Professor Heinrich Möller - Reiner Lohse - E-Book

Professor Heinrich Möller E-Book

Reiner Lohse

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Beschreibung

Prof. Heinrich Möller (1835-1929), in Altona geboren, entwickelte sich als Meisterschüler Johannes Schillings in Dresden zu einem angesehenen Bildhauer. Er schuf über 100 Werke der plastischen Kunst für viele deutsche Standorte, darunter Hamburg, Bremen, Dresden und Leipzig. Tragisch ist, dass viele Entwürfe, Modelle und auch Originalkunstwerke im Krieg zerstört wurden. Dennoch gelang die Erarbeitung eines Werkverzeichnisses und die Auffindung verschiedener Kunstwerke.

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Unvergessen:

Leben und Werk eines großen Künstlers:

Professor Heinrich Möller

1835 – 1929

Bildhauer in Dresden

Abb. 1: Türschild in Porzellan (1904).

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1: Kindheit zwischen Armut und Spannung

Altona damals

Aus Kindheitstagen

Kinderarbeit

Im Kneipenmilieu

Kapitel 2: Jugendliche Unentschlossenheit

Handwerkliche Ausbildung

Möller in Nienburg

Bildschnitzerei in München

Kapitel 3: Möller in Dresden

An der Kunstakademie

Kapitel 4: Italienreise

Venedig

Marmorstudien

Rom I

Säulenstudien

Rom II

Kapitel 5: Als Bildhauer in Dresden

Entscheidung für die Zukunft

Bildhaueralltag

Kapitel 6: Möllers Werke

Anmerkungen zum Werkverzeichnis

Das Werkverzeichnis

Die Werke im Einzelnen

Das Lornsen-Denkmal

Marmorrelief für das Heinestift Hamburg

Heinrich der Löwe

Lutherkirche Leipzig

Figuren auf der Semperoper Dresden

Äsop auf dem Esel

Die Bremer Stadtmusikanten

Figuren an der Kunstakademie Dresden

4 Evangelisten Martin-Luther-Kirche Dresden

Satyr m it vier Jungen

Kapitel 7: Möllers Arbeitsstil

Professur für Heinrich Möller

Kapitel 8: Altersruhe

Freundschaften

Der 90. Geburtstag von Heinrich Möller

Lebensende

Nachwort

Literatur- und Quellenverzeichnis

Begriffe aus der Bildhauerkunst

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Bildnachweis

Vorwort

Er ist noch heute ein beeindruckendes Beispiel für einen außergewöhnlichen Künstler des plastischen Gestaltens: Heinrich Möller, einer der bekanntesten und viel beschäftigsten Bildhauer seiner Zeit, hervorgegangen aus der Schule Johannes Schillings. Möllers künstlerisches Talent, seine figurbetonten Fähigkeiten und Fertigkeiten wurden fast „sprichwörtlich“ – legendär in den Künstlerkreisen Dresdens und Hamburgs und darüber hinaus in weiten Teilen Deutschlands zu Anfang des 19. Jahrhunderts angesehen. Oft sagte man ihm nach, er habe die seltene Gabe, seine Eindrücke und Gefühle zu Personen und Tiergestalten in seinen Werken in ausdrucksstarker und lebendiger Weise zur Wirkung bringen zu können, wesentlich anders, als viele Bildhauer in der damaligen Zeit. Das schien auch der Grund dafür gewesen zu sein, wodurch der Künstler so zahlreiche Zuschläge für die Fertigung von Auftragswerken bekam, beeindruckte er doch bereits mit seinen Entwurfszeichnungen und Modellen mit seiner frischen, humorvollen Art die bürgerliche Aristokratie in vielen Städten ganz Deutschlands.

Heinrich Möller wuchs als holsteiner Kind in Altona, heute Stadtteil Hamburgs, auf. 1835 wurde er geboren, gerade in einer Zeit, in der die Familie unter äußerst schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen litt. Täglich mit Not und Armut an Elbe und Nordsee und zugleich mit der zunehmenden Industrialisierung konfrontiert, war es für Familie Möller äußerst schwer, zu überleben. Um alles zu überstehen, mussten selbst die Kinder in Fabriken und Manufakturen im Gebiet um Altona mitarbeiten, um die Lebenslage einigermaßen beherrschen zu können. So lernte Heinrich schon frühzeitig, dass er sich anstrengen und hart arbeiten musste, um „leben“ zu können. Bald aber entdeckte er bei sich selbst, wo seine Begabungen und seine starken bzw. schwachen Seiten lagen. Wie er das erlebte und ergründete, schon in frühem Kindheitsalter, und was seine Eltern dafür tun konnten, werden Sie in spannenden Passagen lesen können.

