Letzter Ton in Montreux - Christine Bonvin - E-Book

Letzter Ton in Montreux E-Book

Christine Bonvin

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Beschreibung

Laura Pfeiffer arbeitet als Assistentin des Hotelmanagements im Fünfsternehotel »Le Président« in Montreux. Die Klientel ist international, die Arbeit herausfordernd. Eine besondere Aufgabe ist die Sekretariatsarbeit für den Hotelbesitzer und Mäzen des Montreux Jazz Festivals und anderer kultureller Projekte. Laura fallen im Hotelbetrieb Ungereimtheiten auf. Als eine Mitarbeiterin aus dem Housekeeping-Team vermisst wird, beginnt sie auf eigene Faust zu ermitteln. Das bringt sie in arge Bedrängnis.

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Christine Bonvin

Letzter Ton in Montreux

Kriminalroman

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © nada12 / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7920-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Widmung

zum Andenken an meine Schwester Ruth

Prolog

»Wie kam ich nur auf die Schnapsidee, mich als Mann zu verkleiden und in einem Bordell nach einer vermissten Mitarbeiterin zu suchen?«

Die Frage stellte sich Laura immer wieder aufs Neue. Nur half ihr das nicht weiter. Sie saß zusammengekauert und fröstelnd in der schmuddeligen Ecke eines feuchten Kellergewölbes. Die abgestandene Luft und der fahle Lichtschimmer, der durch eine Maueröffnung eindrang, lösten Angstzustände aus. Kalter Schweiß rann ihr über den Rücken. Ein Schüttelfrost nach dem andern durchströmte den Körper. Die Atemzüge wurden flacher und schneller. Ein unsichtbarer Würgegriff drohte ihr die Kehle abzuschnüren. Ein Muskelkrampf im Oberkörper schmerzte. Reflexartig rappelte sie sich mit letzter Kraft auf. Vorsichtig tastete sie sich entlang der feuchten Bruchsteinmauer. Ihr Gang wurde bei jedem Schritt sicherer. Sie atmete langsam ein und aus. Ihr Körper entspannte sich allmählich. Das milderte ihr Unwohlsein und löste eine kämpferische Reaktion aus. Ihr unverbesserlicher Optimismus, der in ihrem Innersten verankert war, meldete sich zurück. Sie summte ein Lied. Ihre Mutter hatte es ihr immer vorgesungen, wenn sie abends vorgab, sich im Dunkeln zu fürchten. Es hatte immer geholfen. Sie dachte an ihre Eltern, die nun wohl gemütlich zu Hause auf dem Sofa im Wohnzimmer saßen und Fernsehen schauten. Vater war ein großer Fan von Krimi Serien. Jeden Tag fand er auf einem der vielen Sender etwas Spannendes. Wenn nicht, hatte er Netflix abonniert. Mutter setzte sich jeweils mit dem Strickzeug neben ihn und hörte mehr zu, als sie hinschaute. Sie mochte lieber Filme von Rosemunde Pilcher und Inga Lindström. Diese schaute sie an den Abenden, an denen ihr Mann im Turnverein war oder manchmal an regnerischen Sonntagnachmittagen. Was würden ihre Eltern sagen, wenn sie sähen, in welche Situation sie sich wieder hinein manövriert hatte? Diese Fragestellung erinnerte sie an das Lebensmotto ihres Großvaters mütterlicherseits: Hilf dir selbst – es hilft dir keiner. Das gab ihr Antrieb und ein kleiner Funken Hoffnung keimte auf. Sie würde sich befreien und ihr Leben wie geplant weiterführen. Sie wollte ihre Pläne verwirklichen und eines Tages eine bekannte Hôtelière werden. Es hatte doch alles so harmonisch angefangen an der neuen Arbeitsstelle.

