Letztes Glückskeks - Herbert Dutzler - E-Book

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Herbert Dutzler

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Beschreibung

Wenn statt dem großen Glück der Tod winkt, muss Franz Gasperlmaier Yin und Yang wieder in Einklang bringen. Altaussee reloaded! Was die Hallstätter können, können die Altausseer schon lange, denkt sich der Tourismusobmann, als er die chinesische Delegation zuerst beim Trachtenschneider ausstatten lässt und dann zu allerhand Highlights zwischen See und Loser bugsiert. Der Plan: Nachgebaute Altausseer Gebäude sollen im Reich der Mitte neue Märkte erschließen. Und das ist nicht nur dem traditionsbewussten Gasperlmaier höchst suspekt. Als einer der Gesandten tot im Hotelpool treibt und dann verschwindet - noch schlimmer als eine Leiche ist keine Leiche, wenn eine da sein sollte - muss er sich die Frage stellen: Ist einem der demonstrierenden Einheimischen die Sicherung durchgebrannt oder stecken Drahtzieher von ganz anderem Kaliber dahinter? Sind drei Mönche zusammen, gibt es nichts zu trinken … … besagt ein chinesisches Sprichwort. Was für China gelten mag, ist in Altaussee ganz anders. Denn das Dreiergespann aus Franz Gasperlmaier, Polizistin Manuela - anders als beim Gasperlmaier kommt ihr größer und größer werdender Bauch nicht von den Leberkässemmeln - und neuer Kollegin Emina arbeitet wunderbar zusammen. Und dann gibt's da ja noch die schützende Hand der Frau Dr. Kohlross, die sich - eigentlich hätte sie gerade allen Grund zur Freude - mit einer Person auseinandersetzen muss, die sie meinte, bereits hinter sich gelassen zu haben. Fluch und Segen im Paradies Herbert Dutzler lässt uns nicht nur an den Hochs und Tiefs im Alltag von Franz Gasperlmaier und seinen Liebsten, allen voran seine Christine, die erwachsenen (Schwieger-)Kinder und deren Nachwuchs, teilhaben. Geschickt zeigt er auch auf, mit welchen Kehrseiten eine Region umgehen lernen muss, die so schön ist, dass die ganze Welt gern zu Besuch kommen möchte. Zum Glück nehmen uns Herbert Dutzler und Franz Gasperlmaier auch so mit ins Ausseerland, ohne dass wir einen Fuß vor die Tür setzen müssen. Und wer jetzt im westlichen Österreich oder in Deutschland sitzt und sich fragt, ob sich der Verlag bei "Letztes Glückskeks" verschrieben hat, dem sei gesagt, dass der Gasperlmaier höchstpersönlich dafür bürgt, in seinem Ausseerland in Bezug auf das knusprige Süßgebäck noch nie einen anderen Artikel als "das" gehört zu haben.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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HAYMONtaschenbuch336

Herbert Dutzler

Letztes Glückskeks

1

Gasperlmaier war es gar nicht recht, dass die Diskussion am Tisch in ein für ihn unangenehmes Fahrwasser geraten war. „Dein Sohn“, sagte der Doktor Altmann, „der ist ein wahres Ass, was die Prostata betrifft. Da brauch ich gar keinen Urologen mehr!“ Er nahm einen Schluck von seinem Bier. „Ah!“, sagte er und wischte sich den Mund. „Charlotte, das Gulasch ist dir wieder einmal ausgezeichnet gelungen. Ein bisserl scharf vielleicht, aber … Chapeau!“

Man saß in Gasperlmaiers Küche zusammen. Er selbst, seine Christine, der Doktor Altmann und dessen Frau. Die beiden waren seit einigen Jahren die Nachbarn der Gasperlmaiers, und obwohl sie beide Juristen aus Wien waren und damit keine Altausseer, hatte sich eine Freundschaft zwischen den beiden Paaren entwickelt, die nicht vorherzusehen gewesen war. Gasperlmaier hatte tief verwurzelte Vorurteile den zugezogenen Wienern gegenüber gehegt, aber Bruno – so der Vorname des Doktor Altmann, der vor seiner Pensionierung Richter gewesen war – hatte diese bei zahllosen Gesprächen über den Zaun hinweg abzubauen verstanden. Der Edelbrand, den er an den Zaun mitzubringen pflegte, hatte dazu erheblich beigetragen. Und so etwa einmal im Monat kochte Charlotte – die Frau Doktor Altmann, sie war vor ihrer Pensionierung Rechtsanwältin gewesen – scharfes Gulasch und trug den Topf hinüber zu Gasperlmaiers, wo Beilagen und Getränke bereits warteten, und man verbrachte gemeinsam einen gemütlichen Abend.

Der Bruno hatte gerade von seinem kürzlichen Besuch bei Christoph Gasperlmaier erzählt, dem Sohn der Gasperlmaiers, der nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Kanada nun eine Praxis für Allgemeinmedizin in Bad Aussee betrieb. Christophs Frau Richelle, eine Kanadierin, arbeitete beim Tourismusverband, und die Familie wohnte mit den beiden Kindern, Theo und Elisa, im Haus, das Gasperlmaiers verstorbener Mutter gehört hatte. Der Um- und Ausbau war noch nicht fertig, und Gasperlmaier wurde recht häufig für Hilfsdienste beim Bohren, Stemmen und Mauern eingeteilt, was ihm nicht nur Freude bereitete.

„Du solltest dich auch einmal … ich meine, gehst du regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung?“, nahm der Bruno den Faden wieder auf. „Ich kann den Christoph nur wärmstens empfehlen.“ „Ich weiß nicht recht, ich muss mir das noch überlegen. Ich hol einmal einen Schnaps“, sagte Gasperlmaier und stand auf. Es war ihm peinlich, hier vor allen zu erklären, dass er sich nicht vorstellen konnte, eine Prostatauntersuchung von seinem eigenen Sohn vornehmen zu lassen. Das war … also, da war es ihm schon lieber, ein Fremder erledigte das. Es gab eben Grenzen, die er ungern überschritt. Und eine davon war, dass er mit seinen Kindern nicht über intime Einzelheiten sprach, die in irgendeiner Weise mit den Geschlechtsorganen zu tun hatten. Er war, das musste er sich eingestehen, auch ein sehr zurückhaltender Vater gewesen, was die sexuelle Aufklärung seiner Kinder betraf. Das durfte man, so hatte er das zumindest gesehen, ruhig der Schule überlassen. Oder den Gleichaltrigen. Ab einem gewissen Alter, so wusste er zumindest vom Hörensagen, redeten Jugendliche ohnehin über nichts anderes als Sex. Er selber allerdings, so erinnerte er sich, hatte während seiner Jugendjahre ausschließlich zugehört, ohne sich an den ohnehin meist maßlos übertriebenen Angebereien seiner Klassenkameraden zu beteiligen. Und genau dieses aufmerksame Zuhören hatte schließlich irgendwann die Christine so sehr für ihn eingenommen, dass sie ihn erobert hatte.

Gasperlmaier kehrte mit einer Flasche Bergapfel-Edelbrand vom Pohn in Knoppen zurück. Dem Bruno durfte man nämlich nicht mit einem gewöhnlichen Obstler vom nächstbesten Bauern daherkommen, der war ein Kenner und Genießer und hatte Gasperlmaier angesteckt, sodass er nun auch die eine oder andere Flasche von einem anerkannten Edelbrenner zu Hause hatte. Und er musste zugeben, es hatte sich gelohnt – der Genuss war unvergleichlich, solange man es verstand, nicht zu viel von der edlen Flüssigkeit auf einmal die Kehle hinunterrinnen zu lassen.

„Mmmh!“, machte der Bruno, als er der Flasche ansichtig wurde, und nickte anerkennend. „Aber nur einen, gell!“, mischte sich die Charlotte ein, und die Christine nickte zustimmend. „Wunderbar!“, kommentierte der Bruno, nachdem er den Schnaps andächtig auf der Zunge zergehen lassen und anschließend hinuntergeschluckt hatte. „Also“, meldete sich die Charlotte zu Wort, „ich kann die Bedenken vom Gasperlmaier schon verstehen. Wenn einer unserer Söhne Gynäkologe wäre, ich würde mich auch nicht so einfach auf seinen Stuhl legen. Da wär ich befangen! Und er vielleicht auch!“ Die Christine kicherte. Sie hatte auch schon ein paar Gläser Bier und einen Schnaps getrunken. „Völlig richtig!“, sagte sie. „Ich würde mich auch niemals vom Christoph gynäkologisch untersuchen lassen! Sosehr ich ihn mag, aber … Kaffee?“, fragte sie. „Gern!“, antwortete der Bruno, und auch die Charlotte nickte. Gott sei Dank, so dachte Gasperlmaier bei sich, war das medizinische Thema jetzt vom Tisch.

„Ich lüft einmal!“ Er stand auf. „Heiß ist’s! Scharf war’s, das Gulasch!“ Er trat ins Wohnzimmer und öffnete die Terrassentür. Der Bruno folgte ihm. Wie immer trug er seine Ausseer Lederhose, die nun, dem täglichen Gebrauch geschuldet, schon ein wenig Patina angesetzt hatte. Gasperlmaier streckte sich genüsslich, als sie draußen unter dem Balkon standen und dem Regen lauschten, der sanft in den Garten herniederrauschte.

