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Ein ganz alltäglicher Morgen: Aufstehen, ins Bad gehen, sich ankleiden. Doch was wäre, wenn aus dem Schrank die Menschen klettern würden, die unsere Kleidung hergestellt haben? Was würden sie von ihrer Arbeit und von ihrem Leben erzählen? Imke Müller-Hellmann nimmt ihre Lieblingskleidungsstücke und fährt los: Bangladesch, Vietnam, Portugal, Schwäbische Alb, Thüringen, China ... Sie lernt die Näherin ihrer Fleecejacke kennen, den Textilveredler von Slip Claudia und die Spinnerin des Garns ihrer Wandersocken. Sie interviewt Firmenchefs in deutschen Luxushotels und Manager auf staubigen, bengalischen Pisten, fährt an chinesischen Betriebstoren vor und bedankt sich bei den verblüfften Angestellten für ihre Lieblingsjacke. Wovon träumt eine Wanderarbeiterin in China, die 10 bis 12 Stunden am Tag unter Neonlicht näht? Was erhofft sich ein Näher in Bangladesch von seiner Zukunft? Was eine Schuhmacherin in Portugal? Doch bis sie die Menschen besuchen und kennenlernen kann, braucht es Beharrlichkeit. Die Autorin ringt mit den Firmen ihrer Kleidungsmarken um die Herausgabe der Zulieferernamen und bittet Gewerkschaften um Hilfe bei der Suche nach den Menschen, die ihre Kleidung fertigten. Leute machen Kleider ist eine Reise durch die globale Textilproduktion, voller sehr persönlicher Begegnungen. Leute machen Kleider sind überraschende Einblicke in eine weltweit vernetzte, gigantische Industrie. Ein Buch, das vor allem von den Menschen erzählt, die so weit weg zu sein scheinen, es aber eigentlich nicht sind – tragen wir ihre Arbeit doch täglich auf unserer Haut.
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Seitenzahl: 305
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Imke Müller-Hellmann
Eine Reise durch die globale Textilindustrie
Das Projekt »Leute machen Kleider«wurde von der Robert Bosch Stiftung im Rahmen des Programms »Grenzgänger China-Deutschland « unterstützt.
Erste Auflage 2017
© Osburg Verlag Hamburg 2017
Alle Rechte vorbehalten,insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortragssowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-141-1
eISBN 978-3-95510-148-0
Prolog
Die Unterhose | Slip Claudia
Die Mütze | Melbu Beanie III
Die Socken | Trekking Teka 2
Die Fleecejacke | Moon River Jacket
Die Jeans | Straight 3301
Das Unterhemd | Laurel
Das Top | Stella Dreams
Das beliebige T-Shirt
Die Jacke | Wattierte Pilotenjacke
Die Schuhe | Vintage Boots
Nachbemerkungen
Anhang
Ich habe gestern Morgen gefrühstückt. Einen Espresso, zwei Scheiben Brot, Butter und Marmelade. Ich war noch müde und habe die Handgriffe der Zubereitung im Halbschlaf getan. Ich habe Wasser in den unteren Teil der Espressokanne gefüllt, bis zum Ventil am oberen Rand. Ich habe den siebähnlichen Einsatz eingelegt, die Küchenschranktür aufgeschoben und die Dose mit dem Espressopulver herausgegriffen. Zwei Löffel davon habe ich in den Siebeinsatz gefüllt, den Kaffee mit der Unterseite des Löffels festgedrückt, die Kanne zugedreht und auf den Gasherd gestellt. Dann habe ich das Feuerzeug betätigt und gleichzeitig den Drehknopf am Herd. Es gab ein leises ploppendes Geräusch, und die Herdflamme hat unter der Espressokanne gebrannt und mit der Zeit das Wasser nach oben durch die gemahlenen Bohnen hindurchgepresst. Das Geräusch, das dann folgte, war ein Gurgeln und ich wusste: Der Espresso war fertig.
Gestern Morgen war kein besonderer Morgen, es sollte auch kein besonderes Frühstück werden, es stand nichts Besonderes an. Zwei Scheiben vom Brot abschneiden, die Scheiben in den Toaster tun, die Butterdose und das Glas Marmelade aus dem Kühlschrank nehmen. Den Frühstücksteller hinstellen, die Besteckschublade aufziehen, ein Messer herausnehmen. Zur Haustür gehen, die Zeitung aus dem Briefkasten holen.
Ich aß also gestern Morgen getoastetes Brot und las die Zeitung und wusste nicht, wie es dazu kam, aber plötzlich waren die Wände des Zimmers beschädigt, hatte sich Putz abgelöst, waren Steine aus der Wand herausgebrochen, an einigen Stellen. Ich legte die Zeitung beiseite und ging zu dem größten Loch, das da klaffte, steckte den Kopf hindurch und blickte hinaus in den Garten. Es war früh am Morgen, die Sonne schien, aber es war noch frisch. Ein Vogel saß im Baum und sang. Ich lauschte einen Moment, zog den Kopf zurück, ging zum Tisch und aß weiter.
Ich erschrak, als ich aufblickte und einen Mann mittleren Alters sah. Er saß an meinem Esszimmertisch, trug einen Hut, einen verbeulten, und eine ausgeblichene grüne Jacke. Er hatte Ellenbogen und Unterarme auf den Tisch gelegt, lächelte mich an und schien überhaupt sehr vergnügt. Schmeckt’s?, fragte er und zeigte auf die Scheibe Brot in meiner Hand, von der ich gerade abgebissen hatte. Ich nickte, kaute, sagte: Ja, ja, und legte die verbliebene halbe Scheibe auf den Teller zurück. Ich wischte mir die Krümel vom Mund und sah aus Verlegenheit wieder in die Zeitung, ich hatte keinen Besuch erwartet. Gute Ernte, sagte der Mann, Anfang August letzten Jahres, schöner Sommertag. Ganz neuer Traktor, abgezahlt in vier Jahren, wenn alles gut läuft. Ach, sagte ich, das wünsche ich Ihnen, dass alles gut läuft. Der Mann nickte und sah gedankenverloren über den Tisch. Woher er denn käme, fragte ich höflich, und er sagte: Brandenburg, Güterfelde, Hof in vierter Generation, 46,3 Hektar.