Kapitel 1 / Abschied von Zermatt

Die Sommersaison in Zermatt war turbulent verlaufen. Mit großen Erwartungen und voller Enthusiasmus hatte Laura im Frühling im Hotel Blatterhof die Arbeit als Hotelfachfrau aufgenommen. Ein Mordfall und Differenzen mit den Hotelbesitzern hatten dazu geführt, dass sie bereits nach einer Woche auf der Straße stand. Dank ihrer Freundschaft zum Hotelierssohn erhielt sie eine zweite Chance. Ihrer zwanghaften Neugier und ihrem eigenen Sinn für Gerechtigkeit verdankte sie allerdings den erneuten Rauswurf. Mit der Hilfe einer Freundin hatte sie im Hotel Bären eine zeitlich beschränkte Anstellung als Rezeptionistin bekommen. In dieser Zeit erhielt sie von Klara, einer Studienkollegin aus der Zeit in der Hotelfachschule, einen vielversprechenden Tipp. Diese arbeitete als Assistentin des Hotelmanagements in einem Fünfsternehotel in Montreux und suchte eine Nachfolgerin. Sie habe vor, nach Thailand zu reisen, um ihre interkulturellen Kompetenzen zu erweitern. Laura überlegte nicht lange und bewarb sich umgehend. Das entsprach genau ihrem Karriereplan. Ihr Vorbild war der Hotelkönig César Ritz. Diesem wollte sie nacheifern. Sie plante, ihren beruflichen Rucksack mit Erfahrungen und Qualifikationen zu füllen. Dafür war es unerlässlich, in verschiedenen Hotelbetrieben und in unterschiedlichen Stellungen gearbeitet zu haben. Der Moment schien gekommen, auf der Karriereleiter eine Stufe höher zu steigen. Zudem bekam sie in Montreux die Gelegenheit, ihr Schulfranzösisch aufzubessern. Die Stellenbeschreibung las sich anspruchsvoll. Neben administrativen Aufgaben war die Assistentin ebenfalls für die Planung von Veranstaltungen zuständig. Das Profil der Mitarbeitenden verlangte kaufmännische Denkweise und Verhandlungsgeschick, Kommunikationsfähigkeit sowie Kunden- und Serviceorientierung, organisatorische Fähigkeiten und Flexibilität, interkulturelle Kompetenz und Kontaktbereitschaft.

Das Bewerbungsgespräch fand zu ihrer Verwunderung in Zermatt statt. Die umtriebige Hotelmanagerin Arlette Schwarzenbach reiste für ein Wochenende ins Bergdorf. Ihr war es wichtig, die mögliche Assistentin an ihrem Arbeitsort zu begutachten. Zuvor hatte sie allerdings nachgefragt, ob der Arbeitgeber über einen allfälligen Berufswechsel informiert sei und ob sie mit diesem ebenfalls ein paar Worte wechseln könne.

In ihrem blauen Deux-Pièces und der weißen Bluse erschien die zukünftige Chefin zwischen den sommerlich gekleideten Touristen beinah wie eine Exotin. Sie schien das nicht zu stören. Mit geradem Rücken stolzierte sie in den Stöckelschuhen in die Empfangshalle des Hotel Bären. Sie strich sich durch die grauen, kurz geschnittenen Haare und schaute sich fragend um. Laura erkannte sie, weil sie sich auf der Webseite des zukünftigen Arbeitsortes bereits informiert hatte. Sie ging, ohne zu zögern, auf die Dame zu und streckte lächelnd die Hand aus. Das kam bei der Gegenseite vorteilhaft an. In einem Besprechungszimmer führten die zwei Frauen das Gespräch oder viel mehr das Verhör. Arlette Schwarzenbach legte eine Liste mit Fragen auf den Tisch und hakte akribisch Punkt für Punkt ab. Laura antwortete ohne zu zögern und ehrlich. Sie versuchte gar nicht erst zu verheimlichen, dass ihr Start in Zermatt missglückt war. Sie erklärte ungefragt, dass ein Mordfall und damit verbundene Verstrickungen sie genötigt hatten, Nachforschungen anzustellen.

»Es ist eine meiner Charaktereigenschaften, dass ich Problemen immer auf den Grund gehe. Einerseits ist dies ein Plus, manchmal aber auch ein Nachteil.«

»Diese Verhaltensweise finde ich durchaus positiv. Mir sagt es zu, wenn jemand Sachverhalte bis ins Detail abklärt. Meine nächste Frage hätte Ihren Stärken und Schwächen gegolten. Einen Teil davon haben Sie nun bereits beantwortet. Haben Sie weitere solche Eigenheiten?«

Begeistert verriet Laura, dass sie dem Hotelier César Ritz nacheiferte und ihren Beruf liebte. Nur etwas verschwieg sie der zukünftigen Arbeitgeberin absichtlich. Ihr Ziel war es, sich selbst und ihrer Familie zu beweisen, dass sie die Voraussetzungen und den Durchhaltewillen besaß, in ihrem Traumberuf erfolgreich zu sein. Bei ihrer Abreise nach Zermatt hatten der Bruder und der Vater gewettet, dass sie es keinen Monat schaffen würde. Tatsächlich war sie schon in der ersten Woche entlassen worden.

Dieser Makel im Lebenslauf schmerzte sie, und es galt, ihn auszugleichen.

Sie erhielt die Zusage von Arlette Schwarzenbach am Tag darauf unter der Bedingung, dass sie Anfang Oktober die Arbeit aufnehme. Das war jedoch vor Ende der Sommersaison. Die aktuelle Arbeitgeberin, Frau Summermatter, entließ Laura außerterminlich und gab ihr die besten Wünsche mit auf den Weg. Die Anstellung im FünfsternehausHôtel le Président in Montreux war für Laura ein Geschenk des Himmels. Sie freute sich. Nur ein Wermutstropfen trübte den Wegzug. In Zermatt hatte sich zwischen ihr und Pedro Lukic, dem Wachtmeister der Regionalpolizei, eine Freundschaft entwickelt. Die beiden hatten sich bei der heiklen und brisanten Aufklärung des tragischen Todesfalls kennengelernt. Mit ihm vermochte sie sich eine ernsthafte Beziehung vorzustellen. Sie zweifelte aber daran, dass eine Fernbeziehung gute Überlebenschancen hatte. Darum hielt sie Distanz zu ihm.