„Bald“, sagte der Bruno, „wird es wieder Zeit für die lange Unterhose!“ Er deutete auf seine Knie. „Bis gestern hat’s ja ausgeschaut, als ob der heurige Sommer überhaupt nicht enden würde!“ Der Doktor Altmann hatte die Tradition wieder aufleben lassen, nach der man im Winter anstatt einer langen Hose die kurze Lederhose weiterhin trug, jedoch mit einer langen, weißen Unterhose darunter, die zwischen Lederhose und Stutzen natürlich sichtbar war. Die Charlotte war strikt gegen diese Tracht, und auch Gasperlmaier konnte ihr nichts abgewinnen.

Tatsächlich war das Wetter bis weit in den September hinein sommerlich gewesen, sogar nach Ende der Schulferien waren die Touristen in Scharen angerückt, und die besonders Mutigen hatten sogar noch Ende September im See gebadet. Jetzt aber war, pünktlich mit dem Beginn des Oktobers, eine Kaltfront mit Regenwetter über das Ausseerland gezogen, und die Temperaturen waren, wie man sie eben vom Oktober erwarten durfte. „Und?“, fragte der Bruno, „Wie geht’s den Enkeln? Und der wunderbaren Richelle?“ Gasperlmaier zögerte mit einer Antwort. Die Richelle, seine Schwiegertochter, war tatsächlich eine Schönheit, die viele Blicke auf sich zog, nicht zuletzt die vom Doktor Altmann. Sie hatte Vorfahren unter Schwarzen, kanadischen Ureinwohnern, Iren, Asiaten und so weiter. Das mochte ein Grund für ihre außergewöhnliche, ein wenig exotisch anmutende Schönheit sein. „Ein wenig eingespannt sind wir schon“, antwortete Gasperlmaier schließlich, „weil wir halt oft auf die Kleinen aufpassen. Und die sind schon … na, anstrengend halt. Aber auch sehr lieb!“, beeilte er sich hinzuzufügen. Seit die Richelle beim Tourismusverband arbeitete, gab es regelmäßig Nachmittage, die die beiden bei den Großeltern verbrachten. Der Theo war mittlerweile dreieinhalb und die Elisa ein wenig über ein Jahr, sodass die Aufsicht bereits einiges an Konzentration und Engagement verlangte. Hauptsächlich war die Christine für die Enkel zuständig, aber gelegentlich hatte auch er selber an einem freien Nachmittag für die beiden zu sorgen.

„Ja, ja!“, seufzte der Doktor Altmann. „Anstrengend können sie schon sein. Du hat es eh gehört, am letzten Ferienwochenende. Da waren sie alle da, unsere fünf Enkel. Und die meiste Zeit haben sie gestritten.“ Gasperlmaier nickte. „Außer, wie du sie ins Bergwerk und auf den Loser geschleppt hast!“, lächelte er. „Gehen wir wieder hinein. Mir wird kalt!“

Der Tisch in der Küche war abgeräumt, statt den Tellern lag nun die Alpenpost auf dem Tischtuch. Die Frauen waren gerade mit einem Artikel beschäftigt, der eine Veranstaltung im Volkshaus ankündigte. „Das klingt ein wenig mysteriös!“ Die Christine klopfte mit dem Finger auf einen Artikel. „Lest euch doch das einmal durch!“ Der Bruno zog die Zeitung zu sich heran, sodass Gasperlmaier nur von der Seite hineinschielen konnte. „Von einer neuen Strategie, den Tourismus betreffend, ist da die Rede!“, erklärte der Bruno. „Brauchen wir denn eine neue Strategie?“, fragte die Christine. „Haben wir nicht genug Touristen?“ Sie seufzte. Gasperlmaier konnte da nur zustimmen. Nicht nur in den Sommermonaten, auch jetzt im Herbst legte eine Verkehrslawine den Ort zeitweise lahm. Immer mehr Tagestouristen strömten nach Altaussee, weil beinahe täglich im Fernsehen Dokumentationen, entweder über die wunderbare Natur oder über das pittoreske Brauchtum des Ausseerlandes, zu sehen waren. Dazu kamen noch ein paar Schriftsteller, die es nicht lassen konnten, ein Buch nach dem anderen zu schreiben, das im Ausseerland seinen Schauplatz hatte. Alles zusammen führte dazu, dass die Parkplätze an schönen Tagen meist schon am frühen Vormittag voll waren und er und die Manuela alle Hände voll zu tun hatten, um Falschparker wegzuweisen oder, im äußersten Fall, sogar abschleppen zu lassen. Die Manuela Reitmair-Peschke, das war seine Kollegin, die zusammen mit ihm den Polizeiposten in Altaussee am Laufen hielt.

„Was sagt ihr denn zu unserem neuen Tourismusdirektor?!“, konstatierte der Bruno. „Ein Deutscher, wie es scheint. Wie sind die denn auf diese Idee gekommen?“, fragte er. „Da wär ja ein Wiener noch gescheiter gewesen! Auf den Schreck hinauf … einen ganz kleinen noch, was meinst, Charlotte?“ Er zwinkerte seiner Frau zu. „Ich bring lieber noch einen Rotwein!“ Die Christine stand auf und holte eine Flasche, die sie schon vor dem Essen geöffnet hatte, von der Anrichte. „Da hat’s eine Ausschreibung gegeben“, erklärte die Christine, während sie einschenkte. „Und damit ja nicht der Verdacht aufkommt, dass ein interessanter Posten jemandem zugeschanzt wird, bloß weil er – oder sie – einheimisch ist oder Beziehungen hat, hat man halt rein auf die Qualifikation geschaut. Und da hat dieser Deutsche gewonnen.“ „Der aber wahrscheinlich nicht viel über die örtlichen Besonderheiten weiß!“, warf die Charlotte ein. „Na ja, man muss halt hoffen, dass er sich schnell damit vertraut macht. Prost!“ Die Christine hob ihr Glas. „Eine neue Strategie …“, sinnierte Gasperlmaier, nachdem er den Wein gekostet hatte. „Was das wohl sein kann?“

„Also, ich kann da nur sagen, dass der Tourismusverband eigentlich überhaupt keine Werbung mehr machen sollte“, meinte der Bruno. „Sind ja eh schon viel zu viele Leut da! Kürzlich sind wir am Mittwoch“, er hob seinen Zeigefinger, „am Mittwoch! Rund um den See gegangen, und zu Mittag schon war alles voll, bei der Seewiesen, beim Jagdhaus, und später, als wir noch gern einen Kaffee gehabt hätten, sogar beim Kahlseneck.“ „Na ja“, schmunzelte die Charlotte. „Du hast deinen Kaffee schon noch gekriegt. Weil …“, sie wandte sich Gasperlmaier zu, „… er ein paar Touristen erklärt hat, dass da auf der Bank mindestens noch vier Leute Platz haben, wenn sie ihre Handtaschen und Rucksäcke auf den Boden stellen. Freundlich war er nicht gerade!“ Gasperlmaier nickte. „Das ärgert mich auch immer. Wenn wir mit der Bahn nach Wien fahren, die Mädels besuchen! Da gibt es auch welche, die im vollen Waggon partout ihr Zeug auf dem Sitz neben sich stapeln. Und dann schauen sie ganz konzentriert auf ihr Handy oder ihren Laptop und tun, als ob sie gar nicht merken, dass da Leute Sitzplätze suchen.“ Die Mädels, damit meinte Gasperlmaier seine Tochter Katharina und deren Frau Stefanie, die in Wien wohnten und nun beide im Online-Journalismus arbeiteten, wo Gasperlmaier sich nicht gut auskannte und nicht einmal genau wusste, wie man damit sein Geld verdiente. Momentan waren die beiden allerdings hier in Altaussee, denn sie hatten sich den oberen Stock in Gasperlmaiers Haus zu einer Wohnung ausgebaut und hielten sich immer öfter da oben auf. Homeoffice nannten sie das dann. Gasperlmaier zweifelte daran, ob das eine richtige Arbeit war, wenn man zu Hause vor dem Computer hockte, und machte sich ein wenig Sorgen um die Zukunft der beiden.

„Ihr zwei“, stellte die Christine fest, „seid’s ganz schöne Suderanten geworden. Ob das mit dem Alter zu tun hat?“ Die Charlotte nickte. „Das stell ich auch immer wieder fest. Alles wird kritisiert und bejammert, aber wenn ich dann einmal etwas sage, über die lange Unterhose im Winter beispielsweise, dann kann ich mir stundenlange Vorträge anhören. Wenn nicht gar Vorwürfe!“ Ihr Ton war leicht sarkastisch gewesen, aber Gasperlmaier wusste aus Erfahrung, dass der Bruno und die Charlotte einander gerne neckten, kaum jemals aber ernsthaft in Streit gerieten. „Auf jeden Fall“, sagte die Christine, „ist die Veranstaltung schon am kommenden Mittwoch. Da sollten wir dabei sein, findet ihr nicht?“ Der Bruno nickte, ebenso die Charlotte. „Freilich!“, sagte der Bruno. „Weil uns ja was liegt an unserer neuen Heimat!“ Er klopfte bedeutungsvoll mit den Handflächen auf die in der Lederhose steckenden Oberschenkel. Gasperlmaier war sich nicht so sicher, ob er an der Veranstaltung teilnehmen sollte. Denn das bedeutete in der Regel, dass er Stellung beziehen musste, einen Standpunkt haben sollte. Und das war bei ihm ein schwacher Punkt, er konnte sich oft nicht entscheiden, wem er Glauben schenken sollte, mit wem er gemeinsame Sache machen oder gegen wen er sich stellen sollte. Er wollte lieber mit allen gut auskommen. „Ich … also, ihr wisst ja, ihr kennt meinen Standpunkt“, meldete er sich ein wenig unsicher zu Wort. „Die Polizei ist für alle da, ich sollte … ich meine, ich kann nicht gegen jemanden oder für … es ist besser, wenn die Polizei neutral bleibt und nur darauf achtet, dass die Gesetze eingehalten werden.“ Der Bruno schlug ihm auf die Schulter. „Das ehrt dich, Gasperlmaier. Aber du solltest dir wenigstens die Fakten zu Gemüte führen, damit du weißt, wer was vorhat in deinem geliebten Altaussee. Das zu wissen kann nämlich nie schaden!“

