab eigentlich, ich les, hab aber gar nicht kapiert. Aber der Soyrad, der hat mir auch gelesen. Ich lese, ich hab also halt die Seite gelesen, sagt mir ok, was hast du jetzt kapiert. Ich hab halt gesagt, was ich kapiert habe. Hat er mir gesagt, ok, und was dann ist. Ich hab’s gesagt. Hat er gesagt, ok. Jetzt lesen wir noch mal die Seite zusammen. Ich hab mit ihm die Seiten noch mal zusammen gelesen. Und dann hat er’s mir erklärt“ (Rosebrock & Nix, 2008, S. 122). Nur mit der permanenten Unterstützung des Sozialpädagogen und dessen Zeit- und Arbeitsplan bewältigt Ali die Lektüre und ist stolz darauf.

Gefragt, woran er sich sonst noch aus seinem Deutschunterricht erinnern kann, entgegnet Ali: „Vorher? In Deutsch? Auf Hauptschule haben wir noch nie Buch gelesen. Das war der erste Buch, Realschulabschluss. Also halt, ich war vier Jahre auf der Schule, ich hab noch nie da ein Buch gelesen. Was wir in Deutsch gemacht haben? Weiß nicht. Deutsch halt.“ (Rosebrock & Nix, 2008, S. 123)

Vergleicht man die beiden Fälle von zwei Adoleszenten, die deutsche Schulen besucht haben und etwa zur gleichen Zeit geboren wurden, so scheinen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu bestehen. Beide Personen lesen – die eine Chattexte im Internet und die Bildzeitung, die andere Romane und Fachliteratur in der Ausbildung –, aber Ali bezeichnet sich als Nicht-Leser, während die Studentin diverse Zwecke der Lektüren aufzählt und wenig Zweifel aufkommen lässt, sie als Leserin zu erkennen. Die Studentin berichtet von vorlesenden Eltern, der ehemalige Hauptschüler hat hingegen keine Eltern, die ihm vorlesen könnten, da Mutter und Vater des Lesens unkundig sind. Die Phase einer lustvollen Kinderlektüre, von der die Studentin schwärmt, taucht in Alis Fall nicht auf, ebenso der Rückgang des Lesens zu Beginn der Jugend. Von Leseschwierigkeiten, die Ali anspricht, berichtet die Studentin nicht, bei ihr scheinen in der Sekundarstufe I eher motivationale Probleme vorzuliegen.

Ali erinnert sich nicht daran, in der Hauptschule je Bücher gelesen zu haben, während in der Leseautobiografie der Studentin Bücher implizit und explizit auftauchen. Trotzdem haben beide Fälle einen wichtigen Umstand gemeinsam: Ali und die Studentin thematisieren den Einfluss durch einen Pädagogen. Bei Ali ist es ein Mitarbeiter des Jugendzentrums, der ihm hilft, einen für eine Prüfung wichtigen literarischen Text zu verstehen, und ihn intensiv betreut. Bei der Studentin sorgt ein Deutschlehrer in der Oberstufe für eine Zuwendung zu schwierigen literarischen Texten und die freiwillige intensive Auseinandersetzung mit ihnen.

Das Wichtigste kurz und knapp Abstrahiert man die Faktoren, die in den beiden Falldarstellungen bedeutsam für die Lesegeschichte sind, lassen sich das Geschlecht, die soziale Herkunft (Geburtsland, Bildung der Eltern) und nicht zuletzt Bezugspersonen wie Eltern, Pädagogen und Freundinnen und Freunde aufzählen. Wie solche individuellen und sozialen Faktoren die Wege zum Lesen formen, ist der Gegenstand der Lesesozialisationsforschung. Sie fragt nach jenen Prozessen und Dynamiken, „die auf individuell-biografischer Ebene zur Entwicklung der Fähigkeit, Motivation und Praxis führen, geschriebene Sprache im Medienangebot zu rezipieren“ (Rosebrock, 2006, S. 443). An dieser Definition fällt auf, dass es sowohl um Aspekte des Könnens, des Wollens und der Nutzung geht, Texte jedweder Art (Sach- und fiktionale Texte) in verschiedenen medialen Repräsentationsformen (gedruckt und digital) zu lesen (Hurrelmann, 1999).

