Letzter Ausflug Trainerbank - Oliver Strobel - E-Book

Letzter Ausflug Trainerbank E-Book

Oliver Strobel

4,8

Beschreibung

Der in der Midlifecrisis stehende Schorsch übernimmt als Abteilungsleiter den FCG, der zuvor dreimal in Folge den Aufstieg verpasst hat. Auch Schorsch möchte es schaffen: den Aufstieg. Zu Beginn seines Antritts weiß er noch nicht, dass er sich auf ein waghalsiges Unterfangen eingelassen hat, das gespickt ist von Intrigen und Hass bis hin zum Ehe-Krach im eigenen Haus. Zu allem Überfluss stellt er noch einen Rentner-Trainer ein, was seine Situation auch nicht gerade verbessert. Dieser wiederum tüftelt einen Plan aus, um dem Ziel des Abteilungsleiters nachzukommen. Mit einer Truppe, die von den Tugenden früher schon einmal gar nichts mitbekommen hat. Was Rentner-Trainer Raubein Alfred ändern wird ...

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Vorwort

An einem Abend im August 2015 hat alles begonnen. Mein Opa und ich saßen auf dem Balkon und schwelgten in Erinnerungen. Wir wohnen beide in unterschiedlichen Dörfern, die früher, als sie noch in der gleichen Klasse (unterste Liga überhaupt) kickten, ganz klar Kontrahenten waren. Richtige Derbys eben, nachdem die Dörfer ja nur 3 Kilometer voneinander trennen. Bei uns gibt es ein Thema, welches immer bei den Gesprächen dabei ist: Fußball. Dann wird stets über dies und jenes Vorkommnis vom Wochenende oder der Vorwoche geredet, sei es international, national oder regional. Meist wurde dann über die schrillsten Vorfälle „gefachsimpelt“, wenn man das überhaupt so nennen kann. Wie eben an diesem Abend im August. „Früher hätte es das nicht gegeben!“, setzte Opa bei seinen Ausführungen oft hinten dran. Was dann oft zu der Frage von mir führte: „Was hätte es früher nicht gegeben?“ Und dann kamen sie, die Geschichten, die ins Buch eingebaut wurden. Seien es jetzt der Spieler, der als Zuschauer eine Meisterschaft entschied, die Bierpreise früher, die Partys nach Siegen am Sonntag, der Trainer, der vor einem Pokalspiel in den Urlaub ging und nach dem Sieg der Mannschaft entlassen wurde, oder die Trikots von früher mit ihren nicht vorhandenen Trikotnummern. All diese Sachen wurden in diesem Buch in unterschiedlichsten Geschichten untergebracht. Durch diese Geschichten entstanden dann die verrücktesten Charaktere bzw. deren Eigenschaften, die dann noch etwas „aufgepimpt“ und erweitert wurden. Auf Basis dieser Geschehnisse von früher wurde der Fußball mit seinen typischen Charakteren von heute gegengespiegelt und eine Saison entwickelt, in welcher die Charaktere „vom alten Schlag“ auf die Charaktere von heute treffen. Orte, Handlungen, Personen sind natürlich frei erfunden, beruhen aber auf unterschiedlichsten Erzählungen. Obwohl ich viele dieser Erinnerungen zusammengefasst habe, hatte ich eigentlich zu keinem Zeitpunkt das Ziel, ein Buch zu schreiben. An einem Abend nach dem Fußballtraining saß ich zu Hause und las mir die ganzen Geschichten noch einmal durch. Irgendwie entwickelte sich dann eine Geschichte dazu. Nach und nach kamen dann immer wieder neue Gedanken und das Buch begann. Nicht selten dachte ich beim Schreiben des Buchs: „Das kann ich nicht bringen!“, hab es dann aber doch eingebaut.

Apropos, das kann man nicht bringen. Auch so ein Kuriosum, wie der Buchtitel entstand. Als ich letzten Sommer mit meiner Freundin auf der Rückfahrt aus dem Urlaub war und wir an einem Rasthof kurz Pause machten, wusste ich noch nicht, dass ich in wenigen Minuten meinen Buchtitel haben würde. Auf dem Weg zu den Toiletten, die in diesem Rasthof eine Etage tiefer waren und durch eine schmale Wendeltreppe zu erreichen waren, ist mir schon von großer Entfernung ein Reisebus aufgefallen. Ausgestiegen ist eine große Seniorentruppe, die das gleiche Ziel wie ich hatte: die Toiletten. So weit, so gut. Ich beschleunigte meinen Schritt, um vor dieser Gruppe die Treppen zu erreichen. Glück gehabt, dachte ich noch, bevor ich hinunterging. Die Ernüchterung folgte aber schnell. Es muss wohl zuvor noch ein Bus angekommen sein. Also wartete ich.

Warum auch immer, aber ungewöhnlicherweise ging es in der Damenschlange schneller vorwärts als bei den Herren. Gut, ich kam aus dem Urlaub und war diesbezüglich entspannt. 5 Minuten hin oder her, auf die kam es bei einer längeren Autofahrt auch nicht mehr an. Als ich dann den Weg nach oben antrat, ging es aber wieder nur zäh vorwärts. Ein paar Senioren „blockierten“ den Aufgang, weil sie ein Gespräch genau dort zu Ende führen mussten. Die Treppe war blockiert. Vor mir wartete ein etwa 20-Jähriger auch schon sehnsüchtig, dass es weitergehen würde, der war allerdings weniger entspannt. Doch es ging nicht weiter. Trotz höflicher Bitte seinerseits ging es nicht vorwärts und die älteren Damen redeten munter weiter. Völlig genervt und ungeduldig bat er die beiden älteren Damen, jetzt endlich Platz zu machen. Doch die Damen waren wohl genauso tiefenentspannt wie ich und rührten sich keinen Zentimeter. Und dann kam es. Der 20-Jährige schaute sie daraufhin deutlich angefressen an und fauchte etwas sarkastisch: „Ja, da kann man sich schon mal Zeit lassen, wenn es zum letzten Ausflug überhaupt geht!“ Ab jetzt war „Rambazamba“! Die beiden älteren Damen schauten sich völlig entsetzt an, schauten dann ihn entgeistert an und kurz darauf mich. Ich schaute auch etwas konsterniert und konnte nicht so recht glauben, was ich da gehört hatte. Die Damen waren völlig schockiert und machten umgehend Platz für uns. Der etwa 20-Jährige bedankte sich noch freundlich und ging vorbei. „Letzter Ausflug!“, dachte ich mittlerweile etwas schmunzelnd, als ich an den beiden Damen vorbeiging. „Ja, genau, so geht’s Raubein Alfred als Trainer des FCG auch. Letzter Ausflug Trainerbank!“

In diesem Sinne, viel Spaß mit dem Buch!

Inhaltsverzeichnis

AUFTAKT

STARTSCHUSS

VORBEREITUNG

GAUDI BEIM SAISONAUFTAKT

SAISONAUFTAKT

EINE ABWECHSLUNGSREICHE SAISON

DER ETWAS ANDERE START

PRESSE-SCHRECK

PARTY-TIME

DERBY-TIME

DER „NEUE“

WINTERPAUSE

ENDSPURT

AUFTAKT

Es läuft die Nachspielzeit im gut gefüllten Waldpark Nord. 1000 Zuschauer verfolgen das Aufstiegsspiel zwischen dem FCG und den Sportfreunden aus Neulebenhausa 1872. Marco, der Rechtsverteidiger des FCG, bekommt eine Flanke von halblinks mustergültig auf den rechten Schlappen. Statt den Ball direkt aus 8 Metern zu verwandeln, was sicher möglich gewesen wäre, legt er ihn auf den heranstürmenden Michael zurück. Michael, der Mittelfeldmotor des FCG, will aus 11 Metern direkt abziehen. Die Betonung liegt auf „will“. Mit vollem Eifer rast er auf den ankommenden Ball zu und ist in der Ausholbewegung zu einem strammen Vollspannschuss. Doch dann geschieht es: Bevor er den Ball trifft, springt dieser auf dem mehr als holprigen Rasen in ein Loch hinein, verspringt und rutscht danach wie in Zeitluppe über Michaels rechten Schlappen. Im Fachjargon: ein Eins-a-Luftloch. Der mit voller Geschwindigkeit ankommende Michael verfehlt den Ball knapp um wenige Zentimeter. Durch seine hohe Geschwindigkeit gerät er dabei aus dem Gleichgewicht und liegt kurz vor seinem Aufschlag beinahe waagrecht in der Luft.

