Leuchtfeuer - Corina Bomann - E-Book
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Leuchtfeuer E-Book

Corina Bomann

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Beschreibung

Eine mutige Kinderschwester kämpft für ihre kleinen Patienten und ihr eigenes Glück. Die mitreißende Waldfriede-Saga geht weiter!

Berlin-Zehlendorf, 1933. Gerade als sich das Waldfriede endlich einen Namen gemacht hat und Klinikleiter Conradi in die Berliner Chirurgische Gesellschaft aufgenommen wird, ziehen mit der Machtergreifung der Nazis dunkle Wolken am Horizont auf. Plötzlich steht das Waldfriede und sein Personal unter Beobachtung. Doch die junge Kinderschwester Lilly sorgt sich weniger um sich selbst als um ihre kleinen schutzbedürftigen Patienten und die Menschen, die ihr nahestehen: Längst hat sie erkannt, dass ihre Gefühle für den Arzt Rudolph Kirsch über ein rein berufliches Verhältnis hinausgehen. Sie ahnt, dass sie nicht als Einzige ein Geheimnis verbirgt. Die Zeiten werden immer bedrohlicher, und Lilly immer verzweifelter: Soll sie alles riskieren – um am Ende vielleicht alles, was ihr am Herzen liegt, zu verlieren?

Nach wahren Begebenheiten: Inspiriert von der Chronik einer Krankenschwester erzählt Erfolgsautorin Corina Bomann die Geschichte der Berliner Waldfriede-Klinik.

Entdecken Sie die weiteren Bände der mitreißenden Waldfriede-Saga:

1. Sternstunde. Die Schwestern vom Waldfriede
2. Leuchtfeuer. Die Schwestern vom Waldfriede
3. Sturmtage. Die Schwestern vom Waldfriede
4. Wunderzeit. Die Schwestern vom Waldfriede

Alle Bände der Saga sind auch einzeln lesbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 794

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Corina BomannsRomane sind mit einer Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren nicht aus den Bestsellerregalen wegzudenken. Mit ihren beliebten historischen Sagas steht sie regelmäßig auf den vorderen Plätzen der SPIEGEL-Bestsellerliste – so zuletzt mitSternstunde. Die Schwestern vom Waldfriede, dem ersten Band ihrer neuen groß angelegten Saga. Mit der vierbändigen Romanreihe um die Berliner Klinik Waldfriede erfüllt sie sich einen Herzenswunsch: Inspiriert durch die echte Chronik des Hauses, von deren Existenz sie während eines Aufenthalts dort erfuhr, möchte sie der Klinik und ihrer ereignisreichen Geschichte ein Denkmal setzen. Corina Bomann lebt in Berlin-Zehlendorf – in direkter Nachbarschaft zur Waldfriede-Klinik.

Sternstundein der Presse:

»Ein spannend aufbereitetes Zeitdokument.«Münchner Merkur

»Mitreißendes Historienkino vom ersten bis zum letzten Satz. Solch eine Lektüre ist von größter Seltenheit, hallt außerdem noch lange im Herzen nach.«literaturmarkt.info

»Spannender Auftakt einer Saga, die auf wahren Begebenheiten beruht!«OK!

Außerdem von Corina Bomann lieferbar:

Sternstunde. Die Schwestern vom Waldfriede

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.deund Facebook.

Corina Bomann

LEUCHT-FEUER

DIE SCHWESTERN VOM WALDFRIEDE

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Cover: bürosüd GmbH

Covermotiv: Arcangel Images, Ildiko Neer / www.buerosued.de

Redaktion: Carlos Westerkamp

Karte: Peter Palm

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN978-3-641-28303-2V002

www.penguin-verlag.de

Die Autorin hat im vorliegenden Roman tatsächliche Ereignisse aufgegriffen, die sich in einer bestimmten Gegend zu einer bestimmten Zeit abspielten. Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind verändert, ergänzt und in ihren Verschränkungen sämtlich romanhaft gestaltet.

Dieser Roman ist also ein Werk der Fantasie, in dem Fakten und Fiktion, Geschehenes wie Erfundenes, eine untrennbare künstlerisch verfremdete Einheit bilden.

Prolog

Potsdam, 14. August 1925

Als sie erwachte, war es dunkel. Sie tastete nach ihrer Lampe und schaltete sie an. Ein Schälchen Haferbrei und ein Glas Milch standen auf dem Nachttisch. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter das Dienstmädchen in ihr Zimmer geschickt.

Lilly war froh, dass sie nicht selbst gekommen war und ihr ein Gespräch aufgenötigt hatte. Die ganze Angelegenheit war schon schwierig genug.

Sie erhob sich, trank die Milch, ließ aber das Schälchen mit dem Brei unberührt. Dann ging sie zu ihrem Kleiderschrank. Nur drei Stücke suchte sie aus: ein Sommerkleid und zwei Winterkleider, außerdem Unterwäsche, Strümpfe und ein Paar Winterschuhe. Ein weiteres Kleid zog sie an. Es bestand aus grünem Kattun mit Häkelspitze und hatte kleine Puffärmel, die sie wie das junge Mädchen aussehen ließen, das sie noch immer war. Doch nach dieser Nacht würde ihre Kindheit endgültig vorbei sein.

Zu den Kleidern legte sie zwei Bücher, ihre Waschtasche, ein kleines Handtuch und eine Börse mit ihren Ersparnissen. Mit den hundert Mark, die sie besaß, würde sie bestimmt eine Weile durchhalten.

Als sie mit dem Packen fertig war, schlich sie mit ihrer Tasche auf Zehenspitzen zur Zimmertür. Alles war ruhig, das Licht im Wohnzimmer verloschen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es schon nach halb elf war.

Lilly nahm ihren grauen Mantel von der Garderobe und zog ihn sich über. Kurz überlegte sie, ob sie eine Nachricht hinterlassen sollte. Wenn ihre Eltern bemerkten, dass sie fort war, würden sie sie vielleicht von der Polizei suchen lassen. Also kehrte sie in ihr Zimmer zurück und schrieb eine knappe Erklärung, die sie auf die Kommode im Flur legte.

Dann öffnete sie leise die Tür. Das Messingschild mit der Aufschrift »Steuerberatungskanzlei Otto Wegner« blitzte im Mondschein auf, doch sie ignorierte es und verschwand in die Nacht.

Der Himmel war klar und an den Rändern immer noch etwas hell. Sterne funkelten über den Dächern der Jugendstilhäuser. Nur noch wenige Fenster in der Nachbarschaft waren erleuchtet, meist in den Dienstbotenquartieren, wo die Angestellten die letzten Arbeiten des Tages erledigten. Grillenzirpen begleitete sie den menschenleeren Gehweg entlang.

Während sie das Klappern ihrer Absätze auf den Steinen vernahm, fragte sie sich, wohin sie gehen sollte. Von nun an musste sie auf eigenen Füßen stehen. Und dazu gehörte, dass sie eine Anstellung fand.

Nur, was sollte sie tun? Sie hatte lediglich die Volksschule abgeschlossen und konnte keinerlei Ausbildung vorweisen. Früher einmal hatte sie davon geträumt zu studieren, doch dann war alles anders gekommen, und sie hatte diesen Traum wie so viele andere begraben müssen.

Meta, das Dienstmädchen ihrer Familie, fiel ihr wieder ein. Die Arbeiten, die sie erledigte, waren einfach, aber sie war lange Zeit auf den Beinen. Lilly hatte nur selten im Haushalt helfen müssen, meist dann, wenn Meta ihren freien Tag hatte. Doch putzen würde sie ebenso können wie Kartoffeln schälen, wenn es nötig war.

Das wütende Kläffen eines Hundes zerrte sie in die Gegenwart zurück. Zähnefletschend warf sich das dunkle Tier gegen den Zaun neben ihr.

Lilly schreckte zurück und ging schnell weiter. Sie bog um die Ecke und schlug den Weg in Richtung Bahnhof ein.

Das weiße Gebäude mit dem Rundbogendach und den hohen Fenstern grüßte sie schon von Weitem. Sie wusste nicht, ob um diese Uhrzeit noch ein Zug fuhr. Wenn nicht, würde sie eben auf einer Bank schlafen. Eine Rückkehr in ihr Elternhaus kam nicht infrage.

Eine leichte Brise wehte ihr entgegen, als sie das Gebäude betrat. Der Fahrkartenschalter war noch geöffnet, in diesem Augenblick aber unbesetzt.

Lilly schaute sich um. Außer ihr waren nur wenige Reisende in der Wartehalle. Ein Mann hatte sich auf einer Bank ausgestreckt. Zwei weitere unterhielten sich auf der anderen Seite der Halle. Einer von ihnen blickte zu ihr hinüber, worauf sich Lilly schnell abwandte. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war ein Mann, der sie belästigte.

Schließlich erschien die Frau am Schalter. Sie wirkte müde, und einige Strähnen hatten sich aus ihrem Dutt gelöst.

»Wohin soll’s gehen?«, fragte sie.

»Nach Berlin«, antwortete Lilly.

Die Frau musterte sie. Erst jetzt schien ihr aufzufallen, wie jung Lilly war. »Wo sind denn deine Eltern?«

»Ich fahre allein«, antwortete sie und zählte die Münzen ab. Dabei versuchte sie, ihre Hände nicht zittern zu lassen.

Die Frau brummte etwas, das sie nicht verstand, dann reichte sie ihr den Fahrschein. Lilly bedankte sich und erklomm die lange Treppe, die zu den Gleisen führte.

Der Wind wehte hier etwas stärker, aber er war immer noch mild. Lilly blickte an den Schienen entlang. Die Dunkelheit jenseits des Bahnhofs erschien ihr bedrohlich. Noch nie zuvor in ihrem Leben war sie ganz allein unterwegs gewesen, immer waren Mutter oder Vater bei ihr. Diesen Schutz hatte sie nun verloren.

