Matterzorn - Christine Bonvin - E-Book

Matterzorn E-Book

Christine Bonvin

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Beschreibung

An ihrem ersten Arbeitstag im Hotel Blatterhof bewundert Laura Pfeiffer das mächtige Matterhorn. Minuten später schaut sie in die starren Augen eines Toten im luxuriösen Badezimmer ihrer neuen Arbeitsstätte. Die Hoteliersfamilie will den Fall so diskret wie möglich abwickeln. Lauras angeborene Neugier verführt sie jedoch zu Nachforschungen, ihre Vorsätze, sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen, vergisst sie. So kommt sie dem Geheimnis des Toten auf die Spur und gerät zwischen die Fronten.

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Christine Bonvin

Matterzorn

Kriminalroman

Zum Buch

Menschliche Abgründe Laura Pfeiffer bewundert an ihrem ersten Arbeitstag im Hotel Blatterhof das Matterhorn mit seiner markanten Form. Minuten später schaut sie in die starren Augen eines Toten im luxuriösen Badezimmer ihrer neuen Arbeitsstätte. Die Hoteliersfamilie Blatter tendiert zu Suizid und wünscht eine diskrete Abwicklung des Falls. Wachtmeister Lukic besteht auf den kriminaltechnischen Ermittlungen, findet jedoch keine Indizien für einen Mord. Laura hingegen zweifelt an der Selbstmordthese und beginnt auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Ihre Vorsätze, sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen, gehen unter. Als sie im Büro des Hotelbesitzers nach belastenden Hinweisen sucht, wird sie in flagranti erwischt und auf der Stelle gekündigt. Trotzdem recherchiert sie weiter. Sie kommt dem Geheimnis des Toten auf die Spur – und gerät zwischen die Fronten.

Christine Bonvin lebt seit vielen Jahren im Wallis, einem südlichen Kanton der Schweiz. Die Freude am Schreiben erwachte in reiferen Jahren. Davor arbeitete sie in einer Großbank und in einem Hotel. Sie ließ sich zur Betriebswirtschafterin ausbilden und beteiligte sich am Aufbau und an der Führung einer Firma im Bahnsicherungssektor. Die Geschichten schlummerten in einer Schublade, bis es Zeit war, sie herauszuholen. Nebst der kriminellen Ader hat sie einen grünen Daumen und erfreut sich an kulinarischen Genüssen. Wenn sie nicht in die Tasten haut, empfängt sie gerne Gäste in ihrem kleinen Bed & Breakfast mit Naturgarten. Sie ist im Vorstand von KRIMI SCHWEIZ – Verein für schweizerische Kriminalliteratur und Mitglied im SYNDIKAT.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Yvon Poncelet

ISBN 978-3-8392-7584-9

Widmung

für meinen Sohn Emanuel

Montagmorgen / Fehlstart

Laura Pfeiffer hatte sich ihren ersten Arbeitstag im Hotel in Zermatt geruhsamer vorgestellt. Vor dem Arbeitsantritt hatten sie Albträume geplagt – ein Toter und der Umgang mit einem suspekten Vorgesetzten waren darin jedoch definitiv nicht vorgekommen. Das Debakel bahnte sich bei der morgendlichen Begrüßung durch einen der drei Juniorchefs an.

»Freundlichkeit ist zu wenig, Herzlichkeit ist gefragt. Unsere Gäste sollen sich im Blatterhof wohlfühlen, sich erholen, sich verwöhnen lassen. Das Motto ist: wie zu Hause – aber mit Service! Bitte verinnerlichen Sie diesen Leitsatz.«

Griesgrämig fixierte Andreas Blatter die Hotelfachfrau. »Und übrigens, schließen Sie den obersten Knopf Ihrer Bluse!«, fügte er an, während er ihr in den Ausschnitt glotzte. Wie verhält es sich mit dem korrekten Umgang von Arbeitgebern gegenüber Untergebenen, fragte sich Laura. Sie folgte dem Personalchef an ihrem ersten Arbeitstag durch das Fünfsternehotel und sinnierte, ob er seine Leitlinien aus einem Weiterbildungskurs zitierte. Sie zweifelte an den sozialen Kompetenzen ihres Vorgesetzten.

»Haben Sie das verstanden?« Er blieb unvermittelt stehen und musterte sie von oben bis unten. Ihr Anblick schien ihm zweifellos zu gefallen. Seine Mundwinkel zogen sich leicht in die Höhe. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Laura war es unangenehm. Emotionell bewegt antwortete sie dennoch unaufgeregt: »Selbstverständlich, Herr Blatter.«

»Ich führe Sie durch das Hotel und zeige Ihnen die wichtigsten Räumlichkeiten. Darauf wird Sie Josefa Blatter, meine Schwester, in die Organisation der Rezeption und das EDV-System einarbeiten. Wir erwarten, dass Sie ab morgen voll einsatzfähig sind. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.«

»Ja, Herr Blatter.« Sie lächelte förmlich. Geistig verwünschte sie den Mann ins Pfefferland. Zweifel stiegen in ihr hoch. Hatte sie den richtigen Arbeitsort gewählt? Würde sie diese Allüren ohne Widerspruch ertragen?