Ich blickte durch das größte Loch in der Esszimmerwand hinaus in den Garten und dachte darüber nach, wie groß 46,3 Hektar sind und was wohl ein Traktor kostet. Ob er den Weizen bereits mit dem neuen Traktor ausgesät habe, im Herbst des Jahres davor, wollte ich den Mann gerade fragen, als ich merkte, dass sich noch andere Menschen an meinen Tisch gesetzt hatten. Guten Morgen, sagte ich und die Gäste sagten ebenso: Guten Morgen. Eine Frau mit robuster Jacke saß mir gegenüber und zeigte auf meine angebissene Brotscheibe: Schmeckt’s?, fragte sie und lächelte, Butter von meinen Kühen. Oh, sagte ich, angenehm. Gehe ich recht in der Annahme: Sie haben die Kühe gemolken? Ja, sagte die Frau, Hof Oldeborg, Niedersachsen, morgens, zwanzig vor sechs. Na, sagte ich, das ist ja was. Und die Marmelade?, fragte eine jüngere Frau. Sie hatte einen leichten Akzent und sah mich zweifelnd an. Ja, vorzüglich!, sagte ich schnell, und das Gesicht der Frau hellte sich auf. Habe ich gepflückt, im Juni, vier Wochen lang, von sechs bis sechs, mit der ganzen Familie. Ach, sagte ich, richten Sie bitte verbindliche Grüße aus. Gerne, sagte die Frau, aber die Erdbeeren auf Ihrem Brot habe ich alleine gepflückt, am 10. Juni, ich weiß es genau. Sehen Sie? Mit diesen Händen. Sie streckte mir ihre Hände entgegen, es waren lange, kräftige Hände, ich nickte ihr freundlich zu. Nun, sagte ich und blickte dabei in die Runde, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne weiterfrühstücken, ich muss nämlich gleich zur Arbeit, ich wusste ja nicht, dass Sie kommen. Alle nickten, und der Mann mit dem Hut lüftete ihn und sagte: Natürlich, wir bitten darum.
Ich führte meine Espressotasse zum Mund, konzentrierte mich auf das Trinken und konnte dennoch aus den Augenwinkeln heraus sehen, wie ein Mann und eine Frau mit zwei Kindern sich durch das Loch in der Esszimmerecke zwängten. Guten Morgen, sagten sie und setzten sich an den Tisch. Schmeckt’s?, fragte die Frau und zeigte auf meine Tasse, während sie das jüngere Kind von ihrem Schoß hob, um es auf den Boden zu setzen. Ja, sehr, erwiderte ich und ahnte schon, was jetzt kommen würde. Aus der nächstgelegenen Plantage von unserem Dorf. Aha, sagte ich, wo ist denn Ihr Dorf? Fünf Busstunden von Matagalpa entfernt, Nicaragua, und dann dreieinhalb Stunden zu Fuß. Ganz schön weit, sagte ich, und Sie haben den Kaffee gepflückt, nehme ich an? Ja, natürlich, sagte der Mann, die Bohnen der Tasse, die Sie gerade trinken. In der Erntezeit wandern wir zur Plantage runter. So, sagte ich, und jeden Abend zurück? Die beiden lachten. Nein, das ist zu weit. Wir haben Hängematten dabei.
Während ich mit den beiden aus Nicaragua sprach, waren immer mehr Menschen durch die größer werdenden Lücken in meinen Esszimmerwänden gestiegen. Nun ist das Zimmer nicht allzu groß und am Tisch gab es schon jetzt keinen Platz mehr. Ich stand auf, um die Neuankommenden zu begrüßen. Eine Französin, die Sonnenblumen anbaute, eine Aachenerin, die in einer Fabrik Marmelade kochte, ein Bauer aus Tschechien, Zuckerrüben sein Metier, ein junger Mann aus Thüringen, der in einer Mühle ein Praktikum machte, eine Kaffeerösterin aus Bremen, ein Lkw-Fahrer mit bulgarischen Wurzeln, ein Gießer aus einer chinesischen Porzellanfabrik und ein Lagerarbeiter aus Schweden. Sie alle betrachteten mein bescheidenes Frühstück. Das Zimmer wurde dabei immer voller. Wir rückten den Tisch und die Stühle beiseite, ich aß den letzten Bissen unter Applaus, trank den letzten Schluck vom Espresso, hielt die leere Tasse in die Höhe, wieder Applaus, und stellte sie ab. Alle standen herum und redeten durcheinander. Ich klatschte laut in die Hände und sagte: Sehr geehrte Damen und Herren, darf ich Ihnen auch etwas anbieten? Wie wäre es mit einem Wasser, einem Saft, einem Sekt? Obst hätte ich auch noch da, und … Ich hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, alle jubelten, als mehrere Leute aus dem Garten hereinkletterten – Orangenpflückerinnen, Flaschenhersteller, Obstbewässerer, Verkäuferinnen. Sie kamen aus Spanien, Marokko, Tunesien, aus Belgien und aus der Türkei. Irgendjemand brach noch mehr Steine aus der Wand, sodass der Zugang zum Garten frei war. Ich leerte meinen Kühlschrank und ging in den Keller, stellte alles, was ich finden konnte, im Esszimmer auf den Tisch. Die Leute hielten die Lebensmittel in die Höhe und zeigten dabei mit einem Finger auf sich oder auf ihre Nachbarin, ihren Nachbarn. Alle klopften sich auf die Schultern, man lachte und prostete sich zu.