Wut wallte in ihr auf. Sie hätten ihr beistehen sollen! Es hätte doch sicher noch eine andere Möglichkeit gegeben …

»Mädchen, was machst du denn hier so allein?«, fragte eine Männerstimme. Lilly legte schützend die Arme um ihren Körper. Ein Schauer rann über ihre Haut.

Als sie sich umwandte, blickte sie in das Gesicht des Schaffners. Er war ein älterer Herr mit Schnauzbart und ergrautem Haar, das unter seiner Schaffnermütze hervorschaute.

»Ich will mit dem Elf-Uhr-Zug nach Berlin.«

Der Mann musterte sie prüfend, dann fiel sein Blick auf ihren Koffer. Ob er ahnte, dass sie eine Ausreißerin war?

»Gibt es denn da jemanden, zu dem du gehen kannst?«

Lilly kam in den Sinn, zu lügen. Wenn sie nun behauptete, ihre Tante aufzusuchen? Was kümmerte es den Schaffner eigentlich?

Bevor sie sich für eine Antwort entscheiden konnte, schien er die Wahrheit schon in ihrem Gesicht gesehen zu haben. »Wenn du in Berlin bist, melde dich bei den Schwestern von der Bahnhofsmission am Lehrter Bahnhof«, sagte er gutmütig. »Die werden sich um dich kümmern.«

»Danke«, sagte Lilly, worauf der Mann nickte und von dannen zog. Wenig später wurde der Zug der Wannsee-Bahn ausgerufen.

Lilly erhob sich und umschloss den Griff ihres Koffers fester. Als der Zug zum Stehen kam, schritt sie entschlossen zur Tür und stieg ein. Sie mochte vielleicht erst fünfzehn sein, aber sie würde es schaffen! Sie würde ihren Eltern zeigen, dass sie zurechtkam. Und eines Tages konnte sie vielleicht zurückholen, was ihr genommen wurde.

Erster Teil

»Am 26. März 1930 fand die eigentliche Gedenkfeier anlässlich des 10jährigen Bestehens unserer Anstalt statt. Von denen, die seit dem Gründungsjahr der Anstalt hier arbeiteten, waren außer Dr. Conradi und seiner Gattin die Schwestern Elisabeth Bruhn, Maria Kuch und Grete Kraatz, der Bademeister Br. Rohleder und der Gartengehilfe Br. Lüdtke zugegen. Ich selbst weilte zu dieser Zeit krankheitshalber außerhalb zu einer Kur und konnte nur ein Gedicht als Festgruß einsenden.«

»Inzwischen schritt der wirtschaftliche Verfall in Deutschland weiter fort, ein Bankkrach nach dem anderen folgte, was auch auf die Zahlungsfähigkeit unserer Kranken nicht ohne Wirkung blieb. (…) Menschlicher Voraussicht nach musste man damit rechnen, dass die Belegung immer geringer werden würde, wodurch der Bestand des Hauses ernstlich gefährdet worden wäre, zumal noch Proben andrer Art auf uns warteten.«

(Chronik des Krankenhauses Waldfriede, 1930–31)

1. Kapitel

Berlin, 30. April 1930

»Lilly, hast du nach Frau Berger in Zimmer achtzehn geschaut?«, fragte die Oberschwester streng. Mit ihrem zurückgekämmten Haar und den dunklen Rändern um die Augen wirkte sie mindestens zehn Jahre älter, als sie eigentlich war.

»Natürlich.« Lilly versteifte sich unwillkürlich. Es war nie gut, wenn Oberin Erika wie ein Kastenteufel aus der Tür des Schwesternzimmers schoss.

»Und was ist mit den Verbänden von Frau Hansen in der Vierzehn?«

»Wird gleich erledigt.«

»Gleich? Soweit ich weiß, hätte das schon heute Morgen der Fall sein sollen!«

»Ich weiß, Oberschwester, aber wir sind heute ein wenig knapp, weil Thea krank geworden ist.«

Lilly wischte sich den Schweiß von der Stirn. Obwohl es erst Ende April war, wurde die Luft in den Fluren der Frauenstation der Chirurgischen Klinik der Charité bereits stickig. Die roten Fußböden verströmten den Geruch von Bohnerwachs, der sich ungünstig mit den Ausdünstungen der Desinfektionsmittel und des Jods mischte. Unbarmherzig prallte die Sonne durch die hohen Fenster, vor lauter Arbeit kam niemand zum Lüften.

»Ist dir nicht gut?«, fragte die Oberin, aber ohne eine Spur Mitleid in der Stimme.

»Doch, Oberschwester Erika.« Lilly hatte bereits drei lange Dienste in Folge hinter sich. Sie sehnte sich nach ihrem Bett. Die schmale Pritsche im Wachraum war hart, und da auch nachts operiert wurde und die Patienten danach in die Zimmer gebracht werden mussten, konnte man die wenigen Augenblicke der Ruhe nicht Schlaf nennen.

»Ich muss dir nicht sagen, dass wir von einer Krankenschwester höchsten Einsatz erwarten«, sagte Schwester Erika. »Professor Sauerbruch wird dir die Ohren langziehen, wenn nicht alles zu seiner Zufriedenheit verläuft.«

Das hatte er bereits getan, nachdem Lilly einen Eintrag in der Fieberkurve vergessen hatte. Man hätte fast glauben können, dass ein Orkan durch das Krankenzimmer tobte.

Der neue Leiter der Chirurgischen Klinik war für seine Stimmungsschwankungen bekannt und berüchtigt. Das Personal, das ihm im Operationsaal assistierte, wurde häufig noch während eines Eingriffs ausgetauscht, weil Dr. Sauerbruch verärgert war von Unzulänglichkeiten. Assistenzärzte litten darunter genauso wie Schwestern und Pfleger.

»Keine Sorge, Schwester Erika, es wird alles erledigt.« Lilly kniff die Augen zusammen. Warum musste die Müdigkeit sie gerade jetzt überkommen?

»Geh in den Waschraum und spritz dir etwas Wasser ins Gesicht«, sagte Schwester Erika schroff. »Und spute dich anschließend mit den Verbänden.«

»Ja, Oberschwester«, gab Lilly zurück.

Im Waschraum tat sie wie ihr geheißen, dann schaute sie ihr Bild im Spiegel an. Wassertropfen perlten von ihrer Stirn über die Nase, die mit zahlreichen Sommersprossen übersät war. Die Schatten unter ihren Augen waren blau, ihr Blick war glanzlos und ihre Wangen eingefallen. Unter ihrer Haube hatten sich ein paar störrische hellbraune Strähnen hervorgeschoben. Obwohl sie erst zwanzig war, fühlte sie sich wie eine alte Frau.

Ihre Ausbildung zur Krankenschwester war seit einem Monat vorbei, doch noch immer hatte sie keine Zusage, ob man sie in der Charité hier als Schwester anstellte. Die wirtschaftliche Lage war schlecht, und oftmals hörte sie, wie Ärzte sich über schwindende Patientenzahlen beklagten. Dabei konnte sie nicht feststellen, dass die Arbeit weniger wurde.

Vielleicht hätte ich doch lieber Dienstmädchen werden sollen, dachte sie. Doch die Güte der Schwestern in der Bahnhofsmission hatte sie dermaßen beeindruckt, dass für sie schnell festgestanden hatte, ebenso wie sie zu werden und Menschen in der Not zu helfen.

Lilly biss die Zähne zusammen, stieß sich vom Waschbecken ab und kehrte auf die Station zurück. Schwester Erika würde sie nicht kleinkriegen!

Stunden später schleppte Lilly sich zum Umkleideraum. Zum ersten Mal seit Langem hatte man ihr keinen zusätzlichen Spätdienst aufgebrummt, sodass sie den heutigen Abend endlich zu Hause verbringen konnte. Außer ihr hatten noch zwei andere Schwestern Feierabend. Lilly grüßte sie mit einem Kopfnicken und wandte sich ihrem Spind zu.

Sie war gerade aus ihrer Uniform geschlüpft, da erschien Schwester Margarete neben ihr, eine etwas rundliche Frau mit einem freundlichen Gesicht.

»Na, hast du auch Feierabend?«, fragte Lilly, während sie sich ihr Kleid über den Kopf zog. Es bestand aus blauem Wollstoff und war beinahe etwas warm für die Witterung. Aber morgens konnte es immer noch empfindlich kalt werden.

»Lilly, du sollst sofort zur Oberschwester kommen«, sagte Margarete mit bedrückter Miene.

Lilly starrte sie verwundert an. »Hat sie einen Grund genannt? Soll ich noch einen Dienst machen?«

»Sie sagte nur, du sollst zu ihr kommen, bevor du heimgehst.«

Lilly nickte. »In Ordnung.«

Kurz überlegte sie, ob sie doch wieder ihr Schwesternkleid anziehen sollte, dann entschied sie sich dagegen, straffte sich und marschierte an Schwester Margarete vorbei.

Das Büro der Oberschwester roch nach Bohnerwachs. Schwester Erika thronte hinter ihrem Schreibtisch wie eine Königin mit Schwesternhaube.

»Schließ die Tür hinter dir«, sagte sie streng.

Lilly gehorchte, wandte sich um und strich noch einmal über ihren Rock.

»Du bist jetzt insgesamt fünf Jahre bei uns«, begann Erika. »Deine Ausbildung zur Krankenschwester hast du recht gut bestritten.«

War der Moment gekommen, in dem sie ihr Bescheid sagte, dass sie bleiben durfte? Lilly unterdrückte ein freudiges Lächeln.

»Die Wirtschaftskrise macht es unserem Haus momentan nicht leicht. Wie du weißt, haben wir den Mädchen deines Abschlussjahrganges noch keine verbindliche Übernahme zusichern können. Der Ärztliche Direktor hat nun einen Entschluss gefasst.« Sie machte eine Pause und musterte sie.

Lilly krallte die Hände in die Schürze. Das waren nicht die Worte, auf die sie gehofft hatte.

»Lilly, wir müssen dich leider mit sofortiger Wirkung gehen lassen.«

Die Stimme der Oberschwester traf Lilly wie ein Stein. Sie schnappte nach Luft, schwankte, suchte dann Halt an einem der Stühle.