Am Morgen ihrer Abreise wäre die Mauer, die sie aus Schutz um sich errichtet hatte, beinahe eingebrochen. Marianne, ihre Freundin, deren Sohn Godi und Pedro hatten sie zum Bahnhof begleitet. Sie waren 20 Minuten zu früh. Auf dem Bahnsteig bedankte sich Laura nochmals für die gemeinsame Zeit. Ihr Mund redete ungefragt weiter. Es sprudelte einfach aus ihr raus. Sie offenbarte, dass sie sich immer solche Freunde gewünscht und sie richtig liebgewonnen habe.

»Mehr als lieb«, ergänzte sie und fixierte Pedro. Der nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf.

Dann umarmte sie einen nach dem anderen. Dabei rannen ihr die Tränen über die Wangen. Pedro wischte sie weg und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich dich auch.«

Bei strahlendem Sonnenschein und tiefblauem Himmel stieg Laura in Zermatt in die Matterhorn Gotthard Bahn. Pedro Lukic stand auf dem Bahnsteig und winkte ihr zum Abschied. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, und eine Träne rollte aus dem Augenwinkel. Sie bemühte sich zu lächeln. Es fiel ihr schwer. Auf der Reise durch das Mattertal flogen ihre Gedanken zurück in das Bergdorf und zu den Menschen, die ihr in den vergangenen Monaten ans Herz gewachsen waren. Wärme durchströmte ihren Körper, und ihre Augen strahlten.

Nach dem Umsteigen in Visp von der Matterhorn Gotthard Bahn in den Zug der Schweizerischen Bundesbahnen Richtung Genfersee galten die Überlegungen der Zukunft. Eine positive Anspannung verbreitete sich in ihr. Sie hoffte, dass sie es auf Anhieb schaffen würde, den recht hohen Anforderungen gerecht zu werden.

Bei strömendem Regen stieg sie in Montreux aus dem Zug. Wenn das mal kein schlechtes Omen ist, ging es ihr durch den Kopf. Sie öffnete den Schirm und sprach sich selbst Mut zu: »Ich bin ja für alles gewappnet«, flüsterte sie und klopfte sich imaginär auf die Schultern. Das Fünfsternehotel im Belle Époque Stil fand sie auf Anhieb. Majestätisch und einladend zugleich thronte es in einem großen Park am Ufer des Genfersees. Im Hintergrund auf der anderen Seeseite ragten die Savoyer Alpen in den grauen Himmel. Für einen kurzen Moment lichteten sich die Wolken, die Sonne schien, und es bildete sich ein Regenbogen. Der Anblick erfreute Laura. Innerlich jubilierte sie und vollführte einen Luftsprung, äußerlich blieb sie gelassen. Wie immer zückte sie sofort ihr Handy und fotografierte das Gebäude mit der reichen Fassadengestaltung, die Umgebung und das Naturphänomen. Dieses betrachtete sie als ausgezeichnetes Vorzeichen. Aufgestellt und voller Hoffnung schritt sie zum Personaleingang und meldete sich beim Portier.

»Herzlich willkommen im Hôtel Le Président. Ich rufe gleich einen Pagen, der Ihnen Ihr Zimmer zeigt. In einer Stunde werden Sie abgeholt und zu Frau Schwarzenbach begleitet.«

»Franco Bolli«, stellte sich der kleine Mann in der schmucken Uniform vor. Er lotste sie um sieben Ecken und gefühlte 100 Treppenstufen durch den Dienstbotenbereich ins Dachgeschoss. In einem langen Korridor, in dem rechts und links Türen abgingen, blieb er vor der Nummer 1 stehen, klopfte und trat ein.

»Sie bekommen das beste Zimmer. Number one«, grinste er und stellte den Koffer in den Raum.

»Das tönt vielversprechend. Danke Franco. Ich bin Laura. Auf gute Zusammenarbeit.«

»Ich wünsche dir einen guten Start im Hôtel le Président«, lächelnd verbeugte er sich vor ihr und verschwand.

Die bescheidene Bleibe glich nicht den Suiten aus den Glanzprospekten, die den Gästen angepriesen wurden. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch und ein Schrank, alles auf kleinstem Raum, aber immerhin mit Sicht auf den See. Ein Duschraum mit Toilette ergänzte das Logis. Sie hatte das Privileg, dass sie die Alleinnutzung des Zimmers hatte. Sie war sich bewusst, dass andere Mitarbeiter zu zweit hausten. Kaum hatte sie ihre Siebensachen ausgeräumt und sich erfrischt, klopfte es an der Tür. Eine Frau Mitte 30 mit dunkler lockiger Haarpracht stand davor. Sie trug einen knallroten engen Rock, der ihren Körperbau zur Geltung brachte.