Anschließend schlägt er „stuntman-like“ mit dem Rücken auf. Ein Raunen geht durch den Sportplatz. Der etwas irritierte Innenverteidiger des TSV Neulebenhausa, der es kaum glauben konnte, dass der Ball nicht im Tor landet, katapultiert den Ball daraufhin aus dem Strafraum heraus. Das gelbe Logo des Neulebenhausaner Sponsors auf diesem blauen Trikot sticht bei diesem Schuss so richtig ins Auge. Ein außergewöhnliches Logo des örtlichen Metzgers ist dort mit der Aufschrift „Hartwurst mit Plombe“ aufgestickt. Gerüchten zufolge besitzt er die härteste Wurst im Umkreis, die man sich nur vorstellen kann. Dass zufällig der zweite Sponsor des Vereins der örtliche Zahnarzt ist, setzt dem Ganzen noch die „Krone“ auf. Zufälle gibt’s aber auch!

Kurz darauf pfeift der Schiedsrichter die Partie ab.

Ungefähr 5 Monate vor dem Spiel auf dem Trainingsplatz des FCG.

„Hey, Carlo, hol mal noch die Leibchen.“

„Geht’s noch? Bin ich dein Laufjunge oder was?“

„Jetzt lauf doch!“

Carlo drehte sich wütend um und lief zum Trainingsplatz zurück, nahm die Leibchen unter seinen Arm und knipste die Flutlichtanlage aus. Training beendet.

In der Mannschaft rumorte es gewaltig. Seit Beginn der Rückrunde spaltete sich das Team des FCG in zwei Lager. Auf der einen Seite die einheimischen Spieler, die mit knapp 20 Spielern den größten Block bildeten, und auf der anderen Seite die restlichen 10 auswärtigen Spieler, die zwar in der Unterzahl waren, dafür aber den Großteil der ersten Mannschaft bildeten.

Begonnen hatte alles damit, dass die Einheimischen um Benno sich vor und nach dem Spiel um alles kümmern mussten. Spielerpässe hier, Taktiktafel da, Leibchen dort – alles wurde von ihnen erledigt. Es gab tatsächlich keinen Einzigen der auswärtigen Spieler, der sich auch nur annähernd darum scherte. Selbst auf Bitten der Abteilungsleitung bot sich keiner dafür an, so dass immer die gleichen einheimischen Spieler die Organisation im Vorfeld übernahmen. Benno, Carlo und Julian. Das ging so lange gut, bis es 10 Spieltage vor Saisonende zu einem Spiel kam, in welchem in der ersten Mannschaft nur einer von 11 Einheimischen eingesetzt wurde. Benno, Carlo und Julian waren nicht darunter. Bisher war es immer so, dass sie zumindest gespielt hatten und die Organisation vor den Spielen einfach nebenher übernahmen. Nach diesem Spiel änderte sich dies. „Warum sollen wir für diese Spieler die komplette Organisation übernehmen, wenn wir nicht einmal spielen und die, die spielen, sich null Komma null Prozent dafür interessieren?“, wetterte Benno gegenüber der Abteilungsleitung. Nach diesem Gespräch wurden sie zwar etwas besänftigt, aber beim kommenden Spiel blieb es gleich. Seither verschlechterte sich nicht nur die Stimmung im Team, nein, auch die Ergebnisse wurden merklich schlechter. Am Ende der Saison wurde der FCG Zweiter und musste zum Aufstiegsspiel antreten.

Gut, vielleicht war es 10 Spieltage vor Schluss einfach eine disziplinarische Aktion des Trainers, dass keiner der drei spielte.

„Brauchen wir uns ja nichts vormachen, das eskaliert heute Abend komplett“, meinten Benno und Julian, als der Trainer zu ihnen am Abend vor dem Spiel noch sagte, sie sollen es beim Weggehen nicht übertreiben. So kam es dann aber. Die Spieluntauglichkeit war ihnen aus 10 Metern Entfernung anzusehen und spätestens aus 5 Metern Abstand auch merklich riechbar. Seither wurden sie kaum noch berücksichtigt.

Nun stand auf jeden Fall das alles entscheidende Aufstiegsspiel gegen Neulebenhausa vor der Türe. Alle Spieler und Fans des FCG, welche aus dem beschaulichen Dorf namens Glaubschdued kommen, fieberten diesem Spiel entgegen. Vor diesem anstehenden Spiel wurde bekannt, dass nach der Sommerpause der aktuelle Abteilungsleiter aufhören würde und mit Beginn der neuen Saison „Schorsch“ neuer Abteilungsleiter der Fußballabteilung werde. „Schorsch“ Emmrich, ein knapp 45-jähriger Fußballbegeisterter und ehemaliger Kapitän der zweiten Mannschaft des FCG, sollte es ab der kommenden Saison richten. Wie dies zustande kam, fragen sich heute immer noch alle Beteiligten. Denn wer Schorsch die letzten Jahre erlebte, konnte diese Personalentscheidung nicht glauben. Schorsch ist seit über 10 Jahren verheiratet. Seit er seine Frau kennengelernt hatte, sah man ihn nicht mehr oft auf dem Sportplatz. Besser gesagt: nie. In den mittlerweile 10 gemeinsamen Jahren Ehe tranken Schorsch und seine Frau nur noch selten mal ein Bier oder an Geburtstagen auch mal ein Glas Sekt. Mehr wollte(n) sie nicht trinken. Auch ohne Alkohol lässt es sich gut leben, verteidigte sich seine Frau stets. Sagte zumindest sie. Bevor die beiden ein Paar wurden, sah das bei Schorsch ganz anders aus. Schorsch hatte immer ordentlich hingelangt und war der „Leader der Alkoholexzesse“. Ständig hat sich sein Umfeld gefragt, wie seine Leber das verschaffen konnte. Völlig unbegreiflich war somit dieser gravierende Lebenswandel zum Pantoffelhelden.

Wie kann man sich von seiner Ehefrau so einlullen lassen, fragten sich seine Freunde immer wieder. Denn SIE war es, die in der Ehe den Ton angab. Seit über 20 Jahren treffen sich Schorsch und seine Freunde zum gemeinsamen Stammtisch am Mittwochabend. Als Schorsch noch Single war, ließ er dabei kein Treffen aus. Mit Beginn der Ehe änderte sich dies schlagartig. Er kam nur noch hin und wieder zu den Treffen. In letzter Zeit kam er so gut wie überhaupt nicht mehr. Man kann sich vorstellen, dass seine Frau auch deswegen nicht den besten Ruf bei seinen Freunden genießt bzw. genoss. Die Hauptaussage der Kumpels: „Was hat der denn für eine Hexe zu Hause? Lieber eine Johannisbeerschorle als ein kühles Blondes, lieber Blattsalat mit Ingwer als ein saftiges Schnitzel, lieber ein Mittwochabend auf dem Sofa als ein vernünftiger Abend mit seinen Freunden. Das kann doch nicht wahr sein. Ist er eigentlich Masochist oder was?“ So die gängige Zusammenfassung seiner Freunde.