»Sie … Sie kündigen mir?«

Die Oberschwester erhob sich und griff nach einem Umschlag, der auf ihrem Schreibtisch lag. »Hier ist dein Zeugnis und deine restliche Bezahlung.«

Lilly schüttelte ungläubig den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein! Vor wenigen Stunden hatte Erika ihr noch einen Vortrag darüber gehalten, dass sie ihr Bestes geben sollte, und jetzt wurde sie rausgeworfen?

»Das … ist ungerecht!«, begehrte sie auf. »Ich habe meine Arbeit stets nach bestem Wissen und Gewissen verrichtet!«

»Das stimmt, aber die Klinik kann sich kein weiteres Personal leisten.«

Tränen stiegen Lilly in die Augen, doch dann zügelte sie sich und ging zum Schreibtisch. Mit zusammengepressten Lippen griff sie nach dem Brief und schob ihn sich in die Schürzentasche.

»Alles Gute, Lilly«, wünschte ihr die Oberin, doch sie antwortete nicht darauf. Sie taumelte aus dem Büro, dann den Korridor entlang in Richtung Ausgang.

Ein paar Schwestern kamen ihr entgegen und fragten sie, was mit ihr sei, doch ihre Stimmen erreichten sie nicht. Draußen auf der Treppe blieb sie stehen. Ihr Herz raste, und ein Schwindel ließ sie davon absehen, die Stufen hinabzusteigen.

»Charité« bedeutete Barmherzigkeit. Doch wer hatte Mitleid mit ihr? Alles, was sie sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hatte, fiel nun vor ihr zusammen. Sie ließ ihren Blick über die Klinikgebäude schweifen: Fassaden aus rotem Backstein und weißem Anstrich, die sich dicht aneinanderschmiegten, Ziergiebel, die sich in die Luft reckten. Sie beobachtete eine Gruppe Medizinstudenten und einige Schwestern, die über die gepflasterte Straße eilten. Was sollte nun werden? Wohin sollte sie nun gehen?

Mechanisch setzte sie sich schließlich in Bewegung. Sie ließ die Chirurgische Klinik hinter sich, sog ein letztes Mal den vertrauten Anblick des Turms am Haupttor in sich auf. Grüßte ein letztes Mal den Pförtner. Dann brach sie in Tränen aus.

2. Kapitel

Berlin, 5. Mai 1930

Unruhig trat Dr. Louis Conradi von einem Bein auf das andere und strich sich nervös über den Schnurrbart. Er hatte sich den Vormittag freigenommen, doch wenn der Zug an Gleis 2 nicht bald auftauchte, würde er unverrichteter Dinge fahren müssen.

Die Sonne strahlte über den Dächern der Stadt, es war ein wunderschöner Frühjahrstag. Ein süßer Duft nach Forsythien lag in der Luft. Am Wetter konnte die Verspätung also nicht liegen.

Die Wirtschaftskrise, die nach dem Schwarzen Freitag 1929 aus Amerika nach Europa herübergeschwappt war, machte sich mittlerweile auch im Verkehrswesen bemerkbar. Ob es Kohleknappheit war, Personalmangel oder ein Verzweifelter, der auf die Gleise sprang, um seinem Leben ein Ende zu setzen – kaum ein Zug erschien mehr pünktlich.

Doch schließlich ertönte eine Durchsage, und wenig später schob sich das Stahlungetüm über die Gleise. Rauch waberte über den Bahnsteig hinweg und verdeckte den Blick auf die Waggons für einen Moment. Dann kam der Zug zum Stehen.

Louis reckte den Hals. In der Menge der aus den Wagen drängenden Passagiere würde Hanna Richter nur schwer auszumachen sein, da sie recht klein und zierlich war. Doch schließlich entdeckte er ihren kobaltblauen Mantel.

»Schwester Hanna!« Im Gehen hob Louis die Hand und winkte.

Die Gerufene sah sich um. »Dr. Conradi!«, rief sie überrascht aus. »Was machen Sie denn hier? Es wäre doch nicht nötig gewesen, dass Sie mich abholen.«

»Ich hatte einen Termin beim Vorsitzenden der Berliner Medizinischen Gesellschaft, und da dachte ich mir, ich nehme Sie gleich mit. Erlauben Sie?« Er griff nach ihrem Koffer. »Das ist alles?«, fragte er.

»Ich benötige nicht viel«, erwiderte Hanna bescheiden. »In der Kurklinik hatte ich alles, was ich brauche.«

»Gut, dann kommen Sie.«

Louis ging voran und spürte Hannas fragenden Blick. »Sie waren bei der Medizinischen Gesellschaft?«

»Meine Aufnahme ist so gut wie sicher«, antwortete er. »Ein paar Formalitäten noch, dann werden sich die Türen für mich öffnen.«

»Gratuliere«, sagte Hanna freudig. »Die Gesellschaft hat sich aber auch Zeit gelassen.«

»Die meisten Herren wussten gar nicht, dass es das Waldfriede und mich gibt. Ich bin ja nicht dieser Professor Sauerbruch, der kürzlich in der Charité angefangen hat.«

»Das heißt nicht, dass man Sie übersehen darf.«

Er blickte sie lächelnd an. »Sie haben mir wirklich gefehlt, wissen Sie das?«

»Sie mir auch, Herr Doktor«, entgegnete sie sanft.

In einer Seitenstraße in der Nähe des Bahnhofs parkte der Wagen, den das Waldfriede kurz vor dem großen Börsencrash angeschafft hatte.

Louis konnte sein Glück noch immer kaum fassen. Vor zehn Jahren hatten sie, bedroht von Enteignungsplänen eines Regierungsbeamten, die Arbeit am Krankenhaus Waldfriede aufgenommen. Ihre Kleider waren zerschlissen gewesen, der Bauch oftmals nur spärlich gefüllt mit dem wenigen, was die Küche inflationsbedingt hergab. Und nun besaß das Krankenhaus sogar ein Automobil!

»Wie geht es Ihrer Frau?«, fragte Hanna, während sich Fritz Kowalski, der Heizer und Chauffeur, in den laufenden Verkehr einfädelte.

»Bestens. In den letzten Wochen ist sie mir hin und wieder in der Sprechstunde zur Hand gegangen. Ich glaube, es hat ihr Spaß gemacht.«

Seit sie vor fünf Jahren das Ärztewohnhaus bezogen hatten, war Catherine nur noch selten in der Klinik.

»Das glaube ich auch«, gab Hanna zurück. »Und was hat sich während meiner Abwesenheit getan?«

»Dr. Bockhammer ist wie angekündigt ausgeschieden und zurück in die Schweiz gegangen«, berichtete Louis.

»Haben wir schon einen Ersatz?«

»Dr. Rosenbaum ist an seiner Stelle gekommen. Er hat auch das Röntgen übernommen, als Sie auf Kur waren. Er ist ein angenehmer Mensch. Sie werden ihn mögen.«

Hanna nickte bedächtig.

»Es ist äußerst schade, dass Sie die Jubiläumsfeier versäumt haben«, fuhr Louis fort. »Aber das Gedicht, das Sie geschickt haben, hat den Gästen gut gefallen. Schwester Elisabeth hat es vorgetragen und ist Ihren Zeilen sehr gerecht geworden.«

»Davon bin ich überzeugt.« Hanna lächelte dennoch ein wenig traurig.

Zu Beginn des Jahres war sie von einer schweren Bronchitis heimgesucht worden, die sie drei Wochen lang ans Bett gefesselt hatte. Dr. Meyer war sich mit Louis einig gewesen, dass Hannas Anfälligkeit für diesen Infekt von zu wenig Ruhe herrührte. Also hatten sie ihr eine Kur auf der Insel Rügen verordnet.

Wenn er sie so betrachtete, musste er zugeben, dass dies die richtige Entscheidung gewesen war. Hannas Wangen waren wieder rosig, die harten Kanten in ihrem Gesicht abgemildert. Ihre Augen hatten den Glanz zurückgewonnen, den er gesehen hatte, als sie im Jahr 1920 angefangen hatte.

Vielleicht sollte ich auch für ein paar Wochen verreisen, dachte Louis. Es war erst knapp ein Jahr her, dass er mit dem Verdacht auf Herzmuskelentzündung zusammengebrochen war. Seine Beschwerden hatten sich zurückgezogen, doch an manchen Tagen spürte er deutlich, dass er nicht mehr die Widerstandsfähigkeit eines Zwanzigjährigen besaß.

»Wenn wir angekommen sind, muss ich Ihnen erst mal das Geschenk meines Vaters zeigen.«

Hanna zog fragend die Augenbrauen hoch. »Was ist es?«

»Das werden Sie gleich erfahren.«

Eine halbe Stunde später passierten sie das Krankenhaustor. Die Sonne schien hell auf den trutzigen, turmartigen Vorbau zur Grunewaldallee, der vor fünf Jahren zu dem filigranen dreistöckigen Fachwerkbau hinzugekommen war und die Krankenpflegeschule beherbergte. Nur kurz erhaschte sie einen Blick auf einen Arzt, der im Unterrichtszimmer an einem der hohen Sprossenfenster vorbeiging. Der wilde Wein, der im Sommer beinahe die ganze Fassade wie ein Tuch bedeckte, zeigte die ersten Blätter. Ein Krankenwagen parkte auf dem Rondell, zwei Pfleger in gestreiften Jacketts trugen einen Patienten ins Haus. Etwas abseits schob eine Schwester eine Patientin im Rollstuhl durch den Park. Die Blumenrabatten, die der Gärtner liebevoll mit Stiefmütterchen bepflanzt hatte, leuchteten in Blau, Gelb und Rot.

Seit das Waldfriede im Jahr 1920 eröffnet worden war, war es beständig erweitert worden. Im Speisehaus waren nun die Bäder untergebracht, das Gebäude, das die Wäscherei beherbergte, trug über sich die Kapelle ihrer Gemeinschaft. Werksschuppen waren hinzugekommen, Gewächshäuser. Etwas abseits, direkt am Rand der Alsenstraße, stand das Ärztewohnhaus. Beinahe mutete das Gelände nun wie eine kleine Stadt an.