Ich bin nicht zur Arbeit gegangen. Ich konnte ja nicht. Ich habe meine Gäste bewirtet, es wurde ein großes Fest. Zwischendurch habe ich überlegt, warum die Wände eigentlich Löcher bekommen hatten und wie ich sie wieder stopfen würde. Und was wäre, wenn mir das nicht gelänge. Mir ist ein bisschen schwindelig geworden bei dem Gedanken. Ich habe mir eine Pause vom Trubel im Esszimmer gegönnt und bin leise in mein Arbeitszimmer gegangen. Ich habe den Computer angestellt, sofort saßen fünf Chinesen auf meinem Sofa. Ich habe ihn schnell wieder ausgeschaltet. Im Flur, voller Regale mit Büchern, standen die Menschen, die die Bücher geschrieben, gesetzt und gedruckt hatten. Auch sie zeigten sich gegenseitig ihre Werke. Der Flur war viel zu eng, es schoben sich auch Holzfäller, Dreherinnen, Tischlerinnen und Teppichweber durch das Gedränge, und einige waren schon dabei, die Wände abzubauen. Ich flüchtete mich ins Badezimmer, wischte mir den Schweiß von der Stirn und wusch mir die Hände. Ein Seifenhersteller trat ein und eine Frau aus einer Handtuchfabrik. Eigentlich wollte ich ein frisches T-Shirt anziehen, aber ich wagte mir nicht auszumalen, was in meinem Kleiderschrank los war. Ich beschloss, sobald wie möglich eine Baufirma zu bestellen, vielleicht noch eine weitere Firma für eine Extraladung Zement.
Ich bin zurück in mein Esszimmer gegangen, also in das, was von ihm übrig war, und von dort in den Garten. Ich habe getrunken und mich durch die Menge treiben lassen und zwischendurch Pizza und Wein für alle bestellt. Immer mehr Menschen kamen hinzu, Pizzabäckerinnen und Winzer, und Musikinstrumente wurden gespielt. Ich habe einmal, zwischen zwei Gesprächen, verwundert gegen die Reste einer Wand des Esszimmers geklopft, sofort fiel ein Stein heraus. Ich verstehe das nicht. Ich weiß nicht, was mit den Wänden ist.
Das Fest ging bis spät in die Nacht.
Ich zog mir ein frisches T-Shirt an und sah nach,was in meinem Kleiderschrank los war.
Bremen, 5. Dezember 2014
Sehr geehrte Damen und Herren von GALERIA Kaufhof,
ich möchte die Menschen porträtieren, die meine Lieblingskleidung hergestellt haben. Zu dieser Kleidung gehört eine Unterhose aus Ihrem Sortiment der Marke emotions. Sie ist zu 95 Prozent aus Baumwolle, und die Zahlen unter dem Barcode auf dem Innenschildchen lauten: 4 008030 716850.
Darf ich Sie bitten, mir mitzuteilen, wo genau diese Unterhose hergestellt wurde und an wen ich mich im Betrieb des Herstellers wenden kann, damit ich eine Person finde, die an der Produktion dieser Unterhose mitgewirkt hat?
Mit freundlichen Grüßen
Köln, 10. Dezember 2014
Sehr geehrte Frau Müller-Hellmann,
wir freuen uns sehr, dass der Slip Claudia zu Ihrer Lieblingskleidung gehört. Das finden viele andere Kundinnen auch und daher gehört der Slip Claudia zu den absoluten Bestseller-Artikeln.
Die Serie Claudia wird von der Fa. Gebr. Conzelmann in Albstadt produziert. Unsere Ansprechpartnerin erwartet gerne Ihre Anfrage. Wir würden uns freuen, von Ihnen zu hören, wie alles weitergeht (insbesondere in Bezug auf den Slip Claudia).
Freundliche Grüße aus Köln
GALERIA Kaufhof
Bremen, 10. Dezember 2014
Sehr geehrte Frau A.,
sind Sie sicher, dass es sich bei meiner Unterhose um das Modell Claudia handelt? Alle von mir im Netz gefundenen Bilder zum Modell Claudia sehen anders aus. Darf ich Ihnen ein Bild des besagten Kleidungsstücks anhängen? Verzeihen Sie bitte meine Zweifel.
Mit freundlichen Grüßen
Köln, 11. Dezember 2014
Sehr geehrte Frau Müller-Hellman,
es handelt sich definitiv um Claudia. Sie haben recht: Der Slip Claudia muss noch von unserem Online-Team bearbeitet werden. Vielen Dank für Ihren Hinweis.
Freundliche Grüße aus Köln
GALERIA Kaufhof
Albstadt, 14. Januar 2015
Sehr geehrte Frau Müller-Hellmann,
wir freuen uns (Herr Riede, Leiter Färberei, und ich, Leitung Produktion) auf Ihren Anruf.
Freundliche Grüße
Bremen, 12. Februar 2015
Sehr geehrte Frau A.,
ich möchte Ihnen mitteilen, wie es mit Slip Claudia weiter-gegangen ist:
Ich werde Herrn B. und Herrn Riede im Betrieb von Conzelmann in Albstadt besuchen. Ich freue mich sehr darüber.
Mit freundlichen Grüßen
Von Bremen bis Stuttgart sind es einige Stunden im Zug. Fünfeinhalb, wenn man den ICE nimmt, der mit 300 km/h in einer einzigen Stunde die Teilstrecke von Köln nach Frankfurt zurücklegt, oder sechseinhalb Stunden, wenn man gemütlich den Rhein hochfährt, mit Blick auf die anfangs leicht und später steil ansteigenden, den Flusslauf begrenzenden Rheinhöhen, über deren Hänge sich Weinberge ziehen und an deren Fuß die Häuser der kleinen Orte am Ufer zusammenzurücken scheinen. Von Stuttgart aus braucht der Zug eineinhalb Stunden bis Albstadt-Ebingen und von dort fährt ein Bus nach Albstadt-Tailfingen, er braucht für den Weg fünfzehn Minuten. In Tailfingen wohnen elftausenddreihundert Menschen. Die meisten von ihnen im engen Tal der Schmiecha, einem Zufluss der Donau, die anderen auf den Hochflächen und Hängen der Schwäbischen Alb. Der Ort liegt auf 800 Metern, und dass dies eindeutig höher ist als zu Hause, merke ich daran, dass Schnee liegt, als ich aus dem Bus steige, Schnee, den gab es in diesem Winter in der norddeutschen Tiefebene kein einziges Mal. Die Luft ist kühl und klar und es dämmert, als ich die Namen der Straßenschilder mit den Namen der Karte vergleiche, die ich in Form eines Internetausdrucks auf einem zerknitterten Blatt Papier in der Hand halte. Ich habe mich telefonisch in einer Pension eingemietet, die ich einige Straßenzüge weiter, nach dem Passieren des kleinen Marktplatzes, an der Sparkasse und am Rathaus vorbei, in einer Stichstraße finde, und der ältere Gastgeber im Jogginganzug führt mich zu meinem Raum, in dem mehrere Männer, die aussehen, als seien sie Monteure, vor einer Mikrowelle sitzen und Suppen aus Dosen erwärmen. Er sagt: Keine Angst, das sind keine Ausländer. Die Monteure lachen. Ich folge dem offensichtlich ängstlichen Schwaben in seine Stube, in der ich seiner Frau das Geld für die Übernachtung gebe, die mich nicht anschaut dabei, da gerade in einer sehr laut gestellten Vorabendsendung ein mutmaßlich deutscher Mann von einer mutmaßlich deutschen Frau erschossen wird.