Nachdem Schorsch also einige Male hintereinander nicht mehr zum Stammtisch kam und seine Freunde sich fürchterlich über seine Frau und ihn aufregten, hatte einer seiner Kumpels eine großartige Idee. Er druckte mit seinem Farbkopierer ein DIN-A4-großes Bild mit dem Kopf von Schorsch darauf aus und brachte es zum Stammtisch mit. Seine Kumpels wussten im ersten Moment nicht so recht, was er denn damit wollte. Als er sich aber einen zusätzlichen Stuhl an den Tisch zog und das Bild auf diesen klebte, wussten sie, was los war. Denn somit konnte Schorsch von nun an per Bild am Stammtisch teilnehmen. Immer mal wieder bezogen sie das Bild von Schorsch in die Gespräche mit ein. „Gell, Schorsch, du siehst das auch so!“, und stießen dann mit ihm pro forma an. Seine Freunde machten sich daraus regelmäßig einen Spaß. Bis eines Tages einer seiner Kumpels auf die Idee kam, ein Bild mit seiner Handykamera aufzunehmen. Dabei war natürlich Schorschs Bild am Stuhl das Objekt der Begierde. Eigentlich wollte er es nur festhalten, postete es aber aus Versehen und aufgrund einiger getrunkener Biere in ihre gemeinsame Gruppe hinein. Da Schorsch in dieser auch einbezogen war und bisher keiner den Mumm hatte, ihn aus dieser Gruppe zu verweisen, war der Eklat perfekt. Für seine Freunde eine genauso peinliche Situation wie für Schorsch selbst. Warum er denn wie vom Erdboden verschluckt sei, wurde er so oft gefragt, dass er schon gar nicht mehr mitzählen konnte. „Auszeit für wahre Champions“, dachte er sich dann, traute es sich aber nicht auszusprechen. Stattdessen kam der Alibigrund mit dem Kind, dass er viel Zeit mit ihm verbringen wolle. Blablabla …, die übliche Leier.

Übrigens: Dieser Kumpel von Schorsch, der früher auch gekickt hat, wurde vor nicht allzu langer Zeit gefragt, ob er sich wieder vorstellen könne, in der AH zu kicken. Seine Antwort: „Nein, nein! Sport wird nur angeschaut!!!“ Der Fleißigste war er sowieso noch nie. Schorschs Kumpel war eine schillernde Persönlichkeit. Plötzlich und aus dem Nichts hatte er seinen Job gekündigt, seine langjährige Beziehung aufgegeben und genau genommen war er anschließend sogar obdachlos, weil er aus der gemeinsamen Wohnung rausflog. Er wohnte danach übergangsweise bei Freunden, was sich schlussendlich über 2 Jahre erstreckte. Irgendwann beschloss er dann zurück zu Mutti zu ziehen. „Hotel Mama“, wie er es treffend formulierte, nahm ihren Sohn freudestrahlend und kostenlos wieder auf. Auch wegen der finanziellen Hilflosigkeit wohnte der 44-Jährige weiterhin bei seinen Eltern.

Schorschs Sohn spielt übrigens in der E-Jugend des FCG, eines der hoffnungsvollsten Talente aus dem Jugendbereich. „Wie sein Vater eben!“, so Schorsch, wenn er auf die Fähigkeiten seines Sohnes angesprochen wurde.

Vermutlich war das Bild auf dem Stuhl ein persönliches Warnsignal für Schorsch. Schorsch wusste genau: Eigentlich hatten seine Freunde recht. Was war nur passiert? Früher Casanova und der Letzte, der die Party verließ, und heute kam er nicht einmal mehr auf ein Bier zum Stammtisch. Was 10 Jahre Ehe so ausmachten, dachte er sich und wollte selbst seit Längerem eine Veränderung herbeiführen. Immer wieder grübelte er, ob er in diesen 10 Jahren nicht etwas verpasst hatte. Aber es gab da jemanden, der das etwas anders sah: seine Frau.

Wie auch immer er es geschafft hatte, aber seit diesem Vorfall kam er wieder regelmäßig zum Stammtisch und trank ab und an auch ein alkoholreiches statt ein alkoholfreies Weizen. Letzteres boykottierten im Übrigen seine Kumpels und weigerten sich bei weiteren Bestellungen dieser Art, mit ihm fortan an einem Tisch zu sitzen. Spätestens ab da stand sein Entschluss fest. Er würde seinen Freunden beweisen, dass er immer noch der alte Schorsch ist. Der Schorsch, der nachts um drei auf den Biertisch hinaufklettert und die Menge mit seinen eigens kreierten Sprechchören anheizt. Der Schorsch, der statt eines alkoholfreien Radlers lieber 10 Halbe trinkt und dann erst auf Touren kommt. Der Schorsch, der als Erster kommt und als Letzter geht. So wollte er sich zeigen. Seine Freunde unterschätzten ihn, so viel war klar.

Jetzt musste nur noch der passende Anlass kommen. Und wie es der Zufall so wollte, ein Fest des örtlichen Schützenvereins stand an. Also fragte er seine Kumpels, ob sie zusammen hingehen sollen. Etwas irritiert schauten die sich an und sagten dann natürlich „ja“. Schließlich wären sie sowieso hingegangen. Aber dass Schorsch von selbst drauf kam, verwunderte doch viele seiner Kumpels.

Die restlichen Tage bis zum Fest vergingen wie im Flug. An diesem Fest würde er es allen zeigen, so Schorsch immer wieder in seinen Gedanken. Gesagt, getan, das Fest verlief äußerst „flüssig“. Eigentlich sollte es ein lustiger Abend mit Freunden werden. Eigentlich! Als Schorsch schon ordentlich einen „im Tee“ hatte, sollte eine einzige Begegnung sein komplettes Leben auf den Kopf stellen. Auf der Toilette traf er auf den aktuellen Abteilungsleiter des FCG. Er kannte ihn ja und sie fachsimpelten wieder einmal über Fußball. Zu diesem Zeitpunkt wusste noch keiner, dass der aktuelle Abteilungsleiter nach der Saison aufhören wird. Dieser fragte Schorsch ganz unverblümt, ob er sich vorstellen könne, neuer Abteilungsleiter zu werden. Er halte ihn immerhin für offen, kommunikativ und schließlich hätte er Ahnung vom Fußball. Tatsächlich aber wählte er Schorsch aus, da der schon seit Jahren nicht mehr die Spiele des FCG besuchte und völlig „unvoreingenommen“ an die Aufgabe rangehen konnte. Da Schorsch schon ordentlich angetrunken war, sagte er: „Klar kann ich mir das vorstellen!“ Da werden seine Kumpels aber schauen, wenn er plötzlich der neue Abteilungsleiter des FCG wäre, dachte er sich insgeheim. Immerhin einer der prestigeträchtigsten Jobs im Dorf, direkt hinter dem des Bürgermeisters. Als Abteilungsleiter konnte man mächtig stolz auf sich sein, hatte aber auch eine große Verantwortung, da das ganze Dorf das Tun der Fußballabteilung verfolgte.

Voller Freude schoss er sich an diesem Abend alkoholmäßig noch völlig ab und konnte am Tag danach das Sofa nicht mehr verlassen, so schlecht ging es ihm. Nicht einmal essen konnte er. Erst gegen Abend fand er wieder zurück in den Tritt. Am Abend tauchte dann der aktuelle Abteilungsleiter an seiner Haustüre auf und klingelte bei ihm. Als Schorsch öffnete und hallo sagte, überlegte er erst einmal, was der hier wollte, bis ihm das Gespräch des gestrigen Abends auf der Toilette einfiel. Also bat er ihn herein und sie redeten noch einmal über den Posten. „Was zur Hölle ist gestern passiert?“, fragte er sich. Diese Frage stellte er sich in diesem Gespräch ständig. Die letzte Erinnerung war, dass sie Longdrinks aus Maßkrügen getrunken hatten. Ja herzlichen Glückwunsch! „Wann seid ihr nach Hause?“, wollte der amtierende Abteilungsleiter wissen. „Puh, keine Ahnung!“, antwortete Schorsch. „Habe nicht auf die Uhr geschaut“ – der Klassiker! „Weißt du denn nichts mehr von unserem Gespräch?“, fragte irgendwann der verdutzte Abteilungsleiter, dem die fragenden Blicke von Schorsch längst aufgefallen waren. „Doch, doch. Klar weiß ich das noch!“, antwortete dieser zügig und ließ dabei keine Restzweifel offen.