Louis bedeutete Hanna, mitzukommen. »Herr Kowalski kann Ihre Tasche ins Haus bringen.«

Der Chauffeur nickte und nahm ihr Gepäck an sich.

Louis führte Hanna durch den Park an dem viereckigen Brunnen vorbei, in dem es leise plätscherte. Vor einem schmalen Baum, den man beinahe übersehen konnte, machte er halt. Die herzförmigen Blätter leuchteten in frischem Grün.

»Dies ist das Geschenk meines Vaters, ein Catalpa speciosa oder Prächtiger Trompetenbaum«, erklärte Louis. »Man findet ihn hauptsächlich an den Flussufern des Mississippi und des Ohio River. Aus seinem Holz wurden früher Schwellen für Bahnstrecken gefertigt, aber in Europa verschönert er Parks wie unseren.«

»Ein Gruß aus Ihrer Heimat also«, bemerkte Hanna, während sie vorsichtig eines der Blätter berührte.

Louis nickte. »Meine Mutter erzählte mir, dass wir dort, wo wir früher gelebt haben, auch einen Trompetenbaum hatten. Ich selbst kann mich nicht an ihn erinnern, aber ich habe Bilder gesehen. Die Blüten sind weiß und ähneln bestimmten Orchideenarten. Von Weitem könnte man sie auch mit blühenden Kastanien verwechseln.«

»Das muss wunderschön aussehen. Aber wir werden wohl noch eine Weile auf Blüten warten müssen.«

»Mein Vater behauptet, dass die Bäume wie Unkraut wachsen.«

Schweigend betrachteten sie den Baum. Er war nicht nur ein Stück seiner Geburtsheimat, Louis verband damit auch die Erinnerung an seine verstorbene Mutter Lizzie.

Den Anflug von Trauer schob er aber rasch beiseite. Er sollte auf das Leben schauen. Er hatte eine Frau, ein Haus, ein Lebenswerk. Und Hanna war wieder da und würde seinen Arbeitsalltag wieder fröhlicher machen.

3. Kapitel

Berlin, 6. Mai 1930

Als sie das Sprechzimmer betrat, huschte ein Lächeln über Hannas Gesicht. Die Kur an der Ostsee hatte ihren von der Infektion geschundenen Lungen gutgetan. Doch schon bald hatte ihr das Krankenhaus gefehlt. Sie hatte ständig daran denken müssen, wie es wohl ohne sie lief und wie Dr. Conradi zurechtkommen würde. In den letzten Tagen des Aufenthaltes hatte sie der Rückkehr ins Waldfriede regelrecht entgegengefiebert.

Heute war ihr erster regulärer Arbeitstag, nachdem sie den vergangenen Nachmittag damit verbracht hatte, auszupacken und ihre Post zu sichten. Ein Brief ihrer Mutter war darunter gewesen, außerdem hatte ihr eine Schwester aus Amerika geschrieben, die sie auf der letzten Schwesterntagung kennengelernt hatte.

Es war schön gewesen, am Abend wieder mit ihren Kolleginnen im Speisesaal zu sitzen. Elisabeth und Else hatten ihr Löcher in den Bauch gefragt und von der großen Feier berichtet. Einmal mehr war Hanna klar geworden, dass sie hier eine Familie waren.

Nun freute sie sich auf die Patienten und auch auf die Chronik, an der sie nach Feierabend arbeitete. Akribisch notierte sie die Vorgänge im Waldfriede in kleine Notizbücher, um dann am Ende des Jahres eine Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse niederzuschreiben. Eigens dazu hatte Dr. Conradi eine Schreibmaschine angeschafft.

Angesichts ihrer Krankheit war sie nicht dazu gekommen, weitere Einträge zu verfassen, doch jetzt fühlte sie sich stark genug, auch diese Arbeit wieder in Angriff zu nehmen. Durch das, was Elisabeth und Else ihr erzählt hatten, hatte sie genug Material für weitere Seiten.

Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.

»Ja, bitte«, rief sie, worauf eines der Hausmädchen eintrat.

»Schwester Hanna, da ist ein Brief für Sie gekommen«, sagte sie und reichte ihr das Schreiben. Der Absender war das Gesundheitsamt von Zehlendorf. Warum schrieben sie ihr? Sie hatte keine meldepflichtige Erkrankung gehabt …

Hanna riss entschlossen den Umschlag auf und zog das Schreiben hervor. »Das gibt es doch nicht!«, rief sie im nächsten Augenblick erschrocken und schlug die Hand vor den Mund.

***

Mit geschwollenen Augen starrte Lilly aus dem Fenster. Eine Woche war sie nun schon arbeitslos, und in ganz Berlin schien es keine Klinik zu geben, die Personal brauchte.

Um vor ihrer Vermieterin den Schein zu wahren, ging sie jeden Morgen aus dem Haus. Frau Hausmann war zuzutrauen, dass sie ihr das Zimmer kündigte, wenn sie von ihrem Rauswurf erfuhr.

Doch wie lange konnte sie noch durchhalten?

Ihr Blick schweifte zu dem kleinen Schreibtisch neben sich. Der Brief, den sie vor einigen Tagen erhalten hatte, lag noch immer dort. Sie hatte ihn einmal gelesen, dann aber nicht mehr angefasst. Er hatte ihr Problem noch verschlimmert, und sie wollte gar nicht daran denken, was geschah, wenn sie nicht bald eine Anstellung fand. Die Wohnung zu verlieren war eine Sache, doch es konnte noch weitaus übler für sie kommen.

Seufzend löste sie sich vom Fenster, zog ihren Mantel über und griff nach ihrer Tasche. In der steckten, für den Fall, dass jemand auf ihre Anfrage positiv reagierte, alle Unterlagen, die sie für eine Bewerbung brauchte.

Auf dem Weg nach unten hörte sie es in der Küche klappern. Offenbar war Frau Hausmann beschäftigt. Gut so, dachte Lilly und strebte der Tür zu.

»Soll ich Ihnen vielleicht etwas vom Kolonialwarenladen mitbringen?«, tönte da eine Stimme im Hintergrund. Lilly stockte.

»Danke, Frau Hausmann, nicht nötig«, antwortete sie schnell. »Einen schönen Tag!«

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, zog Lilly die Haustür auf und trat auf den Gehweg.

Wie jeden Morgen, seit sie die Charité verlassen hatte, steuerte sie als Erstes den Zeitungskiosk an. Dutzende Zeitungen und Zeitschriften stapelten sich dort in der Auslage.

Da der Verkäufer, ein untersetzter Mann mit schütterem Haar und Hosenträgern über dem Hemd, gerade ins Gespräch mit einer seiner Kundinnen vertieft war, zog Lilly ein Exemplar der Berliner Allgemeinen Zeitung hervor.

Nach einem raschen Blick auf den Verkäufer schlug sie das Blatt auf und suchte nach den Anzeigen. Zwanzig Pfennig für eine Zeitung auszugeben, an der sie nur wenige Seiten interessierten, war in ihren Augen eine Verschwendung, besonders jetzt, wo sie jeden Groschen zweimal umdrehen musste.

Nach einer Weile fand sie das Gesuchte und ging die Kästchen mit den Inseraten durch. Es wurden Sekretärinnen gebraucht und Dienstmädchen, hier und da eine Pflegerin für eine alte Dame.

Eine Zeile weiter sprang ihr ins Auge: »Freundliche und qualifizierte Krankenschwester gesucht«. Lillys Herz begann zu pochen. War das möglich?

»He, Kleene, entweder koofste oder ziehst Leine!«, schnauzte der Kioskbesitzer.

Ertappt blickte Lilly auf. Vor Konzentration auf das Inserat hatte sie nicht mitbekommen, dass die Kundin gegangen war.

Der Mann stemmte die Hände in die Seiten und funkelte sie böse an.

»Entschuldigung«, murmelte Lilly und kramte ihre Geldbörse aus der Tasche. Dann schaute sie erneut auf das Inserat und dachte: Das ist meine Rettung!

***

Aufgewühlt ging Hanna im Sprechzimmer auf und ab. Der Brief vom Oberprovinzial-Schulkollegium, der verkündet hatte, dass sie sich zu einer erneuten Prüfung ihrer Röntgenkenntnisse einfinden sollte, brannte regelrecht in ihrer Schürzentasche. Was sollte das? Warum wollte man ihren Abschluss nicht mehr anerkennen? Sie erinnerte sich noch gut an den Röntgenkurs am Virchow-Krankenhaus. Und jetzt tat man so, als hätte es ihre Ausbildung nicht gegeben?

Ein noch größeres Problem war der Termin. Der 31. Mai, an dem die Prüfung stattfinden sollte, war ein Samstag! Aber wenn sie ihre Berechtigung, als Röntgenschwester zu arbeiten, behalten wollte, musste sie diese Prüfung bestreiten …

Hanna seufzte schwer. Am liebsten wäre sie gleich zu Dr. Conradi gelaufen, doch der machte gerade seinen Visiterundgang auf der I. Frauenstation. Im Sprechzimmer konnte sie allerdings auch nicht bleiben. Ihre Hände brauchten etwas zu tun, damit sie nicht vor Sorge und Aufgebrachtheit platzte!

Mit langen Schritten eilte sie den Gang entlang, vorbei am OP, in dem ihre Kolleginnen gerade einen Eingriff vorbereiteten. Dort würde sie nicht helfen können, wohl aber konnte sie nach dem Röntgenzimmer sehen und die Entwicklerflüssigkeiten austauschen.

»Entschuldigen Sie bitte«, ertönte eine Stimme von der Seite.

Hanna wandte sich um. Die schlanke junge Frau, die neben der Wartenische zum Röntgen stand, hätte sie vor lauter Nachdenken beinahe übersehen.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie und versuchte, ihren Ärger ein wenig zurückzudrängen.

