Lichtblicke - Reiner Lohse - E-Book

Lichtblicke E-Book

Reiner Lohse

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Beschreibung

Jeder Mensch gerät irgendwann in eigenartige Situationen, die zunächst nicht beherrschbar erscheinen: Vielleicht eine berufliche Herausforderung, ein Projekt, eine Erfindung oder sogar der Traum von einer hübschen Lebenspartnerin. Dann beginnen Sie nach Objekten und Lösungen zu suchen, bis sich am Horizont Ihrers Vorstellungsvermögens ein Lichtblick abzeichnet. Dann liegt alles in Ihrer Hand, das Beste mit voller Freude daraus zu machen. Uns lag viel daran, diese Fähigkeit auch den Kindern zu übertragen. Selbst der tägliche Sonnenaufgang mit seiner Farbenpracht kann Ihnen viele neue Gedanken und Emotionen vermitteln. Das Buch vermittelt ausgehend von spannenden Familiengeschichten eine Vielzahl von Anregungen. Sie werden begeistert sein.

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Dieses Buch ist meiner lieben Frau

Jutta und allen unseren Kindern und

Schwiegerkindern sowie unserer

Enkeltochter Carlotta mit den besten

Wünschen für eine frohe Zukunft gewidmet.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Kindheit in uralten Zeiten

1.1

.

Damals in Altona

1.2

.

Kindheit zwischen Spannung und Armut

1.2

.

Heinrich in Nienburg

1.3

.

Bildschnitzerei in München

1.4

.

Kindheit meines Großvaters

1.6. Kindheitstage meines Vaters Kurt

Krieg und Frieden

2.1. Flucht aus der Flammenhölle

2.2. Russische Besatzungsmacht

Meine Kindheit nach dem Kriege

3.1. Ungewöhnlicher Anfang

3.2. Meine Kindheitstage

3.3. Legendäre Altstoffsammlung

3.4. Mein Fahrrad – Traum und Wirklichkeit

3.5. Bei den Großeltern in der Freimühle

3.6. Lagerferien

3.7. Die Riedel-Therapie

3.8. Unsere Formel 1

3.9. Winterlicher Unfall

3.10. Zu faul für die Kirche?

Mit Mut und Tatendrang

4.1. Jugendweihe

4.2. Herings Filets

4.3. Lehrzeit

4.4. Sportschau

4.5. Heiße Eisen

4.6. Studentenleben in Riesa

4.6.1. Eine 8-Bett-WG für ein erfolgreiches Studium

4.6.2. Die Wodka-Story

4.6.3. Der Fahrraddiebstahl

4.6.4. Die mysteriöse ASTOR-Runde

4.6.5. Endspurt

Liebe Liebe

5.1. Die Vorgeschichte

5.2. Der Tag X

5.3. Der Morgen danach

5.4. Wie ich Jutta wirklich kennenlernte

5.5. Hungry Eyes – Hungrige Augen

5.6. „Ein Zehntel“ Hochzeit

5.7. Sommer 71

5.8. Der Serviermeister und die „TITANIC“

5.9. Auf den Spuren Tucholskys

5.10. Affäre mit einem Model

5.11. Herbstnebel

5.12. Der Kater mit den grünen Augen

Hochzeit machen – das wäre wunderschön

6.1. Der Hochzeitstag

6.2. Unsere Hochzeitsreisen

Eine glückliche Familie

7.1. Unter einem Dach

7.2 . Neues Glück

7.3. Die „Sylvana-Combo“

7.4. Nach einem heißen Sommer

7.5. Grit hat jetzt ein Schwesterchen

7.6. Lichtblicke – neue Wohnung

7.7 In Pelzkuhl auf Beerenjagd

7.8. Rügenradio mit dem Meeresweihnachtsmann

7.9. Der Kartoffelkönig

7.10. Schwanenhälse

7.11. Sex im Politikstudium

7.12. Rekonstruktionen

7.13. Sven, der „junge Mann“

7.14. Die nächste Generation

7.15. Gefährliches Abenteuer in der Tatra

Im Ausland leben und arbeiten

8.1. Neue Heimat Warschau

8.2. Unsere Ausreise

8.3. Kriegszustand

8.4. Die Evakuierung

8.5. Vertrauen gegen Vertrauen

8.6. „Kohlen-Rouladen“

8.7. Osterspaziergang

8.8. Der Zwischenfall von Brest

8.9. Deutsch-Sowjetische Freundschaft damals

8.10. Ein Mega-Symposium

8.11. Die schönsten Urlaubstage

8.12 Eine Nacht im „Polonia“

Tatort Familie

9.1. Tod auf dem Hühnerhof

9.2. Kopf ab

9.3. Schüsse vor dem Haus

9.4. Süßes Geheimnis

9.5. Die zerbrochene Tür

9.6. Princess of ice

9.7. Wenn der Nachbar seine Frau mit dem Stuhlbein frisiert

9.8. Attacke gegen ein Paar

9.9. Einbrecher im Kühlschrank gefasst

9.10. Polizeiruf 110

9.11. Vermisst

9.12. Geheimnisvolle Pakete

9.13. Gestohlene Kunstwerke

9.14. Betrogen wie am jüngsten Tag

Was sonst noch passierte

10.1. Badetag

10.2. Stinkender Skandal

10.3. Schweizer Träume

10.4. Kurschatten

10.5. Royales Leben

10.6. Der Berggeist spukt im Striegistal

10.7. Die blaue Maus

10.8. Sonderbare Träume

Nachwort

Verwendete Literatur

Vorwort

Ganz bestimmt befanden Sie sich in Ihrem Leben manchmal oder sogar oft in fragwürdigen Situationen, woraus Sie zunächst selbst keine Lösung erkennen konnten. Dann begannen Sie, nach Möglichkeiten zu suchen, um einen passenden Weg mit einer Lösung zu finden. So manches Mal halfen der Rat oder die Idee eines Freundes, ein altes Sprichwort oder ein Buch wie dieses. Bald konnten Sie „Lichtblicke“ am Horizont Ihres Vorstellungsvermögens erkennen und neue Wege in eine glückliche Zukunft erschließen. Dieses kleine Werk soll dazu beitragen, aus vielen Erlebnissen heraus Anregungen und Hilfen zu geben, die Schlussfolgerungen für die turbulente Gegenwart erlauben. Aber mehr noch: Auch unseren Kindern zu lernen, eigene „Lichtblicke“ zu erkennen und zu verwerten, ist ein Anliegen dieses Büchleins.

Dieses Buch, das gerade vor Ihnen liegt, ist in vielerlei Hinsicht etwas ganz Bsonderes: Es erfasst viele Geschehnisse aus unserem privaten Familienleben, aus Kindheitstagen, genauso wie aus Bildung und Beruf. Dabei erblickten zahlreiche „Familiengeheimnisse“ sozusagen „das Licht der Welt“, denn noch nie haben wir solche Details oder Einzelheiten davon veröffentlicht. Wenn Sie das kleine Kunstwerk lesen, werden Sie recht oft auf Spaß und Humor, aber auch auf fast „Unglaubliches“, Mystisches, ja sogar auf „kriminalistische Fälle“ stoßen… Sie alle sind wahre Begebenheiten. Nichts wurde frei erfunden und alles hat tiefen wahrheitlichen Charakter und echte, aus dem Leben gegriffene Hintergründe. Sie werden sich an vielen Stellen fragen: „So etwas kann doch niemals so passiert sein!“. Und doch entsprechen die einzelnen Familiengeschichten, aus dem Leben gegriffen, tatsächlichen Vorkommnissen.

Wenn auch das Leben in unserer Familie im Mittelpunkt der Geschichten steht, so haben wir den Kreis der Erlebnisse auch auf Eltern, Großeltern und sogar Urgroßeltern ausgeweitet, weil viele Lebenssituationen aus früheren Zeiten heute für uns kaum noch vorstellbar sind. Dies betrifft besonders das Geschehen in Kindheit und Jugend. Vielfach unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, haben Kinder damals im 18. und 19. Jahrhundert mit Ideenreichtum und Einfachheit viele Dinge „erfunden“, die man durchaus auf die Gegenwart symbolisch oder direkt mit Kreativität und Einfallsreichtum übertragen kann.

Somit ist gewissermaßen eine Sammlung historischer und doch familiärer Ereignisse entstanden. Die ältesten gehen bis auf das Jahr 1835 zurück, dem Geburtsjahr des bekannten und berühmten Professors Heinrich Möller und seiner Kindheit. Sein Sohn Gottfried Möller heiratetete 1941 Ida Handke in erster Ehe. Beide bewirtschafteten gemeinsam das Ausflugslokal „Schröderrmühle“ in Oberschöna bei Freiberg in Sachsen. 1948 verstarb Gottfried Möller durch einen tragischen Unfall. Vor der sowjetischen Kommandantur bemerkte er wild gewordene Pferde vor einem Gespann und glaubte, die Tiere mit seinen Erfahrungen beruhigen zu können. Dabei stieß die Deichsel der Kutsche gegen den Kopf, was zu seinem sofortigen Tod führte. Zwei Jahre danach heiratete Ida Möller den Serviermeister Ernst Findewirth. Aus dieser Ehe stammt meine Frau Jutta. So schließt sich der Kreis von Personen aus der Vergangenheit unserer Familiengeschichte. - Nicht unerwähnt soll deshalb der politischhistorische Hintergrund unseres familiären Lebens bleiben. Mit unseren drei Kindern haben wir die Nachkriegszeit, die DDR, die Teilung Deutschlands, den Mauerbau, den Mauerfall und schließlich das geeinte Deutschland erlebt.