Das Resultat des Abends: Der aktuelle Abteilungsleiter fragte Schorsch, ob er es gestern ernst meinte und neuer Abteilungsleiter werden möchte. Schorschs Frau wusste zu diesem Zeitpunkt noch nichts von seinem Vorhaben. Zum Glück, muss der neutrale Beobachter hier sagen. Schließlich hatte sie ihn ja vor 10 Jahren an die Ketten gelegt und den Schlüssel den Kanal hinuntergespült – dachte sie zumindest. Schorsch sagte zu, schließlich habe er schon zugesagt und wollte sein Wort nicht brechen – ein Ehrenmann eben. Seine Frau, die in diesem Moment vor vollendete Tatsachen gestellt wurde und neben ihm auf dem Sofa saß, lief zuerst weiß an, was sich aber in Bruchteilen von Sekunden zu einem exzessiven Rot entwickelte. „Sind bei dir eigentlich die Sicherungen durchgebrannt, Schorsch?“, schrie sie ihn voller Zorn an.

„Der FCG ist mein Herzensverein“, antwortete er und gab sein endgültiges Okay für den Job. „Herzensverein, blablabla, dass ich nicht lache“, tobte sie dann. Schorsch versuchte mit seinen Händen ringend noch zu erklären, ließ diese aber kurz darauf in seine Hosentasche wandern. Seine Frau nahm diese Wanderung der Hände wütend zur Kenntnis. „Genau, tu deine Hände wieder in die Hosentasche, da sind sie am besten aufgehoben, da geht am wenigstens kaputt.“ Jetzt fing auch der Abteilungsleiter an zu lachen, der dieses bizarre Treiben bisher als stiller Beobachter wahrnahm. Schorsch fuhr weiter fort, als hätte er die Bemerkung seiner Frau nicht gehört. „Wir schaffen das schon und finden einen gemeinsamen Weg“, und wollte seiner Frau gut zureden. Sie verdrehte nur den Kopf und konterte eiskalt: „Ach, hör auf. Das Einzige, was du täglich findest, ist der Feierabend. Sonst aber findest du überhaupt gar nichts.“

Plötzlich stand Schorschs Frau auf und lief in Richtung Türe. „Ach Schatz, freust du dich denn nicht?“, fragte Schorsch seine Frau noch provokativ. Die drehte sich um und dachte, dass sie sich verhört hatte. „Dumme, aber berechtigte Frage. Aber klar doch freue ich mich!“, erwiderte sie mit einem aufgesetzten Lächeln. „Warum weiß dein Gesicht nur nichts davon?“, antwortete Schorsch und fing gleichzeitig mit dem Abteilungsleiter an zu lachen. Jetzt lief seine Frau zur Höchstform auf. Sie ließ daraufhin die Wohnzimmertüre hinter sich ins Schloss krachen, so dass diese beinahe aus dem Rahmen sprang. Der aktuelle Abteilungsleiter saß nun wie ein Häufchen Elend da und wusste nicht so recht, wie ihm geschah.

„Normalerweise steigen wir am Wochenende auf. Uns kann keiner das Wasser reichen“, meinte er ruhig und wollte Schorsch die Entscheidung noch einfacher machen. Schorsch schaute ihn an. Seine Erfahrungen von früher sagten ihm, dass in 90 Minuten alles passieren konnte, vor allem in einem Aufstiegsspiel. Auf der anderen Seite hatte er weder ein Spiel des FCG gesehen noch eines des Gegners. Das machte seine Einschätzung deshalb etwas schwierig. Zum Abschied lud der noch amtierende Abteilungsleiter seinen Nachfolger Schorsch dann gleich zur Spielersitzung vor dem Aufstiegsspiel ein und stellte ihn dort dem Trainer und der Mannschaft vor. Von nun an wurde Schorsch zu allen Gesprächen rund um die Fußballabteilung hinzugezogen. Er fühlte sich wie neugeboren und wurde seit Neuestem auch von seinen Freunden wieder bewundert. Im Gegensatz dazu seine Frau, sie tobte und tobte, was Schorsch alles andere als gefiel.

Es waren noch zwei Tage bis zum entscheidenden Aufstiegsspiel. Da dies glücklicherweise an einem Samstag stattfand, konnte im Anschluss auch gefeiert werden, wenn sie den Aufstieg tatsächlich schaffen würden. Als Zweiter der Kreisklasse mussten sie gegen den Viertletzten der Bezirksklasse antreten. Auf dem Papier eine machbare Aufgabe.

Nach der Spielersitzung, die keine 10 Minuten dauerte, stellte Schorsch sich bei jedem Spieler einzeln vor und redete mit ihnen über dies und das. Um gleich einen guten Eindruck zu hinterlassen, nahm er zur Sitzung, die in diesem Fall in der Umkleidekabine stattfand, eine Kiste Bier mit. Schon 15 Minuten nach der Sitzung hatte er alle Spieler durch. Was Schorsch aber direkt auffiel: Statt der 18 Trainingsteilnehmer und dem Trainer saßen da dann nur noch 6 Spieler um ihn herum und tranken an seiner Kiste Bier mit. Etwas verdutzt schaute er drein, fragte aber nicht nach den Gründen. Die Spieler sahen aber, dass es ihn irritierte, dass kurz nach der Spielersitzung kaum noch Spieler da waren. Zu Schorschs Zeiten war dies unvorstellbar. Wenn einer eine Kiste Bier mitbrachte, musste man sich fast darum schlagen, eine Flasche abzubekommen. Und hier? Schorsch zählte noch 13 volle Flaschen im Kasten. Da am nächsten Tag alle arbeiten mussten, war um 23:00 Uhr Schluss. Okay, das war verständlich. Wenn aber zumindest jeder eine Flasche Bier genommen hätte, wäre der Kasten fast leer. Nun ja, sei es, wie es will. Doch Schorsch ging nach Hause und grübelte etwas. Vielleicht ist es ja normal, dass die Spieler nach den Spielen kein Bier mehr trinken. Er war schließlich schon länger nicht mehr auf dem Sportplatz gewesen. Vielleicht ist dieser „Trend“ einfach an ihm vorbeigegangen, wer weiß das schon.

Der Freitag war schnell vorbei und da war er, der Relegations-Samstag. Als Schorsch am Samstagmorgen die Zeitung aus seinem Briefkasten holen wollte, lag ein Brief darin. Ein Umschlag, ohne Absender und Anschrift. Schorsch schaute sich um und war direkt neugierig, was sich denn im Umschlag befindet. Also öffnete er diesen. Heraus kam ein Brief.

„8 Gründe, warum wir heute Abend NICHT aufsteigen

Schlechte Stimmung im Team

Trainer bevorzugt auswärtige Spieler

Keine gemeinsamen Abende der Spieler

Imaginäre Mauer zwischen einheimischen und auswärtigen Spielern

Viel Ärger im Vorfeld

Spieler beschimpfen sich auf dem Platz gegenseitig

Nach den Spielen sind alle gleich weg

Keine Kritikfähigkeit der auswärtigen Spieler“

Was war hier los? Bei Schorsch läuteten direkt alle Alarmglocken. Wer hatte das geschrieben? Es musste ein Spieler aus dem Dorf sein. So wie das geschrieben war, war es eindeutig. Zu diesem Zeitpunkt wusste Schorsch noch nichts von dem Ärger zwischen einheimischen und auswärtigen Spielern. Schorsch ging ins Haus zurück und grübelte. Was sollte er jetzt tun? Er rief beim aktuellen Abteilungsleiter an und erzählte ihm von dem Brief. Dieser war außer sich vor Wut. Warum hatte er keinen Brief erhalten? Er sagte noch, dass er kurz den Trainer anrufe und mit ihm darüber reden wolle. Er melde sich wieder bei ihm. Schorsch war mit dieser Vorgehensweise einverstanden.

Er wartete, wartete und wartete. Doch es kam kein Anruf. Schorsch war mittlerweile so geduldig wie ein LKW-Fahrer nach 22 Stunden Wochenende auf dem Autobahnparkplatz, nämlich überhaupt nicht.