»Herzlich willkommen. Ich heiße Pauline Roux und bin die Verantwortliche der Personalabteilung dieses verrückten Hotels. Da wir auf derselben Mitarbeiterstufe sind, duze ich dich. Ist das in Ordnung?«

Lauras Kopfnicken nahm sie kurz zur Kenntnis und sprach weiter: »Auf zur Chefin. Sie wartet auf ihr neues Opfer.«

Laura fand, dass die Bemerkungen recht spitz waren. Sie unterdrückte eine schnippische Erwiderung.

»Das ist nett. Danke. Ich freue mich schon auf die Herausforderung.«

»Das ist es auf jeden Fall. Nur zu deiner Orientierung, der Verschleiß an Assistentinnen in unserem Betrieb ist hoch. Es ist Vorsicht geboten vor ›der Schwarzenbach‹ und ›Monsieur le Président‹!«

Laura betrachtete ihr Gegenüber verwundert, erwiderte aber nichts. Sie fragte sich, was diese unverhohlene Aussage bedeutete. Ihr fiel auf, dass der Gesichtsausdruck dieser Pauline verhärmt wirkte, ganz im Gegensatz zu der sonstigen Erscheinung. Sie überlegte sich, woher das rührte. Vielleicht würde sie es eines Tages erfahren.

Kapitel 2 / Hôtel le Président

Die Hotelmanagerin, Arlette Schwarzenbach, bestand darauf, Laura selbst durch den Betrieb zu führen.

»Vor zwei Jahren hat Abel Roi das gesamte Gebäude renovieren lassen. Das heißt, alle Räumlichkeiten außer den Unterkünften für das Personal.«

»Abel Roi?«

»›Monsieur le Président‹ wie er hinter seinem Rücken genannt wird. Er ist der Besitzer dieses imponierenden Hauses und Gönner verschiedener kultureller Veranstaltungen in der Region. Darunter mein absoluter Topfavorit, das Montreux Jazz Festival, das jedes Jahr im Juli stattfindet. Dafür nehme ich mir immer ein paar Tage frei, obwohl es arbeitstechnisch beinah nicht möglich ist, weil das Hotel um diese Zeit immer ausgebucht ist. Ich liebe Jazzmusik und könnte stundenlang zuhören und mich in andere Sphären entführen lassen. Diesen Sommer ist Bob Dylan aufgetreten. Es ist unbeschreiblich, wie es war, ihn live zu hören und zu erleben. Das werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen.«

Ein tiefer Seufzer löste sich aus ihrer Brust. Laura nahm die Gefühlsregungen wahr, die aus den Worten sprachen. Es war beinah, als würde ihre Vorgesetzte selbst eine Melodie anstimmen und wieder in der Musik versinken.

»Der Höhepunkt der Geschichte ist, dass er bei uns im Hotel übernachtete und ich ihn persönlich kennenlernen durfte. Dafür musste ich ein wenig schummeln, aber ich würde es jederzeit wieder tun.«

Sie schmunzelte wie ein Kind, das sich bewusst ist, dass es etwas Falsches getan hat, gleichzeitig aber keine Strafe befürchtet.

»Was haben Sie denn angestellt?«

»Ich habe beim Zimmerservice eine Flasche Heida Schaumwein bestellt.«

»Das ist doch nichts Schlimmes.«

»Nein. Nur habe ich mich dann mit einer CD in der Hand vor der Tür der Suite postiert und auf den Kellner gewartet. Den habe ich weggeschickt und mir den Servierwagen geschnappt. Ich werde den Augenblick nie vergessen. Bob Dylan saß in einem Sessel, genoss die Aussicht auf die Savoyer Alpen und schaute mich erstaunt an, als ich mit dem Wagen reingefahren kam. ›Ein kleines Geschenk des Hauses und eines großen Fans von Ihnen‹, säuselte ich. Es war aufregender als beim ersten Kuss.«

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Ein tiefgründiges Lächeln umspielte ihre Lippen, und in den Augen erschien ein Schalk, den Laura ihr keineswegs zugetraut hätte. Überhaupt, die ganze Geschichte hörte sich nicht nach Arlette Schwarzenbach an.

»Und, was geschah darauf?«

»Er fragte mich nach meinem Namen. Ich konnte ihn nur hauchen, so aufgewühlt war ich. Und dann bot er mir an, mit ihm ein Glas zu trinken.«

»Wow«, entfuhr es Laura.