Alles in Allem: Sie dürfen gespannt sein auf unterhaltsame und spannende Familiengeschichten, einzigartig und humorvoll. Sie werden begeistert sein.

Herzlichst

Reiner Lohse

1. Kindheit in uralten Zeiten

1.1. Damals in Altona

Um die nachfolgende Kindheitsgeschichte zu verstehen, soll die Entwicklung von Altona historisch kurz dargestellt werden. Das Leben der Menschen dort, insbesondere das der Kinder, war von extremer Armut geprägt. Demgegenüber nahm die industrielle Entwicklung unter kapitalistischen Bedingungen mit stürmischem Tempo zu. Heinrichs Kindheit in dieser Zeit ist ein Beispiel dafür. Seine vielen spannenden Erlebnisse und Entdeckungen waren in ihrer Art einzigartig und sollten noch heute für viele Eltern und Kinder von prinzipieller Bedeutung sein. Sie dürfen gespannt und begeistert sein!

Anfangs war Altona noch ein dänisches Dorf mit einer armseligen Ansammlung von Hütten, Bauernhöfen, Wirtshäusern, Fischerkaten und allerlei handwerklichem Kleingewerbe. Man zählte ungefähr 4000 Einwohner. So sah Altona - ein Dorf vor den Toren Hamburgs – noch um 1830 aus. Als der dänische König Friedrich III. Altona am 23. August 1664 das Stadtrecht verlieh, änderte sich das. Ungewöhnliche Privilegien, wie etwa Zuzugs-, Religions- und Gewerbefreiheit machten Altona in kurzer Zeit zu einer der liberalsten Städte Europas. Das neue Stadtwappen zeigte, anders als das der mächtigen Nachbarin Hamburg, ein weit geöffnetes Tor für weltoffenen freien Handel. Mit königlicher Erlaubnis durften die Kaufleute die im Altonaer Hafen umgeschlagenen Waren unverzollt lagern, umladen oder weiter liefern. Damit entstand einer der ersten Freihäfen Europas. Es zeigte sich ein klarer Wettbewerbsvorteil gegenüber der bislang konkurrenzlosen Nachbarstadt. Die Hamburger Ratsherren waren sehr beunruhigt und mussten enorme Einbußen in Handel und Seewirtschaft befürchten. Zudem war ihnen die kleine Siedlung vor der Stadtmauer Hamburgs schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Man sprach seit 1536 von einer Fischerkneipe mit zweifelhaftem Ruf. Die soll der Legende nach dem Ort den Namen gegeben haben. Damit befand sich die Schankwirtschaft für die Hamburger Stadträte "all to nah" (all zu nah) an der Grenze zu der bekannten und weltweit berühmten Hafenstadt Hamburg.

Nachfolgend eine kurze Einleitung zu einer fast unglaublichen Vorgeschichte in der Kindheit einer berühmten Persönlichkeit: Die Mutter meiner Frau, Ida, hatte in ihrer ersten Ehe den Gastwirt Gottfried Möller geheiratet. Gottfried war ein Sohn des berühmten Bildhauers Prof. Heinrich Möller, der im jahre 1835 in Altona geboren wurde. Heinrich war eines von 5 Kindern und es ging damals der Familie wirtschaftlich extrem schlecht.

Der kleine Heinrich war ein lustiger und aufgeweckter Junge, der im Hafenbereich aufwuchs und schon frühzeitig Kinderarbeit leisten musste, um zum Gelderwerb für die armutbetroffene Familie beizutragen. Die Ausbeutung der Kinder in Manufakturen und Fabriken war für die Fabrikanten ein profitables Geschäft, denn die kleinen, flinken Hände konnten einfache Arbeiten, wie das Sortieren oder Einpacken ohne große Vorbereitung und Einarbeitung schnell beherrschen. Der Wochenlohn betrug nur wenige Groschen. Die Beschäftigung der Kinder war für sie eine Tätigkeit mit jämmerlichem Ergebnis.

Wie sich damals sein kindliches Leben abspielte, ist somit ein Teil unserer entfernteren Familiengeschichte geworden, die aus Überlieferungen stammt und am Beispiel von Heinrich die damalige Lebensweise einerseits und die einfallsreiche und talentierte Kindheit in der damaligen Zeit andererseits beweisen. Deshalb wurde seine Geschichte auch aufgeschrieben, um Eltern, Großeltern, und den vielen anderen Menschen Gedanken für eine hoffnungsvolle Zukunft der Kinder zu vermitteln. Die Geschichte bietet unglaublich viele Anregungen, was man – außer zu spielen – tun kann, um seine Talente, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vervollkommnen und zu entwickeln und dabei den Herausforderungen des Lebens zu begegnen.

1.2. Kindheit zwischen Spannung und Armut

Hochsommer in Altona. Man schreibt den 20. August des Jahres 1835. Mitten im Gewühl aufstrebender Industrien, unweit des aufregenden Treibens im Elbhafen, mitten in unvorstellbarer Armut der Arbeiterschaft erblickt ein Knäblein das Licht der Welt. Heinrich ist eines von fünf Kindern, die zur Familie gehören. Trotz höchster Not ist die Freude über den neuen Erdenbürger riesengroß. Doch die Familie fristet ein armseliges Dasein. Vater ist Innungsmeister der Altonaer Fleischerinnung und gibt mit meist 16 Arbeitsstunden täglich sein Bestes, um die Familie am Leben zu halten. Er leistet körperliche Schwerstarbeit in der Schlachterei und bei der Fleisch- und Wurstaufbereitung, bewegt den ganzen Tag zentnerschwere Fleischkörper, und immer mit dem Blick auf augenblicklich Wichtiges. Zudem bildet er noch Gesellen aus, bringt ihnen die Grundlagen des Fleischerhandwerks bei. All das tut er mit meisterlicher Umsicht, auf momentane Anforderungen konzentriert, und vor allem mit Weitsicht, großem handwerklichem Geschick und der besonderen Gabe, vernünftig mit Menschen umzugehen. Kein Wunder also, dass er am späten Abend müde und zermürbt in seine einfach ausgestattete Wohnung zurückkehrte. Die Folgen schwerer körperlicher Arbeit zeichnen ihn. Dennoch findet er für die Kinder immer ein freundliches Wort und ab und zu erzählt er sogar mal eine spannende Hafengeschichte.

Demgegenüber obliegt die Erziehung und Betreuung der Kinder im Großen und Ganzen der Mutter, die sich mit Geduld und Mühe gefühlvoll der Entwicklung ihrer Kinder widmet, immer in Anbetracht dessen, was die allgemeine Armut der Familie an Schicksalsschlägen aufbürdet. Nur zu oft gab es Lebenssituationen, in denen Familie Möller in arge Not geriet und vielfach kein Ausweg in Sicht zu sein schien. So manches Mal konnte Heinrichs Mutter nur eine Wassersuppe mit Kräutern oder Fleischresten zubereiten. An Brot war an manchen Tagen gar nicht zu denken. Wenn es gut ging, brachte Vater am Abend mal einige Rindfleischknochen mit nach Hause, zum Auskochen für eine Suppe oder ein Eintopfgericht, was allerdings äußerst selten war.

Wohl hatten Vater und Mutter die hochgradige Ausbeutung in allen Bereichen der Wirtschaft beobachtet, die Ursachen dafür aber offensichtlich nicht erkannt. Einerseits schufteten die Arbeiter von früh bis spät für einen äußerst geringen Hungerlohn, andererseits wurden Fabrikanten, Reeder und Kaufleute in Altona und anderswo immer reicher und reicher … Aber noch extremer wurden die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit durch die sprunghafte Zunahme von Kinderarbeit in den Fabriken, Manufakturen und im Hafenbereich und sogar auf Schiffen. Besonders nach 1840 wurden Kinder in Altona in großer Zahl für einfache Tätigkeiten eingesetzt, meist sogar für acht oder zehn Stunden am Tag bei einer miserablen Entlohnung. Die allgemeine Armutslage brachte hervor, die Kinder der Familien mit „zum Broterwerb“ heranzuziehen. Ein „gefundenes Fressen“ für Kapitalisten jeglicher Art, Kinder für passende Hilfsarbeiten in allen Bereichen von Produktion, Zirkulation und Distribution einzusetzen. Die kleinen, meist flinken Finger konnten Kleinarbeiten besonders gut bewerkstelligen. Andere mussten Transport- oder Verladeleistungen erbringen, vielfach bei körperlicher Überbelastung im Kindesalter durch das Bewegen schwerer Kisten, Säcke, Fässer oder anderer Gegenstände. Nur allzu oft nutzten Reeder, Kaufleute, Fabrikanten und auch die Herren der Altonaer Stadt- und Hafenbürokratie die Schnelligkeit der Kinder für Botengänge aus. Zu Fuß brachten die Kleinen dringende Nachrichten, Rechnungen, Dokumente, kleine Warenpakete oder sonst etwas schneller als die Post mit Postkutsche an die Empfänger. Nicht nur Schnelligkeit, sondern vor allem Zuverlässigkeit waren hier gefragt. Manche Dienstherren in Altona und Hamburg machten es sich zur Regel, von den kleinen Boten eine Art „Pfand“, ein wertvolles Stück etwa, zur Hinterlegung zu verlangen. So glaubte man, sicher zu sein, dass die Kinder ihren Auftrag pünktlich und zufriedenstellend ausführten. Schließlich mussten sie wiederkommen, um ihre Pfandgabe zurück zu erhalten und ihren Lohn zu bekommen.