Kurz bevor er zum Aufstiegsspiel losfahren wollte, was 6 Stunden nach dem Anruf mit dem aktuellen Abteilungsleiter war, rief dieser wieder an. Der Trainer werde die richtigen Schlüsse daraus ziehen und die Mannschaft heißmachen. Wird schon laufen, dachte sich Schorsch.

AUFSTIEGSSPIEL

Es läuft die Nachspielzeit im gut gefüllten Waldpark Nord. 1000 Zuschauer verfolgen das Aufstiegsspiel zwischen dem FCG und den Sportfreunden aus Neulebenhausa 1872. Marco, der Rechtsverteidiger des FCG, bekommt eine Flanke von halblinks mustergültig auf den rechten Schlappen. Statt den Ball direkt aus 8 Metern zu verwandeln, was sicher möglich gewesen wäre, legt er ihn auf den heranstürmenden Michael zurück. Michael, der Mittelfeldmotor des FCG, will aus 11 Metern direkt abziehen. Die Betonung liegt auf „will“. Mit vollem Eifer rast er auf den Ball zu und ist schon in der Ausholbewegung zu einem strammen Vollspannschuss. Doch dann geschieht es: Bevor er den Ball trifft, springt dieser auf dem mehr als holprigen Rasen in ein Loch hinein, verspringt und rutscht danach wie in Zeitluppe über Michaels rechten Schlappen. Im Fachjargon: ein Eins-a-Luftloch. Der mit voller Geschwindigkeit ankommende Michael verfehlt den Ball knapp um wenige Zentimeter. Durch seine hohe Geschwindigkeit gerät er dabei aus dem Gleichgewicht und liegt kurz vor seinem Aufschlag beinahe waagrecht in der Luft. Anschließend schlägt er „stuntman-like“ mit dem Rücken auf. Ein Raunen geht durch das Stadion. Der etwas irritierte Innenverteidiger des TSV Neulebenhausa, der es kaum glauben konnte, dass der Ball nicht im Tor landet, katapultiert den Ball daraufhin aus dem Strafraum heraus. Kurz darauf pfeift der Schiedsrichter die Partie ab.

Abpfiff!!! Schluss!!! Ende!!!

Fußball, Taktik, Freude, Frust und Kampf – so ließ sich dieses Aufstiegsspiel in 5 Worten zusammenfassen. Es war vollbracht. Der dritte verpatzte Aufstieg nacheinander für den FCG war perfekt. Drei Saisonen hintereinander stand die Mannschaft bis drei Spiele vor Schluss ganz oben in der Tabelle, doch am Ende reichte es der Mannschaft schlussendlich nie zum Aufstieg in die höhere Bezirksklasse. Die beiden Jahre zuvor wurde das Team nur Zweiter in der Kreisklasse Nord 1, obwohl die Mannschaft beide Male auf dem Aufstiegsplatz überwinterte. Dieses Jahr war es eine Verkettung unglücklicher Umstände.

Drei Spiele vor Saisonende hatte der FCG zwei Punkte Vorsprung auf seinen härtesten Verfolger. Durch das deutlich bessere Torverhältnis hätten vermutlich sieben Punkte aus den abschließenden drei Spielen gereicht. Gegen Gegner aus dem Mittelfeld, bei denen es nur noch um die goldene Ananas ging, wäre dies auch im Bereich des Möglichen gewesen. Aber wie es manchmal so ist: Es gibt Geschichten, die lassen sich einfach nicht beeinflussen. Unter anderem das Fest des örtlichen Musikvereins, welches ausgerechnet am Abend vor dem drittletzten Spiel der Saison stattfand und von den Spielern gerne ausgiebig besucht wurde. Das wäre auch nicht das Hauptproblem gewesen. Der selbst zum Anpfiff des Spiels immer noch konstant hohe Promillespiegel bei so manchem Spieler führte aber zu leichtem Übermut und dem Drang zu außergewöhnlichen Taten. Die erste außergewöhnliche Tat sollte keine 80 Sekunden nach Beginn des Spiels auf sich warten lassen. In einer „Harakiri-Aktion“ grätschte Rechtsverteidiger Mirko seinen Gegenspieler an der Außenlinie halbhoch weg, so dass dieser erst einmal durch die Luft geschleudert wurde, als würde ein Hubschrauber seinen Rotor starten. Durch den dumpfen Einschlag in der Werbebande und den lauten Schrei des Angreifers blieb dem Schiedsrichter nichts anderes übrig, als Mirko mit glatt Rot vom Platz zu stellen. Wobei dieser sich sicher war, nur den Ball gespielt zu haben. Keine zwei Minuten gespielt und schon in Unterzahl. So hatte sich der Trainer das sicher nicht vorgestellt. Das aggressive Auftreten, das er von seiner Mannschaft vor dem Spiel verlangte, wurde hierbei völlig falsch verstanden. Mit mehr Glück als Verstand konnte die Mannschaft durch ein geschlossenes Auftreten, viel Kampf und Wille einen Punktgewinn verzeichnen. Im weiteren Spielverlauf fielen nämlich keine Tore mehr und die Punkteteilung war somit die logische Schlussfolgerung. Als Tabellenführer ging es in die letzten beiden Spiele. Mit zwei Siegen wäre der Aufstieg perfekt gewesen. Sechs Punkte in den abschließenden beiden Partien wären für den FCG auch locker machbar gewesen, wäre da nicht die Hochzeit eines Spielers aus der zweiten Mannschaft gewesen. Ausgerechnet am Tag vor dem vorletzten Spieltag. Wie es dann so kommen musste, wurde unter dem Einfluss einer langen Nacht und viel an einer Hochzeit üblichen Getränken die Partie am darauffolgenden Tag verloren und die Tabellenführung abgegeben.

Am letzten Spieltag konnte trotz eines 5 :0-Sieges die Tabellenführung nicht zurückerobert werden. Somit musste die Mannschaft zum angesprochenen Aufstiegsspiel antreten. Es kam also zum alles entscheidenden Aufstiegsspiel im Waldpark Nord. Phasenweise war dieses Match ein Spiel auf ein Tor und keiner der mitgereisten Fans des FCG konnte sich eine Niederlage auch nur ansatzweise vorstellen. Voller Übermut und einigem an Selbstvertrauen war man sich sicher: Heute steigen wir auf. Leider ist der Fußballgott an diesem Tag auf Seiten der Neulebenhausaner gewesen. Latte, Pfosten, auf der Linie geklärt – es gab nichts, was es nicht gab. Der Ball wollte nicht ins Tor. Getreu dem alten Sprichwort: „Machst du die Tore nicht vorne, bekommst du sie hinten“, musste das Team des FCG leidvoll erfahren, wie sich dies anfühlte. Mit einem mustergültigen Konter konnten die Neulebenhausaner kurz vor der Halbzeit zu einer psychologisch sehr wertvollen Zeit die 1 : 0-Führung erzielen. Wie aus dem Nichts wurde die Mannschaft des FCG so verunsichert, dass über weite Teile der zweiten Halbzeit kein richtiges Spiel mehr zustande kam. In den Köpfen spielten sich die zwei vergebenen Aufstiege der Vorsaisonen ab. Ab der 70. Minute fand der FCG wieder ins Spiel und es entwickelte sich ein Powerplay auf ein Tor. Wo auch immer der Fußballgott sich an diesem Tag herumgetrieben hatte, auf Seiten des FCG war er sicher nicht. Trotz zahlreicher hochkarätiger Chancen wollte der Ball nicht im Tor unterkommen. Als hätte ein Maurer vor dem Spiel eine unsichtbare Mauer hochgezogen. Mit immer näher rückendem Spielende wurde die Verunsicherung in den Reihen des FCG größer. Schlussendlich kam noch ein Symptom hinzu, was bei spielerisch unterlegenen Mannschaften in engen Partien oft zu sehen ist. Jegliche Unterbrechung wurde von den Neulebenhausanern inszeniert und ausgereizt. Sei es das Vortäuschen einer Verletzung, das Vorspielen eines Krampfes oder das Anstiften unzähliger Diskussionen mit dem Schiedsrichter. Die Neulebenhausaner zogen alle Register. Der Spielfluss ging ab der 80. Minute komplett verloren und der FCG scheiterte in den letzten 10 Minuten an den eigenen Nerven. Der Glaube und Wille an den Ausgleich ging trotz des deutlichen Chancenplus verloren und es kam, wie es kommen musste: Der verspielte Aufstieg des FCG stand in Person des unglaublich starken Torhüters der Neulebenhausaner vor der Türe.