»Folgen Sie mir. Wir begeben uns ins Untergeschoss und schauen den Wellnessbereich an. Ich stelle Sie dann gleich der Leiterin der Abteilung vor. Wir hatten Ihnen sämtliche Unterlagen zugeschickt, und ich verlasse mich darauf, dass Sie diese eingehend studiert haben.«

»Mit immensem Interesse«, bestätigte sie. Da warten Hausaufgaben heute Abend, überlegte sie. Auf dem Weg ins Souterrain nahm sie ihn von hinten unter die Lupe. Sportliche Statur, eleganter Anzug, gepflegter Haarschnitt, aber charakterlich eine widerwärtige Person. Im Gegensatz zu seinem Bruder Pirmin, den sie am Tag zuvor überraschenderweise in der Matterhorn Gotthard Bahn kennengelernt hatte. Sie vermochte nicht, weiter über die Begegnung mit dem einnehmenden Mann nachzudenken. Der Anblick des großzügigen Schwimmbeckens mit der eindrucksvollen Fensterfront und dem Blick auf die verschneiten Viertausendender begeisterte Laura und lenkte sie von der Episode des Vortages ab.

»Die Badelandschaft mit Pool, Saunen, Grotten und Ruhebereichen bildet das Herzstück des Wellnessbereichs.«

Die Selbstgefälligkeit in Andreas Blatters Stimme entging Laura nicht. Eine Vielzahl an luxuriösen Räumen für Gesichts- und Körperbehandlungen ergänzten die Wohlfühlzonen. Die Hotelfachfrau zeigte sich beeindruckt.

»Es ist enorm wichtig, dass die Mitarbeitenden der Rezeption und die Angestellten dieses Bereichs tadellos miteinander kommunizieren. Wir erwarten, dass Sie die Wünsche der Gäste sofort an die Abteilungsleiterin weiterleiten. Die Anliegen unserer Kunden haben absolute Priorität.«

»Ich bin das von meiner Ausbildung her so gewohnt.«

»Das wird sich weisen. Im Erdgeschoss befinden sich die Eingangshalle, die verschiedenen Restaurants und die Bar. Die Zimmer und die Suiten sind über die vier Etagen verteilt.«

Sie folgte ihm weiter durch lange Korridore in die Küche. In dieser herrschte Hochbetrieb. Aus der Ferne erkannte sie Pirmin. Er war die Zufallsbekanntschaft aus dem Zug, wie sie nur in Heftromanen vorkommt. Er spukte immer wieder in ihrem Kopf rum. Das Treffen mit dem gewinnenden Mann beschäftigte sie. Er hantierte am Herd, hob den Blick und winkte ihr heiter zu. Sie erwiderte die Geste mit einem breiten Lächeln.

»Diese Räumlichkeiten sind für Sie nicht von Bedeutung, und halten Sie sich von den Mitarbeitenden der Küche fern. Techtelmechtel unter Betriebsangehörigen sind tabu«, herrschte Andreas sie an. Er drängte sie weiter.

»Hier sehen Sie unser Gourmet-Restaurant, das Blatter-Stübli. Feinschmecker kommen bei uns voll auf ihre Kosten. In der von Gault Millau mit 16 Punkten ausgezeichneten Arvenholzstube servieren wir Meisterstücke italienisch-mediterraner und französischer Kochkunst.«

Der charakteristische Duft des Arvenholzes stieg Laura in die Nase und löste ein angenehmes Gefühl aus. Zudem fand sie den Raum gemütlich und elegant eingerichtet. Die Tischdecken waren in einem Honiggelb gehalten, die Vorhänge eine Nuance dunkler. Das Stübli war warm beleuchtet.

»Ihr Bruder ist der Küchenchef?«

»Ja, er ist ein Künstler seiner Zunft. Er hat sich mit knapp 30 Jahren bereits Gault Millau-Punkte erkocht.«

»Bemerkenswert. Ich hoffe, dass in der Personalküche etwas von den kulinarischen Künsten auf die Teller kommt.«

»Na ja, da kochen wir nicht auf dem gleichen Niveau. Aber durchaus akzeptabel. Sie werden sich nicht zu beklagen haben.«

Es folgten der Frühstücksraum, ein weiteres Restaurant und die Bar. Sie wurde den Verantwortlichen jeweils kurz vorgestellt. Durch die Eingangshalle erreichten sie die geschwungene Treppe und dann die Stockwerke mit den Schlafzimmern. Er schien Sportler zu sein. Mühelos stieg er die Stufen hoch, ohne dass sein Atem in die Höhe schnellte. Sie hingegen merkte, dass ihre Fitness nicht auf dem besten Stand war. Mit geschwellter Brust zeigte ihr der Juniorchef ein Zimmer um das andere. Sie waren gediegen möbliert, lichtdurchflutet und in warmen Farben gehalten.

»Und nun kommt das Prunkstück, die Hochzeitssuite. Sie ist zwar im Moment besetzt, aber wir kontrollieren pro forma, ob der Zimmerservice alles zu meiner Zufriedenheit erledigt hat.«

Er klopfte. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür und rief: »Hallo!« Es meldete sich niemand. So nah wie möglich drückte er sich an Laura vorbei. Dabei touchierte er ihre Oberschenkel. Ob aus Versehen oder absichtlich, war nicht klar. Sie blieb irritiert stehen. Er schwirrte davon, als ob nichts geschehen wäre.

