LG;-) Wie wir vor lauter Kommunizieren unser Leben verpassen - Nina Pauer - E-Book

LG;-) Wie wir vor lauter Kommunizieren unser Leben verpassen E-Book

Nina Pauer

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Beschreibung

Noch nie haben wir auf so vielen Kanälen gleichzeitig kommuniziert. Vor allem Menschen zwischen 15 und 35 haben ein zweites, ein virtuelles Ich im Internet, das ihr Leben prägt wie nichts Vergleichbares zuvor. Wer nicht postet, ist nicht! Wer sich nicht einloggt, bleibt außen vor. »Wir müssen dieses Ich im Auge behalten, wir müssen nach ihm schauen, wir müssen erreichbar sein, reagieren können, wenn es etwas von uns will. Wir müssen es füttern, permanent. Das alles tun wir schon lange nicht mehr ganz freiwillig. Wir haben es nicht mehr unter Kontrolle. Wir könnten nicht mehr damit aufhören.« Nina Pauer erzählt und erklärt dieses neue Leben. Sie klagt nicht über Facebook & Co., sondern beschreibt die Wirkung exzessiver und besonders virtueller Kommunikation bis tief in den analogen Alltag hinein. Dabei trifft sie nicht nur den Nerv der Betroffenen, sondern bringt die seit Langem einschneidendste Veränderung unserer Gesellschaft auf den Punkt.

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Nina Pauer

LG;-)

Wie wir vor lauter Kommunizieren unser Leben verpassen

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Noch nie haben wir auf so vielen Kanälen gleichzeitig kommuniziert. Vor allem Menschen zwischen 15 und 35 haben ein zweites, ein virtuelles Ich im Internet, das ihr Leben prägt wie nichts Vergleichbares zuvor. Wer nicht postet, ist nicht! Wer sich nicht einloggt, bleibt außen vor.Nina Pauer erzählt und erklärt dieses neue Leben. Sie klagt nicht über Facebook & Co., sondern beschreibt die Wirkung exzessiver und besonders virtueller Kommunikation bis tief in den analogen Alltag hinein. Dabei trifft sie nicht nur den Nerv der Betroffenen, sondern bringt die seit langem einschneidendste Veränderung unserer Gesellschaft auf den Punkt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Nina Pauer, Jahrgang 1982, ist freie Autorin. Sie studierte Geschichte, Soziologie und Journalistik an der Universität Hamburg und der Université Michel Montaigne in Bordeaux. Während ihres Studiums hat sie am Hamburger Institut für Sozialforschung in den Arbeitsbereichen »Nation und Gesellschaft« und »Die Gesellschaft der Bundesrepublik« gearbeitet. Sie schreibt vor allem für das Feuilleton der »Zeit« und das» Zeit-Magazin« und stößt immer wieder Debatten an, die großen Widerhall in der Öffentlichkeit finden (z.B. über »Die Schmerzensmänner«). 2011 erschien ihr erstes Buch »Wir haben keine Angst. Gruppentherapie einer Generation«.

Für Babi und Venda, Charly und Mariele

Prolog

oder wie das Spiel bei mir begann

Am Anfang war die Stimme. Jeder Mensch hatte genau eine. Mit ihr konnte er Aufmerksamkeit erzeugen, sich mitteilen, andere Menschen zum Zuhören und zum Antworten bringen. Mit ihr konnte er von seiner eigenen Lebenslinie zu der der anderen hinüberrufen und damit eintreten in das große Spiel: das Pingpong mit der Euphorie, am Leben zu sein – und dieses Leben miteinander zu teilen.

*

»Warum rennst du so?«, quengelte Martin, mein bester Freund aus Kindergartenzeiten auf dem Nachhauseweg von der Schule. Sein Scout-Ranzen wackelte über seinen schmächtigen Schultern. »Wir kaufen erst morgen wieder Cola-Kracher«, antwortete ich streng. »Ich hab keine Zeit, ich muss schnell nach Hause«, rief ich so wichtig wie ich konnte über meine Schulter und bog in unsere Straße ab, ohne mich zu verabschieden. Die letzten Meter nach Hause rannte ich. Außer Atem stellte ich mich im Treppenhaus auf die Zehenspitzen und tastete mit meinen Händen den Briefkasten ab. Mein Herz klopfte. Mit meiner verrenkten Hand, die vom Tasten am Gelenk schon ganz rot geworden war, zog ich schließlich einen Umschlag durch den Schlitz. In krickeliger Zweitklässlerschrift stand dort mein Name.

»Muss erst meine Post lesen«, verkündete ich ebenso angeberisch, wie ich Martin angeschnauzt hatte, meiner Mutter an der Haustür, statt ihre Begrüßung zu erwidern. Ich rannte durch den Flur und schmiss die Tür meines Kinderzimmers zu. Auf dem Piratenhochbett angekommen, feierlich zwischen meinen Kuscheltieren thronend, öffnete ich langsam und würdevoll den allerersten Brief meines Lebens.

*

»Spielst du auch gerne Zelda?«, schrieb Paul, mein Brieffreund, den ich im Ostseeurlaub kennengelernt hatte, eines Tages beiläufig in die obligatorische PS-Zeile ganz unten auf der Rückseite des Briefpapiers, das mit bunten Rollschuhen bedruckt war. »Und wenn ja: In welcher Welt bist du?«, wollte er wissen.

Es war nicht das erste Mal, dass solch kryptische Fragen auftauchten. Bisher hatte ich allerdings angenommen, dass es sich dabei einfach nur um irgendein neues Spiel aus der Micky Maus oder eine weitere, nur vom Titel her abgeänderte Fortsetzung vom »Sagaland« oder dem »Verrückten Labyrinth« handelte, die ich noch nicht mitbekommen hatte.