Die Bedienung im schwäbischen Gasthaus an der Hauptstraße des Ortes bringt mir das Getränk und fragt, was ich in Tailfingen täte, ach, Conzelmann, sagt sie, ob ich da anfangen wolle, ein Interview, wofür denn das und mit wem, sie kenne viele im Ort, die dort »schaffen«, Conzelmann sei ein großer Betrieb. Früher habe es viel Textil auf der Alb gegeben, einer, der das Cowboyhemd wieder groß rausgebracht habe, arbeite noch im Ort, und ein anderer bekannter Betrieb sei nur zehn Kilometer entfernt, sie zeigt mit der Hand in Richtung der Holzvertäfelung über den Köpfen einer Gruppe Männer, die sich gerade zugeprostet haben.
Die Straßen des Ortes sind menschenleer. Ich laufe durch die beginnende Nacht – Lichter kleben am Berg –, steige über Schnee, der zusammengeschaufelt wurde und dann gefror, gehe an den weißen Ufern des Flusses entlang, dessen Wasser schnell fließt und der eher einem Bach ähnelt, bis zum Fabrikgelände, in dem ich morgen früh verabredet bin. Das Gelände ist groß, eine weitläufige Anlage, ein Übersichtsfoto zeigt die im Rechteck angeordnete Ansammlung älterer Gebäude, in deren Innenhof weitere Betriebsstätten gebaut wurden und in dem ein hoher Schornstein aus roten Backsteinen emporragt. Der Fabrikverkauf ist mit einem Pfeil markiert, man muss bis zum Ende gehen und dann nach rechts an die Frontseite, und bis dahin hat man 33 Fenster à drei Etagen, also 99 Fenster der sich längs der Straße erstreckenden Gebäudeanlage passiert.
Am nächsten Morgen liegt feiner, pulvriger Schnee auf den Dächern der Häuser, auf die ich aus meinem Monteurszimmer blicke, und fast alle haben am unteren Ende eine Auffangeinrichtung, in die große Mengen alten Schnees hineingesackt sind. Ich räume mir einen Platz zwischen den Hosen und Shampoos und gespülten Suppentellern im Monteursbadezimmer für meine Waschutensilien frei, frühstücke eine Etage höher in der Küche mit Blick auf den Kirchturm und stehe um Punkt zehn Uhr in einem Empfangsraum, in dem es ein Telefon und die Nummern der Durchwahlen gibt, mit dem ich Herrn B. meine Ankunft bei Conzelmann melde. Herr B. betritt mit Schwung den Raum. Er trägt Anzughose und Hemd, sieht akkurat aus und freundlich, und nachdem ich den Schreck, nicht schick genug gekleidet zu sein, und den in mir aufglimmenden Ärger, dass ich daran bei einem Textilprofi doch hätte denken müssen, verscheucht und meinen Rucksack abgestellt habe, beginnt er sofort mit der Betriebsführung – schnell noch greife ich nach meinem Block –, die er zügig durchführt, in einem weichen Schwäbisch erklärend. Ich steige hinter ihm die Treppen in einem kahlen Treppenhaus hinauf und notiere dabei, dass die Baumwolle aus der Türkei käme, aber dass die Türken auch zukaufen würden und dass die Wolle, Angora und Schaf, aus Italien eingeführt wird. Die Schafwolle sei in Australien gekauft, aber dass ein großes Problem die Chinesen seien, die so riesige Mengen abnähmen, dass die Europäer nur noch – er will nicht »Ausschussware« sagen – »minderwertige Ware« erhielten, da Europa nicht mehr der Hauptbezieher sei, wie es früher einmal war. Die Chinesen würden sich auch in Afrika »breitmachen«, sie würden alles vom afrikanischen Markt aufkaufen und Land und Flächen in vielen afrikanischen Ländern für wenig Geld erstehen, das sei ein großes Problem für die Menschen vor Ort, China breite sich aus wie ein »Krebsgeschwür«. Wir sind oben angelangt und Herr B. öffnet eine Tür, dreht sich noch einmal um und ergänzt: Bei Angora achte der Betrieb sehr genau darauf, dass die Hasen geschoren und nicht gerupft werden würden, und was die Schafwolle aus Australien beträfe, müsse erwähnt werden, dass der Preis sehr schwanke, eine Trockenheitsperiode und die Ernte sei beinahe hin. Ein Baumwollfeld hingegen sei schnell angepflanzt, die Einkaufspreisschwankungen hielten sich bei diesem Produkt in Grenzen. Der Betrieb würde jetzt schon die Wolle für den Herbst bestellen, denn die Vorstellung, es gäbe Lieferengpässe zu Beginn der kälteren Jahreszeit, wäre der Super-GAU, er habe die Garne gerne schon lange im Voraus im Haus. Wir betreten den Raum, der eine ganze, weitläufige, helle Etage ausfüllt, die mit durchsichtigen Plastikvorhanglamellen unterteilt wurde, zwischen denen über einhundert Strickmaschinen stehen, die ihre Arbeit tun und schlauchförmige Stoffe unter hohem Geräuschpegel herstellen. Die Strickmaschinen sind rund. Sie haben auf knapp über Kopfhöhe 30 bis 80 Garnrollen montiert, die wie ein großer, mehrschichtiger Heiligenschein über den Kreis der 2000 Nadeln gespannt sind. Garnrollen in nur einer Farbe, wenn der Stoffschlauch einfarbig werden soll, oder Garnrollen in verschiedenen Farben, wenn es ein gestreiftes oder gemustertes Stoffstück wird. Bei einigen Maschinen bestehen die Garnrollen aus Baumwolle, bei anderen aus verschiedenen Mischanteilen, vier Rollen Elasthan kommen auf 76 Rollen Baumwolle, um