»Ich …« Die Frau schluckte und umklammerte den Griff ihrer Tasche fester.

»Wollen Sie zu einem Patienten? Oder haben Sie einen Termin bei Dr. Conradi?«

»Ich … ich wollte mich vorstellen. Auf die Annonce in der Zeitung.«

Hanna zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Sie sind Krankenschwester?«

»Ja. Ich bin an der Charité ausgebildet worden, aber jetzt suche ich nach einer neuen Anstellung.«

Hanna musterte sie. Sie mochte vielleicht zwanzig sein, viel jünger als sie zu dem Zeitpunkt, als sie ins Waldfriede gekommen war.

»Wie ist denn Ihr Name?«, fragte Hanna. Die Sorge um den Brief trat jetzt endgültig in den Hintergrund.

»Lilly. Lilly Wegner«, antwortete die Frau.

»Na dann kommen Sie mal mit! Der Doktor müsste bald von der Visite zurück sein.«

***

Lilly schlug das Herz bis zum Hals. Es war ihr peinlich, dass sie auf die Ansprache der Schwester so unsicher reagiert hatte. Wenn sie vor einer Schwester schon ins Stocken geriet, wie sollte sie den Klinikleiter von sich überzeugen?

Sie strich über ihre Tasche und wollte gerade ihre Unterlagen hervorholen, als sich die Tür des Sprechzimmers öffnete.

Der Mann im Arztkittel war recht groß, hatte braunes Haar, das an den Seiten schon etwas schütter wurde. Unter der langen, geraden Nase trug er einen Schnurrbart, die blaue Krawatte passte hervorragend zu seinen Augen.

»Fräulein Wegner?«, fragte er und reichte ihr die Hand. »Ich bin Dr. Conradi.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Lilly erhob sich und erwiderte seinen Händedruck.

»Schwester Hanna sagte mir, dass Sie wegen unseres Gesuchs in der Zeitung gekommen sind.«

»Ja, das bin ich«, gab Lilly zurück.

»Ich nehme an, Sie haben Ihre Ausbildung bereits abgeschlossen?« Conradis Blick wanderte über ihre Gestalt, bevor er sich auf seinen Stuhl niederließ.

»Natürlich.« Lilly ärgerte sich ein wenig, dass er sie für eine Schülerin hielt. Sie wusste, dass sie jünger aussah als viele andere Frauen ihres Alters. Meist glaubten die Leute, dass sie mit ihr umspringen konnten, als wäre sie noch ein Kind.

»Wo haben Sie bisher gearbeitet?«, fragte Conradi.

»In der Charité, Chirurgische Klinik«, antwortete sie.

»Bei Professor Sauerbruch?« Conradi hob interessiert die Augenbrauen.

»Ja, aber ich habe nicht mit ihm im OP gestanden.«

»Man hört gute Dinge über ihn.«

Wenn Sie wüssten, dachte Lilly, die froh darüber war, dass Dr. Conradi, im Gegensatz zu Sauerbruch, nicht die Angewohnheit zu haben schien, jeden zu duzen. »Er ist ein sehr angesehener Mann.«

»Warum wollen Sie die Anstellung in der Charité denn aufgeben?«, fragte Conradi weiter.

»Ich … ich habe sie nicht aufgegeben. Man hat mich nach der Ausbildung aus wirtschaftlichen Gründen nicht übernommen.«

Conradi schwieg einen kurzen Moment. »Dann haben Sie nur wenig Berufserfahrung.«

»Ich habe vor meiner Ausbildung zwei Jahre als Hausmädchen und Hilfswärterin gearbeitet. Und während meiner Lehrzeit hat man uns nicht geschont …« Lilly zögerte. In der Annonce hatte nichts von Berufserfahrung gestanden.

»Ich habe meine Unterlagen mit«, sagte sie schnell und holte die Mappen mit ihren Zeugnissen aus der Tasche. »Ich kann mich in alles einarbeiten. Geben Sie mir nur eine Chance, ich werde Sie nicht enttäuschen.«

Conradi nahm die Unterlagen entgegen und blätterte sie durch.

Lilly knetete ihre Hände. Das Zeugnis war nicht allzu enthusiastisch verfasst, aber es trug immerhin die Unterschrift von Dr. Sauerbuch.

Nach einer Weile klappte Dr. Conradi die Mappe wieder zu. »Ich werde mich mit dem Hausausschuss beraten«, sagte er, ohne erkennen zu lassen, wie ihre Chancen standen. »Ich melde mich bei Ihnen.«

Lilly sank der Mut. Hatte sie ihre Chance vertan? Wenn er interessiert gewesen wäre, hätte er sie doch sicher gleich angenommen.

»Sie können mich auch per Telefon erreichen«, sagte sie schnell. »Wenn ich einen Stift und Papier haben dürfte?«

Gutmütig reichte der Doktor ihr das Gewünschte. Mit zitternder Hand notierte sie die Nummer ihrer Hauswirtin.

»Haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit«, sagte sie und schob Dr. Conradi den Zettel zu. Bitte lass ihn mich nehmen, dachte sie. Wenn ich mir nur eins auf der Welt wünschen dürfte, dann das.

4. Kapitel

Zehlendorf, 8. Mai 1930

Beklommen saß Hanna im Vorzimmer des Vorsitzenden der Prüfungskommission. In ihrer Tasche steckte der Brief, den sie vor ein paar Tagen erhalten hatte.

Nachdem man sie telefonisch abgewiesen hatte, wurde sie nun persönlich vorstellig, um eine Verschiebung des Termins zu erbitten. Sie hoffte, dass Professor Leder mit sich reden ließ.

Mit jeder Minute, die verging, wurde sie unruhiger. Wie würde er auf ihre Bitte reagieren? Nur ungern wollte sie ihren Posten aufgeben.

Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Dr. Conradi ins Sanatorium Friedensau in der Nähe von Magdeburg gekommen war, um sie als Röntgenschwester ins Waldfriede zu berufen. Anstelle eines Röntgenkurses hatte sie aber erst einen »Scheuerkurs« machen müssen, denn das Haus befand sich damals in einem desolaten Zustand. Nach langer harter Arbeit konnte das Waldfriede im April 1920 eröffnen.

Sie selbst hatte wenig später eine Ausbildung an der Röntgenschule am Virchow-Klinikum absolviert und begonnen, als Röntgenschwester im Haus zu arbeiten. Unglaublich, wie schnell die Zeit vergangen war!

»Fräulein Richter?«, fragte die Sekretärin, die sie angemeldet hatte.

Hanna erhob sich. »Ja?«

»Professor Leder lässt bitten.«

Forsch und mit erhobenem Kopf schritt Hanna zur Tür. Dem Vorsitzenden gegenüber durfte sie keine Angst zeigen.

Der Mann war etwa fünfzig, hatte ergrautes Haar und trug einen eleganten dunkelblauen Anzug. Seine Krawatte war rot-weiß gestreift. An seinem Revers blitzte eine edelsteinverzierte Nadel auf, als er sich erhob, um sie zu begrüßen.

»Fräulein Richter.« Er reichte ihr die Hand und deutete auf die Stühle vor seinem Schreibtisch. »Bitte.«

Hanna setzte sich.

»Was ist denn Ihr Anliegen?«, fragte Leder, der ebenfalls wieder Platz genommen hatte.

»Mir wurde dieser Brief zugeschickt, in dem man mich zu einer Nachprüfung auffordert.« Hanna holte das Schreiben hervor. Ihre Finger zitterten leicht.

»Ja, das ist leider notwendig«, sagte Professor Leder. »Es wurde eine neue Verordnung zur Qualitätssicherung bei Röntgenaufnahmen erlassen. Alle Schwestern, die ihren Abschluss vor 1927 gemacht haben, müssen sich einer erneuten Prüfung unterziehen.«

Hanna betrachtete den Mann nachdenklich. Konnte sie ihm sagen, dass sie Adventistin war? Manche Amtspersonen hatten von vornherein Ressentiments und wollten gar nicht erst zuhören.

»Ich hinterfrage auch nicht den Sinn der Prüfung«, sagte Hanna vorsichtig. »Ich ersuche Sie nur, mir einen neuen Termin zu geben.«

Leder hob die Augenbrauen. »Sind Sie an diesem Tag verhindert? Es wird bestimmt kein Problem sein, einen anderen Samstag …«

»Der Samstag ist das Problem«, platzte es aus Hanna heraus. »Ich … ich kann es nicht mit meinem Glauben vereinbaren, an diesem Tag anzutreten.«

»Verstehe.« Professor Leder musterte sie lange. Hanna versuchte, seinem Blick standzuhalten, doch nach einer Weile schaute sie auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen.

»Nun, das habe ich nicht allein zu entscheiden«, sagte er. »Warten Sie einen Moment, ich werde mich mit meinen Kollegen beraten.«

Leder erhob sich und ging aus der Tür. Hanna atmete tief durch und richtete den Blick auf die hohen Bücherregale. Einige Bände waren so dick, dass sie die Aufschriften auf den Rücken mühelos lesen konnte: Atlas der Biologie oder Handbuch der Medizin.

Sie wandte den Blick ab und schaute aus dem Fenster. Unruhe wühlte in ihrem Magen. Die Minuten dehnten sich, und Hanna spürte, wie die Spannung zunahm. Wenn die Kollegen nicht zustimmten, was dann?

Als sich die Tür öffnete, zuckte sie zusammen.

Leder kam mit raschen Schritten zum Schreibtisch. »Meine Kollegen sind einverstanden. Sie können die Prüfung am sechsten Juni um fünfzehn Uhr ablegen, das ist ein Freitag.«

Die Worte fielen wie ein Sonnenstrahl auf Hannas Gemüt. »Wirklich?«

Professor Leder nickte. »Aber ich rate Ihnen dringend, diesen Termin einzuhalten. Diesmal konnte ich die Mitglieder der Kommission überzeugen, aber noch einmal wird mir das wohl nicht gelingen.«

»Ich werde da sein«, sagte Hanna erleichtert. »Vielen Dank, dass Sie sich für mich eingesetzt haben!«

Ein mildes Lächeln erschien auf Leders Gesicht. »Na dann, bis zum sechsten Juni!«

***

Wieder ging ein Tag zu Ende, und Lilly war mittlerweile sicher, dass Dr. Conradi jemand anderes für die Stelle gefunden hatte.