»Ja, kenn ich, voll kuhl«, antwortete ich ausweichend. In welcher Welt ich war, konnte ich allerdings nicht beantworten. Paul begann daraufhin zusätzlich zu seinen Fragen noch Tabellen in seine Briefe zu malen, in die er ominöse Punktezahlen notierte mit der Aufforderung, ich solle meine einfach daneben eintragen und ihm das Blatt zurücksenden. Wir könnten ja gegeneinander spielen, schlug er vor.

Ich bestach Martin mit Cola-Krachern. Zunächst unwillig, dann aber immer freudiger zeigte er mir, wie sein neues Wundergerät, der Game Boy, den Paul auch hatte, funktionierte. So durfte ich ihm also dabei zusehen, wie man bei Zelda den Rasen mähte, wie man bei Tetris eine gesamte Reihe auf einmal wegballerte, so dass die Musik kurz übertönt wurde, und wo bei Super Mario I und II die Schätze versteckt waren. Großzügig aufrundend trug ich Martins Level- und Punktezahl in Pauls Listen sein.

Doch Paul war ein schlechter Verlierer, die Game-Boy-Themen blieben auf die PS-Zeile beschränkt – bis sie nach einer Weile völlig im Sand verliefen.

In unserer Schule verliefen sie sich nicht. Zwar spielten die Mädchen immer noch Gummitwist, tauschten am allerliebsten die teuren Langhaarmeerschweinchen-Aufkleber von Karstadt und schrieben sich gegenseitig die Poesiealben mit Sinnsprüchen voll. Doch die Technik-Fachsimpelei schwappte sogar bis in unsere Pausenhofwelt. »Kennt ihr bestimmt nicht«, sagten die Jungs besserwisserisch, während sie in ihre Bifis bissen, an ihren Capri-Sonnen nuckelten und über ihre neuesten Spiele fachsimpelten. Frustriert knackten wir, die Hinterwäldler, deren Eltern aus pädagogischen Bedenken keine Game Boys verschenkten unter dem großen Baum am Tor zur Straße ein paar Bucheckern.

Während die anderen Mädchen Radschlag übten, setzte ich mich ein Stück abseits auf den mit Himmel-und-Hölle-Kreidekästchen bekritzelten Pausenhofboden zwischen die kratzenden Bucheckernschalen und begann auf meinem Taschenrechner herumzutippen, den ich eigens zu diesem Zweck mitgenommen hatte. Wie gebannt glotzte ich auf das kleine Display, genau wie ich es bei Martin gesehen hatte, wenn er vor seinen Spielen saß. Wenn ich nur hektisch genug mit beiden Daumen tippte, könnte man von weitem meinen, ich hätte doch einen Game Boy. Um es noch überzeugender aussehen zu lassen, zuckte ich beim Drücken der kleinen Tasten zusätzlich ab und zu zusammen, um danach meinen Körper nach rechts und links zu beugen wie unter extremer Fliehkraft auf einem Motorrad in der Kurve. Im Gegensatz zu Martin biss ich mir dabei jedoch nicht auch noch besessen auf meine eigene Zunge, die er beim Spielen permanent aus dem Mund streckte, ohne es zu merken. Vielleicht war es ein Jungsding, jedenfalls entschied ich mich, nicht auch noch die letzte behämmerte Geste der spielerischen Versunkenheit imitieren zu müssen.

»Was machst du denn da?«, fragte Martin, der außer Atem von den Kletterstangen angerannt kam.

»Nix«, sagte ich desinteressiert und tippte weiter, als würde ich eine wichtige Aufgabe für die nächste Mathestunde rechnen.

Martin tickte mich an. »Du bist dran ohne Wiedergabe!«, brüllte er und wollte schon wieder wegrennen. Ich schüttelte den Kopf.

»Doch, bist du! Hier ist nicht Klippo!«, schrie Martin und riss mir den Taschenrechner aus der Hand. Das Gerät fiel auf den Boden. Die über dem Kopf stehenden Ziffern ergaben ein Wort. »ESEL« stand dort, in großen Lettern. »Da, für dich«, sagte ich schnippisch und lief zurück zu den anderen Hinterwäldlern.

*

»Hast du?«, brüllte mein Vater einige Jahre später aus dem Wohnzimmer den Flur entlang durch unsere Wohnung. »Ja-haaa! Ich haaaaaab«, schrie ich zurück und warf meine Zimmertür zu. Im Wohnzimmer ließ mein Vater den Hörer vom grünen Wählscheibentelefon mit der schwarzen Schweinchenschwanzschnur auf die Gabel fallen. Die Leitung wurde nach hinten, in mein Zimmer umgestellt. Endlich konnten Aileen, meine beste Freundin auf der neuen Schule, und ich in Ruhe sprechen. Endlich, das hieß: Nachdem wir den gesamten Vormittag während des Unterrichts Zettelchen geschrieben, jede Pause, den Nachhauseweg und den gesamten Nachmittag miteinander verbracht hatten. Es war nur logisch, dass, wenn wir uns wie jetzt ausnahmsweise einmal nicht sahen, eben auf anderen Wegen durchfunken mussten, was passierte. Durchfunken, das hieß: telefonieren. Oder, eben ganz neu, auch: faxen.

Zuverlässig wie ein Beschattungsunternehmen unserer selbst tickerten wir uns durch diesen neuen Wunderkasten permanent alle relevanten neuen Information durch: dass Aileen nun den Käfig ihrer Wellensittiche putzen würde, dass sie nebenbei die »Euro Hot Thirty« auf Energy hörte, dass ich immer noch nicht für den Biotest gelernt hatte, dass mein Vater schon wieder die Hansons mit der Kelly Family verwechselt hatte, was wir zu Abend essen würden, worüber sich unsere Eltern stritten, ob der Regen nur bei uns oder auch bei ihr, fünf Straßen weiter, fiel. Einmal schickte Aileen mir sogar einen Zwanzig-Mark-Schein. »Mit diesem Geld gehe gleich die neue Maxi von BSB kaufen« stand auf dem kleinen Zettel, der davor durchs Gerät geknattert kam.