Wie aus Erzählungen überliefert ist, soll es Heinrich im Alter von 8 Jahren einmal passiert sein, dass er nichts für eine Pfandabgabe besaß. Ein Kaufmann, der ihm Botendienste für ein paar Pfennige anbot, war entsetzt darüber und wollte den kleinen Boten schon weg schicken. Dann aber fiel dem raffinierten Mann ein hinterlistiger Trick ein: Heinrich sollte ihm einfach seine Schuhe da lassen. Schon abgetragen und arg beschädigt, zog er sie wortlos aus und stellte sie in eine Ecke des Kontors. Also musste er jetzt seinen Botenauftrag barfüßig erfüllen, bis in den Stadtteil Ottensen laufen, bei herbstlicher Kälte, durch Altonas Nebel – es war November geworden. Manch einer hätte aufgegeben, doch der Mut des kleinen Jungen schien bewundernswert zu sein, wenngleich ihm „Rachegedanken“ durch den Kopf gegangen sein müssen. Seine Wut überwand er mit Schnelligkeit, um bald seine Schuhe wieder zu bekommen. Er hielt es für besser, die Novemberkälte schneller zu überstehen. Aber dann kam alles ganz, ganz anders.

Das Ziel seines Auftrages war ein Kolonialwarenhändler mit einem kleinen, aber mit Waren vollgestopften Ladengeschäft. Heinrich überbrachte dem Ladenbesitzer auftragsgemäß mehrere Briefe und Päckchen. Der ältere Herr musterte den Kleinen, bemerkte aber sofort, dass der Junge barfüßig zu ihm gekommen war. „Wie das, bei dieser Kälte“, entgegnete er und zeigte auf Heinrichs nackte Füße. Der Junge senkte verschämt sein Köpfchen und erklärte dann kleinlaut, was sich zugetragen hatte. „Dieser Halsabschneider! Nimmt den Kindern noch das Schuhwerk!“ So soll er erzürnt gesagt haben. „Was bekommst Du von ihm?“ ging der Mann im Laden fragend auf ihn ein. „6 Pfennige“, so Heinrichs Antwort. „Ja, was machen wir da?“ fragte er sich selbst hin- und her gerissen. – „Warte einen Augenblick!“ Der Mann verschwand zwischen den Regalen und Kisten seines Ladens und brachte ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen hervor. Heinrich glaubte, er solle dieses Paket dem Kaufmann bringen. Aber nein doch! Der Händler entnahm dem Papier ein Paar Kinderschuhe und Heinrich sollte sie probieren. Der Junge tat, was ihm „befohlen“. „Gut sehen sie aus. Nur etwas zu groß für mich“, meinte Heinrich erregt. „Das macht nichts“, soll der ältere Herr erwidert haben. „Besser mit größeren Schuhen durch den Winter, als mit nackten Füßen bis zum nächsten Sommer. Du wirst noch wachsen. Wenn Du willst, schenke ich sie Dir und würde mich aber freuen, wenn Du mir bei einigen Dingen hilfst.“ Der Herr meinte Botengänge – und zahlte ihm künftig das Doppelte. … Endlich freudige Lichtblicke! Dann lief das Kind zurück zum Kaufmann im Hafen. Vor Freude spürte er die herbstliche Kälte kaum. Freudestrahlend holte er seine zerschlissenen Schuhe und seinen „Lohn“ ab und ging wortlos davon. Heinrich lief nach Hause und lieferte seinen Hungerlohn bei Mutter ab, so, wie er es längst gewohnt war.

Wie Kinderarbeit damals geleistet wurde, zeigt auch die Entwicklung der Zigarrenherstellung in Altona und Ottensen. Die Manufakturbesitzer hatten ein besonders raffiniertes System ausgeklügelt, womit es ziemlich einfach möglich war, Heimarbeit in den engen dunklen Arbeiterwohnungen zu organisieren. Einfach war die Sache deshalb, weil es nur weniger Hilfsmittel und Instrumente bedurfte, die man sich relativ leicht beschaffen oder leihen konnte. Das waren z.B. Messer, Klingen, Wickelund Schneideinrichtungen.

In Altona gab es aber auch Fabrikanten, die überhaupt keine Arbeitsmittel bereitstellten. Andere verliehen sie gegen eine Gebühr und wenige stellten Werkzeuge und Vorrichtungen unter „Nutzungsabzug“ bereit. Auch Vater Möller erkannte die Möglichkeit, auf diese Art die Einkommenslage der Familie verbessern zu können und organisierte zusammen mit einem Handwerker die nötigen Werkzeuge und Vorrichtungen. Dann sollten seine Frau und die Kinder Tag für Tag Zigarren in bester Qualität herstellen, für nur wenige Pfennige.

Als Heinrich 9 Jahre alt war, versuchte er sein Glück in einer Altonaer Seilerei, die Schiffstaue und Seile für die Schifffahrt herstellten. Aber er ging eher lustlos an seine Aufgaben, empfand das Ganze eintönig und langweilig, doch tat er es, um einige Pfennige für die Familienkasse zu erarbeiten.

In dieser Zeit reifte auch die gesetzliche Zulassung zur Produktion von Zündhölzern immer mehr heran. In Altona entstand eine Zündholzfabrik, die anfangs noch die Struktur einer Manufaktur hatte. Flinke, kleine Hände wurden gebraucht und so lag es für den Fabrikanten nahe, Kinder für Produktion und Verpackung in größerer Zahl einzustellen. Die Art der Tätigkeiten und die Fertigungsabläufe boten sich geradezu für Frauen und Kinder an. Ihre niedrige Entlohnung sicherte Höchstprofite für den Fabrikanten. Gerade in den Anfangsjahren nach 1844 schien der Absatz der neuen Zündhölzer überall als gesichert, denn quasi jeder brauchte sie. In Niederschriften zu Heinrichs Leben und Schaffen findet man die Anmerkung, er sei alsbald zum „Zündholz-Assistenten“ ernannt worden.

Völlig anders vollzog sich Heinrichs kindliches Dasein in seiner „arbeitsfreien Zeit“, also dann, wenn er mal nicht Kinderarbeit in der Zündholzfabrik leisten musste.

In den meisten Arbeiter- oder Fischerfamilien Altonas mit mehreren Kindern war Armut weit verbreitet. So spielte sich der Alltag der Jüngsten fast immer in den dunklen Innen- oder Hinterhöfen ab. Die Sprösslinge versuchten ihre Interessen und Neigungen in einfachen Wettspielen umzusetzen, ohne oder mit nur wenigen primitiven Hilfsmitteln. Oft halfen nur ein kleines Stück Kreide, Glasscherben, einige alte Bretter, Steine, ein paar Meter Strick oder Zweige von Büschen und Bäumen. Die Kleinen waren erfinderisch. Der Einfallsreichtum der Kinder war grenzenlos. Sozusagen aus dem Nichts entstanden spannende Wettspiele. Ein Ball war ziemlich selten zu sehen, weil viele Familien sich solche Kugeln nicht leisten konnten. Stattdessen waren Wurfspiele und Zielspiele in großer Variabilität sehr beliebt, von Steinwürfen, Rohrblasen mit Vogelbeeren bis zum Bogenschießen mit selbst gefertigten Bogen aus Weidenzweigen. Spielzeug, um sich auch mal selbst oder mit den Geschwistern zu beschäftigen, gab es kaum bzw. nur in besser gestellten bürgerlichen Familien. So blieb für Heinrich nur dieses Milieau, dieses Umfeld. Wenn es ihm danach war, führte sein Weg in den nahe gelegenen Hafen an der Elbe, nach St. Pauli eben. Hier gab es immer etwas zu erleben, Interessantes zu beobachten. Dinge und Abläufe genauestens zu beobachten, war übrigens eine von Heinrichs frühen Gaben, hinzu zu seiner aufblühenden Sehnsucht nach der weiten Welt, nach dem Meer. Was hätte er alles mit einem großen Schiff erleben können!? Wenn es Gelegenheit gab, ließ er sich von den bärtigen Seemännern Erlebnisse und Abenteuer erzählen. Viel „Seemannsgarn“ muss auch dabei gewesen sein, denn abends, als er Mutter oder den Geschwistern diese Geschichten aus seiner Sicht wiedererzählte, gab es so manches Gelächter, weil Heinrich völlig fasziniert aber unbemerkt wieder mal auf ein Seemannsmärchen hereingefallen war.

Später wollte er mehr wissen vom Leben auf den Schiffen und wie es beim Fischfang zuging. Bald bat er einen Fischer, ihn mit an Bord zu nehmen und mit zum Fang auszulaufen. Mutter hatte das erlaubt, war er doch 3 oder 4 Tage unterwegs, nur mit dem Nötigsten und einer Flasche ostfriesischen Tee von Mutter und etwas Brot ausgerüstet. Tag und Nacht auf einem Fischerboot zu verbringen, bei beachtlichem Wellengang, war nicht so leicht wegzustecken. Doch Heinrich bewährte sich als „tapferer Seemann“ und „Fischer“ zugleich. Kleine einfache Tätigkeiten musste er schon selbst verrichten. Die beiden Fischer brachten ihm bei, wie er mit dem Leben auf dem Boot zurecht kommen konnte, zeigten ihm wichtige Handgriffe und Tricks, führten ihn in die Handhabung von Seilen und Tauen ein, brachten ihm bei, wie Fische zu fangen waren. Das alles war für den Kleinen wichtig geworden, um mit den Tücken des Meeres fertig zu werden. Sogar ein kleines Fangnetz soll Heinrich bekommen haben. Doch tatsächlich ein paar Meerestiere ins Netz zu bekommen, war gar nicht so leicht. Heinrich musste sich als kleiner Junge schon etwas Fanggeschick aneignen, sich in Geduld üben, oft auch noch einmal alles von vorn beginnen. Wenn das Netz also leer war, hieß es, das Ganze noch einmal zu wiederholen, bis endlich seine Beute an Bord gezogen werden konnte. Schließlich soll der Junge gegen Ende seiner Fischfangtour doch noch Glück gehabt haben. Sein Fang füllte immerhin 4 Kisten, die er behalten durfte. Den angelandeten Fang trug er sogleich auf den Fischmarkt zum Verkauf. Die Fischer zeigten ihm noch, wie er die Meerestiere ansprechend einsortieren und anbieten sollte. So kam es, dass der kleine Fischer mit einem kleinen Ertrag und einem kleinen Rest Fische, die übrig geblieben waren, nach Hause zurückkehrte.