2.2 Wie verläuft idealtypisch eine gelingende Lesesozialisation aus Sicht der Lesebiografie-Forschung?

Die Lesebiografie-Forschung hat aus einer Vielzahl von Leseautobiografien typische Verläufe der Lesesozialisation zu rekonstruieren versucht. Dabei muss vorweg auf einige Einschränkungen dieses Forschungsparadigmas hingewiesen werden: Es handelt sich vorwiegend um Selbstauskünfte aus der Feder von Studierenden vornehmlich des Lehramts Fach Deutsch, hauptsächlich aus den 1980er und 1990er Jahren. Unübersehbar dominant sind darin die Bücher, während andere Lesemedien randständig bleiben. Wie die schriftlichen Selbstauskünfte erhoben und vor allem ausgewertet wurden – zwei Gütekriterien bei jeder Forschung –, das bleibt in den Arbeiten von Werner Graf (1995, 2004a, 2007), dem Hauptvertreter der Lesebiografieforschung, leider ausgespart. Das Verlaufsschema der Lesesozialisation in Abbildung 2.1 ist demnach hinsichtlich seines Geltungsbereichs gleich doppelt zu relativieren. Es bildet erstens ein prototypisches Verlaufsschema einer mehrheitlich gelingenden Lesesozialisation von Personen aus bildungsnahen Elternhäusern ab, und es gilt zweitens nur zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, nämlich am Ende des 20. Jahrhunderts.

Abb. 2.1: Prototypisches Verlaufsschema einer gelingenden Lesesozialisation von Mittelschichtangehörigen (eigene Darstellung auf der Basis von Graf, 1995, 2007)

In der Abbildung sind unten die Lebensphasen und biografischen Ereignisse abgetragen und oben die besonders wichtigen Quellen, von denen starke Impulse der Lesesozialisation ausgehen (die nachstehende Paraphrase folgt Graf, 1995 und 2007). In der Phase der primären literarischen Initiation, also einer Einführung in die Welt des Literarischen, sorgen vor allem Eltern mit Vorlesen, Sprachspielen, Kinderliedern und dem Erzählen von Geschichten als Formen prä- und paraliterarischer Kommunikation dafür, dass Sprache ein für Kinder erkennbares eigenes Referenzsystem aufweist, nämlich die Welt des Literarischen. Vermutlich liegt hierin ein entscheidender Antrieb für die Kinder, dass sie bei der sich anschließenden Phase, dem Schriftspracherwerb in der Grundschule, das notwendige Maß an Motivation haben, das die kognitiv anstrengende Literalisierung erfordert. Gelingt der Schriftspracherwerb, so schließt sich idealtypisch die Phase der lustvollen Kinderlektüre an, in der Familie und Bibliotheken den Lesestoff bereitstellen, den die Kinder selbstständig lesen. Das Beispiel der Studentin aus Kapitel 2.1 passt sich nahtlos in das Schema der Grafik ein. Dies zeigt sich durch die Wiederholungslektüren und die besonders starke Identifikation mit Pippi Langstrumpf, der Welt von Hanni und Nanni, den fünf Freunden und Dolly. Schon als Kind hat sie sich auch der Erwachsenenliteratur zugewendet.

Einen Bruch in der Lesesozialisation stellt die Lesekrise zu Beginn der Jugend dar. Das bisherige literarische und Buchleseverhalten unterliegt einem starken Wandel: Es verändern sich Häufigkeit, Stoffe, Medien und nicht zuletzt die Rezeptionsweisen. Das schulische Lesen und das Freizeitmedienverhalten im Kreise der Peers dürften häufig sehr gegensätzliche Erfahrungen mit sich bringen, zwischen denen die Jugendlichen ihr eigenes Lesen wiederfinden (müssen). Wie die Lesekrise bewältigt wird, ist in der Grafik durch drei Wege dargestellt. Im Fall des oft männlichen Nicht- und Weniglesens findet keine Rückkehr zum (literarischen) Lesen statt. Als typische Lesemodi, d. h. Mischungen aus Leseabsichten, Gratifikationen und nötigem Leseverstehen, realisieren diese Jugendlichen noch am ehesten das in Ausbildungskontexten fremdbestimmte Lesen (Pflichtlektüre) und das Lesen zu Zwecken der Information (instrumentelles Lesen). Im zweiten Fall, der Ausbildung einer Sach- und Fachtextlektüre, geht es den überwiegend männlichen Jugendlichen darum, sich interessenbasiert lesend Wissen und Expertise anzueignen (Konzeptlesen), durch harte ‚Textarbeit‘ zu tieferen Einsichten zu gelangen (Lesen zur diskursiven Erkenntnis) oder Gelesenes in den Alltag zu integrieren (partizipatorisches Lesen). Ein anderer Teil der meist weiblichen Jugendlichen geht einen anderen Weg, nämlich den der Reintegration in die Gemeinschaft der literarisch Lesenden in der sekundären literarischen Initiation. Mithilfe von Lehrkräften, Freundinnen und Freunden gelingt es ihnen wie im Beispiel der Studentin aus Kapitel 2.1, sich wieder auf literarische Texte einzulassen. Drei Lesemodi weisen eine Nähe zu dem erneuten literarischen Lesen auf: das partizipatorische Lesen zur Integration des Textes in den Alltag, z. B. um sich wie die Studentin mit Freunden darüber zu unterhalten, was auch als „Anschlusskommunikation“ bezeichnet wird (Hurrelmann, 2002b), das Lesen eines Textes, um diesen als sprachliches Kunstwerk zu genießen (ästhetisches Lesen), und zu guter Letzt das dem kindlichen Lesen ähnliche, auf Genuss, Abschalten und Unterhaltung zielende intime Lesen. Im besten Fall und damit gewissermaßen als Ziel einer gelingenden Lesesozialisation werden alle sieben Lesemodi erreicht.