„Ich werd auf jeden Fall Stellung beziehen!“, kündigte die Christine an. „Weniger ist mehr! Wir brauchen Gäste, die länger bleiben, die auch wirklich an unserer Gegend interessiert sind und nicht nur auf einem Tagesausflug die bekannten Fotospots abklappern wollen. Auf jeden Fall brauchen wir keine Busladungen, die über den Ort herfallen und uns mit ihren Drohnen in den Garten hineinfilmen. So wie drüben in Hallstatt oder in Venedig, zum Beispiel. Da dürfen wir wohl gut aufpassen!“

„Gut gesprochen, Mama!“ Die Katharina war in der Tür aufgetaucht. Das, so befürchtete Gasperlmaier, würde die Debatte verschärfen und in die Länge ziehen. Gleich hinter ihr kam die Stefanie in die Küche. „Gibt’s was Neues?“, fragte sie. Die Christine nickte. „Schon. Um die neue Strategie des Tourismusverbands geht’s!“ „Ach, das!“ Die Stefanie winkte ab. „Das haben wir schon gelesen. In der Online-Ausgabe von der Alpenpost. Wir sind natürlich dabei am Mittwoch!“ Gasperlmaier hatte gar nicht gewusst, dass die Alpenpost, die alle 14 Tage das Neueste aus der Region ins Haus brachte, über eine Online-Ausgabe verfügte. „Wir hoffen ja auf einen Schritt in Richtung Nachhaltigkeit!“, sagte die Katharina. „Ist noch Wein da?“ Die Christine nahm die Flasche zur Hand und schenkte ein.

Der Abend wurde lang, und Gasperlmaier langweilten die zunehmend politischer werdenden Gespräche ein wenig, denn die hohe Politik war nicht gerade das, wofür er sich an einem gemütlichen Abend erwärmen konnte. Lieber, so dachte er bei sich, hätte er den Rest des Abends auf dem Sofa verbracht, vor dem Fernseher und mit dem Schnurrli auf dem Bauch. Plötzlich fröstelte ihn. Das konnte doch nicht sein, dass die heute Morgen hereingebrochene Kälte bis in die Küche und seine Glieder zog? Es war doch ausgesprochen warm um den Küchentisch herum, allein schon wegen der vielen Leute? Oder war es das Alter, das langsam, aber sicher in seine Gelenke und Knochen kroch?

Wie immer schlief Gasperlmaier gut, wenn der Regen sanft auf die Bäume vor dem Fenster herniederrieselte. Aber nicht allzu lang, denn die Christine und er hatten versprochen, diesen Samstag auf die Enkel aufzupassen, weil die Richelle für den Tourismusverband zu einer Messe nach Salzburg musste und der Christoph den frisch angebauten Wintergarten streichen und putzen wollte. Gasperlmaier fragte sich zwar, warum dafür sein eigener freier Samstag dran glauben musste, aber andererseits machte es ihm auch Spaß, mit den beiden Kleinen zusammen zu sein. Er freute sich schon auf den Winter, denn er war fest entschlossen, dem Theo das Skifahren beizubringen. Schließlich hatten sie den Christoph und die Kathi ja auch mit drei Jahren auf die Ski gestellt.

So kam es, dass er schon vor acht Uhr am Küchentisch saß und ein Marmeladebrot schmierte. Er warf einen Blick aus dem Fenster. „Wir können nur hoffen“, sagte er zur Christine, „dass nächsten Samstag besseres Wetter ist. Wenn die Renate heiratet.“ Die Christine nahm einen Schluck Kaffee. „Ein bisserl ein Risiko ist es schon, so spät im Jahr eine Hochzeit im Zelt auf der Seewiese. Aber sie haben es sich selber ausgesucht.“ Gasperlmaier legte sein Handy auf den Tisch und suchte nach der Wetter-App. „Franz, wir haben ausgemacht, bei den Mahlzeiten …“ „Gleich!“, unterbrach er seine Frau und schob den Finger auf dem Display nach oben. „Momentan heißt es, dass es wieder milder wird. Und vor allem trocken!“ „Schauen wir mal. Und jetzt weg mit dem Handy!“

„Gut, dass ihr da seid!“ Der Christoph öffnete ihnen in seinem Arbeitsgewand die Tür. Es war mit eingetrocknetem Mörtel verschmiert. „Ich hab die Kinder schon fertig gemacht!“ „Oma!“ Der Theo kam aus der Haustür geschossen und umarmte die Beine der Christine, für die er in den letzten Monaten eine besondere Vorliebe entwickelt hatte. Dahinter schob der Christoph den Kinderwagen mit der dick eingepackten Elisa aus dem Haus. „Ich hab den Regenschutz drübergetan. Müsst eigentlich passen.“ „Was machst denn heute?“, fragte Gasperlmaier. „Die Fliesen hab ich fertig gelegt, gestern Abend. Also, mehr in der Nacht. Und heute werd ich verfugen, dann ist … wenn ich nächste Woche streiche, dann kann ich alles putzen … und fertig!“ „Dass du dich halt nur nicht überarbeitest!“, ermahnte Gasperlmaier seinen Sohn, denn er wusste, wie anstrengend die Arbeit eines Allgemeinmediziners hier am Land sein konnte. „Magst mir helfen?“, grinste der Christoph. Gasperlmaier wehrte mit einer heftigen Geste ab. Das fehlte noch, dass er da auf den Knien herumrutschen und Fugenmasse verteilen sollte. „Nein, ich hab … also, ich kann doch die Christine nicht mit den Kindern alleine lassen!“ „Passt schon, Papa!“ „Wann kommt denn die Richelle zurück?“, fragte die Christine. Der Christoph zuckte mit den Schultern. „Weiß man bei so einer Veranstaltung nie! Sie ist mit ihrem Chef mitgefahren.“

Der Theo hatte inzwischen sein Laufrad aus der offenstehenden Garage geholt. „Fahren wir, Opa!“, drängte er. Aber Gasperlmaier hatte noch eine Frage. „Hat sie was erzählt, die Richelle? Worum es geht, bei der neuen Strategie vom Tourismusverband?“ Der Christoph zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung!“

Wenig später waren sie zum See hinunter unterwegs, Gasperlmaier musste dem Theo hinterherhetzen, der auf der leicht abschüssigen Straße schon weit voraus war. „Warten, Theo!“, kommandierte er. „Ein Auto!“ Brav blieb der Bub am Straßenrand stehen, und Gasperlmaier legte ihm eine Hand auf die Schulter, als das Auto vorbeifuhr. Der Theo war dick eingepackt, in Regenjacke, Haube und Helm. Kaum zu glauben, dass man noch vorgestern praktisch im Sommergewand herumgelaufen war. „Ich weiß nicht recht“, sagte er zur Christine, als sie auf den Weg um den See eingebogen waren, wo keine Autos mehr fahren durften. „Dass die Richelle … also, dass sie am Wochenende auch arbeiten gehen muss, das ist doch …“ „Unangenehm“, gab die Christine zu. „Aber im Tourismus, da gibt’s eben keine fixen freien Tage, zumindest nicht immer. Und angeblich kriegt sie für den einen Samstag zwei Wochentage frei.“ „Ach so!“ Gasperlmaier fiel nicht mehr zum Thema ein, und so zogen sie eine Weile schweigend weiter. Zum Glück ließ der Regen nach und hörte bald ganz auf, sodass sie eine große Runde mit den Kindern gehen konnten, während der die Elisa in ihrem Kinderwagen schlief.

2

Der Mittwoch war schneller da als erwartet. Das Wetter hatte sich gebessert, und die Voraussage für den Samstag, den Hochzeitstag der Frau Doktor Kohlross, war gut. Trocken und sonnig sollte es werden, und auch noch ein paar Grad wärmer. Gerade, als Gasperlmaier das Gartentor öffnete, kam auch die Richelle die Straße herauf, um die Kinder abzuholen. „Hallo, Dad!“, sagte sie. Zu Beginn war ihm das seltsam vorgekommen, so angesprochen zu werden, aber inzwischen war es für ihn selbstverständlich. Die Richelle umarmte ihn und küsste ihn auf beide Wangen. Auch daran hatte er sich gewöhnt, denn anscheinend war man in Kanada bei Begrüßungen eben ein bisschen überschwänglicher als in Altaussee. Die Richelle sah wieder einmal fantastisch aus, besonders für einen gewöhnlichen Wochentag. Sie trug schwarze Leggings, weiße Sneakers, eine schwarze Seidenbluse mit geometrischem Muster und darüber eine sehr lange Strickweste, auf der sich das Muster der Bluse wiederholte. Sie wirkte wie aus einem Modekatalog, wie immer auch perfekt geschminkt. Zunächst war Gasperlmaier skeptisch gewesen. Ob denn eine solche Frau auch zu seinem Sohn und nach Altaussee passte. Aber seit er ihr herzliches Wesen näher kennengelernt hatte, fiel ihm ihr eleganter Stil immer weniger auf. Außerdem war sie trotz der vielen Arbeit im Büro und zu Hause immer gut aufgelegt.