Schließlich beschritt Heinrich Möller verschiedene, oft ungewisse Wege, meist noch nicht reif für eine wirkliche, eigene Entscheidung. Doch war er klug und lernfähig, begriff schnell, was ihm lag und was nicht. Andererseits – wie auch heute - waren bestimmte Lebensabschnitte auch von Lustlosigkeit und Desinteresse gezeichnet, im kindlichen, wie auch im jugendlichen Alter. Die Hilfe und der Rat anderer Menschen, aus dieser Phase herauszukommen, waren für Möller mehr als bedeutsam.

Später dann, nach Ausbildung und verschiedenen Reisen, entschied Heinrich Möller, sich als Bildhauer zu profilieren mit einem fundierten akademischen Studium und Fachausbildung an der Dresdener Kunstakademie. Sein wertvolles künstlerisches Schaffen wurde schließlich 1902 mit seiner Professur gekrönt, die ihm König Albert zuerkannte.

Nach nunmehr vierzigjähriger Kunstforschung gelangen uns die Wiederauffindung vieler seiner Werke und damit dieses Buch mit biografischen Zügen. Es kommt fast einem Wunder gleich, dass die Aufstellung eines Werkverzeichnisses schließlich doch noch gelang, wenn auch mit großen Lücken. Dennoch bleiben viele Fragen offen. Eine große Zahl von Entwürfen, Zeichnungen, Detailstudien, Modellen und Originalplastiken wurden im 2. Weltkrieg zerstört, gestohlen oder verschleppt. Von Vielem existieren nur noch Fragmente, Teilstücke, spärliche Notizen, jedoch gibt es vielfach gar keine Informationen.

Unter diesen Umständen will das Buch einen eigenständigen, kulturhistorischen Beitrag dazu leisten, um künstlerisch interessierten Menschen, Kunsthandwerkern, Wissenschaftlern und Kunstschaffenden Leben und Werk Heinrich Möllers näher zu bringen. Zugleich soll das vorliegende Buch Ausgangspunkt dafür sein, Möllers Plastiken der Öffentlichkeit wirkungsvoll zu präsentieren. Darüber hinaus erlaubt das Buch Einblicke in die Lebensweise der Menschen im 19. Jahrhundert.

Wie wir dazu kamen, dieses Buch zu schreiben?

Das ist eine lange, zum Teil unbegreifliche Geschichte, die ursächlich auf „indirekte Verwandtschaftsbeziehungen“ zurück führt:

Heinrich und Therese Möller hatten zwei Kinder, Sohn Gottfried und Sohn Hans. Sohn Hans war wohl Maler, Gottfried dagegen Kaufmann. Nach Jahren entschloss er sich, in Oberschöna bei Freiberg eine Mühle, die so genannte „Schrödermühle“, mit Hof und Ländereien zu kaufen. Das war 1910. Das Objekt baute er zu einer attraktiven und weit bekannten Ausflugsgasstätte aus. Ende der 30er Jahre lernte er seine spätere Frau Ida kennen. Sie heirateten 1940 und betrieben die Gastwirtschaft gemeinsam mit Angestellten. Nach Kriegsende kam es zu einem tragischen Unfall: Neben der sowjetischen Kommandantur in Freiberg gerieten die Pferde eines abgestellten Fuhrwerks in Aufregung und Unruhe. Gottfried kam hinzu und da er gut mit Pferden umzugehen verstand, versuchte er, sie zu beruhigen. Doch konnte er die Lage hohen Alters wegen offenbar nicht mehr beherrschen, bekam einen Schlag mit der Deichsel an den Kopf und erlag seinen Verletzungen. Das war im Februar 1948. Jetzt stand seine Frau Ida allein da, mit einem riesigen gastronomischen Objekt. Nach einiger Zeit lernte sie Ernst, der Serviermeister war, kennen und sie beschlossen 1950, gemeinsam durch das Leben zu gehen. Aus dieser Ehe also stammt meine Frau, die Lehrerin ist und u.a. eine Kunstausbildung absolviert hat. Das Leben und Schaffen Heinrich Möllers waren meiner Frau und mir so außerordentlich wichtig, dass wir unnachgiebig und Schritt für Schritt mit den Nachforschungen begannen, mit dem Ziel, Leben und Werk eines hervorragenden Künstlers seiner Zeit für die Öffentlichkeit dauerhaft zu erhalten.