Versucht man nun, das Schema auf Alis Fall aus Kapitel 2.1 anzuwenden, so wird schnell offensichtlich, dass es für den 18-jährigen Marokkaner nicht greift. Weder scheint er eine wirkliche primäre literarische Initiation erlebt zu haben, noch erfährt man ausreichend darüber, ob er lustvoll Kinderliteratur gelesen hat. Weitere Phasen aus dem Schema fehlen ebenfalls, und wenn man sich den realisierten Lesemodi von Ali zuwendet, so kann man primär die Pflichtlektüre der „Neuen Leiden“ und das instrumentelle Lesen des Textes für das Verfassen der Zusammenfassung entdecken. Da nicht klar ist, wozu Ali die Bild-Zeitung liest, fällt es schwer, hierfür zuverlässig einen Lesemodus zu benennen.

Das Wichtigste kurz und knapp Was lehren die beiden Fallbeschreibungen dieses Kapitels in Bezug auf die Genese von Lesemotivation, -verhalten und -kompetenz? Lesesozialisation ist kein für alle Heranwachsenden gleich ablaufender Prozess; sie hängt von Merkmalen wie Geschlecht, sozialer Herkunft, den Anregungen durch die Umwelt und dem Zusammenspiel dieser Faktoren ab. Selbst eine gelingende Lesesozialisation weist krisenhafte Züge auf: Eine nachlassende Leseaktivität zu Beginn der Jugend stellt den Regelfall dar. In jeder Phase der Lesesozialisation sind Anregungen von außen, d. h. von Instanzen der Lesesozialisation, nötig, die allerdings je nach Phase unterschiedlichen Charakter haben. Sie reichen von Hinführungen zum Lesen (primäre und sekundäre literarische Initiation, aber auch die Genese des Sachtextlesens) über das Versorgen mit Lesestoff (lustvolle Kinderlektüre) bis hin zum Vermitteln der kognitiven Fähigkeiten (Schriftspracherwerb).

Je nach sozial bedingter bisheriger Lesesozialisation haben Lehrkräfte es mit zum Teil sehr heterogenen Gruppen von Leserinnen und Lesern in ihren Schulklassen zu tun: Mittelschichtangehörige weisen andere Charakteristika auf als Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten oder in prekären Lagen. Entsprechend kann der Deutschunterricht an verschiedenen Schulformen an bestimmte Voraussetzungen in Leseverstehen, -motivation und -verhalten anknüpfen, die manche Heranwachsende mitbringen und andere nicht.

2.3 Wie lässt sich Lesesozialisation theoretisch fassen?

die

gegenwärtige Lese- sowie Medien-Struktur und -nutzung,

also das gesellschaftlich vorhandene Medienangebot und dessen individuelle Nutzung (synchron-systematische Ebene);

die

individuellen Veränderungen im Lesen

(diachron-individuelle Ebene);

die übergeordnete

gesellschaftliche Struktur samt ihren Veränderungen

(diachron-historische Ebene) (Groeben, Hurrelmann, Eggert & Garbe, 1999).

Das Verlaufsschema aus Abbildung 2.1 würde die diachron-individuelle Ebene bedienen, allerdings ohne theoretisch befriedigende Grundlage. Dieses Manko lässt sich nicht beseitigen, sodass andere theoretisch überzeugendere Modelle konsultiert werden müssen.