Nur manchmal gab es bei unserer Dauerkommunikation ärgerliche Störfaktoren. »Es piept nur!«, rief Jamie, die kleine Schwester von Aileen, verzweifelt durch die Leitung. Sie lernte gerade Telefonieren. »Das ist ein Fax, nimm das an, schnellschnellschnell!«, hörte ich Aileen im Hintergrund brüllen. Wenn man nämlich zu lange wartete, kam statt eines Fax nur ein kryptischer Problembericht aus dem Gerät. Heulend lief Jamie davon.

Doch nicht nur wenn unsere Geräte zwischen uns standen, mussten wir uns ständig Ausschlussmechanismen für ungebetene kleine Geschwister und deren Freunde einfallen lassen. Wenn gerade wieder einmal Lucy Lectric durch unsere Zimmer jodelte, wir dabei endlich den Caught-in-the-Act-Starschnitt an der Wand vervollständigen und nebenbei noch Bärbel Schäfer oder Andreas Türck lauschen wollten, die über den richtigen Zeitpunkt für das erste Mal diskutierten, kurz: wenn wir alleine sein wollten, brauchten wir eine Geheimsprache.

Da der englisch-deutsche Mischsprech, mit dem alle Fünftklässler angeben, sobald sie ihren ersten Vokabeltest bestanden haben – »Wenn we talk in english she doesn’t versteh us« –, aufgrund unsäglicher Peinlichkeit, die auch wir uns bald eingestanden, ausschied, musste am Ende eine neue Privatsprache her.

Wir entwickelten ein geheimes Zeichensystem. Eine Sprache ohne Namen, die aus einer ausgetüftelten Fingerakrobatik bestand, bei der es für jeden Buchstaben eine Kombination gab, wobei nicht jede so simpel wie das Victory-Zeichen für ein »V« war. Mit quengelnden »Menno!«-Rufen begleiteten Aileens Schwester und ihre nervigen Spielgefährtinnen das Entstehen unserer stummen Sprache und gaben, bald nachdem wir uns die ersten höhnischen »H-A-H-A«’s durch die Luft zugemorst hatten, auf, uns zu belagern. Triumphierend verließen wir das Zimmer. Wir mussten sowieso weg von diesem Kindergarten, zum Fernseher, Interaktiv auf VIVA gucken. Es war schließlich Mola-Adebisi-Woche und Tic Tac Toe sollten zu Gast sein.

*

Mit dem Videorekorder kam die Panik auf, etwas zu verpassen. Unsere Aufnahmesucht, die sich zunächst nur auf Sat.1-Film-Filme wie Kevin allein zu Haus, Free Willy und Dangerous Minds beschränkte – wobei die Herausforderung darin bestand, den REC-Knopf genau zur Werbung aus- und zum Filmbeginn wieder anzustellen –, weitete sich rasend auf weitere TV-Events aus. Nicht nur sämtliche Episoden von Marienhof, Unter uns und der 100000 Mark Show füllten bald unsere VHS-Kassetten. Jetzt dokumentierten wir zur Sicherheit auch noch gleich alle großen Medienereignisse mit in unserem großen Archiv. Unsere Chronistenpflicht ging dabei sogar so weit, dass wir die ganz besonders wichtigen von ihnen – den ersten Auftritt der Spice Girls bei MTV, Guildo Horn beim Grand Prix und den vorerst letzten Auftritt von Take That bei Wetten, dass …? – parallel zur Videorekorderaufnahme noch vom laufenden Fernseher abfilmten.

»Heute ist ein historischer Tag«, verkündeten wir mit bedeutungsschwangeren Stimmen hinter den Videokameras unserer Väter, während Bill Clinton seine Rede zur Nicht-Beziehung mit Monica Lewinsky hielt oder Elton John mit zuckender Augenbraue »Candle in the Wind« für die tote Lady Di sang. Für uns war nun alles historisch. Jeder Augenblick war groß und mitteilenswert, und wir konnten deshalb einfach gar nicht genug davon bekommen, ihn zu verdoppeln, zu verdreifachen, zu kopieren und damit festzuhalten.

*

Die wahre und ultimative Innovation trat jedoch erst ein Jahr später in unser Leben. Sie hieß Herr Panek und roch streng. Unser erster Lehrer für Informatik, wie dieses verrückte neue Schulfach hieß, sah aus wie ein Strich in der Landschaft. Seine dürren Arme hingen an ihm herunter bis zu den Knien. Herr Panek war diplomierter Physiker und Mathematiker, Augenkontakt war nicht seine Sache. Beim Sprechen starrte er an die Wand des Computerraumes, in dem er seinen Unterricht gab, von dem niemand wusste, was er uns nutzen sollte. Skeptisch saßen wir vor den großen grauen, eckigen Kisten, die stetig und angestrengt vor sich hin knatterten.

Langsam faltete Herr Panek seine langen kreidigen Hände vor seinem immer gleichen beigen Hemd, von dem ein starker staubig-säuerlicher Geruch ausging. Strohig standen seine grauen Haare zu Berge. »Hmm«, brummte er. Nervös begannen seine Hände sich aneinanderzureiben, als wollten sie sich von mehligem Teig befreien oder Feuer mit einem imaginären Stöckchen machen. Laut sog Herr Panek die Luft durch seine Lippen ein. Es hörte sich an wie ein verstopfter Staubsauger. Wir schwiegen.

»Jaaaa?«, sagte einer der Jungs fragend und grinste böse. Das Staubsaugeratmen wurde heftiger. Ohne Zweifel: Wir hatten einen krassen Nerd vor uns. Nur, dass das keiner von uns laut aussprach. Weil es diesen Begriff damals einfach noch nicht gab.

»Wer kann mit zehn Fingern tippen?«, spuckte Herr Panek plötzlich seine erste Frage aus.

Niemand antwortete. Bis es »dongelte«, verweigerten wir konsequent die Mitarbeit. Die »Panne« wie unser Informatiklehrer ab dieser ersten Stunde nur noch hieß, hatte verloren, bevor er je angefangen hatte.