Der FC Glaubschdued musste somit weiter in der Kreisklasse Nord 1 ran, der zweitniedrigsten Liga überhaupt! Die Spieler des FCG saßen nach dem Spiel mit versteinerten Mienen auf dem Platz im Waldpark. Mittlerweile nieselte es auf den durch die 90 Minuten schwer mitgenommenen Rasen, der nur noch dank der beiden Tore und der Eckfahnen als solcher zu erkennen war. Bei manchen Spielern liefen dabei die Tränen die Wangen hinunter. Schorsch lief zu allen Spielern hin und wollte sie ermuntern. Klar, dass nach so einer Niederlage erst einmal Zeit vergehen muss, damit diese verkraftet werden konnte. Erneut wurde das Team nicht für den großen Aufwand belohnt, den es die Saison über betrieben hatte. Da spielt man eine tolle Saison und am Ende fehlt das gewisse Etwas, um die Saison zu vergolden. In solchen Momenten helfen auch die gängigen Aufmunterungsversuche Außensteheder nichts, wie zum Beispiel: „Ach schade, nächstes Jahr dann wieder.“ Oder: „Ihr habt so super gespielt. Die nächste Saison gehört euch.“ Hier wird einem eher klar, wie knapp man doch wieder am Aufstieg vorbeigeschrammt ist.

Während die Spieler des FC Glaubschdued nach und nach den Platz verließen, feierten die Spieler des TSV Neulebenhausa mit ihren Anhängern im Mittelkreis. Schorsch stand mittlerweile ratlos neben dem aktuellen Abteilungsleiter. Er grübelte und grübelte, wer diesen Brief geschrieben haben könnte. Hätte er als kommender Abteilungsleiter im Vorfeld noch auf die Situation einwirken können?

Die Krönung auf einen sowieso verkorksten Abend folgte aber erst noch. Der Waldpark liegt ungefähr 20 Kilometer von Glaubschdued entfernt. Da die Aufstiegsspiele immer auf neutralem Boden durchgeführt werden, wird ungefähr nach „der Mitte“ der beiden Vereine geschaut. Somit mussten die Spieler des FCG auf dem Rückweg durch drei Ortschaften fahren, um zurück nach Glaubschdued zu gelangen. Unter anderem durch Lachhausa. Lachhausa ist der Nachbarort von Glaubschdued und ist über eine drei Kilometer lange Kreisstraße zu erreichen. Der dort ansässige Verein ist die TSG Lachhhausa. Dieser Verein spielt in der gleichen Kreisklasse wie der FC Glaubschdued. Seit mehreren Jahren besteht größte Feindschaft zwischen beiden Vereinen.

Angefangen hat diese vor 50 Jahren. Da die beiden Dörfer nicht weit auseinanderliegen, kannten die Spieler und Zuschauer sich untereinander. Oftmals gingen sie in die gleiche Schule oder hatten ähnliche Aktivitäten, bei denen man sich begegnete. Und so kann man sich vorstellen, wie nach Spielen gegeneinander mit einem Sieg für eines der beiden Teams die verlierende Mannschaft vom Siegerteam aufgezogen wurde, lange aufgezogen wurde. Denn diese Niederlage durfte man sich bis zum nächsten Aufeinandertreffen anhören. Somit gab jeder Spieler in diesem Derby weit mehr als 100 Prozent. Hitzige Zweikämpfe waren dann das, was diese Spiele ausmachten.

Derbys wurden außerhalb des Platzes genauso energisch geführt wie innerhalb des Platzes. Wenn die Spieler drinnen im Feld heiß auf die Partie waren, dann wurden die Zuschauer außerhalb des Platzes automatisch mitgerissen. Wenn das eigene Team gewinnt, wird man auch als Zuschauer automatisch Teil des Teams. So beschreiben es die Anhänger des FCG und die der TSG Lachhausa. Unter normalen Umständen waren 200 Zuschauer an einem normalen Sonntagnachmittag auf dem Sportplatz. Beim Derby FCG gegen TSV Lachhausa waren es weit über 1000 Zuschauer. Klar, jede Mannschaft hat in der Saison mindestens ein Derby, welches das Team gewinnen will und muss. Aber das Derby zwischen dem FCG und der TSG Lachhausa war ein besonderes und wurde nach und nach immer mehr zum Kult. Viele Zuschauer von unterschiedlichen Vereinen freuten sich das ganze Jahr auf diese beiden Spiele in der Saison. Das war mit einer der Gründe, warum die Spiele jedes Mal noch hitziger wurden. Nach und nach flachte die Rivalität wieder ab. Klar gab es immer wieder Sticheleien zwischen den beiden Vereinen, aber längst nicht mehr in dem Ausmaß von früher.

Dies änderte sich vor ungefähr 5 Jahren schlagartig. Der Konkurrenzkampf flammte wieder auf, wie so manche alte Liebe. Bekannte und Sympathisanten des Abteilungsleiters der TSG Lachhausa fuhren in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit ihren Fahrzeugen vor dem entscheidenden Meisterschaftsspiel auf den nicht eingezäunten Sportplatz des FCG und richteten beachtlichen Schaden auf dem Rasen an. Den Spuren nach zu urteilen, hätte es gut ein Panzer sein können, solch tiefe Furchen waren auf dem Sportplatz zu sehen. Das angesetzte Meisterschaftsspiel musste daraufhin wohl oder übel auf einen Donnerstag verlegt werden. Da aber zu diesem Zeitpunkt die Mannschaft des FCG aus vielen Spielern bestand, die unter der Woche quer durch die Republik auf Montage waren oder studierten, konnte der FCG nicht in seiner gewohnten Topbesetzung antreten und verlor das Spiel. Diese Niederlage und die angestaute Wut sorgten dafür, dass die Meisterschaft und der Aufstieg verspielt wurden. Am Ende blieben purer Hass und die Lust auf Rache gegenüber den Lachhausanern zurück. Als dann auch noch ein bis dato örtlicher Unternehmer und zu diesem Zeitpunkt Hauptsponsor des FCG aufgrund von Streitereien mit der Abteilungsleitung und der Gemeinde seinen Unternehmensstandort nach Lachhausa verlagerte und dort im Anschluss auch noch zum Hauptsponsor aufstieg, war das Tischtuch der beiden Mannschaften endgültig zerschnitten. Kein Verein gönnte dem anderen mehr etwas und wünschte ihm ausschließlich das Schlechteste. Am Ende stellte sich sogar heraus, dass der Unternehmer den Streit mit Absicht angezettelt hatte, um sein Engagement im Verein zu beenden und eine Rechtfertigung für den Bau seines neuen Standorts im Nachbarort zu haben. Die deutlich niedrigeren Quadratmeterpreise für Gewerbetreibende waren der eigentliche Auslöser hierfür.

Nun zurück zum verlorenen Aufstiegsspiel gegen das Team aus Neulebenhausa. Da war er nämlich auch anwesend, der besagte Unternehmer-Verräter, der Judas, oder unter den Anhängern des FCG auch zynisch aufgrund rückgehender Haare „Kahlkopf-Plauze“ genannt. Mit tatsächlichem Namen hieß er Karl-Friedrich. Mit seinen 1,65 Metern Körpergröße und gefühlten 150 Kilo Körpergewicht war er kaum zu übersehen. Das Einzige, was an ihm glänzte, waren seine mittig kahlgeschorene Glatze und die links und rechts 5 Zentimeter weit abstehenden Haare, als hätte er kurz zuvor in eine Steckdose gefasst. Sein süffisantes Lächeln über die Niederlage war nicht zu übersehen, als man ihn nach dem Aufstiegsspiel anschaute. Karl-Friedrich genoss die Niederlage seines ehemaligen Vereins in vollen Zügen.