„Alles okay mit den Kids?“, fragte sie. „Weiß nicht“, sagte Gasperlmaier. „Ich komm ja auch gerade erst aus dem Dienst!“ Gemeinsam betraten sie das Vorhaus. „Ruhig ist es hier!“, stellte Gasperlmaier fest. „Wir sind in der Küche! Es gibt gerade Jause!“, rief die Christine. „Du, Richelle“, flüsterte Gasperlmaier, während er sich die Schuhe auszog. „Worum geht’s denn da, heute Abend, bei der Veranstaltung im Volkshaus? Ich meine, die neue Strategie, und so?“ Die Richelle zog die Mundwinkel nach unten. „Genau weiß ich nichts. Mein Chef hält sich bedeckt, er hält nicht viel von Transparenz. Will alles allein entscheiden, ist nicht an Teamarbeit interessiert. Mal sehen, was da kommt!“ Das, so fand Gasperlmaier, waren keine guten Nachrichten. Er hatte ein so mulmiges Gefühl im Bauch, dass er am liebsten auf die Veranstaltung verzichtet hätte. „Ich bin nicht dabei, heute Abend“, sagte die Richelle. „Schließlich arbeite ich nur Teilzeit, ich muss mich ja auch mal um meine Familie kümmern!“ Das leuchtete Gasperlmaier ein.

Drinnen in der Küche saßen die Kinder und die Christine um den Tisch, die Elisa im Hochstuhl. Beide hatten den Mund voll, der Theo mit einem Käsebrot, die Elisa offenbar mit Apfelmus, denn eine Schüssel davon stand vor ihrem Platz. Und sie grinsten, als sie ihre Mama eintreten sahen.

„Wir können uns die Spaghetti von gestern aufwärmen“, schlug die Christine vor, als die Richelle mit den Kindern gegangen war. „Zum Kochen hab ich heute keine Zeit gehabt.“ „Passt schon!“, meinte Gasperlmaier, obwohl er keinen rechten Gusto auf die Gemüsespaghetti hatte. Die Christine hatte gestern für die Mädels mitgekocht, weil die sonst überhaupt nie was Gescheites bekämen und ohnehin schon so mager seien. So musste er zweimal hintereinander mit Vegetarischem vorliebnehmen, was ihm nicht so ganz behagte. Zur Entschädigung holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank. „Jetzt schon?“, fragte die Christine ein wenig spitz, als er den ersten Schluck direkt aus der Flasche nahm. „Der Abend heute“, sagte Gasperlmaier, „der wird möglicherweise ein bisschen schwer verdaulich. Da ist es besser, wenn man gut vorbereitet hinkommt.“ „Und dein Bier, das ist eine gute Vorbereitung?“ „Es entspannt!“, gab Gasperlmaier zurück und nahm einen neuerlichen Schluck.

Nicht gänzlich zufriedengestellt von den Gemüsespaghetti standen sie um Viertel nach sieben vor dem Volkshaus und stellten fest, dass reger Zustrom herrschte. „Grüß dich, Gasperlmaier!“ Der Kahlß Friedrich war vor ihnen aufgetaucht, seine Heidi am Arm. Der Friedrich war Gasperlmaiers Chef gewesen, also der Postenkommandant, bis er vor ein paar Jahren wegen Herzbeschwerden frühzeitig in Pension hatte gehen müssen. Seither hatte er sich prächtig erholt, die Inhaberin eines Trachtengeschäfts geheiratet und mehr als 20 Kilo abgenommen. Gasperlmaier sah ihn fast nur mehr in Sportkleidung. Heute aber hatte sich der Friedrich in die Lederhose geworfen. „Ich hab sie ja“, sagte er entschuldigend, „nur wegen dem Repräsentieren angezogen. Man kann schließlich nicht in Jeans daherkommen, wenn man mit so einer Frau verheiratet ist! Schaut euch doch nur einmal ihr neues Dirndl an!“ Er drückte seine Angetraute, wie er sie meist nannte, fest an sich, und die reagierte mit einem etwas verschämten Lächeln. „So neu ist es auch wieder nicht!“, sagte sie. „Grüß euch! Wird voll heute, nicht?“ „Ja, ja!“, nickte Gasperlmaier und sah um sich. Beim Eingang war bereits ein kleiner Stau entstanden. „Gehen wir hinein, damit wir einen Platz kriegen“, schlug er deswegen vor.

„Da werde ich heute“, erklärte der Friedrich, während sie sich vor dem Eingang anstellten, „möglicherweise meine Stimme erheben müssen. Weil ich kann mir nicht vorstellen, dass diesem Herrn Kröker was Gescheites einfällt, zu der Zukunft von unserem Tourismus!“ „Kröker?“, fragte Gasperlmaier nach. „Ja, Kai Kröker. Der neue Chef von unserem Tourismusverband!“ „Kai Kröker!“, wiederholte Gasperlmaier abschätzig. „Allein schon der Name!“ „Du sagst es. Du sagst es!“, bestätigte ihn der Friedrich. „Keine üblen Vorurteile, meine Herren!“, mischte sich die Christine ein. „Wollen wir uns doch erst einmal anhören, was der Herr uns zu sagen hat!“

Im Saal mussten sie sich mit einem Platz in den hinteren Reihen begnügen, denn weiter vorne war alles schon voll. Aufgeregtes Gemurmel um ihn herum verhieß, fand Gasperlmaier, nichts Gutes. Wussten die Leute etwas, das er noch nicht erfahren hatte? Als er sich umdrehte, sah er, dass ganz hinten gerade die Kathi und die Stefanie den Saal betreten hatten, sie suchten sich keine Sitzplätze, sondern blieben an der hinteren Wand des Saales stehen. Beide wischten auf ihren Handys herum.

„Einen schönen guten Abend“, wünschte der Bürgermeister, der als Erster auf die Bühne trat. Hinter ihm stand ein langer Tisch mit sechs Sesseln dahinter, der Bürgermeister aber blieb stehen. „Ich möchte euch recht herzlich begrüßen!“, begann er. In der folgenden Pause gab es keinen Applaus. Gasperlmaier hörte nur mit einem halben Ohr hin, als der Bürgermeister recht langatmig erklärte, warum diese Versammlung heute einberufen worden war, er redete von Bürgermitbestimmung und Transparenz, von schwierigen Entscheidungen, die die Zukunft Altaussees massiv beeinflussen könnten, und davon, dass man auf keinen Fall leichtfertig Chancen vergeben sollte, die sich einem auftun, vor allem, um die Zukunft der jungen Menschen in Altaussee abzusichern. Im Grunde, fand Gasperlmaier, als der Bürgermeister endete, hatte er genau gar nichts gesagt.

Dann kam etwas, mit dem Gasperlmaier nicht gerechnet hatte. Zuerst trat der neue Tourismusdirektor auf, in einem Anzug, dessen Farbe Gasperlmaier nicht recht definieren konnte. Am ehesten hatte er die Farbe von Heu. Hinter ihm kam die Burgl Zeitschner, die schon viele Chefs im Tourismusverband kommen und gehen sehen hatte, im Dirndl und mit einer Lesebrille auf der Nase, über die hinweg sie recht skeptisch ins Publikum blickte. Dahinter aber, und das war die eigentliche Überraschung, betraten drei Herren und eine Dame die Bühne, die eindeutig asiatische Gesichtszüge hatten. Aha, so dachte Gasperlmaier bei sich, jetzt war die Katze aus dem Sack. Der Tourismusdirektor wollte Touristen aus Asien nach Altaussee bringen. Irgendsowas hatte er schon befürchtet. „Die Chinesen kemman!“, hörte er es aus dem Publikum flüstern, danach war es mucksmäuschenstill. Die Frau in der Gruppe war sehr zierlich, trug ein rotes Kleid, eine schwarz umrandete Brille und die Haare zu einem Knoten aufgesteckt. Die drei Herren steckten in schwarzen Anzügen, lächelten und sahen einander sehr ähnlich. Zwei der Männer waren recht jung, einer schien älter, kleiner und etwas fülliger als die beiden anderen.

Die Burgl legte einen Stapel bedrucktes Papier vor sich hin, sah noch einmal über ihre Brille hinweg ins Publikum und räusperte sich. Ein Kellner stellte vor jeden der auf dem Podium Anwesenden ein Seidel Bier hin. Nur die zierliche Frau lehnte ab und bat um ein Wasser. Der Kai Kröker sagte nichts, hüstelte aber in die vorgehaltene Hand. „Ich möcht euch“, sagte die seit Juli amtierenden Burgl in etwas resigniertem Ton, „heute unseren seit Juli amtierenden Tourismusdirektor vorstellen, den Herrn Kai Kröker aus Bielefeld, Master of Arts. Er hat … also, am besten, er erklärt euch das selber.“ Totenstille im Publikum. Der Kai Kröker erhob sich. „Also, ich … ich freue mich sehr, hier im Ausseerland für diesen Job ausgewählt worden zu sein. Ich habe schon auf der ganzen Welt im Tourismusmanagement gearbeitet, zuerst in meiner Heimat, in NRW, später …“ „NRW!“, wiederholte jemand im Publikum und lachte. Das Gelächter verbreitete sich, ebbte aber rasch wieder ab. Gasperlmaier wusste natürlich, dass mit NRW Nordrhein-Westfalen gemeint war, denn viele Besucher aus Deutschland, auch solche, die er wegen eines Vergehens auf den Posten bitten musste, hatten ihm dieses „NRW“ als ihr Heimatbundesland angegeben. Der Friedrich beugte sich, knapp an der Brust seiner Heidi vorbei, zu Gasperlmaier herüber. „Ob da freiwillig einer hinfährt, nach NRW?“ Er lachte hinter vorgehaltener Hand. Inzwischen erklärte der Kai Kröker, dass er auch in Dänemark, im Kreuzfahrtgeschäft und auf Mauritius tätig gewesen war. Gasperlmaier stellte allgemeines Kopfschütteln im Publikum fest, gelegentlich wurden wiederum Teile der Aussagen des Kai Kröker murmelnd wiederholt. Der Kröker griff mit zwei Fingern unter seinen Krawattenknoten, um ihn ein wenig zu lockern. Gasperlmaier sah, dass sein Gesicht gerötet war. Niemand hier im Saal schien ihn ernst zu nehmen, was anscheinend an seiner Selbstsicherheit nagte.