»Bitte schauen Sie sich um. Auf meine Initiative wurden diese Räume umgebaut und modernisiert. Der Salon ist mit hochwertigen Designermöbeln ausgestattet. Die Farbpalette ist durch eine Spezialistin auf das helle Dekor des Arvenholzes abgestimmt worden. Aus diesen Räumlichkeiten gibt es den besten Ausblick auf das Matterhorn.«

Laura nickte beeindruckt. Die Braun-, Beige- und Weißtöne der Vorhänge und die Möbel harmonierten ausgezeichnet. Der Innenarchitektin war es gelungen, den Luxus und die Gemütlichkeit zu vereinen. Hier würde es ihr auch gefallen.

»Warum zum Donnerwetter ist noch nicht aufgeräumt? Was treiben die vom Housekeeping wieder den Morgen lang?« Laura störte es nicht, dass ein Schuh im Wohnzimmer lag, eine Whiskyflasche und ein Glas auf dem Salontisch standen und die Kissen nicht ordnungsgemäß auf das Sofa geschichtet waren.

»Erlauben Sie, dass ich Fotos aufnehme, um sie meiner Mutter zu zeigen?«

»Für den privaten Gebrauch gestatte ich es. Die Bilder dürfen aber nicht in die Hände von Unbefugten gelangen oder in den sozialen Medien landen. Klar?«

Sie nickte und zückte ihr Handy, das sie immer in ihrer Hosentasche trug. Die schönsten Aufnahmen glückten ihr auf dem Balkon der Suite. Der Blick auf das Matterhorn war umwerfend und mythisch. Es verschlug ihr beinahe den Atem. Aus ihrem Innersten löste sich ein kräftiges: »Wow!«

»Gefällt es Ihnen?«

»Ja, Herr Blatter. Wirklich geschmackvoll ausgestattet, und der Blick auf das Matterhorn nimmt einem den Atem.«

In der Suite schoss sie einige Aufnahmen. Damit die Fotos nicht aussahen wie im Prospekt, nahm sie ein paar Gegenstände mit auf das Bild, die der Gast im Zimmer hingelegt hatte. Ein Buch und eine Agenda, einen Kugelschreiber sowie einen Zeichenblock. Es sah bewohnter aus.

»Schauen Sie sich das Schlafzimmer an.«

Er stieß die Tür auf und ließ Laura zuerst eintreten. Etwas Gediegeneres hatte sie noch nie gesehen. Sie fragte sich, wer sich so eine Suite leistete.

»Ist ein Hochzeitspaar einquartiert?«

»Nein, ein Reisender aus Italien, der aus beruflichen Gründen regelmäßig nach Zermatt kommt.«

Beeindruckt bestaunte sie die Räumlichkeiten und die Innenarchitektur. Das Bett maß zwei Meter in der Breite und war mit einer Unmenge von Kissen belegt. Es sah unbenutzt aus. Der Schrank mit Glasschiebetüren verstärkte die eindrückliche Größe des Raums. Auch hier nahm Laura ein paar Bilder auf. Und wieder drückte sich Blatter so nah an sie, dass sie ihn im Drehen berührte. Es schauderte sie. Sie verließ das Schlafzimmer Richtung Bad, welches mit einer Schiebetür vom Salon abgetrennt war. Sie schob sie zur Seite und blieb, wie vom Blitz getroffen, stehen. Nun wusste sie, wer hier eingemietet war. Leider vermochte der Mann es nicht mehr zu genießen. Er lag angezogen in der leeren Badewanne. Der Kopf war nach hinten geneigt. Die Augen starrten ausdruckslos an die Decke. Ein Arm hing über den Rand. Der ganze Körper wirkte verspannt. Die Füße waren nackt.

»Der Granitstein ist eine Hommage an die Bergwelt. Was ist? Bestaunen Sie diese einmalige Nasszelle?«

Andreas, der hinter sie getreten war, schubste sie ein Stück in den Raum. Sie stolperte und blieb wie versteinert stehen. Ihr Körper zitterte, und ein Stechen im Kopf setzte ein. Die ganze Situation erschien ihr realitätsfremd. Es sah aus wie ein perfekt inszeniertes Bild. Auf einem Tischchen neben der Wanne standen eine Flasche Arran Single Malt und ein Glas. Am Boden lagen eine Medikamentenpackung mit leeren Blister und Packungsbeilagen. Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, schoss es Laura durch den Kopf. Ihr Hang zum schwarzen Humor verflüchtigte sich schnell. Blatter stieß einen durchdringenden Fluch aus. Seine Wut und das Erstaunen flachten für Lauras Empfinden flugs ab. Er begab sich näher zur Wanne, trampelte über die Packung und beugte sich zum Opfer. Aus dem halb geöffneten Mund entströmte kein Hauch. Andreas drückte Zeige- und Mittelfinger an den Hals. Nichts. Er verlor für einen kurzen Moment die Fassung und drehte sich zu Laura. Sie stand wie eine Statue da. Die Blicke des leblosen Mannes und ihres Chefs waren unerträglich. In ihrem Magen rumorte es.

»Rufen Sie die 777 an. Das ist die interne Nummer meines Vaters. Er soll schleunigst in die Hochzeitssuite kommen.«

Laura kam die Aufforderung gelegen. So konnte sie sich mit gutem Grund vom angsteinflößenden Ort abwenden. Sie bildete sich ein, dass sie hart im Nehmen wäre. Offensichtlich hatte sie sich tüchtig verschätzt. Diese Szene setzte ihr massiv zu. Im Magen-Darmtrakt brodelte es. Übelkeit stieg hoch. Sie ließ sich auf das Sofa fallen. Zitternd griff sie zum Telefonhörer und erfüllte mechanisch die Anordnung ihres Vorgesetzten. Der Seniorchef am anderen Ende schnauzte sie an. Er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand sagte, was er zu tun hatte.