Seufzend schloss sie die Haustüre auf. Ihre Füße brannten, und ihr Körper fühlte sich steif und kalt an. Sie durchquerte den Flur, allerdings nicht schnell genug, um ihrer Vermieterin zu entgehen.

»Da kam heute ein Anruf aus dem Krankenhaus Waldfriede«, rief Frau Hausmann aufgeregt. »Ein Dr. Conradi wollte Sie sprechen. Mit Ihrer Familie ist doch hoffentlich alles in Ordnung?«

»Ja, ja, keine Sorge«, erwiderte Lilly. »Was hat er gesagt?«

»Nur, dass Sie so bald wie möglich zurückrufen sollen.«

Lilly schaute auf die Uhr und verfluchte sich. Wäre sie doch bloß zu Hause geblieben!

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihr Telefon benutze, Frau Hausmann?«, fragte sie, während sie versuchte, ihre Aufregung niederzuringen. Möglicherweise hatte Dr. Conradi nur angerufen, um ihr abzusagen.

»Nein, natürlich nicht«, gab die Vermieterin zurück. »Gehen Sie ruhig, Sie wissen ja, wo es ist.«

»Danke«, sagte Lilly, dann lief sie in die Küche.

Mit zitternden Händen hob sie den Hörer von der Gabel und ließ sich mit dem Krankenhaus Waldfriede verbinden. Nach einer Weile meldete sich eine Schwester Hedwig.

»Mein Name ist Lilly Wegner. Ich würde gern Dr. Conradi sprechen.« In Lillys Magengrube begann es zu zwicken.

»Dr. Conradi hat keine Sprechstunde mehr«, antwortete die Stimme. »Wenn Sie akute Beschwerden haben, kommen Sie bitte zu mir an die Pforte.«

»Ich bin nicht krank«, sagte Lilly. »Ich habe mich um eine Stelle bei Ihnen beworben. Dr. Conradi hatte angerufen, aber ich war leider nicht da.« Sie machte eine Pause, denn sie spürte die Ablehnung der Schwester. »Bitte, nur ganz kurz. Ich möchte nur wissen, woran ich bin.«

Der flehende Ton in ihrer Stimme schien ihre Gesprächspartnerin zu erweichen.

»Ich werde sehen, ob ich ihn finden kann, bleiben Sie bitte dran.« Ein Knacken ertönte in der Leitung, dann wurde es still.

Lilly schaute sich um. Frau Hausmann würde nicht offensichtlich lauschen, aber sicher entging ihr kein Wort.

Nach einer Weile raschelte es im Hörer.

»Conradi«, meldete sich die Männerstimme am anderen Ende.

»Wegner«, platzte Lilly heraus. »Lilly Wegner. Sie hatten versucht, mich zu erreichen.«

»Schwester Lilly!«, entgegnete er mit einem Lächeln in der Stimme. »Danke, dass Sie zurückrufen.«

»Es tut mir leid, dass es so spät geworden ist. Ich war …« Sie stockte. Frau Hausmann würde sich sicher wundern, wenn sie etwas anderes sagte, als dass sie auf Arbeit war. »… unterwegs.«

»Schon gut«, sagte Dr. Conradi. »Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass wir uns dafür entschieden haben, Sie einzustellen. Wann können Sie anfangen?«

Lilly stieß einen kurzen Freudenschrei aus, hielt sich dann schnell den Mund zu. »Verzeihen Sie bitte, ich … freue mich nur so. Wenn Sie wollen, kann ich schon morgen da sein.«

Conradi lachte. »Der kommende Montag wäre in Ordnung. Möchten Sie in der Schwesternunterkunft wohnen?«

»Ähm, ich …«

»Oder haben Sie eine andere Möglichkeit, in Zehlendorf unterzukommen?«

»Nein, ich …« Das Angebot überforderte sie ein wenig. Sie war erst einmal froh, dass er sie überhaupt haben wollte.

»Na, Sie können es sich ja noch überlegen. Wir freuen uns jedenfalls auf Sie.«

»Danke, Herr Doktor. Bis Montag dann.«

»Bis Montag.« Dr. Conradi wünschte ihr einen schönen Abend und legte auf.

Lilly unterdrückte einen Jubelschrei.

Sie hatte es geschafft! Sie atmete tief durch, eine Welle der Erleichterung wogte durch ihren Körper.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Frau Hausmann von draußen.

»Ja, alles bestens«, antwortete Lilly mit breitem Lächeln und erlaubte sich, ein wenig Hoffnung zu empfinden.

5. Kapitel

Zehlendorf, 12. Mai 1930

Aufgeregt wartete Lilly am Morgen an der Pforte des Waldfriede. Sie war gut eine halbe Stunde zu früh, doch ihr stand nicht der Sinn danach, noch eine Runde durch den Park zu drehen, mochte er im Morgenlicht auch noch so schön aussehen.

Die Wege waren gesäumt von schmalen Blumenrabatten, hier und da erhoben sich Bäume, an denen das erste Frühlingsgrün erschienen war. In den hohen Taxuskegeln, die den Weg zu dem hellen Fachwerkbau säumten, glitzerte der Tau. Im Hintergrund war ein mächtiges Waldstück zu sehen, von dem das Krankenhaus wohl seinen Namen hatte.

Das Gebäude selbst wirkte eher wie eine riesige Villa als wie ein Krankenhaus. Grob behauene Feldsteine säumten den Sockel, darüber waren die Wände fein geputzt. Einige Fenster wurden von filigranen Balkongittern gesäumt. Hier und da sah man eine weiße Gestalt vorbeihuschen.

Zu ihnen werde ich bald gehören, dachte Lilly und spürte ein freudiges Kribbeln.

Sie blickte an sich hinab. Sie hatte das hübscheste Kleid angezogen, das sie besaß. Es war rot und grün geblümt und stammte noch aus ihrem alten Leben. Dank der vielen Wege, die sie in der Arbeit zurücklegte, passte es ihr noch immer.

»Ah, Sie sind ja schon da!«, sagte eine Stimme hinter ihr. Lilly wirbelte herum.

Dr. Conradi war um die Ecke gebogen, der Schäferhund neben ihm beäugte sie misstrauisch und begann zu knurren.

»Ist gut, Rex.« Conradi klopfte ihm auf den Rücken, worauf sich das Tier zurückzog.

»Guten Morgen, Herr Doktor.« Lilly machte einen kleinen Knicks.

»Guten Morgen, Schwester Lilly, Sie konnten es wohl nicht mehr abwarten, wie?«, bemerkte Conradi scherzhaft.

Lilly errötete. »Ich wollte pünktlich sein.«

»Pünktlichkeit ist hier gern gesehen«, fügte er hinzu. »Na dann kommen Sie mal mit.«

Er führte Lilly durch die Pforte, an der diensthabenden Schwester vorbei in einen langen Gang. Stimmen tönten ihr entgegen, gefolgt von Schritten und einem lauten Klappern. Wenig später erschienen zwei Schwestern mit kleinen Wagen, auf denen Nierenschalen und Tablettenbecher standen.

Das Sprechzimmer von Dr. Conradi war groß und lichtdurchflutet. An einem der Schränke hinter dem Untersuchungsstuhl stand eine zierliche Frau mit blondem Lockenhaar und Schwesterntracht. Als sie sich ihnen zuwandte, erkannte Lilly die Schwester, die ihr den Weg zu Dr. Conradi gewiesen hatte.

»Schwester Hanna, schauen Sie, was ich auf dem Weg durch den Park gefunden habe. – Schwester Lilly, unsere Röntgenschwester kennen Sie ja bereits.«

»Guten Morgen«, grüßte Lilly und lächelte nervös.

»Schwester Lilly!«, sagte Hanna. »Wie geht es Ihnen?«

»Gut«, gab sie zurück, obwohl sie das Gefühl hatte, zu zerspringen. »Ich bin nur ein wenig aufgeregt.«

»Dazu haben Sie keinen Grund. Wir sind hier alle eine große Familie.«

In den folgenden Minuten erklärte Dr. Conradi, was von ihr erwartet wurde. »Ich habe vor, Sie der Inneren Abteilung zuzuweisen, insbesondere den Patienten von Professor Kirsch. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie keine Adventistin sind?«

»Ich bin evangelisch getauft«, entgegnete Lilly. Der Themenwechsel überraschte sie.

Conradi nickte. »Dann wird es Ihnen gewiss nichts ausmachen, für Samstagsdienste eingeteilt zu werden, nicht wahr?«

Was für eine seltsame Frage! In der Charité hatte sie auch am Samstag arbeiten müssen. »Ist das … bei anderen Schwestern ein Problem?«

»Wir sind ein adventistisches Krankenhaus, und die Adventisten des Siebenten Tages haben den Samstag als vorgegebenen Ruhetag, den Sabbat«, erklärte Conradi. »Wir können ihn natürlich nicht immer einhalten, denn Krankheiten und Unfälle fragen nicht nach Ruhezeiten oder Religion. Doch wir versuchen unseren adventistischen Mitarbeitern den Sabbat meist zu ermöglichen. So wie wir den Anhängern anderer Konfessionen ebenfalls ihren Ruhetag einräumen.«

Lilly sah ihn verwundert an. Von Adventisten hatte sie noch nie etwas gehört. Sie wusste nur, dass Juden den Samstag als Ruhetag heiligten. Verunsichert nickte sie. »Ich bin es gewohnt, am Samstag zu arbeiten, Herr Doktor.«

Conradi lächelte. »Sehr gut. Dann sollten wir nur noch über Ihre Bezahlung und die Unterkunft reden. Anschließend werde ich Sie Schwester Hanna übergeben, damit sie Ihnen das Haus und Ihre Abteilung zeigt.«

Schwester Hanna führte sie zunächst durch das Erdgeschoss, wo sich die Sprechzimmer der Ärzte, das Röntgen- und Diathermiezimmer, das Labor und der Operationssaal befanden. Das Wäsche- und Nähzimmer schloss sich ebenso wie die Sterilisationsräume in einem eigenen Gebäudetrakt an. In der Badeabteilung wurde sie Zeuge, wie einer der Patienten vollkommen mit Schlamm bedeckt wurde. Bademeister Carl Rohleder, der der Abteilung vorstand, wirkte sehr freundlich.