„Kurzum“, schloss er, „in unserer neuen Strategie …“ Die Burgl unterbrach ihn. „In Ihrer neuen Strategie!“, korrigierte sie und erhielt prompt Applaus aus dem Publikum, der aber rasch verebbte. Man wollte doch hören, was der Kröker sonst noch zu sagen hatte. Der aber wiederholte mehr oder weniger das, was der Bürgermeister schon gesagt hatte, und je länger er redete, desto unruhiger wurde es im Publikum. Die Burgl seufzte und musterte ihren Chef von oben bis unten. „Ja, also!“, setzte der fort, als er merkte, dass die Burgl mit seiner Rede nicht zufrieden war. „Wir haben vor, eine Kooperation mit unseren chinesischen Freunden einzugehen.“ Er streckte den rechten Arm in Richtung der Gäste am Podium aus. „Es besteht dort, also in China, großes Interesse an Europa, es gibt genügend zahlungskräftige Chinesen, die …“ „Darf ich einmal etwas fragen?“ Gasperlmaier zuckte zusammen. Das war die Stimme der Stefanie gewesen. „Gerne!“, antwortete der Kröker, der froh darüber schien, nicht weiterreden zu müssen. „Stefanie Frisch, freie Journalistin“, stellte die Stefanie sich vor. „Ist das im Sinne eines nachhaltigen Tourismus, dass man Menschen hierherlockt, die über 10 000 Kilometer im Flugzeug zurücklegen müssen und dann nur wenige Stunden hier verbringen? Oder spielt Nachhaltigkeit in Ihrem Konzept keine Rolle?“ Der Kröker fühlte sich sichtlich überrumpelt, sah hinunter zur Burgl, die nur mit den Schultern zuckte, und erklärte dann, dass man über kurz oder lang über nachhaltige, ja sogar biologische Flugzeugtreibstoffe verfügen werde können. Der Flugverkehr finde ja außerdem nicht im Ausseerland statt. Im Publikum erntete er damit nur Gelächter.

Die Stefanie verzichtete auf eine weitere Frage, und so konnte der Kröker, nach mehrmaligem und ausgiebigem Räuspern, in seinem Vortrag fortfahren. „In der Provinz Guangdong im Süden Chinas, aus der auch unsere Gäste kommen …“ Er deutete wiederum auf die vier Chinesen, die sich artig verbeugten. Das Lächeln im Gesicht der jungen Frau wirkte bemüht, Gasperlmaier hatte den Eindruck, sie hatte verstanden, was bereits gesagt worden war. „… steht bereits eine Kopie von Hallstatt, wie Sie wissen, und am Ufer des …“ Die Burgl reichte ihm ein Blatt von ihrem Stapel. „… Jiaodong-Stausees …“, las der Kröker vom Blatt ab, „sollen Kopien einiger Gebäude aus Altaussee hinzukommen. Man denkt an das Ensemble rund um die Pfarrkirche, einige Bootshäuser, ein Schaubergwerk und an das Wirtshaus auf der Blaa …“ Der Rest dessen, was er vom Zettel ablas, war nicht mehr zu verstehen, weil im Saal ein Tumult ausgebrochen war. Alles schrie durcheinander, Köpfe und sogar Fäuste wurden geschüttelt.

Plötzlich erklomm die Katharina die Stufen zur Bühne, nahm dem verblüfften Kai Kröker das Mikrofon ab und trat an die Rampe. „Könnt’s ihr vielleicht einmal zuhören?“, sagte sie, und ganz entgegen Gasperlmaiers Erwartungen beruhigte sich die Menge langsam. Man war offenbar gespannt, was die Katharina zu sagen hatte. „Ich bin die Katharina Gasperlmaier“, sagte sie, „und viele von euch werden mich kennen. Ich bin aus Altaussee, war vor ein paar Jahren Narzissenkönigin, ich war auf der Tourismusschule, und ich hab auch Tourismusmanagement studiert. Ich kenn mich also aus, auch, wenn ich jetzt die meiste Zeit in Wien wohne.“ Der Friedrich beugte sich neuerlich zu Gasperlmaier herüber. „Die hätten sie als Tourismusdirektorin einstellen sollen!“, flüsterte er und machte ein Zeichen mit dem Daumen nach oben. Gasperlmaier nickte.

„Herr Kröker, können Sie uns die vier Herrschaften vorstellen?“, fragte die Katharina jetzt, reichte dem Kröker das Mikrofon zurück, machte aber keine Anstalten, die Bühne zu verlassen. Der Kröker griff wieder zu seinem Zettel. „Also“, sagte er, „wir haben hier Frau Lin Lien …“ Die Angesprochene erhob sich, lächelte breit und verneigte sich vor dem Publikum. Sie war, fand Gasperlmaier, wirklich ausgesprochen hübsch und wirkte auf ihn so, als freue sie sich tatsächlich, hier sein zu dürfen. „Dann haben wir Herrn Wang Baihu …“ Er deutete auf den Herrn links außen, anstatt seiner erhob sich aber der in der Mitte und entblößte beim Lächeln strahlendweiße Zähne. „Herrn Chen Jian“, fuhr der Kröker unbeirrt fort, „und Herrn Rinderer Josef Ning.“ Rinderer, dachte Gasperlmaier etwas irritiert. Wie kam denn ein Chinese zu dem Namen Josef Rinderer?

Die Katharina schnappte sich wieder das Mikrofon. „Und ich denke“, sagte sie, „wir sollten hier nicht die Regeln der Gastfreundschaft und der Höflichkeit ignorieren, sondern uns anhören, was die Herrschaften zu sagen haben. Und unsere Bedenken, die sollten wir sachlich und friedlich vortragen, dann werden sie auch gehört. Und ich möchte gleich sagen, dass ich schwere Bedenken habe.“ Langanhaltender Applaus folgte, Gasperlmaier selbst klatschte sich beinah die Hände wund.

„Vielleicht“, mischte sich die Burgl ein, „sagst uns gleich, was deine Bedenken sind. Damit wir hier weiterkommen!“ Die Katharina atmete tief durch. „Wir haben jetzt schon mehr Tagestouristen, als wir verkraften können. Die Parkplätze sind am Vormittag schon voll, die Autos, die freie Parkplätze suchen, verstopfen und verpesten unsere Dorfstraße. Wo sollen denn die Leute hin, wenn noch mehr kommen? Wollen wir alle unsere Wiesen mit Hotels, Appartements und Parkplätzen zubauen? Bloß, damit wir Arbeitsplätze im Tourismus schaffen, die eh keiner haben will?“ Sie gab das Mikrofon zurück, schüttelte den Kopf und begab sich an die hintere Wand des Saales zurück. Es gab zwar abermals donnernden Applaus für die Katharina, aber auch einzelne Buhrufe, von denen Gasperlmaier nicht feststellen konnte, woher sie kamen. „Wunderbar!“, flüsterte die Christine ihm ins Ohr. „Was wir für eine Tochter haben!“ Gasperlmaier nickte, dachte aber insgeheim bei sich, dass es ihm lieber wäre, wenn sie nicht so sehr das Licht der Öffentlichkeit suchen würde. Immerhin hatte es im Vorjahr eine ganze Menge Ärger gegeben, weil sie und ihre Frau in ihrem Internetblog Dinge ans Tageslicht brachten, die nicht jedem gefielen. Anfeindungen und Drohungen waren das Ergebnis gewesen. Er hatte gehofft, dass die Katharina daraus Lehren ziehen und sich zurückhalten würde. Stattdessen war sie noch angriffslustiger geworden. Wenn das bloß alles ein gutes Ende nahm.

Der Kröker schien aus dem Konzept gebracht worden zu sein, denn die Burgl musste ihm zuflüstern, was als Nächstes zu geschehen hatte. Er nickte. Gasperlmaier stellte fest, dass auf der Stirn des Kröker Schweißtropfen glänzten, einzelne Haarsträhnen klebten daran. Er trank sein Seidel aus. „Ich bitte jetzt Herrn Rinderer Josef Ning darum, die Vorstellungen seiner Auftraggeber näher zu erläutern.“ „Da sind wir aber gespannt!“, rief der Friedrich hinaus, was ihm einen Rippenstoß seiner Heidi einbrachte.

Der Rinderer stand auf und begann, wie Gasperlmaier überrascht feststellte, mit bayerischem Akzent zu sprechen. „Ihr werdet’s euch vielleicht wundern, warum ein Chines bayerisch redt’, aber die Sach ist die, dass mein Vater aus Straubing ist und als Braumeister nach China gegangen ist, damit er den Chinesen das Bierbrauen zeigt.“ Er erntete für diese Einleitung freundliches Gelächter. „Und dann, könnt’s es euch ja denken, hat ihm meine Mutter sehr gefallen, und ich bin geboren und mit den Eltern zurück nach Straubing, wie die Chinesen dann das Bierbrauen schon gekonnt haben.“ Weiteres Gelächter. „Und seitdem pendle ich zwischen Bayern und China und bin in beiden Ländern daheim.“ Der Rinderer, fand Gasperlmaier, war den Altausseern ein wenig zu sympathisch für das, was er wohl im Schilde führte.