»Es ist wichtig«, wagte sie anzufügen. Laura war unfähig, ihm die Sachlage zu schildern. Die Stimme versagte. Ihr rannen Tränen über die Wangen. Andreas kam dazu und riss ihr den Hörer aus der Hand. An seiner Tonlage bemerkte sie Ärger und Respekt.

»Dieser neureiche Italiener liegt tot in der Badewanne. Alles deutet auf Suizid hin. Der war mir schon immer ein wenig suspekt. Wie mir zu Ohren kam, hielt er sich tagelang in der Suite auf und hat das Matterhorn angeglotzt. Mit dem Geld ging er großzügig um. Was uns ja nicht weiter störte.«

Polternd stand Gaudenz Blatter kurz darauf am Ort des Geschehens. Er trampelte wütend in das Badezimmer. Seine Stimmung verdüsterte sich beim Anblick der Leiche.

»Hüerasiech1. Muss das sein? So ein verfluchter Tag. Heute findet die Versammlung des Ortsvereins statt, an der ich die Interessen der Burgergemeinde vertrete. Und nun ein Selbstmord in meinem Hotel. Einen dümmeren Moment hätte sich dieser Idiot für seinen Tod nicht ausdenken können. Zudem bringen mich perfide Schlagzeilen zur Weißglut. Andreas, schau, dass diese Angelegenheit diskret vom Tisch gefegt wird. Zitiere Doktor Zergaffinu und den Tschugger2 hierher. Sie sollen unbedingt den Lieferanteneingang benutzen und sich vorher telefonisch anmelden. Sie, Fräulein … wie ist schon wieder Ihr Name?«

»Pfeiffer.«

»Sie, Fräulein Pfeiffer, kümmern sich darum, dass weder Polizei noch Arzt oder sonst wer von den Gästen gesehen werden. Verstanden?«

»Frau Pfeiffer«, warf Laura leise, aber deutlich ein.

Mitgefühl kannte der Mann anscheinend nicht, grübelte sie. Ebenso wenig wusste er, wie man heutzutage eine weibliche Person korrekt anspricht. Vater und Sohn verließen wild gestikulierend und diskutierend den Raum. Der Inhalt des Wortwechsels drang nicht in Lauras Bewusstsein. Sie blieb allein zurück. Ein innerer Druck lotste sie ins Bad. Sie betrachtete den Toten. Spontan schoss sie ein paar Handybilder. Sie vermochte nicht zu sagen, weshalb und wofür. Vielleicht zum Gedenken an den Anblick ihrer ersten Leiche und den Arbeitsbeginn im Hotel Blatterhof. So hatte sie es sich auf keinen Fall vorgestellt. Der Tod des Mannes brachte sie ins Grübeln. Warum tat ein Mensch so etwas? Welchen Grund hatte er, sich umzubringen? War es tatsächlich Selbstmord? Sie schaute sich im Zimmer um. Einen Abschiedsbrief fand sie nicht. Vielleicht entdeckte sie einen Hinweis auf die Todesursache oder Spuren eines Täters. Sie spähte von einer Ecke in die nächste. Derweil sie das Wohnzimmer akribisch unter die Lupe nahm, erinnerte sie sich an ihre Vorsätze. Sie hielt inne. Sie hatte sich vorgenommen, sich nie mehr in die Angelegenheiten anderer Menschen einzumischen. Aber das Leben forderte sie gerade wieder einmal heraus, und beinah wäre sie darauf reingefallen. Sie verließ die Räumlichkeiten und gelobte sich selbst, standhaft zu bleiben und nicht weitere Nachforschungen anzustellen. Für das war die Polizei zuständig, nicht sie. Trotzdem verfolgte sie der eingeschlagene Pfad in Gedanken.

1 Gottverdammt

2 Polizist

Montagmittag / Tatort

Pedro Lukic und der Arzt trafen zeitgleich am Hintereingang des Hotels Blatterhof ein. Laura erwartete sie neben der Tür. Sie trat von einem Fuß auf den anderen und wischte sich die schwitzenden Hände an ihrem Rock ab. Fragend schaute sie zum groß gewachsenen Schwarzhaarigen auf, dann zu dem älteren Herrn mit der Nickelbrille.

»Sind Sie Frau Pfeiffer?«, sprach der Kleinere sie an. »Ich bin Julian Zergaffinu, der Dorfarzt. Das ist Wachtmeister Lukic«. Er zeigte auf den jüngeren Mann. »An­dreas Blatter hat uns angerufen.«

»Was ist geschehen?«, erkundigte sich der Polizist.

»Andreas Blatter und ich haben die Hochzeitssuite inspiziert. In der Badewanne haben wir den toten Gast gefunden. Der Chef vermutet Suizid.«

»Wenn Gaudenz das sagt …«, brummte der Arzt.

»Das klären wir polizeitechnisch ab«, intervenierte der Wachtmeister postwendend.

Laura nickte und führte die beiden zu dem Toten.