Eine grundsätzliche Schwierigkeit beim Thema (Lese-)Sozialisation ergibt sich daraus, dass sie sich immer im Wechselspiel von Individuen und Gesellschaft bzw. ihren Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Peers vollzieht (Hurrelmann, 2002c; Geulen, 2005). Das erschwert es allgemein, eine einheitliche Theorie der Lesesozialisation zu finden, und führt hier dazu, dass zwei komplementäre Theorien vorgestellt werden. Die erste stammt aus der Soziologie und beschreibt das Verhältnis zwischen den Ebenen der Lesesozialisation. Wie sie zusammenhängen, wird im Mehrebenenmodell der Ko-Konstruktion erläutert. Es ist besonders gut geeignet, diachron-historische Veränderungen zu erklären (Hurrelmann, Becker & Nickel-Bacon, 2006), allerdings lässt sie auf das synchron-systematische Handeln keine Schlüsse zu. Der aus der Psychologie stammende zweite Ansatz, aufgrund von Erwartungen über das Eintreten eines Ergebnisses und dem Wert, dem man ihm beimisst (Erwartungs-×-Wert-Modell), Handlungen zu erklären, ergänzt entsprechend das soziologische Rahmenmodell.

Der soziologische Fokus auf die Ebenen der Lesesozialisation: das Mehrebenenmodell der Ko-Konstruktion

Ein neueres Verständnis von Lesesozialisation nimmt als Grundlage Essers „Grundmodell der soziologischen Erklärung“. Esser (1993) hatte es ursprünglich entwickelt, um gesellschaftliche Veränderungen zu erklären. Er geht dabei einen „Umweg“ und betritt eine untergeordnete Ebene, auf der Akteure wahlweise in Form sozialer Gebilde oder Einzelpersonen eine Situation wahrnehmen, kollektiv oder individuell handeln und so die bestehende Situation bestätigen oder verändern.

Abb. 2.2: Die drei Ebenen und drei Logiken der Lesesozialisation im Modell der Ko-Konstruktion (eigene Darstellung nach Groeben, 2004a, und Hurrelmann et al., 2006)

Das Modell geht davon aus, dass die Ebenen über drei sogenannte Logiken miteinander verknüpft sind. In Abbildung 2.2 wären das zum einen die Makroebene, d. h. die Gesellschaft, und die Mesoebene, worunter die Familie, die Schule und die Peers fallen, und zum anderen die Mesoebene und die Individuen auf der Mikroebene. Bei den drei Logiken handelt es sich um die 1) Logik der Situation, die 2) Logik der Selektion und die 3) Logik der Aggregation. Wie funktioniert nun das Zusammenspiel?

Auf der übergeordneten Ebene befindet sich eine soziale Situation, die in der Logik der Situation von den Akteuren der untergeordneten Ebene wahrgenommen wird. Das könnten zum Beispiel viel lesende Familienangehörige auf der Mesoebene sein, die ein Kind im Alltag immer wieder beobachtet. In der Logik der Selektion wählen Individuen aufgrund der Charakteristika der Situation, aber auch aufgrund eigener Erfahrungen aus den individuellen Handlungsalternativen diejenige, die sie ausführen. Das Spektrum der Handlung reicht von der Reduplikation über modifizierende, kombinierende oder selektive hin zu gegenläufigen Aktivitäten. Ein Kind in einer lesenden Familie kann also selbst viel lesen (Reduplikation). Es kann andere Texte als die Eltern goutieren (Modifikation), aus den vorgelebten Verhaltensweisen einzelne auswählen (Selektion), sich aus Leseangeboten einen individuellen Mix zusammenstellen (Kombination) oder aber das Lesen ablehnen und entsprechend verweigern (Negation). Je nach Art der Handlung wirken die Akteure auf die übergeordnete Ebene in der Logik der Aggregation zurück (Groeben, 2004a). Das Kind kann also mit seinem Leseverhalten das familiale Leseklima fortsetzen, aber auch verändern (zum Beispiel, indem es neue Lesestoffe in die Familie hineinträgt oder aber sein abweichendes Leseverhalten die Eltern dazu veranlasst, das Lesen stärker zu thematisieren, subtil zu fördern, Buchgeschenke zu machen etc. für eine ausführliche Beschreibung der Ko-Konstruktion in der Familie siehe Garbe, Philipp & Ohlsen, 2009, S. 60–67, 96–103).

Für die Lesesozialisation haben Groeben und Schroeder (2004) das komplexe Zusammenspiel der drei Ebenen beschrieben. Es ist bereits auf der Makroebene eine Vielfalt von drei historischen gesellschaftlichen Bildungsnormen zu attestieren. Lesen kann der Unterhaltung, dem Genusserleben und der Erlebnisorientierung dienen (Bildungsnorm der Mediengesellschaft), der Entwicklung und Verfeinerung der Persönlichkeit im Sinne einer existentiellen Persönlichkeitsbildung (Bildungsnorm der Romantik) oder aber der rationalen Selbstbestimmung durch kritisches, auf Wissenserwerb abzielendes Lesen (Bildungsnorm der Aufklärung) (Hurrelmann, 2004a). Auf der Mesoebene ko-konstruieren Familien, Lehrkräfte und Peers dann, welche lesebezogenen Aufgaben sie haben (s. Kap. 10.1). Diese Aufgaben oszillieren zwischen einer stark gesellschaftsfernen und -nahen Variante. Die Beispiele der Studentin und der Fall Ali aus Kapitel 2.1 zeigen anhand des Vorlesens der Eltern, dass je nach sozialer Herkunft der Bildungsauftrag des Vorlesens anders erkannt und umgesetzt wird.