»Meine Knie wurden weich, und ich wäre fast umgefallen. Das hätte ich nie im Leben erwartet.«

»Das ist ja irrsinnig.«

»Ja, nicht wahr? Wenn ich daran zurückdenke, nimmt es mir den Atem.«

»War denn sonst niemand zugegen? Keine Sicherheitsleute?«

»Die Security stand im Flur, bei denen hatte ich mich ausgewiesen. Das war kein Problem. Im Zimmer waren nur wir beide.«

Ein weiterer Seufzer kam aus dem Innersten ihrer Seele, und der Blick schweifte in die Ferne. Laura wagte es beinah nicht, eine Frage zu stellen, aber die Neugierde überwog.

»Was geschah dann?«

»Wir haben geplaudert. Ich habe ihn sogar auf den Gewinn des Literaturnobelpreises angesprochen. Er hat nur mit den Schultern gezuckt und stattdessen von seinem Auftritt in Montreux gesprochen. Es war eine ganz entspannte Situation. Wir haben wie alte Bekannte miteinander gequasselt, Schaumwein getrunken und die Aussicht genossen. Zum Abschied hat er mir die CD mit einer persönlichen Widmung signiert. Diese hat bei mir einen Ehrenplatz im Schlafzimmer und ist etwas vom Wertvollsten, das ich besitze.«

»Wow, toll!«

Laura war beeindruckt. »Ich hoffe, dass mir hier im Hotel auch einmal ein Superstar über den Weg läuft.«

»Das war ein einmaliger Vorfall. Unterstehen Sie sich, mit unseren Gästen anzubandeln«, monierte Arlette. »Das bleibt eine absolute Ausnahme. Und wo wir schon mal dabei sind, niemand anders hat davon Kenntnis. Ich erwarte von Ihnen Verschwiegenheit. Es ist mir im Nachhinein unerklärlich, weshalb ich es ausgeplaudert habe.«

Sie legte eine Pause ein und schien zu überlegen.

»Ich werde es nicht weitererzählen und nicht nachahmen. Versprochen«, beschwichtige Laura.

»Das kommt davon, weil ich vom Jazz Festival gesprochen und wieder in Erinnerungen geschwelgt habe. Sie bekommen voraussichtlich Tickets für das nächstjährige Event.«

»Ich? Warum?«

»Monsieur Roi ist unter anderem Gönner des Festivals. Sie übernehmen im Zusammenhang mit den Vergaben von Fördergeldern an verschiedene kulturelle Institutionen seine Sekretariatsarbeiten. Die Antragsteller müssen sich zuerst bei Ihnen melden. Sie prüfen die Anträge und geben unserem Patron dann eine Erstmeinung ab. Diese Woche steht ein Besuch von Vertretern des Waadtländer Schriftstellerverbandes an. Sie werden die Herren begrüßen und die Anfrage entgegennehmen. Monsieur le Président kommt in zehn Tagen aus dem Ausland zurück. In Zukunft werden Sie einen Tag pro Woche für ihn arbeiten und administrative Aufgaben erledigen.«

»Ach so? Darüber wurde ich aber bisher nicht informiert.«

»Das beinhaltet das Wort ›Diverses‹ in Ihrer Stellenbeschreibung. Das ist doch kein Problem für Sie, oder?«

»Nein, weshalb sollte es?«, antwortete Laura. Sie zweifelte allerdings selbst an ihrer Aussage. Die zusätzlichen Tätigkeiten für den Patron bereiteten ihr Sorgen.

»Zurück zu unserem Rundgang.«

Arlette Schwarzenbach war für einen kurzen Moment aus ihrer Rolle gefallen, nahm sie jetzt aber mit Wachsamkeit wieder auf und fuhr fort: »Die Modernisierung des Hotels war architektonisch eine riesen Herausforderung. Es galt, den Charme der Belle Époque zu bewahren und gleichzeitig zeitgemäßen Komfort zu generieren. Hier im Erdgeschoss befindet sich der seezugewandte Saaltrakt mit Anschluss an die im Gebäudezentrum liegende altehrwürdige Eingangshalle mit Foyer, Treppen- und Liftanlage und die zur Straße ausgerichteten administrativen Räume. Im ersten Obergeschoss sehen Sie die absoluten Highlights. Es ist der Salon Président, ein historisches Juwel. Er ist noch mit dem Belle Époque Dekor von 1905 ausgestattet. Aber auch das Restaurant Amalia mit dem Blick auf See und Garten ist eine Augenweide im klassischen Stil. In den weiteren Etagen liegen beidseits des Korridors aufgereiht die 130 Hotelzimmer, darunter 40 Suiten, vier Dachterrassen-Panoramasuiten mit 360-Grad-Aussicht und die Präsidentensuite.«

Über alte Marmorböden im Schachbrettmuster, vorbei an Säulen aus Stuckmarmor und pastellfarbenen Wänden mit Ölgemälden kamen sie zurück in die Arbeitsräume. Laura schwirrte der Kopf.