das Mischgewebe zu produzieren, aus dem Slip Claudia hergestellt wird. Bei den neueren Maschinen befinden sich die Garnrollen in einer Hängevorrichtung an der Seite, bei den älteren sind sie im Kreis oberhalb angebracht, und deswegen, sagt Herr B., sei es schlecht, wenn ein Strickmeister größer als ein Meter achtzig wäre. Drei Ventilatoren flitzen zuoberst in hoher Geschwindigkeit über die Rollen hinweg und ebenso wird Luft per Hand, oder automatisch aus »Abblasschläuchle« über die vielen Nadeln geblasen, damit kein Flaum, keine Flusen diese verstopfen, die das feine Gespinst der von oben herablaufenden Fäden zerreißen würden. In zwei Schichten bedienen zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die über einhundert »Leibweitenmaschinen«, die in einer Woche acht bis zwölf Tonnen Stoff in den Feinheiten von 14 bis 28E produzieren, das ist die Maßeinheit Nadeln pro Zoll, und ein Zoll galt früher als der zwölfte Teil eines Fußes und wird heute bei 2,54 Zentimetern gesehen, was erstaunlicherweise eine Fußgröße von 30 Zentimetern ergäbe, die der Schuhgröße von 48,5 entspräche. 20E bedeuten 28 Nadeln auf zweieinhalb Zentimetern, und dies ist – Herr B. fragt beim Strickmeister nach – die Nadeldichte, mit der Slip Claudia hergestellt wurde, eine feine »Rippe«, gestrickt mit rechter und linker Seite. Die 100 Strickmaschinen dieser Etage produzieren Singlestoffe, Interlock und Feinripp. Bei Feinripp handelt es sich zumeist um eine Rechts-rechts-Maschenreihe aus fein gekämmten Garnen, bei der das »Rechtsmaschenstäbchen« in Längsrichtung eine durchgehende Rippe bildet, daher der Name. Feinripp muss aber nicht immer rechts-rechts »abgestrickt« sein, es gibt diverse Möglichkeiten und Varianten. Feinripp wird für Unterwäsche verwendet, lese ich später nach, er sei tragefreundlich, denn er passe sich den Formen des Körpers an. Interlock und Singlestoffe werden dem Jersey-stoff zugerechnet, lese ich weiter, wobei der Single-Jersey aus abwechselnd einer rechten und linken Masche besteht und dadurch sehr elastisch wird, und der Interlock-Jersey an zwei Nadelreihen, sogenannten »Fontouren«, gestrickt und in einer Rechts-rechts-Bindung gekreuzt wird. Wenn der Stoffschlauch einhundert Meter erreicht hat, erklärt Herr B., wird er abgeschnitten, und sechshundert Meter Stoff wird in einer Doppelschicht produziert. Ich komme an einer Maschine vorbei, an deren Seiten Vorrichtungen verlaufen, die an Fahrradketten erinnern, und während Herr B. den Fahrstuhl am anderen Ende der Etage ansteuert, betont er, dass diese alte Maschine etwas könne, was die neuen vollautomatisch computer-gesteuerten von heute – er zeigt auf die Maschinen an der Seite der Fenster, aus denen man den Steilhang der Schwäbischen Alb sehen kann – nicht mehr zustande brächten: Eine Schlauchform zu produzieren, die keiner Seitennaht in der späteren Produktion mehr bedarf. Ich verstehe: Slip Claudia hat keine Seitennaht. Ich fühle mich ertappt. Das Besondere meiner Unterhose hatte ich nicht bemerkt. Wir betreten den Fahrstuhl, die Wände gleiten nach oben, und Herr B. erklärt, dass der gestrickte Stoff nun gewaschen werde, Paraffine seien in ihm enthalten und Schalenanteile der Baumwollpflanzen, Wasser würde der Stoff so nicht aufsaugen können, es würde abperlen an ihm. Unten ist das Lager voller Stoffe, eigener und zugekaufter, und ich frage, nach welchen Kriterien er die Firmen auswählen würde – er sagt Qualität und Preis, zugesendete Musterstücke – und ob sein geschulter Blick jemals frei habe oder er immer, egal wo im Alltag, die Qualität eines Stoffes, den er an einem Menschen sehe, bewerte. Herr B. bleibt bei dieser Frage stehen und sieht mich an. Ja, immer, sagt er, die Qualität des Stoffes, die Qualität der Verarbeitung – in welchem Abstand die Stichlinge gesetzt sind, davon hängt ab, wie schnell eine Naht reißt – und die Farbqualität. Ein schwarzes T-Shirt für vier Euro, das Gift kriegen Sie nie wieder raus, und die Arbeitsbedingungen werden schrecklich gewesen sein. Er sagt, ich verneige mich vor den Chinesen, das können sie wirklich, sie arbeiten präziser als jedes Balkanland oder als die Türkei, aber ich möchte nicht wissen, wie sie Farbe und Chemikalien nach dem Bleichen und Färben entsorgen. Wir gelangen in die Färberei, zwei Meter bis vier Meter hohe Maschinen, in denen Wasser steht oder sich bewegt, Stoffe in langen Bändern auf Rollen durch Trommeln und Becken und Farbe gezogen werden, es ist warm und feucht, die Mitarbeiter haben Gummistiefel an den Füßen, der Boden ist gekachelt, die Maschinen dröhnen. 