Über die Verknüpfung von der Mesoinstanz mit der Mikroebene kommen die gesellschaftlichen Bildungsnormen bei Heranwachsenden an, die zuvor von Familien-, Schul- und Peer-Kulturen unterschiedlich interpretiert worden sind. Auf der Mikroebene besteht nun prinzipiell wieder eine Vielfalt von individuellen Handlungsalternativen. Sie reicht von der Weitervererbung des kulturellen Kapitals (Bourdieu, 1983) in Form der Übernahme der sozialen Lesekulturen ins eigene Leseverhalten bis hin zu unerwarteten, erwartungswidrigen Verhaltensweisen wie den unerwarteten (Wenig-)Lesern (Hurrelmann, Hammer & Nieß, 1995, s. Kap. 7.3) oder der literalen Resilienz, d. h. einer unerwartet hohen Lesekompetenz bei ungünstigen soziodemografischen Merkmalen (Schneider, 2009). Über die Logik der Aggregation können gerade die letztgenannten Fälle dazu führen, dass sich die Mesoinstanz verändert und bei Überschreiten einer kritischen Masse auch die Akteure der Mesoebene auf die Makroebene zurückwirken. So lassen sich beispielsweise Phänomene wie der gesamtgesellschaftliche Boom der Harry-Potter-Romane erklären, die aus sozialen und individuellen Handlungen resultieren, welche selbst sozial überformt sind. Die Stärke des Modells besteht also darin, das Geschehen als dynamisch zu beschreiben und verschiedene Ebenen zu verknüpfen. Was das Modell aber nicht befriedigend erklären kann, ist das individuelle Handeln. Dafür ist ein Erwartungs-×-Wert-Modell besser geeignet, das nun vorgestellt wird.

Die psychologische Perspektive auf das Individuum: ein Erwartungs-×-Wert-Modell zum Lesen

Ein komplexes Erwartungs-×-Wert-Modell für die motivationalen Grundlagen der Lesekompetenz haben Möller und Schiefele (2004) im Kontext der PISA-Studie vorgelegt (s. Abb. 2.3). Solche Modelle dienten ursprünglich der Vorhersage von Motivation und Verhalten in Leistungssituationen, d. h. in diesem Fall der Vorhersage der Lesekompetenz. Moderne Erwartungs-×-Wert-Theorien fokussieren jedoch nicht nur die Leistungen in schulischen Kontexten, sondern auch auf die Persistenz bei und die Wahl von Aktivitäten allgemein (Wigfield, Tonks & Klauda, 2009). Damit erscheinen sie für außerschulische und schulische Kontexte geeignet, nicht zuletzt deshalb, weil Freizeitaktivitäten von Kindern und Jugendlichen, darunter die Lesehäufigkeit, damit erklärt werden konnten (Eccles & Harold, 1991; Münz, 2008; Retelsdorf & Möller, 2008a).

Abb. 2.3: Ein rekursives Erwartungs-×-Wert-Modell zum Lesen (Quelle: Möller & Schiefele, 2004, S. 105)

Den Ausgangspunkt im Modell bildet die soziale Umwelt, also das kulturelle Milieu im weitesten Sinne. In der sozialen Umwelt können Heranwachsende zugleich das Leseverhalten wichtiger Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, Peers) beobachten und über Modelllernen zum Lesen verführt werden. Sie machen überdies eigene Erfahrungen mit dem Lesen – auch in Form der schulischen Leistungsrückmeldungen. Die Heranwachsenden stellen also fest, ob ihnen das Lesen leicht fällt, positiv oder negativ sanktioniert wird etc., sodass ihr lesebezogenes Selbstkonzept und ihre Selbstwirksamkeit sich daraus speisen. Im Mehrebenenmodell der Ko-Konstruktion würde sich die soziale Umwelt in der „Logik der Situation“ beschreiben lassen.

Unter die subjektive Verarbeitung im Erwartungs-×-Wert-Modell fallen zum einen die Wahrnehmung der sozialen Umwelt und zum anderen die Interpretation und Attribution von Leseerfahrungen