Die Leute im Dorf hielten sich offenbar an die Anordnungen des Hotelbesitzers. Der Einfluss von Gaudenz Blatter in Zermatt schien groß, ansonsten würde so ein Manöver mit dem Hintereingang doch nicht klappen. Der Polizist gefiel ihr. Schon wieder ein gefälliger Vertreter des männlichen Geschlechts, der ihr Herz höherschlagen ließ. Prompt erinnerte sie sich an ihre Vorsätze, was Männer betraf. Sie setzte das Angestelltengesicht auf, die Gedanken verbannte sie.

In der Suite strahlte die Sonne in den Raum und füllte ihn mit Licht und Wärme. Der kunstvoll arrangierte Blumenstrauß mit Pfingstrosen, Staudenwicken und Blaudolden leuchtete. Zusammen mit der Obstschale ergab sich ein Bild wie auf einem Stillleben. Eigentlich bot die Suite einen idyllischen Anblick. Nur der Tote im Badezimmer passte nicht in die beschauliche Szene.

Mit gebeugtem Rücken stand Doktor Zergaffinu am Rand der Wanne und inspizierte die Leiche. Er hatte Gummihandschuhe übergezogen und die Schuhe mit einem Schutz bespannt. Pedro Lukic sah sich mittlerweile in der Suite um.

»Haben Sie etwas angefasst?« Er schaute Laura prüfend an. Unschlüssig erwiderte sie: »Die Badezimmertür und das Telefon.«

»Und Herr Blatter?«

»Er ist zum Toten und …«

»… und hat die Medikamentenschachtel zertrampelt. Es könnten Spuren verloren gegangen sein«, fuhr ihr Lukic dazwischen.

»Aber er musste sich doch vergewissern, ob der Mann noch lebt. Oder?«

»Schon gut. Lassen wir das.« Zu Doktor Zergaffinu gewandt, fragte er: »Und?«

Ohne sich umzudrehen, murrte dieser: »Fragen Sie mich jetzt nicht nach der Todesart, der Ursache und dem Todeszeitpunkt«.

Der Polizist mit dem atypischen Walliser Namen zuckte mit den Schultern.

»Ich rufe die Spurensicherung und den Staatsanwalt. Wir ziehen das ganze Programm durch. Sind wir soweit fertig?«

»Gleich.«

Laura verzog sich auf den Balkon der Suite. Obwohl kein Leichengeruch in der Luft lag, verspürte sie den Drang nach frischem Wind. Sie richtete ihren Blick auf das imposante Matterhorn, das in den tiefblauen Himmel ragte. Der Polizist winkte sie in den Salon: »Haben Sie im Raum etwas verändert?«

»Nein. Nichts. Warum sollte ich?«

Sie schaute sich nochmals um. Die Tür des Safes in der Anrichte war offen. Sie erinnerte sich nicht, das vorher bemerkt zu haben. Andreas Blatter preschte herein und stellte sich breitbeinig vor Lukic.

»Unsere Familie wünscht, dass alles diskret über die Bühne geht. Den Beamten ist es nicht erlaubt, den Haupteingang zu benutzen. Ist das klar?«

»Wir haben einen Todesfall abzuklären. Und das handhaben wir hier genauso wie anderorts, und zwar nach den üblichen Vorschriften. Bitte verlassen Sie die Räumlichkeiten. Niemand darf das Zimmer betreten. In Kürze treffen der kriminaltechnische Dienst und der Staatsanwalt ein.«

Durchdringend sah er von Andreas zu Laura.

»Besorgen Sie mir alle Angaben des Gastes. Wir verständigen die Angehörigen des Toten, und dann hätte ich gerne einen Raum, in dem wir ungestört sind.«

»Frau Pfeiffer, Sie holen die Personaldaten an der Rezeption. Ich begebe mich mit dem Wachtmeister in mein Büro. Sie kommen nach.«

Der Blick von Lukic streifte sie erneut. Verdächtigte er sie oder interessierte sie ihn als Zeugin?

»Ihre Aussage nehme ich gleich auf.«

Laura war froh, aus dem Raum zu entschwinden. Josefa Blatter kam an der Rezeption auf sie zugeeilt.

»Mein Vater hat mich informiert. Sie sind ab sofort zuständig für die diskrete Abwicklung mit der Polizei, dem Arzt, den verschiedenen Diensten und dem Bestatter. Achten Sie darauf, dass keiner der Gäste etwas davon mitbekommt. Ich verlasse mich auf Sie! Ihr Ausbildungsprogramm verschieben wir auf morgen. Alles klar?«

Josefa Blatters Anteilnahme fiel kühl aus. Die einzige Sorge galt dem Ansehen des Hotels. Widerwillig hatte sie den Platz an der Rezeption eingenommen. Sie brummte:

»Marianne, unsere Aushilfskraft aus dem Dorf, konnte so spontan nicht einspringen.«

»Ich benötige die Daten des Gastes aus der Hochzeitssuite für die Polizei. Der Wachtmeister will die Angehörigen des Verstorbenen informieren.«

Josefa hantierte am Computer und knurrte: »Jetzt muss ich auch noch Anordnungen der Angestellten entgegennehmen.«

Sie schoss Laura einen giftigen Blick zu und setzte in der nächsten Sekunde ein freundliches Lächeln auf, weil sich ein Gast zu ihnen gesellte.