„Und jetzt ist es so“, fuhr der Rinderer fort, „dass meine Heimatstadt, Huizhou am Jiaodong-Stausee, eben vorhat, ein bisschen alpines Ambiente, das wir in China so lieben, zu uns nach Hause zu bringen. Der Herr Kröker hat ja schon gesagt, was wir vorhaben. Es ist also nicht zu befürchten, dass jetzt jeden Tag hunderte Busse bei euch ankommen, weil die Leute das alles selber sehen wollen. Sie haben es ja dann zu Hause bei uns und müssen nicht extra herfahren.“ Der Rinderer lachte und nahm einen Schluck von dem Bier, das vor ihm stand. „Das ist aber in Hallstatt ganz anders gelaufen!“, rief jemand aus dem Publikum. Der Rinderer nickte und legte die Hände vor der Brust aneinander. „Da werden wir Vorkehrungen treffen. Der Name Altaussee wird in dem Projekt nicht auftauchen, wir werden gar nicht öffentlich machen, welche Bauten und welche Landschaft wir da kopiert haben.“ „Wer’s glaubt!“, schnaufte der Friedrich. „Das haben doch diese Influencer in null Komma nichts heraußen, welcher Ort da kopiert wird, und zuerst gibt’s Millionen Klicks auf Instagram, und dann überschwemmen uns die Massen!“ Gasperlmaier hatte gar nicht gewusst, dass der Friedrich sich mit den modernen sozialen Medien so gut auskannte. Er drehte sich um. Die Stefanie tippte eifrig auf ihrem Handy, und die Katharina hielt ihres in Richtung Bühne. Er hatte den Verdacht, dass sie die Diskussion aufnahm.

Außerdem fragte er sich, wozu die neue Strategie des Tourismusverbands gut sein sollte, wenn jetzt dieser Rinderer behauptete, man wolle überhaupt keine Chinesen ins Ausseerland bringen. Und ein Widerspruch zu dem, was der Kröker zuvor gesagt hatte, war es ebenfalls. Zu seinem Glück musste er seine Bedenken nicht selber vorbringen. Hinter ihm räusperte sich jemand, und als er sich umdrehte, sah er, dass die Stefanie die Hand hochstreckte. „Ja?“, sagte der Kröker und streckte die Hand in ihre Richtung aus. „Wenn, wie Herr Rinderer behauptet, überhaupt keine Touristinnen und Touristen aus China nach Aussee gelockt werden sollen, inwiefern profitiert dann das Ausseerland von dieser sogenannten neuen Strategie?“ Der Sarkasmus in der Frage der Stefanie war unüberhörbar. Der Kröker fingerte wieder an seinem Krawattenknoten herum, bevor er antwortete.

„Man muss das“, begann er schließlich, „im Zusammenhang mit einer globalen Strategie sehen. Man muss die Entwicklungschancen auf den Weltmärkten im Auge behalten, und man muss vor allem die Marke … nicht … um die es hier geht. Salzkammergut, Ausseerland. Diese Marke muss man international platzieren, stärken durch Kooperationen, auch durch Aktionen, wie zum Beispiel auf Messen, aber eben auch durch Kooperationen mit Partnern, weltweit!“ Er vollführte eine weit ausholende Geste. Im Publikum erhob sich Raunen. „So einen Schmarren“, sagte der Kahlß Friedrich laut, „habe ich ja überhaupt noch nie gehört! Das ist ja eine solche Luftblase, die Sie da produzieren, da erblasst ja jeder Politiker!“ Der Friedrich war sehr laut geworden, und seine Heidi versuchte, an seinem Rock zerrend, ihn dazu zu bewegen, sich wieder hinzusetzen. „Ist ja wahr!“, schnaufte der Friedrich, ließ sich aber wieder nieder. „Recht hat er, der Kahlß!“, rief jemand in einer der vorderen Reihen.

Der Rinderer stand auf und lächelte, dazu bewegte er beschwichtigend beide Handflächen nach unten. „Damit ihr unseren guten Willen seht“, sagte er, „haben wir unten am Ausgang einen Korb mit chinesischen Glückskeksen aufgestellt. Wir bitten jeden von euch, eines mitzunehmen, oder auch zwei. So als kleines Dankeschön dafür, dass ihr uns eingeladen und uns zugehört habt.“ Gasperlmaier schüttelte den Kopf. „Der will uns mit Glückskeksen ködern“, flüsterte er der Christine zu. „Das allein macht ihn schon verdächtig. Glückskekse!“

„Ich geb dir völlig recht. Und auch, was er behauptet, wird so nicht funktionieren!“, flüsterte die Christine zurück. „Das müssen wir schon in den Anfängen stoppen, sonst ersticken wir in Touristen!“ Er nickte. Genau diese Befürchtung hegte er auch. Der Kröker stellte nun auch die anderen Mitglieder der Delegation vor. „Frau Lin Lien ist als Dolmetscherin zu uns gekommen, die beiden anderen Herren sprechen kein Deutsch. Herr Chen Jian und Herr …“ Die Burgl musste ihm erneut mit einem Zettel aushelfen. „… und Herr Wang Baihu sind Vertreter der Tourismusbehörde der Provinz Guangdong …“ Der Friedrich beugte sich neuerlich zu Gasperlmaier herüber. „Tourismusbehörde, dass ich nicht lach! Mindestens einer von den zweien ist ein Geheimdienstler, der darauf aufpasst, dass die anderen auf Linie bleiben! Und der andere überwacht wahrscheinlich den einen Geheimdienstler, dass der …“ „Still!“, zischte die Heidi. „Ich möchte zuhören!“ Gasperlmaier wäre es am liebsten gewesen, wenn er jetzt nach Hause hätte gehen dürfen. Oder vielleicht zum Schneiderwirt, auf ein kleines Bier. Oder auch ein großes.

Die Debatte wogte hin und her, es gab auch Altausseer, die für die Kooperation waren, darunter ein Bauunternehmer, der, so wusste Gasperlmaier, zwar ein einheimisches Unternehmen aufgekauft hatte, aber in Wirklichkeit aus dem Pinzgau kam. Dem war natürlich egal, was mit Altaussee geschah, solange er ungehindert bauen konnte, was immer er auch wollte. Der Bürgermeister kam noch einmal zu Wort, mischte sich aber inhaltlich gar nicht ein, sondern bat lediglich darum, sachlich und höflich zu bleiben, ähnlich, wie die Kathi es vorhin getan hatte.

Nach einer Zeit, die Gasperlmaier endlos vorkam, standen sie tatsächlich am Ausgang und griffen in einen der Körbe, in denen kiloweise in Plastikfolie eingeschweißte Glückskekse lagen. „Das auch noch!“ Gasperlmaier zeigte auf den Boden, der bereits voller aufgerissener Glückskeks-Verpackungen war. „Das waren aber unsere Altausseer“, gab die Christine zu bedenken. „Trotzdem!“, beharrte Gasperlmaier. „Hätten sie’s nicht hergestellt, wär auch der Müll nicht da!“

„In meinem steht ‚Wenn das Leben dir einen Korb gibt, geh einkaufen‘“, sagte die Christine, steckte ihr Keks in den Mund und die Verpackung in Gasperlmaiers Hosentasche. „Das erinnert mich daran, dass du in letzter Zeit deine Pflichten im Haushalt wieder einmal sträflich vernachlässigt hast!“ Gott sei Dank drückte sie, zum Zeichen, dass sie es nicht ganz ernst meinte, Gasperlmaier einen Kuss auf die Wange. „Pack deines doch auch aus!“, verlangte sie dann. „Da steht“, sagte er, „‚Warte nicht auf die Entscheidungen anderer, entscheide selbst!‘“ „Na, wenn das nicht passt! Da kannst du ja heute gleich damit anfangen!“, lachte die Christine.

Der Doktor Altmann war mit seiner Frau zu ihnen getreten. „Wisst’s ihr, was in meinem Keks steht“, berichtete er. „‚Was du heute kannst entkorken, das verschiebe nicht auf morgen‘! Haha!“ Seine Frau stieß ihn in die Rippen. „Ein blödes Glückskeks brauchst du nicht als Ausrede für deinen Alkoholismus herzunehmen“, schimpfte sie, wohl, wie Gasperlmaier zu merken meinte, nicht ganz im Ernst. „Nachbesprechung?“, fragte der Bruno. „Beim Schneiderwirt?“ Gasperlmaier nickte. „Aber nicht zu lang. Ich hab ja morgen Dienst.“ Der Bruno nickte. „Also“, sagte er und fasste Gasperlmaier um die Schultern, „dieser Kröker, der war eine eklatante Fehlbesetzung. Ich weiß gar nicht, wie man auf den kommen konnte. Der muss weg!“ „Fragt sich nur, wie!“, antwortete Gasperlmaier. Ihm war bei der ganzen Sache nicht wohl. Dass sie ein Problem hatten, mit diesem Tourismuschef, das war klar. Aber dass er sich Gedanken über die Lösung desselben machen sollte, behagte ihm gar nicht.