Nach dem Rundgang durch den Betrieb, bei dem sie die wichtigsten Räume besichtigt hatte und einigen ausgewählten Mitarbeitern vorgestellt worden war, setzte sie sich im Vorzimmer von Arlette Schwarzenbach an ihren neuen Arbeitsplatz. Das Pult war aus dunklem, glänzendem Holz. Ein bequemer Bürostuhl, jede Menge Regale mit Ordnern, die fein säuberlich beschriftet waren, ein Tisch mit Besucherstuhl und eine Küchenecke mit Kaffeemaschine komplettierten den Raum. Laura schaute sich in ihrem neuen Reich um und freute sich über den gehobenen Stil. Es blieb ihr aber nicht viel Zeit, sich an ihrem Büro zu ergötzen. Die Chefin holte ihren Chefsessel, setzte sich neben sie an den Computer und führte sie in das EDV-System und die organisatorischen Aufgaben des Hotelbetriebs ein. Sie zeigte ihr den Geschäftsprozess und Dienstanweisungen. Laura hatte noch nicht alles kapiert, da sprach Arlette Schwarzenbach bereits zum Thema Wareneinkauf und -lagerung, über Werbe- und Marketingmaßnahmen und die Arbeiten im Empfangsbereich.

»Sie und ich sind für die Kontrolle und Effizienz verantwortlich. Das ist das Wichtigste. Ausführende sind die Angestellten in den verschiedenen Abteilungen. Damit wir unserer Aufgabe gerecht werden, müssen wir die Arbeitsabläufe kennen.«

Mit einem Kopfnicken bestätigte die neue Assistentin den Hinweis.

»Eine Ihrer Hauptaufgaben wird die Erarbeitung von Veranstaltungen und Banketts sein. Sie beraten die Kunden hinsichtlich Abfolge, Dekorationen, Räumlichkeiten und Preisen. Ausführende sind die Mitarbeitenden. Sie jedoch sind zuständig, dass alles gemäß Bestellung abläuft. Bei der Organisation des ersten Anlasses unterstütze ich Sie und zeige Ihnen, wie wir es handhaben. Beim zweiten Event übernehmen Sie die Verantwortung, aber ich kontrolliere jeden Punkt. Sie werden in Zukunft auch die touristischen Angebote planen und gestalten.«

Laura wurde schwindelig. Die geballte Ladung an Informationen überstieg ihr Aufnahmevermögen, und sie zweifelte bereits, ob ihr Wissen und ihre Erfahrungen reichten, um die Aufgaben zu erfüllen. Sie sprach sich innerlich Mut zu.

Arlette Schwarzenbach referierte weiter: »Wir achten auf die Einhaltung der Qualitätsstandards in allen Abteilungen des Betriebs. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie keinen Millimeter von diesen abweichen oder einen Fehler von Angestellten durchgehen lassen. Der Großteil der Arbeitskräfte arbeitet schon länger im Hotel und kennt die Anforderungen. Den anderen bringen Sie es, falls nötig, bei. Sofern etwas nicht in Ordnung ist, informieren Sie mich umgehend.«

Am Abend rauchte Laura der Kopf. Selbstzweifel stiegen in ihr hoch. Das Nachtessen ließ sie aus. Sie hatte nur ein Bedürfnis: sich in ihr Bett sinken zu lassen, einzuschlafen und alles zu vergessen.

Kapitel 3 / Arbeitsverhältnisse

Nachdem Laura eine Woche lang von morgens früh bis abends spät fast pausenlos auf den Beinen gewesen war, empfand sie eine noch nie empfundene Müdigkeit. In dieser kurzen Zeit hatte sie die Mitarbeiter und Arbeitsabläufe kennengelernt und sich mit ihren Aufgaben vertraut gemacht. Arlette Schwarzenbach sprach ihr einen halben Tag Freizeit zu. Laura erfüllte sich ihren größten Wunsch. Sie verzog sich in ihr Zimmer, legte die Beine hoch, schaltete ab. Für weitere Aktivitäten fehlte ihr der Schwung. Sie hatte in der Hotelbibliothek ein Buch gefunden mit dem Titel: Sisis Zuflucht: Kaiserin Elisabeth und die Schweiz des Autors Michael van Orsouw. Im Frühherbst 1898 residierte Elisabeth, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn, im Grandhotel in Caux, einem kleinen Vorort von Montreux. Schon in den vorhergegangenen Jahren hatte sie sich oft, auch mit ihrem Mann, dem Kaiser, in der Gegend aufgehalten. Ihr gefiel die Landschaft wegen der Berge, der Weite und dem See. Ohne Personenschutz begab sie sich zusammen mit einer Hofdame in die Stille der Bergwelt oder auf Entdeckungsreisen. Das wurde ihr bei einer Fahrt mit dem Salonraddampfer nach Genf zum Verhängnis. Dort wurde sie von einem Attentäter umgebracht. Obwohl Laura die Geschichte der sagenumwobenen Frau mit Ecken und Kanten faszinierte, fielen ihr die Augen zu. Sie schlief tief und fest, bis ein Höllenlärm sie aus dem Schlaf riss. Erschreckt fuhr sie hoch und schaute sich um. Hatte sie geträumt? Stimmengewirr drang aus dem Flur vor ihrem Zimmer. Sie verstand kein Wort. Die Frauenstimmen tönten aufgebracht, die Männerstimme wütend. Ihre Neugierde lockte sie aus dem Bett. Vier Frauen, den hellblauen Arbeitskitteln nach zu urteilen vom Housekeeping, und ein Mann stritten um die Wette. Alle schwatzten miteinander, ohne sich zuzuhören. Die Gesten und Gesichtsausdrücke zeigten, dass es sich um ein wichtiges Thema handelte. Bei Lauras Anblick verstummten sie und sahen sich gegenseitig fragend an.