Diese Fischfangtour sollte für ihn gewissermaßen zu einer Art „Schlüsselerlebnis“ werden, denn er hatte inzwischen begriffen, dass ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, eigenen Willen, oft harte Arbeit, Mut und Geduld voraussetzen. So konnte Heinrich wirklich stolz auf sich sein, einen solchen kleinen, für ihn aber „großen Fang“ gemacht zu haben. Zudem hatte er vieles von den Fischern gelernt und neue Freunde gewonnen. Gewiss, sie hatten es ihm nicht leicht gemacht, doch sein eigener Erfolg hatte ihn für alles belohnt.

Heinrichs Interessen in gerade diesem Kindheitsalter waren äußerst vielfältig. Dabei war er wissbegierig, immer auf der Suche, Neues und dabei sich selbst neu zu entdecken, furchtlos, fröhlich gestimmt und oft zu Scherzen und Streichen aufgelegt, jedoch kindgemäß immer noch wankelmütig und unentschlossen. Aber da war noch eine andere Sache, die sich bald zu einer Leidernschaft mit Begabung entwickeln sollte, die sogar der Mutter noch verborgen geblieben war: Heinrichs musisches und grafisches Talent, wohl einzigartig für ein Kind seines Alters.

Eines Tages brach er wieder mal auf, um in St. Paulis Hafengebiet etwas zu erleben. An einem Kai nahe dem Fischmarkt sah er einem älteren Maler zu, wie er Hafen- und Fischerszenen zu Papier brachte. Der Mann mit einem Vollbart, dem eines Kapitäns gleich, zog Heinrich in seinen Bann. Heinrich setzte sich auf einen Holzbalken und sah ihm stumm zu, beobachtete messerscharf, wie der Maler emsig an seinem Motiv arbeitete. Bald durchbrach der Maler die stumme Beobachtungsphase:

„Na, Kleiner, was ist denn so interessant für Dich?“ sprach er mit der tiefen Stimme eines Bassisten gleich.

„Mir gefällt es, wie Sie das Bild malen“, meinte Heinrich etwas verschämt mit gesenktem Kopf.

„Was muss man machen, damit man ein solches Bild herausbekommt?“

„Zuerst must Du Dir mit Geduld einige Kenntnisse aneignen, auch Fertigkeiten, etwas zu gestalten, dann üben und nochmals üben, immer wieder, bis Du es geschafft hast, ohne aufzugeben meisterhaft zu arbeiten.“ Das war viel.

„Möchtest Du denn vielleicht mal was probieren?“

„Ja, schon. Aber ich habe doch nichts zum Probieren.“

Der Maler griff in eine kleine Holzkiste und holte ein paar Blätter von seinem Skizzenpapier hervor, dazu einen kleinen Bleistiftstummel und ein Stück Kohlestift. Mit Papier und Bleistift war Heinrich zu Hause schon umgegangen, ohne Anleitung, nur um sich malend zu beschäftigen.

Dabei zeigte Heinrich schon mit 6 Jahren seine Neigung, wirklich gern zu malen und zu zeichnen. Aber schon bald waren ihm die einfachen primitiven Kinderzeichnungen zu wider und fast hätte er Zeichnungen jeglicher Art für immer beiseite gelegt, wäre nicht seine Mutter auf die Idee gekommen, ihm zu raten, sich doch mal beim Nachzeichnen nach natürlichen Vorlagen zu versuchen. Bäume, Pflanzen, Blüten, Menschen, Tiere gab es schließlich in Hülle und Fülle. Auch Märchengruppen nach seiner Phantasie lagen ihm sehr.

Nun war er an den Maler im Hafen geraten, der ihm einige Aufgaben stellte, um sich üben zu können. Heinrich sollte sich zuerst einfache Motive suchen und Details gut beobachten, auf Feinheiten und Größenverhältnisse achten. Heinrich tat, was ihm geraten. Nach einiger Zeit bereits konnten sich die ersten Ergebnisse durchaus sehen lassen.

Nun ließ sich der Maler auf eine gewagte kindliche Unterhaltung ein, hatte er doch Heinrichs zeichnerische Fähigkeiten schnell erkannt. Er brachte ihm bei, wie er ausdrucksstarke Lebewesen, Menschen und Tiere, darstellen konnte. Jetzt war Heinrichs Beobachtungsgabe besonders gefordert, auch seine Fähigkeit zu phantasievoller Motivgestaltung. Nach einigen Wochen versuchte sich Heinrich sogar an Porträts von Personen, die sich im Hafen aufhielten. Gesichtszüge in ihrer grenzenlosen Vielfalt wirklich treffend zum Ausdruck zu bringen, war eine besondere Herausforderung an den „jungen Künstler“. Mit der Zeit kamen Heinrichs Porträts der Wirklichkeit sehr nahe. Auch die Geschwindigkeit, mit der er eine zeichnerische Porträtdarstellung zu Papier zu bringen vermochte, hatte sich beachtlich gesteigert. In nur wenigen Minuten konnte er mit seinen 10 Jahren schon eine fertige Arbeit liefern. Es kam vor, dass er seine „Kunstwerke“ für ein paar Münzen gleich an den Mann bringen konnte. Später, besonders an Wochenenden, an denen es Besucher aus Hamburg und dem Umland nach Altona mit St. Pauli zog, da legte ihm der Maler ans Herz, sich mit seinen Porträtzeichnungen einige Groschen zu verdienen. Das tat Heinrich. Und welch ein Wunder: Es funktionierte, nicht immer, aber doch recht oft. Heinrichs schnelle Hände brachten kleine Kunstwerke hervor. Doch kam es auch vor, dass Interessenten davon liefen, ohne seine Arbeit mit zu nehmen und ohne zu bezahlen. Das war hart. Heinrich musste lernen, auch mit solchen Situationen umzugehen. Sein „Malermeister“ war es, der ihm immer wieder Mut machte, ihn motivierte, nie aufzugeben. Nie! Heinrich fiel es nicht leicht, sich dazu zu überwinden. Mit der Zeit reifte sein Denken…

Heinrich war überall zur Stelle, wo es etwas zu erleben oder zu entdecken gab. Abenteuer verschiedenster Art waren immer spannend. Zuweilen geriet er in düstere, undurchsichtige Geschehnisse. Auch „Bandenkriege“ zwischen Kindergruppen aus den Stadtteilen von Altona und Ottensen waren an der Tagesordnung. Es soll nicht nur einmal passiert sein, dass Heinrich in die Fänge dieser Banden geriet. Die „Großen“, d.h. ältere Kinder mit 13 oder 14 Jahren, oder auch Jugendliche im Alter von 16 bis 18, missbrauchten die Kleinen gerne für ihre Zwecke, vor allem, wenn es ihnen um Diebstahl oder die Herbeiführung von kriminellen Anlässen ging. Die Großen hielten sich bedeckt im Hintergrund, die Kleinen taten für sie die „Drecksarbeit“. Die Kleinen waren flink und wortgewandt, konnten Erwachsene raffiniert ablenken, während dessen sich irgendeine kleine oder größere kriminelle Handlung vollzog. Beispielsweise wurde eines Tages von Heinrich verlangt, mit gezielten Steinwürfen Fensterscheiben zu zerstören. Diese Aktion sollte ein Ablenkungsmanöver darstellen und den Besitzer eines Warenlagers auf Heinrichs Verfolgung konzentrieren. Indessen aber hatten die Großen vor, das Lager zu plündern und kistenweise Waren zu stehlen. Um nicht so schnell erkannt zu werden, vollzogen sich die kriminellen Handlungen meist in entlegenen Stadtteilen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Heinrich begriffen hatte, von anderen schamlos ausgenutzt worden zu sein.

Schließlich finden wir Heinrich mit etwa 9 oder 10 Jahren in einer weiteren Stellung in einer neuen Altonaer Wollgarnfabrik, die der Bruder des berühmten Dresdener Architekten und Baumeisters Gottfried Semper besaß. Semper vertraute ihm Sortierund Verpackungsarbeiten an und auch in das Haspeln wurde er eingewiesen. Wohl arbeitete Heinrich fleißig, weil er das musste. Immerhin verdiente er jetzt bis zu 16 Groschen die Woche. Doch steigerte sich seine Lustlosigkeit bei der Garnherstellung immer mehr. Fabrikant Semper hatte das Geschehen um den Jungen längst beobachtet. Der sympathische Junge machte ihm durchaus einen guten Eindruck, doch die Tätigkeiten in seinem Betrieb schienen für ihn kaum passend zu sein. Sempers soziale Einstellung, seine menschlichen Grundsätze, hätten ihn durchaus bewogen, den Knaben in seinem Unternehmen zu entwickeln und ihn zu fördern, wären da nicht Heinrichs Missgefallen und Unlust Tag für Tag deutlicher sichtbar geworden. Was blieb dem Fabrikbesitzer also übrig, als ihn nach einem Jahr zu entlassen, wobei sich Semper überhaupt nicht glücklich gefühlt haben soll. Die Entlassung tat ihm leid, was er auch in einem Gespräch mit Heinrichs Mutter ausgedrückt haben soll.