Beim Schneiderwirt stellte sich schnell heraus, dass alle am Tisch der gleichen Meinung waren. Man habe zwar nichts gegen zahlungskräftige ausländische Touristen, natürlich auch nicht gegen Chinesen, aber dass man mit den Kopien der Häuser aus dem Dorf quasi aktiv darum warb, dass Menschen um die halbe Welt reisten, um Altaussee zu sehen, das hielt man für ausgemachten Unsinn. „Wir dürfen nicht vergessen“, sagte die Christine, „dass wir nur eine halbe Stunde von Hallstatt entfernt sind. Und die Leute, die dahin anreisen, kommen dann auch zu uns!“ „Wir sind doch kein Disneyland!“, schimpfte der Friedrich. „Allein, dass man unsere Häuser nachbaut! Das ist ja eine schreckliche Vorstellung. Kann man denn da gar nichts dagegen tun?“ Seine Frage hatte sich an den Bruno gerichtet. Der zuckte mit den Schultern. „Streng juristisch, gar nichts. Du kannst ja, zum Beispiel, auch einem Wiener nicht verbieten, dass er auf sein Grundstück, sagen wir jetzt einmal in Unterstinkenbrunn, ein Haus im Altausseer Stil hinstellt. Da gibt’s keinen Markenschutz dafür, oder so.“ „Wo ist denn das überhaupt, Unterstinkenbrunn?“, fragte der Friedrich. „Gibt’s das wirklich?“ „Unterstinkenbrunn ist im Weinviertel“, erklärte der Bruno. „Übrigens eine Gegend, wo die Leute gar nichts dagegen haben, dass Windräder aufgestellt werden. Denn die tragen dort zur Verbesserung des Landschaftsbildes bei, habe ich mir sagen lassen! Prost!“

Mitten in das Gelächter, das folgte, hinein traten drei Frauen an den Tisch. Die Stefanie und die Katharina hatten zu Gasperlmaiers Überraschung die Chinesin im roten Kleid mitgebracht. „Dürfen wir uns zu euch setzen? Das ist übrigens Lin Lien. Das heißt Lotosblüte. Wir haben sie überredet, mit uns zu kommen.“ Die Chinesin lächelte und verneigte sich. „Guten Abend!“, sagte sie mit einem Akzent, der Gasperlmaier verriet, dass sie auf keinen Fall mit einem deutsch sprechenden Elternteil aufgewachsen war wie der Rinderer Josef. „Ich kann aber nicht lang bleiben!“ „Jetzt setzt’s euch schon her!“, forderte der Friedrich die drei auf. Man rückte zusammen, Gasperlmaier organisierte einen Sessel, und schon hatten alle einen Platz. Die Christine ergriff sogleich das Wort. „Bitte entschuldigen Sie, dass es so heftige Reaktionen gegeben hat, bei der Versammlung. Das war auf keinen Fall gegen Sie gerichtet!“ Die Lin Lien verneigte sich erneut. „Vielen Dank!“, sagte sie. Gasperlmaier war nicht sicher, ob sie verstanden hatte, was die Christine gesagt hatte. Auf jeden Fall wirkte sie sehr schüchtern. Er fragte sich, wie es den Mädchen gelungen war, die Frau aus der Begleitung der drei Herren aus China und des Kai Kröker loszueisen. Aber wenn sich die Kathi und die Stefanie etwas in den Kopf gesetzt hatten, dann erreichten sie ihr Ziel in der Regel auch. Und das, was sie sich in den Kopf gesetzt hatten, konnte nur sein, mehr Informationen über das Projekt aus der Lin Lien herauszuholen.

„Lin Lien kommt auch aus Huizhou und hat in München studiert. Dort hat sie den Herrn Rinderer kennengelernt, und der hat sie dann als Dolmetscherin für die Delegation engagiert“, erklärte die Stefanie. Die Lin Lien nickte. „Ich kann nicht so gut Deutsch wie Ning Xiansheng. Aber er hat nicht Zeit zu übersetzen für die anderen Herren.“ „Wer ist das jetzt?“, fragte der Bruno. Die Lin Lien schien bereits etwas Zutrauen zu der Gruppe gefasst zu haben und erklärte. „Ning Xiansheng ist Josef Rinderer. Sein chinesischer Name ist Ning, Xiansheng heißt Lehrer oder Herr. Man sagt es, um Respekt auszudrücken, wenn jemand älter ist.“ Kompliziert, dachte Gasperlmaier bei sich. Für die Chinesin war der Rinderer also Ning Xiansheng. Ob er sich das merken konnte? Aber eigentlich war es ja auch egal.

„Lien hat mit dem Projekt des Kröker nichts zu tun“, erklärte die Kathi. „Sie ist wirklich nur zum Übersetzen mitgekommen. Aber die drei Herren müssen jetzt noch mit dem Kröker trinken gehen, und dafür brauchen sie die Lin nicht. Wir haben ihnen einfach erklärt, wir möchten sie mitnehmen, für einen Abend Girls only!“ „War natürlich eine Lüge!“, lächelte die Charlotte. „Notlüge!“, gab die Kathi zu. „Frau Lin, was denken Sie denn darüber, dass bei Ihnen zu Hause ein paar Häuser aus unserem Ort nachgebaut werden sollen?“ „Die Häuser hier in Altaussee sind sehr schön. Sehr gemütlich, so schön aus Holz gemacht. Die Menschen in China freuen sich, auch so schöne Häuser anzusehen, einzutreten, vielleicht im Urlaub darin zu schlafen!“ Das, fand Gasperlmaier, war eine ausgesprochen diplomatische Antwort. Das sah er auch ein, die Lin Lien durfte sich sicher nicht erlauben, eine Meinung zu äußern, die vom Auftrag der Delegation abwich, da war man in China, so glaubte Gasperlmaier zumindest, sehr streng. Was das Befolgen von Anweisungen von Vorgesetzten oder Älteren betraf. In China, so dachte er bei sich, hätte er es als Polizist sicher leichter mit renitenten Jugendlichen gehabt, weil man vor der Uniform Respekt hatte. Und vor den Älteren.

Zu Hause, Gasperlmaier hatte schon seinen Pyjama angezogen und war drauf und dran, in sein Bett zu fallen, kam die Christine noch einmal auf das Thema des heutigen Abends zu sprechen. „Eine blöde Geschichte. Einerseits wollen wir weltoffen sein, keine Vorurteile haben und auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass wir Rassisten sind“, sagte sie, während sie sich das Gesicht mit einer Creme einschmierte, die sehr gut roch, aber dennoch Gasperlmaier immer beim Einschlafen störte, weil er da lieber einen neutralen Geruch hatte. Oder höchstens den von seinem Kopfpolster. „Sind wir ja auch nicht, gar nicht!“, entgegnete er, ein bisschen geistesabwesend. „Sonst hätten wir ja auch den Deutschen nicht hierhergeholt, als Tourismusdirektor!“

„Das ist nun aber wieder ein ganz anderes Thema!“, schalt ihn die Christine. „Und andererseits“, knüpfte sie an, wo sie zuvor geendet hatte, „ist es wirklich keine gute Idee, Werbung in so weit entfernten Ländern zu betreiben. Die Leute werden durch unser Land gehetzt, wissen meistens nicht einmal, wo sie gerade sind. Die können sich gar nicht richtig auf uns einlassen, etwas über unsere Kultur erfahren. Dabei wäre das doch der Sinn des Reisens!“ Gasperlmaier schwieg, denn der Sinn des Reisens hatte sich ihm noch nie gänzlich erschlossen. Schon in Attnang-Puchheim, wo man umsteigen musste, wenn man nach Wien wollte, überfiel ihn das Heimweh. Und an seine Reise um die halbe Welt, um die Christine wieder zurückzugewinnen, an die mochte er gar nicht erst denken. Genau gar nichts hatte ihm daran gefallen.

„Das ist typisch für dich, dass du nichts sagst, wenn ich mit dir über ein wichtiges Thema rede!“, ereiferte sich die Christine, legte sich ins Bett und zog die Decke bis zum Kinn hoch. „Ich wollt ja eh was sagen“, verteidigte sich Gasperlmaier. „Aber da muss ich zuerst nachdenken, und bis ich mit dem Denken fertig bin, redest du schon wieder weiter. Und zu dem Thema ist mir überhaupt noch nichts eingefallen.“ Die Christine schwieg nun ebenfalls und schlug ein paarmal auf ihre Decke, wie um sie zu glätten. „Weißt du“, sagte sie schließlich, „wir könnten schon auch zusammen ein bisschen mehr unternehmen. Mit dir ist gar nichts anzufangen. Am liebsten liegst du mit einer Flasche Bier in der Hand und der Katze auf dem Bauch vor dem Fernseher und …“ „Stimmt ja gar nicht!“, verteidigte sich Gasperlmaier. „Dauernd fahren wir nach Wien, und sogar in Venedig …“

Die Christine war aber nun, er verstand gar nicht recht, warum, plötzlich richtig schlechter Laune. „Venedig!“, schnaubte sie. „Da hast du bloß gejammert, dass das Bier so teuer ist. Und in Wien, was tun wir in Wien? Waren wir vielleicht schon einmal in der Oper, oder in irgendeiner interessanten Ausstellung? In einem Museum?“ „Schon“, entgegnete Gasperlmaier, „du warst im Kunsthistorischen Museum, glaub ich. Mit der Kathi.“ „Ja eben!“, ereiferte sich die Christine weiter. „Und wo warst du währenddessen? Beim Würstelstand!“ Gasperlmaier wusste nicht recht, wie ihm geschah, und vor allem, wie er die Christine besänftigen sollte. Am besten war es, er hielt den Mund, drehte das Licht auf seinem Nachtkästchen ab und zog sich die Decke bis ans Kinn. „Jetzt bin ich müde“, sagte er. „Ich hab morgen Früh Dienst!“ „Glaubst du, ich nicht?“, fragte die Christine spitz.