*

Im folgenden Schuljahr machte Herr Panek uns mit dem sogenannten WWW bekannt. Niemanden interessierte es. Die Jungs wollten lieber weiter Magic Cards tauschen und wir Mädchen den Psycho-Test aus der Bravo zu Ende machen. Herr Panek aber wollte »surfen«.

»Wir surfen jetzt … nach … Hawaii!«, zischte er aufgeregt. Während unser Lehrer noch eine Weile verschmitzt über sein geniales Wortspiel gluckste, wartete die Klasse gelangweilt hinter seinem Rücken. Wir alle hatten uns vor einem speziell verkabelten Computer versammeln müssen, um dabei zuzusehen, wie sich erstmalig eine Internetseite vor unseren Augen öffnen würde. Nachdem einige Sekunden und dann eine gesamte Minute lang immer noch nichts geschehen war, begannen die Jungs, laut zu gähnen. Die Homepage auf dem Bildschirm lud sich nicht. Erst nach fünf Minuten ergaben die Teilchen die irgendwann erschienen langsam ein Bild.

»Ein Gebäude!«, rief irgendwer von weiter hinten.

Es wurde unruhig im Klassenraum. Irgendetwas war anders als sonst. Vor dem Haus auf dem Bildschirm sah man nun viele kleine lachende Kinder in Schuluniformen. Die erste E-Mail unseres Lebens, erklärte Herr Panek feierlich, sollte nun an sie, direkt nach Honolulu, gehen.

»Ihre Nachricht wurde gesendet«, stand einige weitere Minuten später, nachdem die langen Kreidefinger ein paar Sätze auf Englisch eingetippt und einmal auf die Maus geklickt hatten, in einem grauen Kasten vor unseren Augen.

Die Euphorie war still, aber überall fühlbar. Dort, endlose Flugstunden weit entfernt, hatte gerade eben jemand erfahren, dass es uns gab. Wir waren hier und gleichzeitig da, am anderen Ende der Welt. Beeindruckte Ruhe legte sich über unseren Computerraum. Zum ersten und letzten Mal hatte Herr Panek, der Mensch, der dieses Wunder möglich gemacht hatte, so etwas wie Respekt erlangt. Wenigstens dieses eine Mal empfanden wir kurz so etwas wie Achtung vor ihm. Zumindest, bis es dongelte.

*

In den folgenden Jahren rauschten die Innovationen durch unser Leben wie ein Sturzbach. Es gab plötzlich Geräte ohne Schnur, Telefonzellen, die nur noch mit Karte funktionierten, kurzzeitig tauchten so merkwürdige Dinge wie Pager auf, die nur eine Nummer oder einzelne Worte anzeigten und genau so piepten, wie es die kleinen Geräte in den Taschen von Dr. Carter oder Dr. Ross bei Emergency Room oder der Ärzte in Auf alle Fälle Stefanie taten, wenn wieder einmal eine wichtige OP anstand. Zusammen mit der MiniDisc verschwanden diese kurzen Elektro-Moden dann allerdings auch schnell wieder, um Platz zu machen für neue Geräte.

»Ich finde Handys schlimm«, äußerte sich in diesen Wochen jeder Zweite in der Klasse wichtigtuerisch. Nur um spätestens nach den Sommerferien mit ihrem brandneuen klobigen Siemens- oder Nokia-Apparaten herumzurennen und sich lautstark darüber zu beklagen, dass sie sich einfach nicht entscheiden konnten, welche der SMS sie in ihrem Speicher löschen sollten, der ärgerlicherweise ja nur Platz für genau fünf Nachrichten ließ.

Es war die Zeit, in der die Smileys geboren wurden. Die Zeit, in der die Frage »Wo bist du grade?« zur ultimativen Begrüßungsformel wurde, die Liebesbekundung »Hab-dich-ganz-doll-lieb« zu HDGDL mutierte. Und in der es sich entschied, dass eine von zwei Hosentaschen von nun an für immer eine eckige Form haben würde.

Irgendwann in dieser Zeit muss es geschehen sein.

Irgendwann in diesem Sturzbach der Wochen, Monate und Jahre unserer Jugend, kurz vor dem Abschluss der Schule, zu dem die Parallelklasse Herrn Panek anonym ein Deo ins Lehrerzimmer stellte, irgendwann zwischen dem Moment, in dem Rose mit zitternden Lippen ihren Jack vom Floß der Titanic-Ruinen ins Eiswasser gleiten ließ, Echt »Wir haben’s getan« durch unsere alten Kinderzimmer sangen und die Türme des elften Septembers zusammenbrachen, muss es geboren worden sein: unser zweites Ich. Das Gerät, das ab jetzt nur noch für uns da sein würde. Die Maschine, die unsere Stimme übernehmen, verdoppeln, verdreifachen und vervielfältigen und uns fortan auf Schritt und Tritt begleiten würde.

*

Leise, still, fast unbemerkt ist dieses Tamagotchi unserer selbst eines Tages einfach geschlüpft. So leise sogar, dass die wahre Revolution zwischen all den anderen neuen Geräten, Kabeln, Knöpfen, PIN-Nummern, Passwörtern, Accounts und Adressen fast untergegangen wäre: Nicht nur die Geräte hatten sich verdoppelt – sondern auch wir selbst.

Nina Pauer, Hamburg, im Sommer 2012

Kontrolle

Wer beherrscht hier wen?

Dieses Piepen. Markus tritt einen Schritt von der Tür zurück. Das Piepen wird lauter, ohrenbetäubend.

»Mäuschen, hier, Papa möchte mit dir sprechen.«

Markus drückt das Telefon näher ans Ohr.

»Papa?«

»Ja, Timmi, ich hör dich! Der Zug fährt hier nur gerade los«, ruft er durch das penetrante Geräusch hindurch. »Wie geht’s dir? Wie hast du geschlafen?«, schreit er, »Freust du dich auf die KiTa, Timmi?«

Es ist die zweite Woche des Jahres.