Aber es kam noch schlimmer. Auf der Heimfahrt nach der Niederlage standen die Einwohner des Erzfeindes aus Lachhausa in der Durchfahrtsstraße in ihrem Dorf Spalier und begrüßten die Mannschaft des FC Glaubschdued mit hämischem Grinsen und Gelächter. Mit klatschendem Beifall wurde die Verlierermannschaft verachtet. Für die Spieler des FCG war es ein Phänomen, wer so viele Leute mobilisieren konnte, dass diese alle auf der Straße nur auf die Mannschaft des FCG gewartet hatten. Nur Freibier konnte so etwas auslösen, was sich im Nachhinein auch als der Grund herausstellte. „Karl-Friedrich hat es springen lassen“, hieß es auf Nachfrage eines örtlichen Pressevertreters, der im Vorfeld von der Aktion Wind bekam.

Auch Raubein Alfred, Holzer Franz, Haudegen Otto und Manni waren als Zuschauer und ehemalige aktive Kicker des FCG beim Aufstiegsspiel vor Ort. Raubein Alfred und der besagte Unternehmer-Verräter Karl-Friedrich verbindet eine besondere Abhängigkeit.

Raubein Alfred kommt ursprünglich aus Lachhausa. Der dort ansässige Verein ist, wie eben schon leicht angeklungen, der absolute Erzfeind des FCG. Nach seiner Jugendzeit bei der TSG Lachhausa entschied sich Alfred, seine aktive Karriere beim FCG zu beginnen und schließlich auch zu beenden. Der Grund war eigentlich einfach: Seine Frau kam aus Glaubschdued und deswegen zog es ihn zum FCG. Insgesamt 30 Jahre hat Raubein Alfred dort in der aktiven Mannschaft gespielt. Der Wechsel von der TSG Lachhausa zum FCG hatte schon damals für Hass und Anfeindungen gegenüber Raubein Alfred und seiner Familie gesorgt, da die Lachhausaner in ihm eines der größten Talente des Vereins sahen. Raubein Alfred hat mit seiner leider schon verstorbenen Ehefrau eine Tochter. Und jetzt kommt’s. Wie es damals der Zufall so wollte, lernte seine Tochter ausgerechnet „Kahlkopf-Plauze“ Karl-Friedrich kennen und unglücklicherweise auch noch lieben. Als wäre das nicht schon die Krönung gewesen, nein, dann heirateten die beiden auch noch. Zu diesem Zeitpunkt war Karl-Friedrich noch treuer Weggefährte des FCG. So richtig warm wurde Raubein Alfred trotzdem nie mit seinem Schwiegersohn, da ihm seine überhebliche und arrogante Art, die er zweifelsohne an sich hatte, äußerst missfiel. Raubein Alfred ist zu einer Zeit aufgewachsen, in der man sich alles hart erarbeiten musste und nichts geschenkt bekam. Die Nachkriegszeit stand für „Hart für den Erfolg arbeiten und alles diesem unterzuordnen“. „Kahlkopf-Plauze“ Karl-Friedrich hingegen setzte sich damals ins gemachte Nest, da er die Firma seines Vaters übernahm und Geld anscheinend bei dieser Familie keine Rolle spielte. Die Tugenden Fleiß, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, die Alfred jahrelang seiner Tochter predigte, waren bei seinem Schwiegersohn nicht einmal ansatzweise vorhanden. Er kam und ging bei Familienfeiern, wann und wie es ihm passte, fühlte sich aber dazu berufen, jedem seine teils durchaus kontroverse Meinung zu jedem, aber wirklich jedem Thema aufzudrängen. Egal, ob diese gefragt war oder nicht. Nun ja, gut, seine Tochter war mit ihm verheiratet und Raubein Alfred hatte ihn einfach zu tolerieren bzw. besser gesagt: Er hatte es zu akzeptieren. Freude sah zwar anders aus, aber was will man machen, wenn die eigene Tochter einen bestrafen möchte? Von dieser Theorie ging Raubein Alfred nämlich aus, als erfuhr, dass seine Tochter diesen Typen heiraten würde.

Karl-Friedrich führte seit einigen Jahren seine Firma alleine. Sein Vater musste sich gezwungenermaßen zurückziehen. Er war der Patriarch im Unternehmen und bis dahin der alleinige Herrscher. Nur seine Entscheidungen hatten damals Gewicht. Die von Karl-Friedrich wurden mehr oder weniger toleriert. Hier endet der positive Teil der Geschichte. Unglücklicherweise musste sich Karl-Friedrichs Vater von heute auf morgen aus dem Unternehmen verabschieden. Zwei Tage nachdem im hauseigenen Unternehmen der Betriebsrat gegründet wurde, bekam er einen schweren Herzinfarkt. Böse Zungen behaupteten: Das kann doch kein Zufall sein.

Nach zehn Jahren Ehe kam dann, für Raubein Alfred glücklicherweise und nicht gerade überraschend, die Scheidung seiner Tochter von Karl-Friedrich. Für Alfred war dies lange vorherzusehen. Zumindest sagte er das immer, wenn er es seiner Tochter heimzahlen wollte. „Ich habe es ja schon immer gesagt“, war dann sein Satz, mit welchem er seine Tochter nämlich aufs Äußerste verärgern konnte und daraufhin Blicke einfing, die man nicht einmal seinem schlimmsten Feind wünscht. Da sich die Scheidung aus unterschiedlichsten Gegebenheiten, unter anderem auch wegen des Sorgerechts des damals kleinen Sohnes Frank, zu einer einzigen Schlammschlacht entwickelte, reden Raubein Alfred und Karl-Friedrich heute kein Wort mehr miteinander. Außer sie müssen es gezwungenermaßen. Wobei Raubein Alfred immer zu Karl-Friedrich „Hallo“ sagte, seines Erachtens gehört sich diese Höflichkeit einfach. Ansonsten verbindet die beiden tiefes Verabscheuen des jeweils anderen. Das ist wirklich noch das Einzige, was sie verbindet.

Auch die drei erwähnten Kumpels von Raubein Alfred – Haudegen Otto, Holzer Franz und Manni – konnten Karl-Friedrich nicht ausstehen. Die vier Rentnerkumpels, die sich von klein auf kannten und eng befreundet sind, gemeinsam beim FCG kickten und seit 50 Jahren fester Bestandteil des Vereins sind, waren immer zu 100 Prozent dabei. Sei es als Spieler oder jetzt als Zuschauer. Neben Raubein Alfred war es Haudegen Otto, der mit proportionalem Anstieg der Sprüche zum Promillewert und seiner cholerischen Art, die ihm schon den einen oder andern Strich durch die Rechnung gemacht hatte, für Aufmerksamkeit sorgte. Mit Holzer Franz war einer in der Gruppe, der früher ein richtig harter Knochen war und heutzutage bei einem hinunterfallenden Glas ein Erdbeben epischen Ausmaßes heraufbeschwört. Und zu guter Letzt war da noch Manni, der die Mannschaft immer euphorisch nach vorne peitschte und aufgrund seiner positiven Grundstimmung immer und überall herzlich willkommen war. Zu viert bildeten sie seit Jahren eine Truppe, die jeden Sportplatz aufmischte und außerhalb des Spielfeldes eine Unterhaltung bot, für die sich unabhängig vom Ausgang des Spiels der Eintritt lohnte.

Spätestens jetzt ist die Frage erlaubt, wie alt die vier sind. Alle sind im gleichen Jahr geboren. Für alle vier war schon immer klar: So einen „talentierten“ Geburtsjahrgang wie 1949 gab es noch nie in der Geschichte des FCG. Bedeutet: Alle sind weit über 60 Jahre alt und im besten Rentenalter. Ihres Erachtens nach.