»Bitte reservieren Sie mir und meiner Frau einen Helikopterflug rund ums Matterhorn. Sie feiert morgen ihren 60. Geburtstag, und ich möchte sie damit überraschen.«

Auf dem Weg zu Andreas’ Büro sah sich Laura die Personalien des Toten an. Er kam aus Parma und hieß Mauro Gallo. Unter Bemerkungen stand: »Nimmt jeden Abend ein Bad und trinkt einen Whisky. Bitte genügend Badezusatz und Arran Single Malt bereitstellen.«

Aha, überlegte sie. Ein Badewannen- und Whiskyliebhaber. Und was sonst noch? Ihre Fantasie ging mit ihr durch, aber der fragende Blick des Wachtmeisters brachte sie in die reale Welt zurück. Sie drückte ihm die Unterlagen in die Hand und schaute ihn herausfordernd an.

»Dann nehme ich jetzt Ihre Aussage auf, Frau Pfeiffer. Herr Blatter, lassen Sie uns einen Moment allein?«

»Ich bleibe hier. Es ist wichtig, dass ich höre, was die Mitarbeitende zu Protokoll gibt.«

»Es ist wichtig für meine Ermittlung. Sie haben ja alles selbst mitverfolgt. Bitte verlassen Sie den Raum.«

Zornig stampfte Andreas zur Tür. Er ließ sie mit einem Krachen ins Schloss fallen. Pedro Lukic lächelte verschmitzt und wandte sich Laura zu.

»Berichten Sie mir jedes kleine Detail, von dem Augenblick an, in dem Sie die Suite betraten.«

Sie beschloss, die peinliche Situation mit Blatter unerwähnt zu lassen. Alles andere beschrieb sie aus ihrer Sicht und Erinnerung. Er schrieb sich die Informationen in sein Notizheft und forderte sie auf, bei nächster Gelegenheit ihre Aussage im Polizeiposten zu unterschreiben. Sie fragte sich, wieso ausgerechnet ihr so was passieren musste. Beim Gedanken an die Leiche erfasste sie ein Schüttelfrost.

»Brauchen Sie Hilfe?«

»Es ist alles so irreal. Ich hatte bis heute nie einen Toten gesehen, und jetzt dieser schreckliche Vorfall. Von was gehen Sie aus: Suizid oder Mord?«

»Im Moment ist es schwer zu beurteilen. Ich sammle und gewichte Fakten, die für die eine oder andere These sprechen.«

»Verstehe«, murmelte sie.

»Sie sehen mitgenommen aus. Möchten Sie sich ausruhen oder benötigen Sie ärztliche Betreuung? Soll ich der Familie Blatter Bescheid geben, dass Sie eine Pause brauchen?«

»Nein danke. Es geht schon. Ich schaffe es.« Sie seufzte und fügte hinzu: »Ich kann doch nicht schon am ersten Arbeitstag um eine Auszeit bitten.«

»Wie Sie wünschen. Es ist Ihre Entscheidung.«

»Ja. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich morgen oder übermorgen zum Polizeiposten, um meine Aussage zu unterschreiben. Im Moment habe ich dafür zu sorgen, dass der kriminaltechnische Dienst und der Staatsanwalt so diskret wie möglich an den Tatort gelangen.«

Brummend stimmte er zu: »Wir fixieren gleich einen definitiven Termin.«

»Dann komme ich übermorgen. Von 14 bis 17 Uhr ist Zimmerstunde. Passt 16 Uhr?«

»Ich erwarte Sie am Mittwoch um 16 Uhr. Und falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an. Hier ist meine Karte.«

Andreas Blatter betrat, ohne anzuklopfen, den Raum. »Und? Hat sie das Gleiche ausgesagt wie ich?«

Lukic reagierte mit einem Achselzucken und einer Aufforderung:

»Ich benötige die Aufnahmen der Videokameras im Flur der Hochzeitssuite von gestern und heute. Eine Liste der Mitarbeitenden, die im Zimmerservice tätig waren. Und dann bitte ich die entsprechenden Personen, sich hier im Büro zu melden. Einen nach dem anderen. Unter vier Augen, wohlverstanden.«

Andreas Kopf verfärbte sich von Schweinchenrosa in die nächstfolgende dunklere Farbabstufung. Deutlich genervt fuhr er Laura an: »Frau Pfeiffer, Sie besorgen die Liste, informieren das Personal und veranlassen, dass Herr Lukic die Videos erhält. Ich habe noch etwas zu erledigen. Sie finden mich im Büro meiner Schwester, falls Sie weitere Informationen benötigen.«

Laura schaffte den Spießrutenlauf. Sie empfing den kriminaltechnischen Dienst und den Staatsanwalt und organisierte die diskrete Überführung der Leiche in die Pathologie. Sie bot die Mitarbeitenden auf, welche bei Lukic eine Aussage abgeben mussten. Sie rief die Technikabteilung an und bat, die Videos an Lukic zu liefern. Mitten im Stress tauchte Pirmin auf. Er schaute sie mitleidig an und bemerkte mitfühlend: »Ihr erster Arbeitstag verläuft dramatisch. Man hat mich über den Vorfall informiert. Falls Sie Unterstützung benötigen, hier ist meine Nummer.«

Er drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. Die Zweite, die sie an diesem Tag bekam.

»Danke.« Mehr brachte sie nicht über ihre Lippen. Sie inspizierte die Geschäftskarte und musterte Pirmin. Wieder kribbelte es in der Bauchgegend. Das ist die Aufregung des Tages, redete sie sich ein.