80 Prozent der Stoffe werden zu Weißwäsche gebleicht und der Rest, eineinhalb Tonnen täglich, werde gefärbt, 150 Kilogramm Stoff in einer »Kufe«, ein Kilogramm braucht 150 bis 180 Liter Wasser und acht Stunden für einen Färbungsvorgang: Eine Stunde abseifen, eine Stunde spülen und vorbereiten, fünf Stunden lang Farbe aufnehmen und wieder eine Stunde lang spülen. Der Wasser- und Energiebedarf ist bei diesen Veredelungsvorgängen enorm. Auf dem Weg in die Bleicherei sehe ich einen Mann auf einer zweiten Ebene des Rohstofflagers hinter alten Holzlatten Stoffballen auseinanderrollen und an einer Nähmaschine zusammennähen. Nur ein paar Schritte weiter bleiben wir vor zwei sehr großen, gekachelten Zubern stehen, die wie runde Schwimmbecken aussehen, beide tief und leer, die riesigen Deckel aufgeklappt und die Abdeckgitter zur Seite geschoben. Hier wird gebleicht, an der Wand hängen die Behälter, in denen die Chemikalien aufbewahrt werden: Natriumchlorit, Ameisensäure, Puffersalz. Puffersalz, sagt Herr B., steuere den Bleichvorgang, zwölf Stunden lang bleibe der Stoff bei 90 Grad darin und anders als beim Färben, ruhe der Stoff und werde nicht bewegt, die Chemikalien sänken durch ihn hindurch auf den Grund. Einen Reaktor haben sie bauen müssen, die Chemikalien werden darin neutralisiert, drei bis vier Millionen D-Mark für diesen und den unterirdischen Puffer, in dem das Wasser abgekühlt wird, und da frage man sich zum Thema Preisvergleich: Was passiert in China mit dem Wasser des Bleichvorgangs? Die Stoffe hier, fügt Herr B. hinzu, werden im Anschluss gewaschen und optische Aufheller hinzugegeben, aber seien Sie unbesorgt, ein Schluck Wasser im Schwimmbad fügt Ihnen mehr Chlor zu als das Tragen der von uns gebleichten Wäsche auf Ihrer Haut. Wir kommen zum Trockenraum, wieder andere Maschinen, »krumpfen« ist das Wort, das ich hier zum ersten Mal in meinem Leben höre, und es meint das mechanische Stauchen des Stoffes vor seinem Zuschnitt, damit er nachher nicht weiter schrumpft. Wir stehen vor der raumgroßen, grünen Krumpfmaschine, in dem der Stoff gestreckt und wieder geschrumpft wird, und Herr B. berichtet von den weggebrochenen Aufträgen seit 2001, seit China so stark sei, die Kaufhäuser seien abgesprungen, und selbst die Bundeswehr, wie unpatriotisch, lasse im Ausland produzieren, ein ehemals großer Auftraggeber. Und was die Großen betrifft, Aldi und so, diesen Preiskampf kann man nicht gewinnen, da zahlt man drauf, da machen wir nicht mehr mit, eher hören wir auf. Aber Slip Claudia, sage ich, sei ja bei Kaufhof zu kaufen, ein Großabnehmer, der blieb? Ja, sagt Herr B., da hängen auch Schiesser und Mey, aber die sind beim Nähen nicht besser als wir, die kochen auch nur mit Wasser, bei denen zahlen Sie den Namen, also die Werbung mit. Wir gehen an Maschinen vorbei, die bügeln, und an Maschinen, die die Stoffschläuche mit Hilfe von Magneten für den Zuschnitt exakt in die Form bringen, ich sehe eine uralte Maschine mit Rollen, auf denen sich tausende Widerhaken befinden, die den Stoff anrauen, wodurch dieser flauschiger wird – fühlen Sie mal! – was nicht mit dem Nicki-Stoff zu verwechseln ist, bei dem die heraushängende Masche flächig abgeköpft wird. Nach Stricken, Waschen, Bleichen, Färben, Krumpfen, Trocknen, Rauen und anderen Veredelungen muss der Stoff drei bis vier Tage ruhen, dann erst wird er geschnitten, denn »zu warm« geschnitten würde er immer kleiner werden beim Nähen. Ich soll an verschiedenen Stoffen fühlen, hier, sagt Herr B., dieser ist rauer, er wurde von älteren Maschinen gemacht, und dieser – spüren Sie das? – viel feiner, aus neuen Maschinen, und jetzt raten Sie, aus welchem Stoff Wäsche für Herren und aus welchem die Wäsche für Damen wird. Der Zuschnitt wurde früher per Hand gemacht, sagt er im nächsten Raum, überall auf der Alb habe es Textilfirmen mit Zuschneidern gegeben, 21 hier im Betrieb, als er anfing, in den 80er Jahren, heute sind es noch fünf. Die Stoffbahnen wurden genau übereinandergelegt, »abtafeln« wird das auch heute genannt, eine Pappschablone kam darauf, und dann wurden die Schnitte mit »Pudersäckle« oder mit einem Bleistift auf den Stoff übertragen. Heute schneidet noch einer der fünf Zuschneider des Betriebs per Hand, bei Mustern, bei denen die Mengen zu klein sind, oder bei Wäsche mit Spitze oder Taillierungen. Er zeigt mir das senkrecht gespannte Handmesser, Kettenhandschuhe sind Vorschrift, er möchte nicht wissen, wie viele damalige Zuschneider Finger an solchen Werkzeugen ließen. Ein paar Schritte weiter hängen dreißig eineinhalb Meter hohe Schablonen wie Kleidungsstücke auf Bügeln, die Stanzbleche. Daneben läuft der Stoff in eine Maschine ein, in der eine Blechschablone mit dem Gewicht einer Tonne, wie ein Backförmchen in den Teig, ein Muster in den mehrschichtig übereinandergelegten Stoff hineinstanzt. Das sind die Zuschnitte für eine Unterhose, und am Ende der Maschine legt ein Mitarbeiter die Stoffpacken zusammen, die so zu den Näherinnen kommen, den 20 Frauen im Haus, es waren einmal 300, oder den 165 Frauen in Serbien oder Rumänien in den Lohnnähereien. Auch eine computergesteuerte Cutter-Maschine gibt es, die setzt den Nullpunkt