Gewiss werden Sie Gefallen an Heinrich Möllers Kunstwerken finden und auch von seinen zahlreichen künstlerischen Unternehmungen begeistert sein. Die Art und Weise seines Arbeitsstils und die hohe Ausstrahlungskraft seiner Werke sind noch heute beispielgebend.

Haben Sie Mut, auf eine spannende Künstlerreise zu gehen und haben Sie Spaß daran, neue persönliche Erkenntnisse zu den Werken des Künstlers und zu Ihrer eigenen Haltung zu gewinnen.

Herzlichst

Reiner Lohse

Freiberg, Oktober 2016

Kapitel 1:

Kindheit zwischen Armut und Spannung

Altona damals

Um die Situation von Heinrich Möllers Familie in der Zeit seiner Kindheit und Jugend zu verstehen, seien in groben Zügen die historische Entwicklung der Stadt Altona und die dortigen Lebensbedingungen vorangestellt.

Alles begann mit zunehmender Ansiedlung von Bauernhäusern, Wirtshäusern, Fischerkaten und Handwerkern in einem Dorf vor den Toren Hamburgs, etwa um 1600. Schnell nahm die Einwohnerzahl zu und auch die Entwicklung von Wirtschaft und Handel auf Grund des anliegenden und ausbaufähigen Elbhafens, gewissermaßen als „Tor zur Welt“. Der dänische König verlieh Altona 1664 das Stadtrecht mit Voraussicht auf harte Konkurrenz zum benachbarten Hamburg. Es gab für Altona zu dieser Zeit außergewöhnliche Vorteile, wie Gewerbe- und Religionsfreiheit, freie Zuzugsmöglichkeiten, Schulbesuchsvorteile u.a. Kaufleute durften ihre Waren im Altonaer Hafen unverzollt umschlagen, wodurch einer der ersten Freihäfen Europas entstand.

Eine schon um 1530 entstandene Fischerkneipe, der man einen zweifelhaften Ruf nachsagte, soll dem Ort den Namen gegeben haben. Das Wirtshaus befand sich „all to nah“ (all zu nah) an der Grenze zu Hamburg. So soll der Name „Altona“ entstanden sein.

Dann im 18. Jahrhundert wurden Hafenanlagen errichtet oder erweitert, Wohngebiete vergrößert, Straßen angelegt und gepflastert, Lagergebäude gebaut. Kaufleute, Fischer und Reeder machten gute Geschäfte und konnten sich mit beachtlichen Gewinnen entwickeln. Etwa ab 1830 nahm die Industrialisierung im Gebiet um Altona in bisher unbekannter Dimension zu: Neue Manufakturen und Fabriken wurden eröffnet, besonders für die Fischproduktion, die Zündholzherstellung, die Zigarrenfertigung, Schiffbau und natürlich Seilereien, aber auch Garn- und Textilmanufakturen. Zur gleichen Zeit stieg auch die Anzahl der Arbeiter für Tätigkeiten im Hafen sprunghaft an. Dabei ist festzustellen, dass die Flotte Altonas mit über 320 Schiffen eine harte Konkurrenz zu Hamburg wurde und zugleich eine stabile Basis für den Ausbau des Welthandels über den Schiffsverkehr darstellte, was wiederum den Kaufleuten deutliche Gewinne in Aussicht stellte. [1]

Demgegenüber ist in der Zeit von 1830-1850 eben gerade in Altona unter der Arbeiterschaft extreme Armut vorherrschend. Für einen Hungerlohn müssen Tätigkeiten im Hafen, in den Fisch verarbeitenden Fabriken oder in handwerklichen Manufakturen verrichtet werden. Oft wurden Kinder schon sehr früh zu einfachen Arbeiten für Sortierung und Verpackung herangezogen. Meist waren es Frauen, die mit geschickten Händen die Fischverarbeitung bewältigten. In dieser Zeit entstanden auch erste Formen einfacher Heimarbeit, die den Fabrikanten zusätzliche Profite einbrachten. So kam es, dass viele Arbeiterfamilien ein armseliges Dasein fristeten.