Vor zwölf Tagen sind sie aus dem Urlaub gekommen. Sechsmal hat Markus seitdem das piepende Signal des losrollenden Zuges genau an dieser Stelle gehört. Sechsmal hat es hier die Gespräche mit seinem kleinen Sohn gestört, sechsmal auf Gleis 7, sechsmal um 8:52 Uhr. Sechsmal zu viel.

Der Zug fährt los.

Markus hört seinen Sohn leise ins Telefon atmen. Am Anfang ist Timmi jedes Mal schüchtern, ans Telefonieren muss er sich immer erst ein bisschen gewöhnen.

»Sing Papa doch noch mal das von gestern vor, hm?«, hört er Lena im Hintergrund sagen.

Draußen ziehen die kleinen bunten Häuser der Stadt vorbei. Eigentlich hasst Markus diesen Ort. Jeden zweiten Morgen denkt er das wieder. Er seufzt.

Der Zug ist noch so gut wie leer. Er ist wie eine Hülle, eine leere Form oder eine Kulisse, die sich noch nicht mit Menschen gefüllt hat. Timmi blubbert jetzt selbstversunken durch die Leitung. Ein beschnauzter Schaffner, der gefaltete Fahrplanbroschüren auf die Sitze verteilt, quetscht sich an Markus vorbei. Er riecht nach Zigaretten und Kälte. Markus schiebt seinen Rollkoffer an die Seite, tritt hinunter auf die Stufe zur Tür und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand gegenüber der elektronischen Zuganzeige, die die noch frühe Uhrzeit und die noch langsame Geschwindigkeit anzeigt. Er schließt die Augen.

Markus hat viel zu wenig geschlafen. Drei Stunden hat er gestern Nacht bis in die Morgenstunden hinein E-Mails beantwortet, Termine bestätigt, verschoben und abgesagt, während er auf Julians nächste überarbeitete Version der Texte für die Homepage gewartet hatte. Das neue Projekt geht jetzt in die heiße Phase. In zwei Wochen wollen sie online gehen.

»Hallo?«, sagt Lena am anderen Ende. »Jetzt ist er weggelaufen«, lacht sie.

Markus öffnet die Augen. Die Welt ist zu grell. Es ist einfach noch zu früh, ihm wird schwindelig. Wahllos bleibt sein müder Blick auf der Bahncard-Werbung gegenüber haften und fixiert die Buchstaben: Max Mustermann. Der Schwindel wird etwas weniger. Wie oft hatte Markus diese behämmerte Werbung schon angestarrt.

Sechsmal zu viel, denkt er und reibt sich die Augen. Während er zuhört, wie Lena Timmi am anderen Ende der Leitung in dessen Kinderzimmer nach und nach anzieht, klopft es mittlerweile schon zum dritten Mal bei Markus auf dem Handy an. Es geht auf neun Uhr zu. Um neun Uhr, so steht es auf ihrer Internetseite, öffnet Markus’ kleine mobile Firma jeden Tag die Tore. Neun Uhr, das ist der Startschuss zum Wahnsinn. Jeden Tag von neuem.

»Wie habt ihr geschlafen?«, fragt Markus Lena mild. Er versucht, die drängelnden Gedanken an die verpassten Anrufe zu verdrängen. Es kann doch nicht sein, dass er schon unkonzentriert ist, jetzt, bevor der Tag auch nur richtig angefangen hat.

Reiß dich zusammen, denkt Markus, als Lena zu erzählen beginnt. Reiß dich zusammen.

*

Ulla steht am Bahnsteig. Den kurzen Weg zum Bahnhof ist sie zu Fuß gegangen. Es war glatt, auf den Pfützen hatte sogar eine leichte Eisschicht gelegen. Heute Morgen, um sechs, als die Nervosität sie geweckt hatte, konnte Ulla vom Küchentisch aus die Eiskristalle am Fenster zählen. Zwölf kleine Kaleidoskope, die in zwei Stunden das Licht, das, was in anderen Ländern in dieser Jahreszeit Sonne hieß, brechen würden.

Eine Stunde hatte Ulla so dagesessen, vor ihrem Jasmintee, in der Stille, in die eine Stunde später, pünktlich um fünf nach sieben, Wolfgang mit seinen Morgengeräuschen, dem Blubbern des Wasserkochers, den Nachrichten auf Deutschlandradio und der Suche nach dem richtigen Schlips eintreten würde. Zum Glück.

Doch dieser Tag würde sowieso kein weiterer sein, der Ulla, schon bevor er richtig angefangen hatte, mit seiner Stille ersticken würde. Heute war schließlich ein besonderer Tag.

Noch neun Minuten bis zur Abfahrt.

Ulla zieht ihren Schal enger um den Hals. Zum dritten Mal kontrolliert Ulla, ob ihre Fahrkarte in der Tasche liegt, zum fünften Mal merkt sie sich die Sitzplatzreservierung und checkt zum zweiten Mal den Wagenstand. Sie steht genau richtig. Genau hier muss sie einsteigen, um Wagen vier zu erwischen.

Noch acht Minuten.

Ulla lächelt. Auch, wenn sie es selber lächerlich findet, wegen einer zweistündigen Zugfahrt aufgeregt zu sein: Sie freut sich auf ihre kleine Reise. Sie freut sich auf das Gefühl, unterwegs zu sein. Darauf, dass etwas in Bewegung gerät, dass etwas passiert. Sie freut sich, ihre Tochter zu sehen. Und, irgendwie, auch auf ihre Mutter. Auch wenn das Ziel der Reise heiterer sein könnte.