Schon früher, als sie zusammen aufgestiegen waren, spielten sie jahrelang in der gleichen Mannschaft. Schließlich waren sie einmal aus der C-Klasse aufgestiegen, der untersten Klasse überhaupt, und fühlten sich quasi unantastbar. Der Respekt gegenüber dieser Mannschaft war früher einmal riesengroß. „Solche Spieler hat es noch nie gegeben“, fing Holzer Franz immer wieder mit der gleichen Schallplatte an. „Früher, das waren noch Fußballer. Und heute alle weichgespült und sich für alles zu schade.“ Raubein Alfred bremste ihn dabei gerne wieder aus. „Schließlich ist der Fußball heute deutlich schneller geworden als zu unseren Zeiten“, entgegnete er dann meistens. Holzer Franz, der bei Kritik gegenüber seinen Aussagen immer einfach abwinkte, vollzog diese Geste auch dieses Mal und verwies auf die drei Meisterschaften, die sie gemeinsam erreicht hatten. Und heute? Nichts dergleichen zu sehen. Darauf hatte Alfred auch nicht immer die passende Antwort bzw. konnte dem nicht widersprechen. Wobei man sagen muss, dass sie drei Mal in die B-Klasse aufgestiegen sind, nachdem sie zuvor immer abgestiegen waren. Die Diskussion drehte sich ab diesem Punkt sowieso nur noch im Kreis und sie einigten sich darauf, dass es früher einfach anders zu kicken war als heute.

Noch auf der Heimfahrt vom verlorenen Aufstiegsspiel diskutierten die vier Rentner über die Gründe der Niederlage.

Schnell war klar, dass das Team ohne Herz und Leidenschaft gespielt hatte. „Die meisten Spieler kommen ja nicht einmal aus unserem Dorf und identifizieren sich nicht mit dem FCG“, sprudelte es aus Haudegen Otto nur so heraus, der bei diesem Thema fast sentimental wurde. Schließlich spielten zu den erfolgreichen Zeiten früher nur einheimische Spieler für den FCG. Die aktuelle Mannschaft des FCG bestand aus Spielern, die aus dem eigenen Dorf kamen, und Spielern, die von anderen Vereinen zum FCG wechselten. Hinter vorgehaltener Hand wurde deshalb gemunkelt, dass die Spieler, die von anderen Vereinen zum FCG wechselten, außer dem gängigen Fahrgeld zu den Spielen, sagen wir einmal gewisse „Extra-Zuschüsse“ erhielten. Wer diese zahlte und woher das Geld kam, war keinem so wirklich klar. Dass aber Geld floss, war zu 100 Prozent klar, da der Eine oder Andere aus der Mannschaft, der es erhielt, sich verplapperte. Natürlich wurde dies von Seiten der Verantwortlichen immer verneint. Den Spielern und Anhängern war aber klar, dass die auswärtigen Spieler etwas dafür bekamen. In den Amateurligen ist es außerdem üblich, dass für Spieler von anderen Vereinen Ablösesummen bezahlt werden müssen. Im Sommertransferfenster sind diese festgelegt, im Winter muss eine Summe zwischen den Vereinen ausgehandelt werden. Dies sind zwar Summen im dreistelligen Bereich, doch aber eine stolze Summe, wenn ein Verein diese für mehrere Spieler bezahlen muss.

„Früher wurden Spieler nicht fürs Kicken bezahlt“, erinnerte sich Raubein Alfred dann gerne wieder zurück. „Es gab mal einen sehr guten Fußballer aus Poltershausa. Einer der wenigen auswärtigen Spieler früher, die für den FCG gekickt haben. Gerhard hat er geheißen. Seine Bezahlung hat nicht über das Geld stattgefunden. Nein, Gerhard hatte einfach nur Durst. Darum hat er nach den Spielen immer ein Vesper in Form einer Stadionwurst erhalten und seine sieben, teils auch mehr, Biere vom Verein gesponsert bekommen. Heute werden diese anders bezahlt und sie trinken dann meistens sowieso kein Bier mehr, zumindest ein großer Teil dieser Spieler. Klar gibt es Ausnahmen, aber nicht beim FCG. Sie bekommen halt ihr Fahrgeld und sonstige Zuwendungen. Ist er dann noch Co-Trainer oder Spielertrainer, oje, dann bekommt er noch mehr Geld obendrauf. Was für eine Schmach für die einheimischen Spieler.“

Das war zu den aktiven Zeiten von Raubein Alfred anders und er erinnerte sich dabei gerne zurück. Wie bereits erwähnt, befand sich Raubein Alfred mittlerweile im Rentenalter. Die Zeiten von früher, als er selbst noch die Schnürsenkel seiner Kickschuhe schnürte, wollte er aber nicht missen. Davon erzählte er heute immer noch mit großem Stolz: „Wir sind zum Beispiel mal zu einem Auswärtsspiel mit dem Bus gefahren. Die Spieler des Gegners haben am nächsten Tag alle Urlaub gehabt, weil sie wussten, dass der Abend lang wird. Wenn sich einer keinen Urlaub genommen hatte, dann waren es nicht mehr als drei Stunden Schlaf und am nächsten Tag hatte dieser dann einen riesigen Kater im Gepäck zur Arbeit. So war das früher eben!!!“ Aus einem freudigen Gesicht Raubein Alfreds, bei welchem man meinen konnte, dass er jetzt gleich nach Hause fährt und seine alten Schuhe wieder von der Bühne seines Hauses holt, wurde plötzlich eine ernste Miene: „Und heute? Wenn die Spieler noch gemeinsam eine Kiste Bier nach dem Spiel trinken, dann ist das schon ein Ausnahmefall. Also zumindest ist das bei uns im Verein so. Gut, das Bier hat damals auch noch 75 Pfennig gekostet und die Brezel 5 Pfennig. Überhaupt nicht mehr zu vergleichen mit heute! Aber dafür haben sich auch die Gehälter dementsprechend angepasst“, meinte er mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, aber auch einer großen Portion Wehmut.

Auf dem kurzfristig organisierten Saisonabschlussfest direkt nach dem verlorenen Aufstiegsspiel eskalierte dann aber die Situation. Nach einer ordentlichen Anzahl Bier und Schnaps holte Benno, das Urgewächs des FCG, zum verbalen Rundumschlag aus.

Benno spielte seit der F-Jugend in diesem Verein und war der Typ Rebell in der Mannschaft des FCG. Mit seinen knappen 1,90 Meter Körpergröße und einem Kreuz wie ein Preisboxer konnte er einem schon von Weitem Angst einjagen. Auf dem Spielfeld provozierte er seine Spieler und war irgendwie eine Mischung aus Kämpfer und Haudegen. Die Lust an der Konfrontation und der Frust über das erneute Scheitern waren an diesem Abend der Auslöser dafür. Er ging mit fast jedem auswärtigen Spieler hart ins Gericht und beschuldigte diese, dass sie die Schuld am erneut verpassten Aufstieg haben. Dass sie nur Geld kassieren möchten und der Verein sie nur peripher tangiert. Man konnte förmlich spüren, was sich da über Monate angesammelt hatte und wie tief der Frust nach dieser Niederlage saß. Natürlich ließ sich keiner diese Anschuldigung gefallen und so kam es während des Gesprächs mitunter zu gegenseitigen schweren Beleidigungen. Es kristallisierten sich die zu erwartenden Fronten heraus: auf der einen Seite die einheimischen Spieler, die Benno in jedem Punkt recht gaben, und auf der anderen Seite die auswärtigen Spieler, die sich diese Anschuldigungen nicht gefallen ließen und doch einfach nur für den FCG kicken wollten. Und genau da war das Problem. Einfach nur kicken wollen, reicht in einem Verein in den unteren Ligen nicht aus. Es fallen eben viele Arbeiten rund um den Verein an, die dazu beitragen, dass der Spielbetrieb überhaupt erst aufgenommen werden kann. Die viele Mühe und vor allem Zeit, die Benno und seine Kollegen in den Verein steckten, wurde nicht honoriert bzw. noch schlimmer: nicht wahrgenommen. Keiner der auswärtigen Spieler wollte nach Ende des Streits auch nur eine weitere Minute für den FCG spielen.

Auch der zukünftige Abteilungsleiter Schorsch sowie Raubein Alfred, Haudegen Otto, Holzer Franz und Manni waren bei