Doch gab Semper dem Jungen wenigstens einige Ratschläge mit auf den Weg und hatte in der Zeit von Heinrichs Tätigkeit einen scharfen Blick auf Neigungen und Stärken entwickelt. Der Junge konnte den Hinweisen Sempers mit seinen 9 Jahren wohl noch nicht recht folgen, sie auch nicht nutzbringend verarbeiten. Dennoch besann er sich darauf, was er besonders gut konnte und wozu er Interesse und Lust verspürte.

Inzwischen hatte er von einer Reitbahn erfahren, an der er als Stallbursche angestellt wurde, also für die Pflege der Pferde, die Reinigung der Ställe und für die Fütterung verantwortlich war. Gelegentlich durfte er auch sich selbst mal als „Reiter“ ausprobieren, wenn Trainer oder gütige, reiche Pferdeliebhaber mal einen guten Tag hatten. So machte ihm die Arbeit mit den Tieren viel Spaß und Freude obendrein. Er gewöhnte sich hier auch an, den Pferdebesitzern neben seinen eigentlichen Aufgaben auch ab und zu ein kleines „Extra“, eben etwas Zusätzliches, was ihm einfiel, zu bieten. Es sprach sich schnell herum, dass der Stalljunge außerordentlich interessiert bemüht war, immer etwas mehr zu leisten. Wenn die „Pferdenarren“ seine Zusatzangebote nicht gleich bemerkten, scheute sich der Kleine auch nicht, mit ein paar netten Worten in seiner schelmischen und humorvollen Art darauf hinzuweisen. Etwa so: „Mein Herr, erlauben Sie mir bitte, Ihnen einen Geheimtipp zu verraten? Sie wollen doch bestimmt, dass Ihr Pferd Ariane das nächste Mal besser abschneidet, oder? Mir fiel auf, dass es dauernd mit dem linken Vorderfuß trampelt. Ich sah mir das genauer an und habe eine Verletzung bemerkt. Dann habe ich einen kleinen kühlenden Verband angelegt. Jetzt ist das Tier ruhig und entspannt. Was sagen Sie dazu?“ Auf solche Weise wurde Heinrich immer beliebter und oft lohnte es sich für ihn, immer etwas mehr getan zu haben, als man von ihm erwartete. Oft wurde sein Bemühen mit einigen Münzen extra belohnt.

Parallel zur Arbeit mit den Pferden nahm Heinrich eine Anstellung als Laufbursche in einer Gaststätte nahe dem Hafen an. Auch für andere Hilfstätigkeiten wurde er immer wieder herangezogen. Er musste helfen, Waren zu entladen, Wein und Bier herbeischleppen, Fischkisten mit einem Karren vom Markt holen, Geschirr abwaschen, die Fußböden schruppen, auf oder an den Schiffen Zettel verteilen, um Seeleute bei ihrem Landgang in die Kneipe zu locken.

Das Klima in den Hafenkneipen war dunkel, verraucht und durch raue Umgangsformen charakterisiert, für Burschen in Heinrichs Alter gewiss nicht geeignet. Seine genauen täglichen Beobachtungen setzten sich in ihm fest und hinterließen unauslöschliche Spuren, die sich mit der Zeit auf sein Denken und Verhalten auswirken mussten. Dennoch hinterließ er bei den seemännischen Kneipenbesuchern, bei Hafenarbeitern oder Schiffern, einen kindlich-charmanten, mit List und Tücke gespickten, fröhlich-humorvollen Eindruck. Das unterschied ihn wesentlich von den Anderen seiner Altersgruppe. Und er war schnell, erfüllte (manchmal heimlich) besondere Wünsche der Zecher, so ganz nebenbei, manchmal für ein paar Münzen extra, manchmal ausgenutzt, verraten und „verkohlt“, zu Späßen verleitet, die dem Kind oft nicht begreiflich waren. Aber diese Art menschlicher Verhaltensweisen kannte er ja schon und wurde mit unangenehmen Situationen immer besser fertig.

In dieser Zeit kam es auch zu ersten „Auftritten“, wo er seine Talente spielen lassen konnte. Alles soll mit der Aufforderung von Matrosen aus Brasilien begonnen haben, er solle doch ein paar deutsche Lieder singen, in der Kneipe. Das fiel Heinrich nicht schwer, denn – obwohl in Armut lebend – Mutter legte viel Wert auf Liedgesang. Zuerst waren es natürlich Kinderlieder aller Art, die Heinrich spielend lernte, später dann waren es einfache Volkslieder. Er sang das „Heidenröslein“, „Am Brunnen vor dem Tore“, „Ännchen von Tharau“, „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ und viele andere. Neben diesen deutschen Volksliedern beherrschte er auch welche in gutem Plattdeutsch und auch dänische, was mit der ursprünglichen Zugehörigkeit Altonas und seiner Bewohner zum Dänischen Königreich zusammenhing und somit traditionell überliefert wurde. Vor dem Kneipenpublikum zu singen, war für ihn dennoch ungewöhnlich, aber er überwand sich schnell und schmetterte mit heller und lauter Stimme seine Lieder in den verqualmten Raum. Was sollte schon passieren, vor den beschwipsten Kneipengästen? Die Art seines Liedgesanges sprach sich schnell herum und war überaus beliebt bei den Seeleuten und Hafenarbeitern. Viele nannten ihn „Heini“, mit einem kindlichen Spitznamen. Wenn Schiffe einliefen und die Matrosen befragten die Hafenarbeiter nach guten Kneipen, dann war „Heinrichs Kneipe“ sehr oft die beste Empfehlung. Nach einiger Zeit kündigte der Gaststättenbesitzer den kleinen Heinrich sogar auf einem Werbeplakat in Altona und Hamburg an. Inzwischen hatte Heinrich seine „Auftritte“ vervollständigt um bekannte Seemannslieder und einige Zauberkunststücke, die er trickreich und mit unglaublicher Zaubergeschwindigkeit vorführte. Niemals war einer der alkoholisierten Mannschaft hinter seine Tricks gekommen. So manchem Seemann blieb nach einigen Bier vor Staunen der Mund offen stehen, sprachlos und fasziniert zugleich. Ein Beispiel nur, da war die Sache mit der Münze. Heinrich erbat von irgendeinem Schifer eine Münze und versprach im Beisein aller, wenn es dem Spender gelänge, die Münze unter einem Tuch in ein Schnapsglas zu bringen, dann bekäme er die Münze sofort zurück. Gelänge es ihm aber nicht, dann könne er die Münze behalten. Meistens war die Lage nun so angespannt, dass sich eine Traube von Seemännern um den Tisch bildete. Heinrich zog ein Tuch aus seiner Tasche, verlangte die Münze, steckte sie unter das Tuch, so dass der Spender die Münze mit dem Tuch mühelos fassen konnte. Dann erlaubte Heinrich dem Matrosen sogar, er könne auch das unter dem Tuch befindliche Schnapsglas mit dem Tuch fühlen und wenn er sich sicher sei, so solle er die Münze in das Glas fallen lassen. … Heinrich bat alle, still zu sein, damit jeder das Fallen der Münze in das Glas auch hören konnte. Die Spannung stieg. Jeder hörte die Münze ins Glas fallen. Dann hob Heinrich langsam das Tuch, damit man das Ergebnis auch sehen konnte. Doch was war geschehen? Die Münze lag neben dem Glas, wo doch jeder gehört hatte, sie sei in das Glas gefallen! Fasziniert spendeten die Kneipengänger Beifall und Heinrich durfte die Münze behalten. Einige Betrunkene sprachen Heinrich „außergewöhnliche Kräfte“, andere „Hexerei“ zu, aber der Effekt war unglaublich faszinierend. Trotz vieler Bitten und Angebote, den Trick noch einmal zu wiederholen, gab Heinrich am selben Abend nie nach, niemals! Vielleicht finden Sie nun selbst heraus, worin das Geheimnis dieses Tricks besteht. Dabei ist alles so herrlich einfach und doch fällt jeder darauf rein!

Noch etwas später spielte Heinrich zu einigen seiner Lieder auf einer Harmonika oder einem Schifferklavier, was ihm ein lustiger Matrose beigebracht haben soll. Heinrich begriff die melodische Spielweise sehr schnell und schon nach einigen Tagen konnte er mit dem neuen Instrument in bescheidener Form umgehen. Wochen später hatte er sich auch mit der Geige befasst und bemühte sich, auch die immer besser zu beherrschen. Musik machte ihm einfach Spaß und verhalf ihm dazu, manchen schweren Tag zu überstehen.

Gerade zu dieser Zeit ergab sich für Heinrich ein Moment persönlichen Glücks: Lichtblicke für sein Leben! Der Altonaer Arzt Dr. Ferdinand Hesse, ein Wohltäter und Menschenfreund allererster Güte, war auf den jungen Burschen aufmerksam geworden. Sein freundliches, helles Wesen und seine kluge Art, aus einfachen Dingen oder Ideen etwas zu Stande zu bringen, war ihm aufgefallen, dazu Heinrichs humorvolle und gewandte Art, die ihm besonders gefiel.

Dr. Hesse beschloss, ihn in seine Dienste zu nehmen und ihn zu fördern. Er sah in dem Jüngling bald großartige Entwicklungschancen, nachdem er seine vielfältigen Begabungen erkannt und „analysiert“ hatte. Eines Tages jedoch entdeckte der Wissenschaftler, dass Heinrich bisher nie eine Schule besucht hatte, somit mit 15 Jahren noch nicht richtig schreiben, lesen und rechnen konnte, weil seine Arbeit, zum Broterwerb der Familie beizutragen, lebenswichtig gewesen war. So entschied Dr. Hesse, ihn auf eine Elementarschule zu schicken, die der kluge Knabe nach einem Jahr recht erfolgreich abschloss.