Die Folge des Streits war, dass Gasperlmaier nicht einschlafen konnte. Vielleicht hatte die Christine recht und sie sollten mehr gemeinsam unternehmen. Aber was nur? Was konnte der Christine gefallen und zugleich aber auch ihm ein bisschen Freude bereiten? Er musste die Kathi fragen. Es war immerhin schon Oktober, und es galt, bald ein Weihnachtsgeschenk für die Christine zu finden. Und, schwer von Entschluss, wie er immer war, war es vernünftig, rechtzeitig mit den Überlegungen zu beginnen. Zum Glück hatte er nur noch morgen Dienst, am Freitag hatte er sich frei genommen, weil er Zeit haben wollte, falls er bei den Vorbereitungen zur Hochzeit gebraucht würde. Immerhin hatte sie sich Altaussee für ihr Fest ausgesucht, daher fühlte er sich mit dafür verantwortlich, dass alles klappte. Es war schon komisch, dass er mit ihr seit Jahren per du war, wenn er aber an sie dachte, war sie für ihn immer noch die „Frau Doktor“.

3

Der Freitag war ein recht trüber Tag, aber in der Wetterprognose hatte es geheißen, es werde ab Mittag trocken sein, langsam aufklaren und wärmer werden. Für den Samstag war sonniges, mildes Wetter vorhergesagt. Ein Glück. Wenn es nasskalt war, konnte eine Hochzeit auf der Seewiese recht ungemütlich werden. Deswegen hatte Gasperlmaier vor dem Oktobertermin gewarnt und ein wenig gebangt. Doch es sah so aus, als ob alles gutgehen würde.

In der Früh hatte er sich vorgenommen, trotz des freien Tags noch einmal auf dem Posten vorbeizuschauen, um anstehende Arbeit mit der Manuela zu besprechen. Die Manuela Reitmair-Peschke hatte vor ein paar Jahren einen Einheimischen geheiratet und war eine echte Stütze für ihn geworden, wenn er auch manchmal das Gefühl hatte, sie hielt sich für gescheiter und wichtiger als er selbst, obwohl er doch ihr Chef war. Sie hatte bereits eine Menge Kurse absolviert, die sie eigentlich für eine höhere Laufbahn qualifizierten, aber wegen ihres Ehemanns war sie in Altaussee geblieben. Der unterrichtete Musik im Gymnasium in Bad Aussee und verschiedene Instrumente in der Musikschule. Letzte Woche war die Manuela von einem Kurs zurückgekommen, in dem es um Operative Fallanalyse ging, die sogenannte OFA. Das klang nicht spektakulär, aber es war nichts anderes als das auch in den Medien populäre Profiling. Gasperlmaier hatte schon den Verdacht gehabt, die Manuela wollte Altaussee verlassen und sich als Profilerin Lorbeeren verdienen, bislang aber hatte sie nichts von derartigen Plänen verlauten lassen, obwohl sie ihm ausgiebig und enthusiastisch vom Kurs vorgeschwärmt hatte.

„Fesch!“, begrüßte ihn die Manuela, denn er hatte heute seine Lederhose angezogen, weil ihm angesichts der bevorstehenden Hochzeit schon ein bisschen feierlich zumute war. „Aber geh!“, antwortete er mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Was steht an, heute? Kommst du zurecht?“ Die Manuela nickte. „Solange das Wetter trüb ist … Schauen wir einmal, ob heute Nachmittag die Sonne herauskommt und wir wieder ein Parkchaos kriegen! Morgen dann sicher, bei dem Wetterbericht!“

„Gott sei Dank“, sagte Gasperlmaier, „brauchen wir keine Autos. Die Renate ist mit ihrer Familie in der Villa Kirnberger, und alle Gäste haben Anweisung, spätestens um halb zehn vor Ort zu sein. Dann wird’s schon noch passen!“ „Gut!“, sagte die Manuela. „Dann viel Spaß! Ich schau morgen einmal vorbei, auf der Seewiese! Die Frau Doktor Kohlross hat gemeint, der Carsten und ich sollen uns ruhig auch ein Schnitzel abholen!“ „Fein, freut mich!“, antwortete Gasperlmaier, dem der Gedanke, dass die Manuela und ihr Mann womöglich nicht eingeladen waren, ohnehin nicht gefallen hatte.

Nach seinem Besuch am Posten begab sich Gasperlmaier zu Fuß zur Villa Kirnberger, um die Frau Doktor Kohlross zu begrüßen und letzte Einzelheiten mit ihr zu besprechen. Als er bei der Trafik um die Ecke bog, konnte er sie schon sehen. Sie stand an der geöffneten Tür eines schwarzen Autos, das auf dem Parkplatz der Villa Kirnberger parkte. Und sie schüttelte energisch den Kopf und sprach laut mit dem Fahrer. „Nein, auf keinen Fall!“, hörte Gasperlmaier. Er sah die Hand des Fahrers, die heftig gestikulierte, und zögerte, weiterzugehen. Womöglich geriet er da in eine Angelegenheit, die ihn nichts anging. „Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, rief die Frau Doktor jetzt. „Und ich brauch erst gar nicht die Polizei … die bin ich selber!“ Wütend trat sie die Autotür mit dem Fuß zu, der Motor des Wagens heulte auf, er schoss im Rückwärtsgang aus der Parklücke, danach direkt auf Gasperlmaier zu. Er konnte nur einen dunkelhaarigen, glattrasierten Mann erkennen, schon war das Auto an ihm vorbei. Die Frau Doktor stand allein auf dem Parkplatz, atmete schwer und hatte ihn bereits entdeckt. „Franz!“, rief sie und winkte. Das Lächeln, fand er, als er näher kam, wirkte gequält. Die Frau Doktor trug heute einen lachsrosa Pullover mit einer grauen Steppjacke darüber und ein Paar enge Jeans zu ebenfalls grauen Stiefeletten. Sie sah gut aus und umarmte Gasperlmaier, um ihn auf die Wangen zu küssen. Ihm kam vor, dass sie ihn fester als sonst drückte, vielleicht, weil sie zu zittern schien.

„Was war denn los?“, fragte er. „Wer war das?“ „Nichts, nichts!“ Die Frau Doktor wedelte unbestimmt mit der Hand. „Ein … also wirklich, nichts. Eine kleine Meinungsverschiedenheit. Ein Bekannter von früher. Hat sich schon erledigt.“ Ihr Gesichtsausdruck, fand Gasperlmaier, sagte etwas anderes. In diesem Moment fiel ihm ein, dass er ja sein Gamsjackerl trug, in dem immer ein Flachmann steckte. „Magst einen Schnaps? Du schaust aus, als könntest du einen brauchen!“ Jetzt lächelte die Frau Doktor ein echtes Lächeln. „Immer bereit zu Erster Hilfe, was? Ein ganz kleiner, vielleicht?“ Gasperlmaier schenkte in den Verschluss der Metallflasche ein. „Ich hab jetzt auch immer was Feines mit, vom Doktor Altmann gelernt. Ein Marillenschnaps, von seinem Weinbauern in der Wachau. Hat er mir geschenkt!“ Die Frau Doktor stürzte das halbe Stamperl in einem Zug hinunter. „Brrr!“, schüttelte sie sich. „Das brennt. Aber es tut gut!“ Sie schien, fand Gasperlmaier, jetzt etwas entspannter. Er hoffte noch immer auf eine nähere Erklärung der Szene, die er aber nicht bekam.

„Der Bernhard und die Kinder sind drinnen!“, erklärte die Renate. „Wir sind gerade angekommen und haben die Zimmer bezogen! Komm mit!“ Der Bernhard, das war der Bräutigam, ein Volksschuldirektor aus der Liezener Gegend. Die Kinder, das waren Sophie, acht Jahre alt, und Max, knapp zwei. Den Max hatte die Renate zusammen mit dem Bernhard bekommen, die Sophie war aus einer Beziehung, die sie Gasperlmaier gegenüber nie genauer erläutert hatte. Es konnte, so mutmaßte er, nur eine unangenehme Erinnerung sein. Hoffentlich hatte der mysteriöse Mann im schwarzen Wagen nichts damit zu tun. Sonst stand am Ende zu befürchten, dass er die Hochzeit stören würde. Eigentlich, so dachte Gasperlmaier bei sich, hatte er das schon getan, indem er die Frau Doktor aus ihrem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte. Denn das, so wusste er aus Erfahrung, brauchte man für eine Hochzeit.

„Seid’s schon nervös?“, fragte Gasperlmaier, als er sich neben dem Bernhard in der Gaststube der Villa Kirnberger niederließ. Der Bernhard schaukelte den Max auf seinem Schoß. Der Kleine maß Gasperlmaier mit aufmerksamem Blick. Aus den Nasenlöchern rann ihm ein wenig Rotz direkt in den Mund. Der Bernhard lachte. „Kein bisschen! Ich warte ja schon Jahre darauf, dass mir die schönste Frau von allen endlich ihr Ja-Wort gibt!“ Die Frau Doktor lächelte und strich der Sophie über ihr dunkles Haar. Die war hoch aufgeschossen für ihr Alter und ausgesprochen hübsch, mit ihren Augen, die ebenso dunkel wie ihre Haare und noch dazu riesengroß waren. Etwas Schneewittchenhaftes hatte das Kind an sich, fand Gasperlmaier, und sie musterte ihn ebenfalls versonnen. „Warum hast du denn heute keine Uniform an?“