Auf der Treppe kamen ihnen einige Schwestern mit Tüchern und Bettpfannen entgegen. Alle grüßten Schwester Hanna respektvoll.

Auch auf den Stationen herrschte rege Geschäftigkeit. Von den Türen der Krankenzimmer, die sie passierten, standen einige offen, sodass Lilly einen Blick auf die Schwestern werfen konnte, die gerade Patienten umlagerten oder Verbände anlegten.

Auffällig waren der grüne Anstrich der Wände und die cremefarbenen Vorhänge, die für ein mildes Licht sorgten. Die Betten unterschieden sich nicht von denen in der Charité.

Nach einer Stippvisite bei den chirurgischen Stationen besuchten sie die Geburtsstation.

»Dort werden Sie wahrscheinlich nicht zu tun haben«, sagte Schwester Hanna, »dafür haben wir eigens ausgebildete Schwestern. Aber es kann sein, dass Sie notfalls auch mal hier einspringen müssen.«

Lilly war erleichtert. Auch in der Chirurgischen Klinik der Charité hatten sie Schwangere nur dann zu Gesicht bekommen, wenn ein anderer Eingriff, etwa an Gliedmaßen oder dem Oberkörper vorgenommen werden musste.

»Wir trennen unsere Stationen streng nach Männern und Frauen«, erklärte Hanna, während sie eine weitere Treppe erklommen. »Mittlerweile verfügen wir über zwei Männerstationen und drei Frauenstationen. Sie werden auf der zweiten Frauenstation eingesetzt, die Oberin Elisabeth untersteht.«

Im zweiten Stock angekommen, schritten sie an weiteren offenen Krankenzimmertüren vorbei und machten schließlich vor dem Schwesternzimmer halt. Hanna klopfte und zog den Türflügel auf.

»Oberin Elisabeth, hast du kurz Zeit? Die neue Schwester für Professor Kirsch ist da.«

»Sie soll reinkommen«, antwortete eine dunkle Frauenstimme.

Hanna nickte Lilly zu, die daraufhin eintrat. Oberschwester Elisabeth trug ein dunkelblaues Kleid mit weißem Kragen und Schürze, war schlank und hatte ein hübsches Gesicht, das von dunklen Haaren eingerahmt wurde. Die Kanten ihrer Haube wirkten wie mit dem Messer geschnitten. Mit Lillys Vorgesetzter in der Charité hatte sie kaum etwas gemeinsam.

Hanna trat beiseite und lächelte Lilly aufmunternd zu.

»Guten Tag, Oberin«, grüßte sie mit einem verhaltenen Lächeln.

Elisabeth erwiderte ihren Gruß, dann fragte sie: »Wie ist Ihr Name?«

»Lilly Wegner.«

Hanna berührte Lilly leicht am Arm und zog sich zurück.

Schwester Elisabeth wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Dr. Conradi hat sicher schon erwähnt, dass wir ein christliches Haus sind.«

»Ja, Oberin.«

»Wir sind freundlich und dem Patienten zugewandt, egal welchen Hintergrund die Menschen haben. Gleichzeitig haben wir Respekt voreinander und helfen uns, wo wir können.«

Lilly nickte. So war es auch schon in der Charité gewesen.

»Wenn es Probleme gleich welcher Art gibt, melden Sie sich bei mir oder bei den zuständigen Stationsschwestern«, fuhr die Oberin fort. »Niemals erheben Sie gegenüber einem Patienten oder in seiner Gegenwart die Stimme, haben Sie verstanden?«

Lilly nickte und bemerkte, dass Elisabeth sie nun mit einem eindringlichen Blick bedachte.

»Sie sind eine junge Frau, und möglicherweise wollen Sie irgendwann eine Beziehung zu einem Mann eingehen. Sie sollen wissen, dass unsere Schwestern allesamt unverheiratet sind, damit sie sich ausschließlich um ihre Patienten sorgen können.«

»Das heißt, ich darf nicht heiraten?«, fragte Lilly beklommen. Auch wenn ihr der Gedanke, schwanger zu werden, Furcht bereitete, hatte sie den Wunsch, eines Tages einen Mann zu finden, der sie liebte, nicht aufgegeben.

»Selbstverständlich dürfen Sie heiraten. Allerdings müssen Sie dann ausscheiden. Nur in seltensten Fällen arbeiten verheiratete Kräfte hier, und diese sind meist männlich.«

Lilly schluckte. So streng hatte man es in der Charité nicht genommen. Dort waren auch Schwestern beschäftigt, die Mann und Kinder hatten.

»Natürlich, Oberin. Wann werde ich Professor Kirsch kennenlernen?«, fragte Lilly in der Hoffnung, Elisabeth auf ein anderes Thema zu bringen.

»Er ist gerade auf Visite in den Kinderzimmern. Ich stelle Sie erst mal den anderen vor, dann können Sie sich nützlich machen.«

»Kinderzimmer?«, fragte Lilly erstaunt.

»Hat Dr. Conradi Ihnen nicht gesagt, dass Sie mit Professor Kirsch arbeiten werden?«

»Doch, das hat er. Aber … er sagte nicht, dass Professor Kirsch ein Kinderarzt ist.«

Elisabeth zog verwundert die Augenbrauen hoch. »Das ist er auch nicht. Er ist Experte für Knochentuberkulose, im Waldfriede behandelt er allerdings ausschließlich Kinder.«

6. Kapitel

Da Hanna unterwegs war und die Sprechstunde erst in einer halben Stunde begann, gönnte sich Louis noch einen kurzen Augenblick der Ruhe. Er lehnte sich hinter seinem Schreibtisch zurück, schloss die Augen und versuchte die Geräusche vor dem Sprechzimmer auszublenden.

Er hatte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen, und die kurze Erfrischung des morgendlichen Spaziergangs war schon wieder verschwunden.

Seit einigen Monaten plagten ihn hier und da Zipperlein, die einen fünfundvierzigjährigen Mann eigentlich noch nicht heimsuchen sollten. Vor allem aber überfiel ihn immer öfter eine bleierne Müdigkeit, die durch Schlaf nicht beseitigt werden konnte, egal wie lange er im Bett lag.

Als Arzt wusste er natürlich, dass er sich mehr Ruhe gönnen sollte, doch als Klinikleiter fehlte ihm schlichtweg die Zeit dazu.

Seit der letzte Buchhalter seine Kündigung eingereicht hatte, um zurück nach Dänemark zu gehen, hatte er das Rechnungswesen selbst übernommen und zusehen müssen, wie die Einnahmen schwanden. Auch betuchtere Patienten konnten sich aufgrund der Wirtschaftskrise keinen langen Aufenthalt im Krankenhaus leisten. Dazu kamen die schwierigen Verhandlungen mit den Krankenkassen. Die Pflegesätze wurden nicht so erhöht, wie er es sich vorgestellt hatte, doch die Kosten für Personal und Medikamente stiegen. Wohin sollte das alles noch führen?

Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken, und wenig später erschien seine Frau Catherine mit einem Tablett. Sie trug ihr blondes Haar zu einem Zopf geflochten. In dem dunkelblauen Kleid mit Blumenmuster wirkte sie beinahe mädchenhaft. Ihre sechsundvierzig Jahre sah man ihr wirklich nicht an.

»Ich habe dich beim Frühstück vermisst«, sagte sie mit sanfter Stimme und stellte das Tablett vor ihm ab. Eine Tasse Kaffee stand darauf, ein Schälchen Haferbrei mit Zimt und Zucker sowie einige Apfelschnitze.

»Ich habe schlecht geschlafen und dachte, der Spaziergang würde meine Kopfschmerzen vertreiben«, antwortete er.

»Und, hat er das?« Catherine blickte ihn besorgt an.

»Nur kurz.«

»Du musst etwas essen. Ich habe extra viel Zimt über den Brei gestreut. Es kann nicht sein, dass du ohne etwas im Magen in die Sprechstunde gehst. Du hast heute zwei wichtige Operationen.«

Ein Lächeln huschte über Louis’ Gesicht, als er nach Catherines Hand griff und sie küsste. »Du sorgst so gut für mich.«

»Nicht gut genug anscheinend.« Eine Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen. »Du siehst selbst, dass du abgenommen hast. All die Arbeit …« Sie hielt inne. »Du solltest endlich einen neuen Buchhalter einstellen. Du kannst nicht alles allein machen.«

»Ich weiß, und ich habe die Gemeinschaftsleitung auch schon angefragt. Bisher hatten sie keinen geeigneten Kandidaten für uns. Bis auf Gruber, aber den wollen wir auf keinen Fall mehr hier haben, nicht wahr?«

Ein Ausdruck des Erinnerns trat auf Catherines Gesicht. Ebenso wie Louis hatte sie den Verrat des Buchhalters nicht vergessen.

»Dann tu mir wenigstens den Gefallen und iss etwas«, beharrte sie. »Und komm zu den Mahlzeiten. Seit wir getrennt von unseren Mitarbeitern essen, habe ich das Gefühl, dass du lieber im Arbeitszimmer sitzt als in unserer Küche.«

Louis nickte. Catherine hatte recht, er neigte dazu, das Essen zu vergessen. Er nahm den Löffel in die Hand und schaufelte sich eine Portion Brei in den Mund. Der süße Zimtgeschmack explodierte förmlich auf seiner Zunge, und das Pochen in seinen Schläfen legte sich ein wenig. Vielleicht mangelte es ihm wirklich nur an Nahrung?