Auch in dieser Zeit ließen ihn Musik und Gesang nicht los. Zufällig erwischte ihn sein Gönner eines Tages beim Musizieren mit der Geige, die nicht ihm, sondern dem Doktor gehörte und die er sich einfach „nur mal zum Üben und Probieren“ genommen hatte. Hesse sah Heinrich erstaunt und interessiert zu, um nach einer Weile das Gespräch mit dem Jungen über Musik und Kunst zu suchen. Da er fest an das künstlerisch-musikalische Talent des Jungen glaubte, ließ er ihm privaten Musik- und Geigenunterricht erteilen. Zu seinem vortrefflichen Privatunterricht gehörten auch Zeichnen und die englische Sprache. So hatte Heinrich die Fähigkeit, Versäumtes aus vielen Jahren seiner Kindheit sehr schnell aufzuholen.

Parallel zu seiner Ausbildung erbrachte Heinrich immer noch für seine Eltern und Geschwister ein zusätzliches Einkommen dadurch, dass er in St. Paulis Hafenkneipen zum Tanz aufspielte. Den erzielten Lohn lieferte er an seine Eltern ab, wie er es schon immer gewohnt war. Doch nahm die Sache gerade in seinem Alter immer häufiger dramatische Formen an, die den Jungen von den wichtigen Lebenszielen abzudrängen drohten. Das Kneipenmilieu schien dem Jungen nicht gut zu bekommen, obgleich er mit Musik und Gesang die Matrosen auf lustige und witzige Art zu erfreuen verstand. Die Verwicklung in undurchsichtige Aktionen und „Geschäfte“ mit Fremden und auch die Verführung zum Trinken von Alkohol waren unangebrachte Begleitumstände. Hätte nicht seine Mutter aufmerksam auf ihn geachtet, wäre Heinrich gerade zu dieser Zeit in eine haltlose, unkontrollierbare Lebensführung geraten. Überdies war es vor allem Dr. Hesse zu verdanken, dem Jungen wirkliche Lebensperspektiven und künstlerische Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen und zu eröffnen. Er war es wohl, der in Heinrichs kritischer Phase der richtige „Coach“ und Ratgeber, sein Wegbereiter war.

Demgegenüber entwickelte sich Heinrich durch seinen Privatunterricht, den ihm Dr. Hesse angedeihen ließ, recht ordentlich. Interessiert und wissbegierig löste er seine Aufgaben und bald glaubte Dr. Hesse, für ihn die richtige Entwicklungsrichtung gefunden zu haben. Heinrich war begabt und sehr vielseitig interessiert, doch stellte sich heraus, dass seine wirklichen Stärken im Zeichnen und Konstruieren, in Mathematik und Musik lagen. Hieraus leitete der Akademiker offensichtlich seine perspektivische Entwicklung zum Architekten ab und ließ ihn an der Baugewerbeschule zu Nienburg einschreiben.

Zunächst aber musste sich Heinrich einer soliden Handwerksausbildung unterziehen. In einer Tischlerwerkstatt erlernte er das Tischlerhandwerk. Zunächst ging es um Grundlagen der Holzbearbeitung, von der Lagerung und Trocknung des Werkstoffes, exaktem Zuschnitt und Passgenauigkeit bis zu verschiedenen Verfahren der Oberflächenbearbeitung. Bald übertrug ihm sein Meister erste Aufgaben für die selbstständige Herstellung kleinerer Gegenstände, denn Heinrich hatte großes Interesse an dem holzbearbeitenden Handwerk gefunden, legte großen Wert auf Erfahrungen, Tipps und Hinweise seines Lehrmeisters. Richtige Lagerung und Trocknung des Rohholzes soll er anfangs als nicht so wichtig angesehen haben, bis er eines Tages begreifen musste, dass hiervon die Qualität seiner hergestellten Stücke sehr wesentlich abhing. Dagegen zeigte er mehr Aufmerksamkeit und Geschick für die Gestaltung von Schmuckkanten und anderen Elementen für Möbelstücke. Ihm lag es, schnell Entwürfe dafür zu zeichnen und danach schnell das Holz in die entsprechende Form zu bringen, was ihm mit der Hilfe und den Tricks seines Meisters ziemlich schnell gelang. Nach 10 Monaten konnte er einen ausgezeichneten praktischen Abschluss mit einem außergewöhnlichen Gesellenstück nachweisen, war jetzt umfassend mit der Technologie der Holzbearbeitung vertraut und erbrachte sehenswerte handwerkliche Leistungen. Während dieser Zeit lernte Heinrich einen Bildhauer aus Altona kennen, der den jungen stämmigen und muskulösen Burschen gern mal zum Modell nahm. Nach und nach gewann er immer mehr Kenntnisse über die plastische Gestaltung verschiedener Materialien. So muss man zu dem Schluss kommen, dass diese Begegnung für Heinrichs spätere berufliche Entscheidungen bestimmend war.

1.3. Heinrich in Nienburg

Dr. Hesse hatte offenbar gute Kontakte nach Nienburg an der Weser, wo sich eine moderne Baugewerbeschule herausgebildet hatte, die die Weiterbildung talentierter Handwerker vorantrieb, mit dem Ziel eines Meisterabschlusses und handwerklicher Selbstständigkeit. Dann kam die Ausbildung von Architekten hinzu, einen erlernten Handwerksberuf voraussetzend. Die Einrichtung hatte inzwischen einen ausgezeichneten Ruf erlangt. Die Ausbildungsmöglichkeiten hier wurden immer mehr angenommen. So schlug Dr. Hesse vor, auch Heinrich auf die Baugewerbeschule zu schicken. Er war jetzt Tischler und erfüllte damit die Aufnahmebedingungen für eine Ausbildung zum Architekten.

Im ersten Jahr studierte Heinrich Grundlagen der Architektur, musste sich mit der Anfertigung von Bauzeichnungen befassen, die letztlich für die bauausführenden Gewerke und Handwerker von großer Bedeutung sein würden, um ein Bauprojekt praktisch zu verwirklichen. Das übrige Ausbildungsprogramm umfasste Deutsch, Rechnen, handwerkliches Rechnen, Entwurfszeichnen und Bauzeichnen, Geometrie, Baukunst, Naturlehre, Grundlagen des Modellierens, Entwurfsarbeit, Konstruktion sowie Architektur und Formenlehre. Die Lehrgebiete in den einzelnen Fächern beherrschte Heinrich ohne große Mühe und mit geringem Zeitaufwand. Den Lehrern soll jedoch seine besondere Begabung im freien Zeichnen und Modellieren aufgefallen sein. Wenn es um Frei-Hand-Entwürfe für Variationen eines Bauprojektes ging, hatte Heinrich im Handumdrehen und mit unglaublicher Geschwindigkeit quasi sofort einen oder auch mehrere neue Entwürfe parat, die Diskussionsgrundlage für die Vorbereitung der Konstruktions- und Bauzeichnungen gewesen sein sollen.

Der Unterricht selbst, so nach Heinrichs knappen Fragmenten auf Postkarten, soll montags bis sonnabends von 8:00 Uhr bis 20:00 Uhr stattgefunden haben, mit einer täglichen Pause von 2 oder 3 Stunden. Auch sonntags wurde zum Teil Unterricht gehalten, wenn man den lückenhaften Notizen Heinrichs Glauben schenken will. Dem gegenüber wurden die Angaben wenigstens stückweise in einer Dissertation an der Universität Hannover [2] bestätigt.

Dr. Hesse zahlte für Heinrichs Ausbildung wohl ein Schulgeld von 11 Talern und 6 Talern für Unterrichtsmaterial. So mühte sich Heinrich Tag für Tag fleißig, aber mit steigender Unlust, über ein Jahr lang. Danach beherrschte Heinrich das technische Zeichnen für das Baugewerbe trefflich gut, doch fand er für sich heraus, dass Architekturarbeit dieser Art doch nicht seine wirkliche Stärke war, womit er sich hätte profilieren können. Überhaupt stand er in dieser Zeit voller Zweifel an einem Scheideweg, unschlüssig, in welche Richtung er sich entwickeln sollte. Endlich fasste er den Entschluss, seinem Förderer Dr. Hesse zu eröffnen, dass ihm diese Ausbildung nicht liege und er keine Lust verspüre, Architekt zu werden. Bauzeichnungen waren sicher gut und notwendig, aber lebendige, lebensnahe Zeichnungen von Szenen und Begebenheiten aus dem Leben schienen ihm bei weitem besser zu liegen und er habe den Wunsch und die Absicht, sich ernsthaft der Bildhauerei zu widmen. Weg bestimmend muss wohl das Zusammentreffen mit einem in Altona lebenden Bildhauer gewesen sein, noch zu seiner Ausbildungszeit im Tischlerhandwerk. Aus einem Gewirr von Fragen ergab sich schließlich Heinrichs Entscheidung für seine spätere Leidenschaft zur Bildhauerei. Er empfand es faszinierend, praktisch aus dem Nichts, nur aus einem geeigneten Material etwas für die Menschen Bleibendes zu formen und zu gestalten. So auch seine Begründung, die er Dr. Hesse vortrug. Etwas für die Menschen Einzigartiges zu schaffen, das war sein Ansinnen. Zunächst noch etwas verwundert über Heinrichs plötzlichen Sinneswandel, schätzte der Wissenschaftler die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit seines „Schutzbefohlenen“. Nach reiflicher Überlegung entschied er, ihn nun einem Bildschnitzer anzuvertrauen. Die besten Meister auf diesem Gebiet schienen in Südtirol oder in München zu finden zu sein. Da Dr. Hesse aber im Stillen immer noch daran glaubte, Heinrichs Vorstellungen von der Bildhauerei seien Illusionen, legte er Wert darauf, aus ihm doch noch einen Mann der Wissenschaft zu machen, ließ Heinrich zunächst in München Justus von Liebigs Vorlesungen in Chemie besuchen. Parallel dazu, so entschied Hesse, sollte Heinrich eine Ausbildung bei einem Münchener Bildschnitzer absolvieren. Auf diese Weise waren beide Wünsche am besten zu realisieren, meinte Hesse. Es sollte sich während der Ausbildungszeit herausstellen, wo Heinrichs wirkliche Stärken lagen, auf welchen Gebieten seine Begabungen und Fähigkeiten am besten ausgeprägt waren. Dabei gab Dr. Hesse in seiner Denkweise der wissenschaftlichen Entwicklung Heinrichs immer noch den Vorzug.