*

Anna rennt die Treppen hinunter. Ihre Jacke ist offen, die Mütze sitzt schief, die Haare konnte sie nicht mehr ganz trocken föhnen. Das Kopfhörerkabel ihres iPhones hängt ihr aus der Jeanstasche, beim Laufen verheddern sich die Hörer zwischen Annas Beinen auf der Höhe der Knie, der Rucksack auf ihrem Rücken ist viel zu schwer, und ihre Finger, die die Klarsichtfolie mit den Unterlagen, das Ladegerät und die Post, die Anna eben noch schnell im Vorbeirennen aus dem Briefkasten gezogen hat, halten, frieren, weil die Handschuhe vergessen auf dem Küchentisch liegen. Während das zwischen ihrem Ohr und der Schulter eingeklemmte Telefon die Nummer ihrer Mutter wählt, scannt Anna ihre Post. Werbung, ein größerer Umschlag, drei Briefe. Der erste ist von dem Veranstalter, mit dem Anna eine Werbeveranstaltung für den Frühling plant. »Liebe Anna, hier die offiziellen Unterlagen …«

Ulla meldet sich.

»Mama, hey, in welchem Wagen treffen wir uns noch mal?«, ruft Anna durch den Lärm des Busses, der sie gerade fast überfahren hat, weil sie nicht richtig hingeschaut hat. Die zwei kleinen Briefe sind Rechnungen, im anderen Umschlag liegt eine selbstgebastelte Karte mit Foto: Julias und Svens Baby war zur Welt gekommen.

»Krass«, murmelt Anna. »Nein, nichts, ich hab hier nur grad was gesehen, ich bin in zwei Minuten bei dir«, sagt sie zu Ulla. »Bisgleichtschüß«, würgt sie das Telefonat ab. Keuchend schnappt sie nach Luft. Im Takt ihrer schnellen Schritte schlagen die kleinen Kopfhörerknöpfe von einem Knie zum anderen. Noch einmal checkt Anna die S-Bahn-Verbindung auf dem Handy. Sie hat keine Zeit die Hörerkabel zu entwirren, sonst verpasst sie die Bahn. Anna läuft schneller. Das Telefon klingelt schon wieder. Der Wecker. Ungeduldig drückt Anna den Schlummermodus weg. Auf der Straße liegt Schneematsch. Ihr ist kalt, sie hat den Wind unterschätzt. Eine Frau mit Kinderwagen steht im Weg. Am Rand der geparkten Autos auf der anderen Straßenseite, auf die sie wechselt, rennt Anna nun weiter. Wenn sie rennt, kann sie die Bahn noch kriegen. Das Telefon klingelt wieder. Eine Erinnerung: Pille nehmen. Eine zweite Erinnerung: Zahnarzttermin verschieben. Es klingelt ein drittes Mal: Ulla.

»Ich wollte nur sagen«, hört Anna die Stimme ihrer Mutter, »ich hab dir ein Brot geschmiert, du brauchst dir nichts mehr kaufen. Das wollte ich nur sagen.«

Anna seufzt.

»Ja, dankebisgleichtschüß«, würgt sie das Telefonat ab.

Zum Bäcker hätte sie es sowieso nicht mehr geschafft. Frühstücken schafft Anna eigentlich nie. Und heute schon mal gar nicht.

*

Ulla sieht Anna schon durchs Fenster. Freudig beugt sie sich über den Vierertisch und klopft gegen die Scheibe. Anna steht auf dem Gleis direkt an der Stelle, an der Ulla eben gestanden hat. Genau vor Wagen vier, direkt an der Stelle, an der Ulla jetzt nicht mehr wartet, sondern von der anderen Seite, aus dem Zuginneren klopft.

Doch Anna hört sie nicht. Sie hat Musik im Ohr. Ulla winkt. Doch Anna sieht sie nicht. Abwechselnd suchen ihre Augen den Zug nach den Wagennummern ab, hektisch wischt sie auf ihrem Handy herum und entwirrt gleichzeitig die Schnüre ihrer Kopfhörer mit der vollen Hand, in der sie einen Haufen Papiere und Umschläge hält. Ulla lächelt. Annas Mütze sitzt schief, auf ihrer Stirn zeichnet sich eine kleine senkrechte Falte ab. Die hatte Anna schon als Kleinkind, wenn sie sich ganz stark auf etwas konzentrierte.

»Oh, Verzeihung«, entschuldigt sich Ulla, als sie bemerkt, dass ihre Jacke beim Winken den Bildschirm des auf dem Tisch aufgeklappten Notebooks gestreift hat. Der Mann gegenüber lächelt. Er sieht müde aus. Ulla setzt sich ihm schräg gegenüber auf den Gangplatz. Den Platz am Fenster lässt sie frei. Ihre Tochter muss hinausgucken können. Diese Regel war genauso wichtig wie die, dass Anna immer in Fahrtrichtung fahren muss, weil ihr sonst schlecht wird. Das war schon als Kleinkind so.

*

Anna und Markus stoßen im Gang, da wo die Toiletten sich wie große Raumschiffkapseln ins Zuginnere ausbeulen, zusammen. Beide blicken kurz auf.

»Tut mir leid«, sagt Markus, er stellt sich an die Wand und zieht den Bauch ein. »Nein, ich mein nicht dich«, versichert er in sein Handy sprechend und wechselt den Hörer von einem zum anderen Ohr, damit er Anna nicht mit seinem Ellenbogen im Weg ist.

»Mir auch«, flüstert Anna, sie lächelt entschuldigend und huscht an Markus vorbei ins Großraumabteil. »Sorry, ich hör dir zu«, sagt sie zu Marie, die die Unterbrechung aber gar nicht wahrgenommen hat. Annas beste Freundin steht am Gate in München, wo sie gestern einen Vorstellungstermin hatte. Schon dreimal hatte sie Anna in diesem Telefonat erzählt, wie der Termin gelaufen war, dreimal, immer wieder, von A bis Z. Gerade begann sie wieder bei A, A wie Analyse.