mit Infrarot, schneidet mit Vakuum einen absolut exakten Schnitt, flexibel in der Formgebung, und ich sehe, wie der Arm der Maschine über die meterlang ausgelegten, »abgetafelten« Stoffbahnen flitzt und wie der Bediener der Maschine auf einem Display die nächste Aufgabe eingibt. Wieder fahren wir mit dem Aufzug, die Wände sinken nach unten, wieder öffnet Herr B. Türen und durchquert mit schnellen Schritten die Etagen. Näherinnen sitzen an Einzeltischen vor ihren Maschinen, sie haben zugeschnittene Stoffstücke neben sich liegen, und vielleicht, so sagt er, sei auch Slip Claudia hier zusammengenäht worden, vielleicht aber auch in Rumänien, der Betrieb dort produziere ausschließlich für sie. Regelmäßig wird der Zuschnitt dorthin transportiert, die fertige Ware kommt zurück und wird geprüft, auf Löcher und Flecken, und dann umgepackt, auf Bügel, in »Päckle«, je nachdem was der Kunde sich wünscht. Das Ein-, Um- und Verpacken geschieht in der Qualitätssicherung. Wir laufen durch eine weitere Etage, neben der der verwaiste Bundeswehrraum liegt. Die Vorgaben seien sehr hoch gewesen, sie hätten sie alle erfüllt, wirklich unpatriotisch. Wir gehen mit zügigen Schritten hindurch. Herr B. verabschiedet sich, er entlässt mich in den Raum des Fabrikverkaufs, schwarze, weiße, rote Unterhosen und -hemden, Schlafanzüge, Wollwäsche, Bio, Angora, in einer Stunde, nach der Mittagspause sähe man sich wieder, zum Treffen mit Reinald Riede, dem Textilveredler.
Reinald Riede ist Textilveredler von Beruf. Er ist der textiltechnische Leiter des Betriebs und für alle Veredelungsschritte verantwortlich. Unter seiner Aufsicht geschahen das Waschen und das Färben des Stoffes von Slip Claudia, nicht »brombeerfarben«, verbessert er mich, »taupe« heiße die Farbe des Slips. Reinald Riede kennt die Eigenschaften der Stoffarten. Er weiß, wie viel Farbe und welche Farbe Wolle, Seide, Acryl, Baumwolle oder Polyester brauchen, und wie man es hinbekommt, dass die Farbe nachher nicht »ausblutet« oder ein mitgewaschener Stoff nicht »anblutet«. Er sagt: So wenig Chemie wie möglich, so farbecht, wie es geht, wir sind nach dem IVN-best Standard und nach dem Global Organic Textile Standard zertifiziert, GOTS laute die klangvolle Abkürzung, auf die solle ich ab heute achten. Seit 35 Jahren veredelt Reinald Riede Stoffe. Er ist begeistert von dieser Arbeit, vielfältig sei sie, und herausfordernd. Ein ganzes Berufsleben reiche nicht aus, um alles zu lernen, was es über Textil zu lernen gebe. Strickmeister sein? Nein, danke. Das wirklich Interessante geschehe in der Veredelung: Produkte voranbringen, Zufallsergebnisse verfeinern, keine Angst vor schwierigen Aufgaben haben. Sturmhauben aus Seide färben? 100 Kilo Seide für 6000 Euro? Er hat es gemacht. Mit Naturindigo färben? Ein Kilo für 150 Euro? Da ist er gerade dran.
Wir sitzen in einem Konferenzraum an einem langen Glastisch, der spiegelt, und ab und zu klingelt sein Handy, er sagt: Polyester, elastisch. Oder: Stückle, viereinhalb Tonnen. Dann verschränkt er die Arme hinter dem Kopf. Ein Textilveredler sei inzwischen so selten wie ein Bierbrauer oder ein Glockengießer, dabei trage doch jeder Mensch Textilien auf seiner Haut. Niemand wisse mehr, wie diese hergestellt werden und welche Arbeitsschritte ein Veredler dafür vollzog. Er findet das schade. Stoffe seien lebendig. Er will den Bereich Textil ins Bewusstsein zurückbringen, deswegen bildet er auch Lehrlinge aus, die einzige Berufsschulfachklasse, die es im Süden noch gibt, befindet sich in Südbaden – Textilveredler, ein aussterbender Beruf. Früher, so sagt er, zählten die Färber und die Bleicher zum Handwerk, heute zur Industrie. Früher war es eine Zunft, es gab eine Berufsehre, heute nicht mehr. Es sei schwierig, gute junge Leute zu finden, die Eltern sagen: Textilbereich? Da verreckt doch jeder Betrieb.
Reinald Riede hat das große Sterben der Textilbranche auf der Schwäbischen Alb selbst erlebt. In seinem zweiten Lehrjahr, er war 16 Jahre alt, wurde sein Ausbildungsbetrieb mit 500 Angestellten abgewickelt. Es war eine der ersten Firmen, die Anfang der 80er Jahre schließen mussten, in den nächsten Jahren wechselte Reinald Riede fünf Mal den Betrieb, alle Firmen, für die er »schaffte«, gaben nach und nach auf. Die Übriggebliebenen haben sich ihre Nischen gesucht, erklärt er, der eine modisch, der nächste konservativ, der dritte preisaggressiv. Drei Große seien übrig in Albstadt, einer von ihnen trage noch den Zusatz »zum Ochsen« in der Firmenabkürzung: Comazo, »Conrad Maier zum Ochsen«. Früher diente die nächstgelegene Kneipe als zusätzliches Unterscheidungsmerkmal der vielen Betriebe. Das sei lang her. Trotzdem. Er habe es niemals bereut, die Textilbranche gewählt zu haben, er sei immer gut damit gefahren, er würde es sofort wieder tun. Ich bin zu einhundert Prozent Veredler, betont er, ich brenne für diesen Beruf.