Montagnachmittag / Matterzorn

Auf dem Weg zur einberufenen Informationsversammlung schritt Gaudenz Blatter geistesabwesend die Bahnhofstraße entlang. In Gedanken schlüpfte er in die Haut der Touristen, die aus der ganzen Welt anreisten und jeden Tag die einmalige Bergwelt in der Alpenmetropole bestaunten. Sie fuhren mit der Gornergrat-Bahn bis auf 3.100 Meter hoch, unternahmen eine Bergwanderung oder erfreuten sich an einer der vielen Attraktionen. Für die Feriengäste bedeutete Zermatt Urlaub pur. Nicht so für die Ortsansässigen. Die hatten den Service zu erbringen, damit die Gäste zufrieden waren. Es standen kostenintensive Projekte an, vor allem bei der Infrastruktur der Bergbahnen, aber auch beim Informatiksystem. In der Gemeinde hing der Dorfsegen jedoch wegen eines weiteren Ansinnens schief. Ein alter Streit war neu entbrannt. Es handelte sich um die Zufahrtsstraße von Täsch an den Dorfrand. Gaudenz Blatter besetzte den Posten des Präsidenten der Burgergemeinde Zermatt, einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Sie vereinigte die alteingesessenen Familien und zählt rund 1.500 Personen. Die übrigen Dorfbewohner bildeten zusammen mit den Burgern die Einwohnergemeinde, die seit der Trennung der beiden Gemeinden im Jahr 1969 mit getrennter Verwaltung bestand. In dieser Position war er federführend für das Wiederentfachen des Zwists. Er forderte lautstark, dass Touristen wieder mit dem Auto bis an den Dorfrand fahren durften und ihre Autos nicht schon im fünf Kilometer entfernten Täsch parken mussten. Anderer Meinung war eine Mehrheit der Einwohnergemeinde. Ausschlaggebend für die Haltung gegenüber dem Projekt war oft die Familienzugehörigkeit. Der Hotelier verteidigte seinen Standpunkt vehement.

»Auch wir Burger sind für ein autofreies Dorf. Die Zufahrt mit dem Personenwagen für Gäste bis an den Dorfrand soll aber möglich sein. Die Straße von Täsch nach Zermatt muss wintersicher ausgebaut und für die Öffentlichkeit befahrbar werden. Wir bauen am Dorfeingang 2.000 zusätzliche Parkplätze, somit bleibt das Dorf vom Verkehr verschont.«

»Das Parkhaus baut der Blatter-Clan und wird damit noch reicher!«, rief ein Teilnehmer in die Runde.

»Mu müess d Liit la redu und Chie la chalbju.3 Das Geschwätz von vereinzelten Querdenkern ist eine alte Leier. Es ist ein perfider Angriff auf Kosten der gesamten Bevölkerung von Zermatt. Denken wir jetzt an unsere Zukunft. Lassen Sie mich meine Präsentation vorstellen. Am Schluss haben Sie die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Die Vorgeschichte ist Ihnen allen bekannt, trotzdem wiederhole ich sie. Die Zufahrtsstraße besteht schon lange, und sie wurde in den vergangenen Jahren ausgebaut. An manchen Abschnitten ist sie schmal und einspurig, und es fehlen teilweise Galerien. 1985 wurde ein Reisebus von einer Lawine erfasst. Damals kamen elf Menschen ums Leben. Es gibt Wintertage, da bleiben Straße und Bahnstrecke geschlossen. Kommt dazu, dass bei schlechten Sichtverhältnissen auch die Helikopterflüge ausfallen. Das Dorf ist dann komplett von der Umwelt abgeschnitten. Das ist absolut vermeidbare Negativwerbung für Zermatt. Vielen unserer Gäste passte das gar nicht in den Kram. Sie empfinden die Anreise als kompliziert und mühsam. Das schadet dem Ruf.«

»Sie mit Ihren schamlosen Verdrehungen. Ihren guten Ruf haben Sie übrigens schon verloren!«, schrie Dieter Indermatten. Er hatte ein Gegenkomitee gegründet und widersetzte sich den Plänen fundamental.

»Wir wissen, dass Sie kein Freund dieses Projekts sind. Geben Sie zu, dass es für die Feriengäste lästig ist, wenn sie mit dem Auto anreisen und ab Täsch auf die Bahn umsteigen müssen. Wir streben an, eine Destination der vollauf zufriedenen Gäste zu sein. Noch sind wir wegen dieses Mankos weit davon entfernt. Das muss sich zur Sicherung der wirtschaftlichen Perspektiven von uns allen dringend ändern.«

»Die Touristen haben sich längst daran gewöhnt. Unabhängige Umfragen haben das wiederholt bestätigt. Sie, Herr Blatter, bestehen auf dem Ausbau dieser Straße. Den wahren Grund pfeifen die Spatzen von den Dächern. Weil Ihnen das Land am Dorfrand gehört, das Sie übrigens meiner Familie auf fiese Art abgenommen haben. Sie bauen das Parkhaus und kassieren dann die Miete der Parkplätze. Das ist reine Habgier. Nichts anderes. Leute wie Sie …«

»Ich bitte das Sicherheitspersonal, den Mann aus dem Raum zu führen.«

Zwei Uniformierte packten den Aufwiegler an den Armen und führten ihn aus dem Saal. Dieser wehrte sich mit Händen und Füßen.