»Darf ich wissen, was hier los ist?«, fragte Laura.

Sie bekam keine Antwort.

»Wenn ihr Geheimnisse habt, müsst ihr diese nicht im Flur besprechen.«

Der Mann trat einen Schritt näher zu Laura und schaute ihr wütend in die Augen: »Sie sind schuld.«

»Ich? Woran?«

»An unseren Arbeitsbedingungen.«

»Ich arbeite seit einer Woche hier. Logischerweise kann ich dann nicht an Ihrem Problem schuld sein. Wenn Sie unzufrieden sind, müssen Sie nicht hier im Korridor den Aufstand proben. Melden Sie sich bitte höflich beim Personalbüro.«

»Das sagen Sie so, als ob es einfach wäre. Wir bekommen nicht einmal einen Gesprächstermin bei dieser Pauline Roux. Sie wimmelt uns immer ab.«

»Um was genau handelt es sich?«

»Um die Unterbringung der Mitarbeitenden. Die ist miserabel für ein Hotel dieses Standards! Die Gäste leben in Saus und Braus, und wir hausen unter erbärmlichen Wohnbedingungen.«

»Was meinen Sie? Zeigen Sie es mir. Ich heiße im übrigen Laura Pfeiffer und bin die Assistentin des Hotelmanagements.«

»Ich bin Janik Antonescu. Das sind Svetlana Popa, Olga Daskalu, Mira Matei und Liana Gabor. Wir sind aus Rumänien und arbeiten im Housekeeping-Team. Hauptsächlich sind wir als Reinigungskräfte tätig. Man hat uns versprochen, dass wir in der Schweiz ordentlich Geld verdienen. Leider hat uns niemand gesagt, dass es für Kost und Logis happige Abzüge gibt und am Ende nicht viel übrig bleibt. Die Unterkunft ist unzumutbar für den Preis, den wir bezahlen.«

»Ich wohne auch nicht in einer Suite.«

»Aber Sie haben ein Zimmer für sich allein.«

»Ja.«

»Schauen Sie mal unsere an.«

Er stampfte voran und öffnete eine Tür. Der Raum hatte die Größe ihres Zimmers, aber es standen zwei Kajütenbetten darin, mehrere Stühle, ein Tisch und vier Garderobenschränke. Eine Dachgaube ließ wenig Licht in die Kammer.

»Toiletten und Duschen benützen wir gemeinsam. Sie sind am anderen Ende des Gangs in einem Verschlag wie diesem.«

»Ich gebe euch recht, das ist nicht luxuriös und zu knapp für vier Personen. Und was wird dafür abgezogen?«

Sie staunte ob der Höhe des Betrags, den er nannte. Da stimmte tatsächlich etwas nicht. Aber sie würde sich im Moment nicht dazu äußern. Es würde nur Öl ins Feuer gießen.

»Und was fordert ihr genau?«

»Wir verlangen bessere Bedingungen. Zweierzimmer, wie uns versprochen wurde, und geringere Abzüge. Sonst streiken wir.«

»Lasst mich die Sache morgen mit den Damen Schwarzenbach und Roux besprechen. In der Schweiz wird nicht so schnell gestreikt. Zuerst finden Verhandlungen statt.«

»Können wir Ihnen vertrauen? Setzen Sie sich wirklich für uns ein?«

»Ja.«

»Sie sind die Erste, die uns zuhört und etwas unternehmen will. Kommen Sie, das begießen wir.«

Er sagte zwei Sätze auf Rumänisch zu den Frauen. Diese holten Stühle in den Flur und drängten Laura, sich zu setzen. Minuten später hatten alle ein Glas in der Hand. Janik schenkte Rotwein ein.

»Auf unsere Verhandlungen!«, prahlte er.