»Weißt du, ich bin mir da so unsicher, wie die das jetzt fanden«, sprudeln Maries Wörter in Annas Ohr, ihre Stimme klingt noch verzweifelter als gestern Nacht. »Also, war das jetzt nur so das Standard-Dankeschön-wir-melden-uns-bei-Ihnen, oder meinten die das ernst? Also, die Frau da war ja so scheißfreundlich in ihrer E-Mail gestern, weißt du, so Jaja-danke-ganz-herzliche-Grüße-und-guten-Flug-zurück-durch-die-sibirische-Kälte-blabla, also entweder war die halt extrafreundlich, weil sie es wirklich so meinte, oder sie meint es eben nur so standard-freundlich, weil sie Mitleid mit mir hatte, weil sie vielleicht schon längst weiß, dass ich den Job nicht bekomme? Also wenn man schreibt »ganz« herzlich und dann noch so ’ne Wetterangabe dazu macht, ist es ja eigentlich nur so pseudo-nett, oder? Also jetzt auch nicht unnett. Einfach nur nichtssagend. Also neutral. Also objektiv freundlich, aber mehr eben halt auch nicht. Oder was meinst du?!?«

»Hmm.« Anna hatte die Mail gestern auch schon dreimal hin und her analysiert. Und Marie alle drei Male akribisch genau ihre Meinung dazu erklärt.

Vor der Automatiktür zum Großraumwaggon macht Anna Halt. Einen Moment lang reagiert der elektronische Bewegungssensor nicht. Vom Waggoninneren winkt Ulla, die im Gang vor dem Tisch nach ihr Ausschau hält, ihr mit beiden Händen zu. Mit den Umschlägen winkt Anna durch die Scheibe hindurch zurück. Das Winken öffnet die Tür.

»Du«, fragt Anna in Maries Redefluss hinein, »kann ich dich vielleicht in einer Sekunde zurückrufen, Marie? Ulla steht da schon.«

»Klar, Boarding ist aber schon in fünf Minuten. Bisgleichtschüß!«, ruft Marie und legt auf.

Anna schiebt ihre Mütze zurecht. Auf dem Weg durch den Gang zu Ulla piept das Telefon in ihrer Hand fünfmal. Ich muss unbedingt ausstellen, dass Facebook diese blöden Push-Nachrichten schickt, denkt Anna und schaltet sofort wieder den Touchscreen aus.

»Hallo Mama«, lächelt sie.

Plötzlich fühlt es sich ganz unverhofft an, Ulla hier zu treffen. Hier, in dieser Zugwelt, in der Personen wie ihre Mutter sonst schließlich nur in Form von Telefonanrufen oder SMS auftauchen. Denn sonst fuhr Anna immer alleine in der Weltgeschichte zu ihren tausend Meetings und Präsentationen herum. Wann sie das letzte Mal mit ihrer Mutter zusammen Zug gefahren war, daran konnte sie sich kaum noch erinnern. Nur, dass es früher immer unglaublich viel Spaß gemacht hatte.

Strahlend fällt Ulla in Annas Arme. Wie immer tritt sie danach noch mal einen Schritt zurück, um zu gucken, wie Anna aussieht. Sie strahlt nun noch mehr. »Gut siehst du aus«, sagt Ulla fröhlich. Einladend deutet sie mit beiden Händen auf den Platz am Fenster.

Anna lächelt. Ein Glück, dass ich gestern schon vorgearbeitet habe, denkt sie. Die Fahrt sollte schließlich nur ihnen beiden gehören.

*

Wie es ist, die große Liebe gefunden zu haben? Wie es sich anfühlt, diese maximale, absolute Nähe, das Verschmolzensein und das blinde Vertrauen mit einem anderen Wesen zu teilen?

Das Gefühl ist unbeschreiblich! Es ist einzigartig.

In der Beziehung zu unserem geliebten Ich-Gerät ist es zum allerersten Mal so, dass wir uns wirklich öffnen. Es weiß alles über uns. Ohne seine stetige Anwesenheit wären wir schlichtweg aufgeschmissen. Schon jetzt sind wir uns deshalb ganz sicher: Nie wieder wollen wir ohne es sein.

Unser geliebtes Tamagotchi ist das Erste, was wir morgens sehen, und das Letzte, was wir abends anschauen. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit lassen wir alles stehen und liegen, um zu ihm zu rennen, sobald es uns ruft. Den ganzen Tag lang sorgen und umhegen wir es, wenn wir mit ihm unterwegs sind, packen wir es sicher in schützende Hüllen ein. Sooft wir nur können, streicheln wir es, wir geben ihm so viel von unserer Körperwärme wie möglich, damit ihm nicht kalt wird, wenn wir alle paar Sekunden nachschauen, ob es etwas braucht.

Sobald unser kleines Gerät piepend oder brummend auf sich aufmerksam macht, füttern wir es. Manchmal nur mit unserer Aufmerksamkeit, meistens aber gleich mit seinem Lieblingsfutter – einem ausgewogenen Mix aus Nachrichten, Erinnerungen und Sucheinträgen, von dem es gar nicht genug kriegen kann. Sorgsam flößen wir ihm ab und zu ein wenig Saft aus der Steckdose ein, damit es all seine Nahrung auch gut verkraftet und danach in eine seiner kurzen Schlummerpausen abtauchen kann. Friedlich und still liegt es dann einfach nur da und träumt vor sich hin. Bis wir es wieder antippen, damit wir sehen können, wie es ihm geht. Oder es mitnehmen, hinaus in die Welt.

Denn ob wir gerade mit jemandem sprechen, ob wir arbeiten, unterwegs sind, einkaufen, aus der Dusche steigen, uns schminken, rasieren oder auf dem Klo sitzen – unser Gerät ist immer bei uns. Ganz nah tragen wir es an unserem Herzen. Damit es daran teilhat, wie wir durch unseren Alltag laufen, wie wir unser Leben gestalten, wie wir lachen, weinen, uns unterhalten, wie wir kochen, feiern, tanzen, betrunken sind, Sex haben oder einfach nur auf dem Sofa sitzen und dabei fernsehen und einschlafen. Bei all diesen Dingen und den endlos vielen anderen, die unser Leben ausmachen, wollen wir die Nähe unseres kleinen geliebten Wesens spüren. Wir wollen sie eins zu eins mit ihm teilen.