»Ich habe das Recht, hier meine Meinung zu äußern und euch die Augen zu öffnen. Ihr wisst Bescheid, wer von diesem Projekt profitiert. Nicht die Allgemeinheit, nein, die Landbesitzer und Bauherren der Parkplätze!«

Im Korridor war das Gezeter des Unruhestifters zu hören.

»Ihr müsst euch wehren, Leute!«, schallte es durch die geschlossene Tür.

Die Zuhörer tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Gaudenz Blatter fuhr unbeirrt fort.

»Uns wirft man Profitgier vor. Aber ich sage Ihnen, die Gegenpartei nutzt die Sache zu ihren Gunsten. Die Gemeinde profitiert von einem Abkommen mit dem Kanton, dem Bund und der Matterhorn Gotthard Bahn. 2005 wurde ein Vertrag unterschrieben, der meiner Meinung nach illegal ist, dass die Straße bis 2030 nicht ausgebaut werden darf. Ich befürchte eine Wiederholung der Geschichte. Der Bundesrat will in den kommenden Jahren 11,9 Milliarden Franken in die Eisenbahn-Infrastruktur investieren. 320 Million sollen in einen neuen lawinensicheren Bahntunnel zwischen Täsch und unserem Dorf gesteckt werden. Und wissen Sie was, damit das Geld fließt, muss der Status der Straße erhalten bleiben, so wie er jetzt ist. Ich frage Sie, meine Damen und Herren, wollen wir das zulassen? Meine Antwort lautet klar und deutlich: nein. Mit diesem Statement eröffne ich die Fragerunde.«

»Soviel ich weiß, sind die Verhandlungen diesbezüglich nicht abgeschlossen. Der Gemeindepräsident hat mir versichert, dass es über diesen Passus zu diskutieren gilt. Er sagte mir auf Anfrage, dass er auch für die Entkoppelung der Ausbaupläne von Straße und Bahn sei«, warf eine Zuhörerin ein.

»Das kann schon sein, aber wir müssen achtsam bleiben und uns zur Wehr setzen«, verkündete Blatter.

Die Dame bohrte nach: »Ich war früher in der Gemeindebehörde tätig und verstehe die Vorgehensweise der Verantwortlichen. Es ist nicht möglich, die Bevölkerung ständig über alle Verhandlungen im Detail zu informieren. Zudem ist uns Dorfbewohnern bekannt, dass Sie, Herr Blatter, ihre eigenen Kanäle nutzen, um an substanzielle Informationen zu kommen.«

Gaudenz setzte sich nonchalant über diesen Frontalangriff hinweg. Er wiederholte seine Thesen. Die Diskus­sionen zogen sich hin, und der Hotelier gestand sich am Ende der Veranstaltung ein, dass er nicht weitergekommen war, obwohl namhafte Ortsvertreter im Publikum anwesend waren. Sie hatten sich jedoch nicht zu Wort gemeldet. Es sah so aus, als wollten sie sich alle Optionen offenhalten. Einer davon war Elmar Blatter, sein eigener Bruder und Direktor bei der Matterhorn Bank. Der andere, Klaus Winkelried, sein Anwalt. Er zürnte den beiden. Noch mehr, als er bei der Verabschiedung mitbekam, dass sie für den nächsten Tag Großes vorhatten. Noch heute am späten Nachmittag wollten sie mit der Gondel zum Schwarzsee fahren und von dort aus zur Hörnlihütte wandern. Morgen stand die Besteigung des Matterhorns auf dem Programm. Das wurmte den Patron. Sie pfiffen auf die familiären Pflichten. Stattdessen frönten sie dem Bergsteigen. Er musste die Illoyalen dringend in die Verantwortung nehmen. Es ging nicht an, dass sein eigener Bruder ihn bei einer solchen Veranstaltung nicht lautstark unterstützte. Und Winkelried würde er bei Gelegenheit ebenfalls auf seine Seite bringen. Er hatte noch eine Parzelle Land, die dieser schon lange zu kaufen wünschte. Mit etwas Verhandlungstaktik würde er die Stimme dieses Rechtsverdrehers gewinnen. Davon war er überzeugt.

3 Man muss die Leute reden lassen und die Kühe kalben

Montagnacht / Traum und Wirklichkeit

In der Nacht verfolgten Laura Albträume. Der Tote erschien ihr im Traum. Er schien ihr etwas sagen zu wollen. Sie verstand es nicht. Er sprach zu undeutlich und italienisch. Eine Redewendung, die er wiederholte, blieb ihr jedoch: »Amore mio!« Schweißgebadet wachte sie auf. Der Wind klapperte mit den Fensterläden, und Regentropfen klatschten gegen die Scheibe. Trotz erhöhter Körpertemperatur fröstelte sie. Der verschwitzte Schlafanzug klebte an ihrem Körper. Der Rücken und die Glieder schmerzten. Nach einer lauwarmen Dusche löste sich die Verspannung ein wenig. Im Trainingsanzug verließ sie das Zimmer, um in der Personalküche ein Süßgetränk zu holen. Das sollte ihre gestressten Nerven beruhigen. Im Treppenhaus des Personaltrakts hörte sie zwei Männerstimmen.

»Ich glaube nicht, dass Gallo eines natürlichen Todes gestorben ist.«

»Was meinst du? Da hatte jemand die Finger im Spiel. Ich vermute …«

Dummerweise flog in diesem Moment die Flurtür hinter ihr ins Schloss. Der Knall war den Unbekannten nicht entgangen.

»Da ist jemand. Lass uns verschwinden.«