1.4. Bildschnitzerei in München

Die Bekanntschaft Dr. Hesses mit Münchner Wissenschaftlern verhalf dazu, dass sich Heinrich intensiver mit der Bildhauerkunst, insbesondere mit der Bildschnitzerei auseinandersetzen konnte. Mit Unterstützung seines Gönners bewarb er sich in der Werkstatt bei Anselm Sickinger (1807-1873). Sickingers Betrieb war seit etwa 1834 in München ein kunsthandwerkliches Unternehmen mit einer Werkstatt in der Kasernstraße 6 (später ab 1862 Gabelsbergerstraße 10). Mit seiner Firma war der Unternehmer und Künstler in zahlreiche Aufträge für Bauprojekte nach den Vorstellungen von König Ludwig I. eingebunden und hatte sich obendrein auf die Fertigung von kirchlichen Einrichtungen, Bau- und Schmuckelementen spezialisiert. Aber auch Einzelanfertigungen in großer Vielfalt waren sehr gefragt. Auch schnitzte Sicklinger selbst Ornamente für königliche Möbel. So galt er in Bayern und darüber hinaus als „universeller Spezialist der Bauplastik“. Zudem zeichnete sich das gesamte Unternehmen durch besondere Vielseitigkeit aus.

Die Arbeitsgänge hier waren durch eine gut durchdachte und zweckmäßige Arbeitsteilung gekennzeichnet: Teile der klaren strukturellen Gliederung waren u.a. Entwurfsarbeit und Ausführungszeichnungen, Architekturzeichner für die Risse, Steinmetze und Bildhauer für die Figurenherstellung, Schreiner bzw. Tischler für den Bau von Altären und sonstigen kirchlichen Inneneinrichtungen, Möbelstücken oder hölzernen Schmuckelementen, Kunstschreiner und Kunstschnitzer für besondere architektonische Details, sowie Fassmaler für die Vergoldung von Figuren und Altären. Viele dieser wichtigen Fakten in der Entwicklung der Bildhauerei im Kunsthandwerk werden auch in einer speziellen Dissertation an der LMU München bestätigt [3].

Sickinger selbst war überwiegend als Entwerfer und Unternehmer, zu bestimmten Zeiten auch als Bildschnitzer selbst tätig. Die in seinem Handwerksbetrieb vorgefundene Art der Kombination verschiedener Tätigkeitsfelder war genau passend für Heinrich. Er sollte zunächst über zwei Monate alle Bereiche durchlaufen und begann mit eigenen Entwürfen und der Präzisierung von Entwurfsvorlagen, schrittweise, bis zur Anfertigung von Ausführungszeichnungen, wozu er bereits umfassende Vorkenntnisse mitbrachte. Für die Modellierung von Figuren aus Holz jedoch musste er die Grundlagen der Schnitzkunst erlernen und wurde deshalb verschiedenen Bildschnitzern in der Firma zugeteilt. Er begann mit den Tätigkeiten, ohne regelmäßige kunstgewerbliche Ausbildung erhalten zu haben und bewies beizeiten schon seine Begabung und sein Talent in der Formgestaltung. Die von ihm bereits in seiner Münchner Anfangszeit gefertigten Kopien von Köpfen und anderen Figurenteilen versetzten die Meister der Manufaktur in Erstaunen, konnte er doch recht bald in trefflicher Art und viel Geschick sehr selbstständig gute Ergebnisse vorweisen. Nach einiger Zeit kam es zu ersten eigenen Entwürfen, die Heinrich selbst umsetzen durfte. Dabei handelte es sich meist um Halbplastiken, aber auch vollständige Figuren oder Figurengruppen, wobei er die in Bayern typischen christlich-sakralen Motive durchaus verließ. Heinrichs Arbeitsergebnisse fanden mit der Zeit durchaus Anerkennung bei den Schnitzern der Münchner Schnitzerinnung. Sickingers Firma zählte zeitweise bis zu 35 Mitarbeiter, Gehilfen und Schüler. Wie hier Heinrich Möller eingeordnet war, ist leider nicht überliefert. In Archivlisten war sein Name nicht zu finden. Lediglich über Dr. Hesse ist sein Einsatz in Sickingers Betrieb bekannt. Es ist und bleibt unumstritten, dass die Münchener Bildschnitzerei Heinrichs Begabung für die Bildhauerkunst nachhaltig gefördert hat. Somit trug dieser Zeitabschnitt der plastischen Formgesrtaltung wesentlich zu seiner Entscheidung bei, sich ernsthaft und zielbewusst der Bildhauerei zu widmen.

Das weitere Leben und Schaffen des Künstlers als Bildhauer ist in dem Buch „Prof. Heinrich Möller – ein Meister der plastischen Kunst“ [4] ausführlich dargestellt worden.

1.5. Kindheit meines Großvaters

Louis, mein Großvater, mütterlicherseits, wurde 1871 in Clausnitz im Erzgebirge geboren. Die Eltern lebten in sehr ärmlichen Verhältnissen, betrieben eine kleine Landwirtschaft, womit sie die Versorgung der Familie wenigstens einigermaßen sicherstellten. Wenn die Erträge gut waren, brachten sie ihre Erzeugnisse auf die Märkte der umliegenden Dörfer und Städte.

Louis war ein sehr ruhiger und genügsamer Junge. Er spielte gern mit den Kindern der Nachbarhöfe, am liebsten Versteckspiele oder Ratespiele, oft auch Geschicklichkeitswettbewerbe verschiedener Art. Spielzeug im weitesten Sinne war kaum oder selten eine Wahl, weil es sich viele Eltern einfach nicht leisten konnten. Aber Louis war sehr erfinderisch. Wenn es eben keine Bälle gab, mussste man eben selbst welche herstellen, kleine und große, aus Mehl und Gras oder aus Lehm und Stroh und natürlich mit Wasser. Nach dem Trocknen waren sie robust und fest. Nun konnte man die verschiedensten Ballspiele durchführen, wie er mir aus seiner Kindheit erzählte.

Schon als Kind war Louis voller Begeisterung, wenn es um Holz ging. Als er schon etwas größer war, fand er Gefallen am Schnitzen einfacher Figuren und Bäume. Ein Schnitzer und Freund der Familie brachte ihm erste Kenntnisse und Fertigkeiten bei. Erste Figuren entstanden aus Lindenholz und Ahorn. Später entdeckte Louis seine Leidenschaft für Wasser und beschäftigte sich gern an umliegenden Bächen oder an den Ufern der Freiberger Mulde. Er hatte auch riesigen Spaß, wenn es um kleine Schiffchen oder Kähne ging, die er gern und schnell anfertigte. Wettfahrten aller Art, gemeisam mit seinen Freunden, waren eine lustige Angelegenheit, an der alle Spaß und viel Freude hatten. Neben der spielerischen Beschäftigung aber gab es noch eine andere Seite des kindlichen Daseins, denn Kinder wurden durch Kinderarbeit dazu herangezogen, einen Anteil zum Familieneinkommen zu erbringen. Zunächst ging es bei Louis schon mit 7 Jahren darum, auf den Feldern kräftig mit zuzupacken, über die gesamte Vegetationszeit bis zur Einbringung der Ernte. Kartoffeln legen, mit Pflug anfahren, ernten und fachgerecht einkellern ebenso. Im Herbst war Kinderarbeit auch in der Obsternte gefragt. Im Winter dagegen wurde Louis oft in kleine Manufakturen und Handwerksbetriebe, die mit Holzbearbeitung und Spielzeugproduktion befasst waren, geschickt. Oft für einen Hungerlohn von ein paar Pfennigen oder Groschen musste er mit seinen kleinen geschickten Händen manchmal bis 10 Stunden täglich harte Kinderarbeit leisten, was den Profit der Fabrikbesitzer beachtlich erhöhte. Nicht zu vergessen sei der oft weite und beschwerliche Weg zu seiner Arbeitsstelle, im strengen Winter, tief verschneit und eiskalt. An den Abenden und am Wochenende wurde Louis auch vielfach für Stallarbeiten eingesetzt. Sonntags gingen die gottesfürchtigen Eltern meist zum Gottesdienst in die Kirche, die Kinder dabei zu haben, war eine strenge Regel. Die Kinder selbst trauten sich nicht, den Eltern zu widersprechen.