Denn was, wenn nicht das, ist schließlich die große Liebe?

*

Müde lässt Markus sich auf die Reihe herunterklappbarer Sitze hinter der Raumschiff-Klokabine sinken.

»Lena, versprochen. Ich denke daran. Ich schreib’s mir sofort auf. Versprochen, versprochen, versprochen.«

Seufzend klemmt Markus sein Handy zwischen das rechte Ohr und die rechte Schulter und beugt sich zu seinen Füßen hinunter. Seine Schnürsenkel sind aufgegangen. Der Zug fährt wieder an. Es ruckelt. An Markus’ Kopf ziehen Hosenbeine vorbei. Die neu dazugestiegenen Fahrgäste bringen Schneematsch und Koffer mit in den Zug.

»Ernsthaft, Süße, okay?«, fragt Markus in die Stille. Er gibt das Schuhprojekt wieder auf. Von den Hosenbeinen wendet er sich ab und sieht zum Fenster. Immerhin ist hier Max-Mustermann-freie Zone.

Lena schweigt.

Kaum hatte Markus sich nach dem ersten Telefonat mit ihr und Timmi einen freien Platz gesucht und sein Laptop auf dem Vierertisch, an dem niemand außer einer sympathisch und vor allem friedlich aussehenden älteren Frau saß, aufgeklappt, hatte sein Handy schon wieder geklingelt. Anders als versprochen hatte Markus Lena noch immer nicht den Kontakt eines Kollegen zukommen lassen, der Lenas bester Freundin etwas bei der Jobsuche nutzen könnte. Er hatte es vergessen. Sechsmal schon. Und natürlich, Lena hatte recht: Es waren sechs Male zu viel.

Angespannt klappt Markus den Sitz neben sich, auf dem er seinen Arm abgelegt hat, herunter und wieder hoch.

Lena schweigt immer noch.

»Okay«, seufzt sie schließlich. »Also noch mal: Gute Fahrt«, sagt sie in der für sie typischen Mattheit, die nicht Müdigkeit, sondern strenges Beleidigtsein signalisiert, und legt auf.

Resigniert vergräbt Markus das Gesicht in seinem über den gepolsterten Kanten der Klappsitze angewinkelten Ellenbogen. An Lenas Stelle würde er sein eigenes Vergessen auch als Gleichgültigkeit auslegen. Dabei ist es das nicht. Überhaupt nicht. Sein Kopf ist einfach nur viel zu voll.

In der Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern geht Markus innerlich die nächsten Stunden durch. Nachher muss er vom Zug aus direkt zu einem Treffen mit dem neuen Kunden. Gleich muss er dringend anfangen zu arbeiten, er braucht jede Minute dieser verdammten Zugfahrt.

Markus atmet kurz durch und taucht wieder auf.

Er blickt aus dem Fenster auf die Grafittiwände und Gebäudemauern kurz vor dem Hauptbahnhof. Ihr bräuchtet alle mal einen Anstrich, denkt er müde. Die Wand um den Schriftzug »die eigene Geschichte« sah jedes Mal schmuddeliger aus.

Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Es wird dunkel. Langsam gewöhnen sich Markus’ Augen an die Zugbeleuchtung. Die Menschen im Gang sind lange vorbeigezogen. Sein Blick wandert zur leeren Gepäckablage gegenüber. Sie sieht merkwürdig aus, wie das zweistöckige Bett einer Jugendherberge oder so. Schlafen, denkt Markus. Plötzlich ist da wieder diese Erschöpfung, bleiern legt sie sich auf seine Augen.

Erst das Knattern der Ansage lässt Markus aufschrecken. »Noch einmal herzlich willkommen in diesem ICE auf der Reise von …« Entschlossen setzt Markus sich auf. Zielsicher klickt er sich in seinem Handy zu den Erinnerungen durch. »LENA KONTAKT!!!« tippt er in die olle Nokia-Gurke, die er vor ein paar Wochen wieder aus irgendeiner Schublade mit alten heimatlosen Kabeln und Aufladegeräten gefischt hatte. Noch bevor er die Notiz abspeichern kann, mitten im dritten Ausrufezeichen, klingelt es. Das Büro. Julian. Es war Viertel nach neun. Markus atmet noch einmal durch. Er reibt sich die Augen, stretcht seinen Oberkörper, zieht seine Schultern nach hinten, kugelt einmal den Kopf von links nach rechts und zurück. »Ich bleibe bei mir«, denkt er. Ich bleibe bei mir, ich bleibe bei mir, ich bleibe bei mir. Bevor er abhebt, zählt Markus bis drei. Erst dann lässt er den Wahnsinn beginnen.

*

Wann genau das Leben so wahnsinnig geworden ist, kann Markus gar nicht so genau sagen. Irgendwann im Studium muss es angefangen haben. Irgendwann, als er Julian kennengelernt hat.

Sie hatten sich sofort ineinander verliebt.

Ihr erster Blickkontakt war ein Augenrollen gewesen. Irgendein Medienmädchen, wie Julian sie später immer nannte, hatte ein Referat über das Problem des Subjektivismus von Medienakteuren und deren Berichterstattung gehalten. Es war zum Einschlafen gewesen. In der Pause hatten Markus und Julian das Seminar verlassen und waren lieber einen Kaffee trinken gegangen. Bis es Abend wurde, und sie auf Bier umstiegen.

Am Ende war es wie in einer dieser Geschichten gewesen, in denen Leute ihre Firmenmythen auf Bierdeckel kritzelten. Es passte einfach auf Anhieb, alles: Ihre Hirne, ihre Ideen, ihr Humor, alles schien sich perfekt zusammenzufinden. Julian und Markus saugten sich schon am Tag ihres Kennenlernens direkt aneinander fest. Und hatten sich seitdem nicht mehr losgelassen.