Reinald Riede ist so schwäbisch wie der ganze Betrieb Conzelmann: bodenständig, freundlich, regional verwurzelt. Geboren in einem kleinen Ort auf der Alb, 25 Kilometer entfernt, lebt er heute noch – verheiratet, eine Tochter –, wo jeder jeden kenne, sagt er, eine Idylle, dort habe er »sein Haus« gebaut, wie alle in der Familie vor ihm, seit 1525, die Riedes, ansässig vor Ort, ein Sägemüllergeschlecht. Ich notiere, man baut sich ein Haus hier und man lebt für den Beruf, auch wenn dieser am Anfang mehr Zufall war. Was wisse man schon mit 15, nichts wisse man. Er wusste nur, dass er nicht zur Post wollte, wie sein Vater es für ihn geplant hatte, Beamter sein, und dass er nicht Stahlbetonbauer werden mochte, da war eine Lehrstelle frei. Betonstahl als Material für das tägliche Brot? Viel zu kalt. Keine Ahnung habe er gehabt, wohin ihn die Textilausbildung führen würde, letztendlich bis nach El Salvador. Reinald Riede lächelt. Zwei Jahre lang hat er für einen Schweizer Investor einen Lohnveredelungsbetrieb geleitet, als die Anfrage kam, war die Aufregung groß: Soll er, soll er nicht? In eines der kriminellsten Länder der Erde gehen? Er hat es getan, und es waren zwei der schönsten und interessantesten Jahre seines Lebens: die Mentalität, der andere Kontinent, das andere Lebensgefühl. Er hat den Betrieb mit aufgebaut, hundert Angestellte, er hat über Mindestlohn gezahlt, er hat Land und Leute bereist und auch die andere Seite von Textil erlebt: Ein Billiglohnland, eine unglaubliche Ausbeutung, ganz schlimm. Ich habe über den Tellerrand geschaut, sagt er, ich habe nicht nur die Schwäbische Alb gesehen, ich habe sehr viel erleben dürfen, ich bin dankbar dafür. Er erzählt von seinen Wochenenden in Honduras, Nicaragua, Guatemala und Mexico, von den Hemmungen am Anfang, sich in den Verkehr von San Salvador zu trauen, vom Zusammenhalt in den salvadorianischen Familien und von einer Betriebsweihnachtsfeier, bei der der Zuständige eine sehr große Musikanlage herankarrte und er dies erst verstand, als er später sah, wie ausgelassen getanzt wurde. Dass er sich dort alles leisten konnte, das müsse man bedenken, bei aller Schwärmerei. Die Armut, die es dort gibt, die extremen Unterschiede der Lebensstandards, das habe ihn verändert. Er ist viel zufriedener hier, er weiß sein Leben zu schätzen. Wir reden über seinen Blick auf das Leben in Zentralamerika, und später kommt er immer wieder zurück auf diese Zeit, wenn es um die Textilbranche anderer Länder geht, um Lebenserfahrung oder um herumstreunende Hunde, um die er sich in San Salvador kümmerte, seine Angestellten dachten, er sei ein bisschen verrückt. Ich frage, ob es neben dem Textil noch etwas anderes gebe, er sagt: die Musik. Die Website, die ich mir anschauen soll, heißt »Alphornklang und Schwobablech«, das ist der Name der Band. Reinald, Wolfgang, Bruno, Rüdiger, Dieter, Kurt, Harald und Herbert spielen Alphörner, Trompete, Flügelhorn, Tuba, Tenorhorn und Schlagzeug, und dies auf Goldenen Hochzeiten, bei Open-Air-Platzkonzerten, auf Volksmusiktagen, zur Umrahmung von Maiandachten und beim Oktoberfest der NATO in Belgien. Sie tragen Trachten dabei, weiße Hemden, Lederhosen, Kniestrümpfe und Schuhe, die Hölzler genannt werden, eine Art Clogs mit Fell oben drauf. Reinald Riede spielte schon als Jugendlicher im dörflichen Musikverein, mit 19 gründete er eine Big Band, zwölf Jahre lang waren sie auf Schützenfesten unterwegs, das war eine »ganz große Zeit«. Er wurde früh Dirigent, die erste Kapelle hatte er mit 25. Er spielt alle Blechblasinstrumente, komponiert neue Stücke und »hält den Haufen zusammen«. Er sagt, ich kann führen und motivieren, schelten und beschwichtigen, ich kann mitreißen, in der Firma oder bei der Musik, das ist meine Lebensaufgabe. Er will Musik machen, solange es geht, Zähne und Lippen müssen es zulassen, das Mundstück oben, egal bei welchem Blasinstrument, drücke auf das Gebiss.
Reinald Riede hat sich viel Zeit genommen, es ist Nachmittag, der Lehrling wird gerufen, dass er mich vom Berg runterfahre, zum Zug, ich mache noch Fotos. Und Slip Claudia, frage ich schließlich, wer denkt sich so einen Namen aus? Wir nicht, sagt Herr Riede, das war Kaufhof, bei uns heißt das Produkt Qualität 714, eine feine Teilung, die verkauft sich gut, hauptsächlich im Damenbereich. Wir haben sie hier gestrickt, gewaschen, gefärbt und geschnitten, vielleicht auch genäht. Wir stehen auf, wir verabschieden uns, Herr Riede sagt, schreiben Sie etwas über die Veredelungsschritte, melden Sie sich, wenn Sie noch Fragen haben, machen Sie meinen Beruf bekannt! Vielen Dank, sage ich, für Ihre Zeit und Ihre Arbeit an Slip Claudia. Er nickt, und dran denken, nicht »brombeerfarben« ist die Farbe des Slips, sondern »taupe«. Zu Hause sehe ich nach, was dieses Wort bedeutet. Ich schüttele den Kopf: Niemals ist dieses Stück Stoff in meinem Schrank maulwurfsgrau.
Reinald Riede
Bodensee, 8. Januar 2015
Hallo Frau Müller-Hellmann,
wir freuen uns, dass Ihnen die Melbu Beanie III gefällt und zu einem Ihrer Lieblingsstücke geworden ist.
Gerade hier in der Entwicklung ist dieses Feedback immer schön zu hören.
Die Mütze wird in einem unserer Partnerbetriebe in China hergestellt.