1.6. Kindheitstage meines Vaters Kurt

Man schrieb das Jahr 1902. Adolf und Selma Lohse bewohnten ihr Mehrfamilienhaus, das um 1880 erbaut worden war. Das Grundstück mit Wohnhaus, großem Lagerhaus und Nebengebäuden befand sich im Zentrum der Bergstadt Brand-Erbisdorf, am Schillerplatz 3. Dazu gehörten auch mehrere Feldflächen zur landwirtschaftlichen Nutzung am Rande der Stadt. Zur Familie gehörte auch Sohn Emil und 1902 wurde Sohn Kurt (mein Vater) geboren. So entstand ein bürgerlicher Hausstand mit landwirtschaftlicher Anbindung und der späteren Gründung eines Milchgeschäftes in der Bergstadt. Die Kindheit der beiden Kinder Emil und Kurt war offensichtlich durch die Strenge und Boshaftigkeit von Mutter Selma einerseits und andererseits durch die frühzeitig geforderte Einbindung in die wirtschaftliche und produktive Phase der Erwirtschaftung des Familieneinkommens gekennzeichnet. Das hieß, die Kinder bei Zeiten an die Arbeit auf Feld und im Geschäft heranzuziehen. Auf spielerische Aktivitäten der Kinder legte Mutter Selma keinen besonderen Wert, Spielsachen gab es kaum, vielleicht mal einen Ball. Ansonsten mussten die Kinder sich selbst was einfallen lassen, vielleicht ein Ballspiel auf dem Schillerplatz oder Springwettbewebe oder Zielwerfen. All dieses kindliche Mileau befriedigte weder Kurt noch Emil, aber sie nahmen es mit Gehorsam „ehrfürchtig“ hin und machten, was von ihnen verlangt wurde.

Die Fakten im Einzelnen: Als Kurt so etwa 6 oder 7 Jahre alt war, wurde den Kindern der Umgang mit Pferden in ziemlicher Strenge beigebracht mit dem Ziel und der Absicht, Teile der Feldbestellung sowie das Führen von Kutschen und Gespannen mit Pferd und Wagen zu erlernen. Mit 9 oder 10 Jahren konnte Kurt selbstständig mit Pferdefuhrwerken umgehen. Mutter Selma nötigte ihn immer wieder, selbst Arbeiten zur Feldbestellung und zur Erntezeit mit Pferden durchzuführen. Auch andere Gespannfahrten sollte Kurt erledigen. Für seine Dienstleistungen erhielt er weder einen Pfennig, noch eine Mark. …

So verging die Kinderzeit wie im Fluge und vielmals ohne irgendwelches Spielzeug. Das aber hatte zur Kaiserzeit eine ganz besondere militaristische Prägung mit dem Ziel, alle Bevölkerungsschichten, also auch Kinder, auf kriegerische Auseinandersetzungen vorzubereiten oder einzustellen. Während Kurts Eltern den Kaiser hoch verehrten, konnten Kurt und Emil den militaristischen Tendenzen nichts abgewinnen. Sie waren der Meinung, Kriege könnten der Menschheit nur unsagbares Leid zufügen. Deshalb konnte Kurt einem Sortiment von Kriegssoldaten und imitierten Waffenmodellen für Kinder zu Kriegsspielen nicht gut heißen, ebenso nicht die vielen gedruckten Vorlagen kriegerischen Inhalts speziell für Kinder. Kurt hatte auch ein Herz für Sport, doch war es für ihn schwer, aus den Fängen seiner Mutter für regelmäßigen Sport einschließlich Training zu entkommen. So blieben anfängliche Versuche in Handball und Fußball bald stecken. Aber endlich gab es aus seinem Freundeskreis Lichtblicke für eine ganz andere Sportart. Nach einigen Probeübungen schloss sich Kurt einem Arbeitersportverein an und erlernte das Kunstradfahren auf einem Einzelrad. Neben der Notwendigkeit, sich auf dem Rad selbstständig fort zu bewegen, bestand die sportliche Kunst darin, das ausgewogene Gleichgewicht zu halten. Kurt war mit großer Begeisterung und Spaß dabei. Die Sportfreunde traten auch auf Vereinsveranstaltungen, zu Jahrmärkten oder zu Volksfesten auf. Noch in den 50er Jahren, als ich schon zur Schule ging, nahmen die Kunstradfahrer in einer Gruppe von 6 oder 12 Sportlern auch jedes Jahr an der Maidemonstration in der Bergstadt teil. Auch Kurt war mit sportlicher Begeisterung dabei.

Als Kurt 11 oder 12 Jahre alt war, bestimmte Mutter Selma in herrschsüchtiger Weise, Kurt solle als „Milchjunge“ Milch, Butter und Käse an die Kunden mit dem Handwagen ausfahren. Außerdem hatte Mutter Selma die Absicht, an Kurt Teile der geschäftlichen Aufgaben zu übertragen, so Warenbeschaffung und Anlieferung, Sortenzusammenstellung (Milchsorten, Magarine, Butter, Käsesorten, Quark), Hauslieferungen und Lieferungen an Unternehmen, Hotels und Gastwirtschaften. Der zeitliche Aufwand dafür muss beträchtlich gewesen sein, ohne jegliche Vergütung, was zu enormen Spannungen zwischen Mutter und Sohn führte. Mutter Selma ging sogar soweit, an Sohn Kurt Fuhraufträge mit Pferdegespann für andere Personen oder Geschäfte zu vergeben, auch dies ohne jegliche Entlohnung. Bei seinen Tätigkeiten für das Milchgeschäft wurden die Widersprüche zwischen Mutter und Sohn immer schärfer. Mutter wurde uneinsichtiger und starrsinniger und ließ kaum Vaters Gedanken für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage zu. So kam es, dass Vater in jungen Jahren nach neuen Lösungen Ausschau hielt. Eine davon war die Möglichkeit, auf Wanderschaft zu gehen, um dabei Tätigkeiten auf den Gebieten Bau, Maurerarbeiten, Betonarbeiten, Zimmermanns- und auch Straßenbauarbeiten sowie Schlossereiarbeiten bei Handwerkern zu bekommen. Zusammen mit Freunden fassten sie den gemeinsamen Beschluss, nach Süddeutschland aufzubrechen. Die Wanderschaft erstreckte sich über mehr als 3 Jahre und erbrachte den Teilnehmern enorme Lohneinnahmen. Endlich erhielt auch mein Vater Kurt für seine gute Arbeit seinen Lohn! Das Milchgeschäft wurde mit der Zeit beträchtlich erweitert und auch über die Zeit des 2. Weltkrieges fortgeführt. Dann jedoch verschlechterte sich Selmas Gesundheitszustand so sehr, dass sie das Geschäft aufgeben musste.

Während der Milchmädchenzeit lernte Kurt auch das Mädchen Ilse aus der Freimühle kennen. Tag für Tag erledigte sie pünktlich ihre Milchlieferungen an die Kunden, auch ihre Arbeit für einen Niedriglohn. Schließlich verliebten sie sich mit der Zeit und 1927 wurden sie ein junges Pärchen. 1928 wurde Töchterchen Marianne geboren und 1931 Gertraute. Nach Mariannes Geburt machten sich Kurt und Ilse auch mit einer eigenen Wohnung auf dem Kirchweg von Mutter Selma unabhängig, was die Grundlage für ein harmonisches Familienleben werden sollte.

2. Krieg und Frieden

2.1. Flucht aus der Flammenhölle

Herbert aus Dresden war der Cousin meines Vaters Kurt. Zwischen ihnen gab es viele Gemeinsamkeiten und Unternehmungen in jungen Jahren. Ab und an gab es gegenseiige Besuche. Vater war fasziniert von der Kunststadt Dresden und Herbert war ab und an mal froh, das Großstadtleben zu verlassen und ein paar erholsame Tage auf dem Lande in Brand-Erbisdorf zu verbringen. Wenn mein Vater Kurt in Dresden war, gab es Ausflüge der beiden in die Sächsische Schweiz oder nach Moritzburg, manchmal in die Dresdener Heide oder mal auf eine Tour in eine der vielen Biergärten im Sommer. War Herbert in Brand unterwegs, waren für ihn Freiberg mit seiner bergbaulichen Umgebung und die Holzkunst im Erzgebirge interessant. Als Vater meine Mutter Ilse kennengelernt hatte, nahm er Herbert gern mal mit zu den Großeltern in der idyllisch gelegenen Freimühle im Freiwald, 5 km südlich von Brand- Erbisdorf. Dort konnten beide noch die unberührte, ruhige Natur an Wald, Wiesen und Bächen genießen. Vormittags oder nachmittags wurde von den beiden jungen Männern Holz gesägt und gehackt, was die Großeltern ganz besonders freute. Wenn es sich einrichten ließ, gingen Kurt und Herbert am Wochenende auch mal in die nahe gelegene Gaststätte „Mönchenfrei“ zum Frühschoppen mit Blasmusik… Die Besuche in Dresden und Brand waren von Vaters Mutter Selma nicht besonders erwünscht, musste sie doch auf die Arbeitsleistungen des Sohnes zeitweise verzichten. Somit mussten die beiden jungen Herren so manche beabsichtigte Unternehmung „geheim halten“.

So durchlebten Herbert und Kurt in den 20er und 30er Jahren eine frohe gemeinsame Zeit, noch ohne Krieg und Waffen.

Aber bereits am 15. August 1939 (!) wurde Herbert, wie viele junge Männer im wehrpflichtigen Alter, zur Wehrmacht eingezogen. Herbert musste in einen sinnlosen und verbrecherischen Krieg ziehen. Er hatte mit meinem Vater vereinbart, falls in Dresden etwas Schlimmes passieren würde, Gertraute unbedingt zu helfen, wenn er nicht vor Ort sei. Er hatte seine Frau im Sachsenwerk Niedersedlitz kennen gelernt, wo beide arbeiteten. Herbert war gelernter Kaufmann und Gertraute fand eine Ausbildung als Stenotypistin.