Mit verschwörerischen Mienen stießen sie zusammen an. Laura bot ihnen das Du an. Verwunderung und Freude zeichnete sich auf den Gesichtern der Menschen ab. Anscheinend waren sie es nicht gewöhnt, dass Personen aus der Chefetage sich duzen ließen. Laura hatte dazu ihre eigene Philosophie. Sie begegnete Mitarbeitenden mit dem gleichen Respekt, mit dem auch sie behandelt werden wollte. Egal in welcher Position jemand seine Arbeit verrichtete. Sie war sich bewusst, dass jeder Teil des Motors einer Firma wichtig war, und sei es die kleinste Schraube.

Svetlana stimmte unverhofft das Lied »When we were young« von Adele an. Der Gesang traf Laura bis ins Innerste. Sie fragte sich, ob es der Text war, der sie so berührte.

Oder kamen die Emotionen daher, dass die Rumänin mit viel Gefühl und einer ausdrucksvollen Stimme sang? Während der ganzen Darbietung bewegte sich niemand der Zuhörer. Nur Laura zückte ihr Handy und nahm einen Teil des Liedes auf Video auf. Zum Schluss klatschten alle wie wild.

»Du bist eine begnadete Sängerin.«

»Danke. Ja, man sagt, dass ich Talent besitze. Tatsächlich plane ich eine Gesangskarriere. Es muss mich nur noch jemand entdecken.«

Sie lächelte melancholisch und fügte hinzu: »Unter Umständen gelingt es mir in Montreux.«

»Ich wünsche dir Erfolg.«

Das Zusammensein mit den Mitarbeitenden tat Laura wohl. Sie genoss den Moment und den Wein, der ausgezeichnet schmeckte. An der Hotelfachschule hatte sie die Kunst der Weinverkostung erlernt. Nun versuchte sie, ihre Kenntnisse abzurufen. Sie kam zum Schluss, dass es sich um einen strukturierten und komplexen Rotwein mit feinen Tanninen und holzigen Noten handelte. Sie nahm das Etikett in Augenschein. Es war ein Merlot einer renommierten Kellerei aus dem Wallis. Erst in ihrem Zimmer fragte sie sich verwundert: Woher hat jemand, der sich über die Arbeitsbedingungen beklagt, einen solchen Wein?

Kapitel 4 / Vermisst

Laura schlief hundsmiserabel in dieser Nacht. In einer Wachphase setzte sie sich an den Computer. Im Posteingang fand sie viele unbeantwortete Mails. Eines war von Pedro Lukic, dem sie versprochen hatte, in Kontakt zu bleiben. Der Wachtmeister schrieb, wie es ihm, ihrer Schlummermutter Alexa und der Freundin Marianne erging. Sie hatte ein wenig Sehnsucht nach Zermatt und den Menschen. Gerne wäre sie einmal hingefahren. Aber sie hatte ihre neue Tätigkeit erst aufgenommen. Ferien waren im Moment nicht drin. Seit Tagen hatten sich ihre Gedanken nur mit Arbeitsabläufen beschäftigt. Die Sommermonate im Bergdorf waren in weite Ferne gerückt. Sie entschuldigte sich, dass sie nichts hatte von sich hören lassen, und berichtete von ihrem Einstieg am neuen Arbeitsort. Ihm vertraute sie ihre Zweifel an, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein. Niemandem sonst hätte sie gewagt, ihre Zerrissenheit mitzuteilen. Und da sie schon dabei war, beantwortete sie auch die anderen Mails. Ihrer Mutter beschrieb sie die Lage des Hotels, die Ausstattung der Zimmer und die Menükarte. Kurz vor 5 Uhr legte sie sich wieder schlafen.

Ein heftiges Klopfen weckte sie. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihr, dass es 8 Uhr war. Sie schlüpfte aus dem Bett und huschte an die Tür.

»Wer ist da?«

Olga, eine der Mitarbeiterinnen, die sie gestern im Flur kennengelernt hatte, meldete sich in gebrochenem Englisch.

»Bitte komm. Es ist etwas passiert.«

»Bin gleich bei dir. Warte kurz.«

In aller Eile zog sie sich an. Ohne einen Schluck Kaffee am Morgen fiel es ihr schwer, sich zu konzentrieren und sich in die Sorgen der jungen Frau hineinzuversetzen. Was sie dann zu hören bekam, drang zwar an ihre Ohren, aber sie verstand es im ersten Moment nicht.

»Meine Freundin und Arbeitskollegin, Svetlana Popa, ist gestern nach unserem Zusammensein weggegangen. Sie sagte, dass sie in Évian-les-Bains einen Freund treffe. Der hatte ihr beteuert, Fotos von ihr an ein Magazin zu verkaufen und sie als Modell groß rauszubringen. Sogar einen Termin mit einem Musikagenten versprach er zu besorgen. Sie ist nicht zurückgekommen. Nie würde sie über Nacht wegbleiben. Gewiss ist ihr etwas zugestoßen. Bitte hilf ihr.«

Sie hatte aufmerksam zugehört und versucht, die junge Frau zu beruhigen. Aber zuerst brauchte sie einen Espresso, um ihren Motor auf Touren zu bringen.