»Ich hole das Tablett kurz vor dem Mittag wieder ab«, sagte Catherine und strich ihm sanft über die Wange. »Mach mir die Freude und iss auf, ja? Ich möchte nicht, dass du während der Sprechstunde zusammenbrichst.«

***

Professor Kirsch saß an seinem Schreibtisch, und obwohl er sie hereingebeten hatte, nahm er zunächst keine Notiz von ihr. Versunken starrte er auf einen Stapel Papier vor sich und bat mit erhobenem Finger um einen Moment Geduld.

Lilly schaute sich unsicher um. Das Sprechzimmer war cremefarben gestrichen und wurde von einem großen Schreibtisch beherrscht. In einer Ecke neben dem Fenster erblickte sie ein Skelett, das den Hereinkommenden breit angrinste. Einer der beiden Arzneischränke hatte verglaste Türen, sodass sie einen Blick auf braune Apothekenflaschen und kleine Metallbehälter werfen konnte.

Dass sie auf einer Kinderstation arbeiten sollte, war ein kleiner Schock für sie. Sie hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Wie sollte sie mit Kindern umgehen? Sie kamen ihr so zerbrechlich vor, sicher würden sie weinen, sobald sie sie anfasste …

»Verzeihen Sie bitte, ich wollte nur nicht mitten im Satz aufhören.«

Lilly schrak auf. Ihr gesamter Körper spannte sich an, während sie die Hände faltete, um sich nicht ansehen zu lassen, dass sie vor Nervosität zitterten.

Der Professor schob die Blätter beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit nun auf sie. »Sie sind also meine neue Schwester.«

»Ja«, gab Lilly zurück, unsicher, ob sie ihm die Hand reichen sollte. »Lilly Wegner.«

Seine Jugend überraschte sie. Ein Professor war für sie eigentlich ein älterer Herr mit grauen Schläfen und Brille auf der Nase, doch Rudolph Kirsch mochte bestenfalls Mitte dreißig sein. Er hatte einen olivfarbenen Teint, der ihn wie einen Südländer wirken ließ, schwarzes Lockenhaar und trug einen schwarzen Schnurr- und Kinnbart. Seine goldbraunen Augen musterten sie wachsam, strahlten aber auch Wärme aus.

Er war einer der attraktivsten Ärzte, die ihr je begegnet waren.

»Haben Sie Erfahrungen mit Kindern?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte Lilly. »Ich war vorher in der Chirurgie beschäftigt.«

Kirsch wirkte skeptisch.

»Aber ich lerne schnell und werde mich einfinden!«, setzte sie etwas unsicher hinzu. »Ein Kind ist ja auch nur ein Mensch, nicht wahr?«

Offenbar hatte sie etwas Falsches gesagt. Seine Miene verschloss sich, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und sie betrachtete. »Zu glauben, dass Kinder mit erwachsenen Patienten gleichzusetzen sind, ist ein Trugschluss. Kinder haben ihre ganz eigene Physiologie und ihre eigenen Bedürfnisse. Außerdem können sie oft ihre Befindlichkeiten nicht so deutlich äußern, wie Erwachsene es tun.«

»Wie ich schon sagte, Herr Professor«, gab sie beklommen zurück. »Ich bin bereit, zu lernen.«

»Gut. Dann kommen Sie, ich zeige Ihnen meine Patienten.« Er erhob sich und ging zur Tür.

»Dr. Conradi gewährt mir mittlerweile sechs Belegbetten«, erklärte Kirsch, während er mit wehendem Kittel voranging. »Außerdem habe ich einen Lehrstuhl an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Wenn ich nicht im Haus bin, muss ich mich auf mein Personal verlassen können. Ich wünsche Verschwiegenheit und Hingabe an die Patienten. Nur wenn sie anständig versorgt werden, können sie genesen.«

»Das gilt doch für andere Krankheiten auch«, brachte Lilly hervor, während sie versuchte, mit ihm Schritt zu halten.

»Das stimmt«, erwiderte Kirsch. »Haben Sie schon einmal mit Knochentuberkulose zu tun gehabt? Wissen Sie, was das ist?«

»Ein Befall der Knochen mit Tuberkelbakterien«, antwortete sie. »Wir haben während der Ausbildung davon gehört. Gearbeitet habe ich aber nur kurz auf der Inneren, die meiste Zeit wurde ich in der Chirurgischen Klinik eingesetzt.«

»Dort war man eher damit beschäftigt, den armen Kranken die Knochen zu amputieren, habe ich recht?« Die Stimme des Professors nahm einen spöttischen Unterton an.

»Nicht nur. Wir haben alles Mögliche operiert. Professor Sauerbruch …«

»Haben Sie ihn je getroffen?«, fuhr Kirsch ihr ins Wort.

»Er war unser Chefarzt.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Professors.

»Sind Sie ihm denn bereits begegnet?«, fragte Lilly ein wenig verwirrt über seine Heiterkeit. Man konnte viel über Professor Sauerbruch sagen, jedoch nicht, dass er ein Grund zum Schmunzeln war.

»Nein, leider nicht. Aber sein Ruf eilt ihm voraus. Er soll ein grandioser Chirurg sein.«

Grandios und cholerisch, ging es Lilly durch den Sinn, doch den lästerlichen Gedanken verbannte sie gleich wieder.

»Da wären wir!«, sagte Kirsch und deutete auf die Tür, die mit der Aufschrift »Kinderzimmer« versehen war. Dahinter hörte man laute Stimmen und hin und wieder ein Quietschen. »Die Kinder sind nicht alle von meiner Station, wir versammeln hier sämtliche jungen Patienten, die im Waldfriede behandelt werden.«

Er klopfte kurz und trat ein. Die Wände waren mit Malereien versehen, wie Lilly sie noch nie zuvor in einem Krankenraum gesehen hatte: Wolken und Sonne, Flugzeuge, Tiere und Blumen in strahlenden Farben.

Die Zahl der Kinder in dem Raum überraschte sie. Alle acht Betten waren belegt. Die jungen Patienten, die zuvor noch lebhaft geplappert hatten, schauten die Hereinkommenden mit großen Augen an. Einigen von ihnen war anzusehen, dass sie in ihrem bisherigen Leben nicht genug zu essen bekommen hatten. Andere wirkten gut genährt, was sie allerdings auch nicht vor einer Krankheit bewahrt hatte.

Lilly wurde von dem Anblick der Kleinen derart in den Bann geschlagen, dass sie die Schwester, die sich gerade von ihrem Platz am Fenster erhob, nicht bemerkte.

»Das ist Schwester Martha«, stellte Professor Kirsch vor. »Die gute Seele des Kinderzimmers.«

Lilly wandte den Blick zur Seite. Martha war eine schlanke Frau mit langem, schmalem Gesicht und deutlich hervorstehenden Zähnen. Sie trug ihr blondes Haar streng im Nacken zusammengebunden und versuchte auffällig, die Lippen über ihre Zähne zu schürzen. Lilly schätzte sie auf Ende zwanzig.

»Martha, das ist Schwester Lilly. Sie wird ab heute mit Ihnen zusammenarbeiten.«

Martha nickte, und nach kurzem Zögern reichte sie Lilly die Hand. »Freut mich«, sagte sie knapp und wandte sich dann wieder ihren Unterlagen zu.

Der Professor trat an zwei nebeneinanderstehende Betten, in denen ein Junge und ein Mädchen saßen. Der Junge, der etwa sechs Jahre alt war, trug ebenso wie das gut zwei Jahre ältere Mädchen metallene Beinschienen. So etwas hatte sie noch nie gesehen.

»Na, ihr beiden, wie geht es euch?«, fragte er.

»Gut«, antwortete das Mädchen, das gerade mit einer Anziehpuppe spielte, während der Junge verlegen ein Blechmotorrad an seine Wange drückte.

»Das sind Inge und Peter«, stellte Professor Kirsch vor. Auf einmal wirkte seine Miene ganz anders. Er lächelte, und seine Augen strahlten die Kinder an. »Das hier ist Schwester Lilly. Sie wird zusammen mit Schwester Martha auf euch achtgeben.«

»Hallo.« Lilly stimmte ein wenig beklommen in das Lächeln ein.

Professor Kirsch bemerkte ihren Blick und erklärte: »Mit diesen Schienen sorgen wir dafür, dass die Knochen gestreckt bleiben und unter Belastung nicht brechen. Mit ihrer Hilfe lernen Peter und Inge wieder das Laufen.«

Lilly schluckte. Die Schienen kamen ihr barbarisch vor. Einige Teile wirkten, als würden sie in die zarten Kinderwaden schneiden.

»Schmerzt das nicht?«, fragte sie.

Kirsch wandte sich Inge zu. »Möchtest du Schwester Lilly erzählen, wie es mit den Stützen ist?«

»Gut«, antwortete sie. »Manchmal stören sie ein bisschen, aber das geht schon. Immerhin kann ich damit wieder laufen.«

»Sollen wir Schwester Lilly das mal zeigen?«, fragte Kirsch.

Inge nickte und schob ihre Beine langsam über die Bettkante. Professor Kirsch ging zu ihr, reichte ihr die Hand.

»Sehen Sie!«, rief Inge aus und erhob sich.

»Das machst du sehr gut«, lobte Lilly, spürte aber den Kloß in ihrer Kehle. Wie sollte sie es nur schaffen, täglich das Leid dieser Kinder anzusehen? Sie hatte doch überhaupt keine Ahnung, wie man mit Kindern umging! Wie man sie tröstete, wie man mit ihnen redete …

Inge lächelte sie an, dann blickte sie zu dem Professor.

»Und jetzt schauen wir mal, wie das Gehen klappt.« An seiner Hand schaffte es Inge bis zum Fenster und wieder zurück. Sie bewegte sich ein wenig steif, und Lilly konnte kaum etwas anderes sehen als die Schienen, doch das Mädchen wirkte glücklich.

Als sie sich wieder setzte, half der Professor Inge, die Beine zurück auf das Bett zu bekommen.

»Ich will auch!«, meldete sich jetzt Peter zu Wort.