Angemerkt sei noch, dass Altona ab 1937 zu Hamburg gehört. Vorher aber, bis 1866, blieb Altona unter dänischer Herrschaft, zu dem Herzogtum Holstein gehörig. Erst dann kam es zu Preußen und gehörte somit zu Deutschland. So ist auch Heinrichs mehrsprachiges Aufwachsen zu erklären, denn auch die Eltern sprachen dänisch, deutsch und auch plattdeutsch. In diese von verschiedenen politischen Auseinandersetzungen geprägten gesellschaftlichen und auch wirtschaftlichen Bedingungen wurde Heinrich gewissermaßen „hineingeboren“, ein Kind einer notleidenden Arbeiterfamilie.

Abb. 2: Bürgereid für Heinrich Möller.

Aus Kindheitstagen

Hochsommer in Altona. Man schreibt den 20. August des Jahres 1835. Mitten im Gewühl aufstrebender Industrien, unweit des aufregenden Treibens im Elbhafen, wo Schiffe aus allen möglichen Ländern in Eile entladen oder beladen werden, mitten in unvorstellbarer Armut der Arbeiterschaft im Hafenbereich erblickt ein Knäblein das Licht der Welt. Heinrich ist eines von fünf Kindern, die zur Familie gehören. Trotz höchster Not ist die Freude über den neuen Erdenbürger riesengroß. Doch die Familie fristet ein armseliges Dasein. Vater ist Innungsmeister der Altonaer Fleischerinnung und gibt mit meist 16 Arbeitsstunden täglich sein Bestes, um die Familie am Leben zu halten. Er leistet körperliche Schwerstarbeit in der Schlachterei und bei der Fleisch- und Wurstaufbereitung, bewegt über den ganzen Tag zentnerschwere Fleischkörper von Rindern und Schweinen. Zudem bildet er noch Gesellen aus, bringt ihnen die Grundlagen des Fleischerhandwerks bei. All das tut er mit meisterlicher Umsicht, auf momentane Anforderungen konzentriert, und vor allem mit Weitsicht, großem handwerklichen Geschick und der besonderen Gabe, vernünftig mit Menschen umzugehen. Kein Wunder also, dass er am späten Abend müde und zermürbt in seine einfach ausgestattete Wohnung zurückkehrte. Die Folgen schwerer körperlicher Arbeit zeichnen ihn. Dennoch findet er für die Kinder immer ein freundliches Wort und ab und zu erzählt er sogar mal eine spannende Hafengeschichte.

Demgegenüber obliegt die Erziehung und Betreuung der Kinder im Großen und Ganzen der Mutter, die sich mit Geduld und Mühe gefühlvoll der Entwicklung ihrer Kinder widmet, immer in Anbetracht dessen, was die allgemeine Armut der Familie an Schicksalsschlägen aufbürdet. Nur zu oft gab es Lebenssituationen, in denen Familie Möller in arge Not geriet und vielfach kein Ausweg in Sicht zu sein schien. So manches Mal konnte Heinrichs Mutter nur eine Wassersuppe mit Kräutern oder Fleischresten zubereiten. An Brot war an manchen Tagen gar nicht zu denken. Wenn es gut ging, brachte Vater am Abend mal einige Rindfleischknochen mit nach Hause, zum Auskochen für eine Suppe oder ein Eintopfgericht, was allerdings äußerst selten war.

Kinderarbeit

Wohl hatten Vater und Mutter die hochgradige Ausbeutung in allen Bereichen der Wirtschaft beobachtet, die Ursachen dafür aber offensichtlich nicht erkannt. Einerseits schufteten die Arbeiter von früh bis spät für einen äußerst geringen Hungerlohn, andererseits wurden Fabrikanten, Reeder und Kaufleute in Altona, Hamburg und anderswo immer reicher und reicher… Noch extremer wurden die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit durch die sprunghafte Zunahme von Kinderarbeit in den Fabriken, Manufakturen und im Hafenbereich und sogar auf Schiffen. Besonders nach 1840 wurden Kinder in Altona in großer Zahl für einfache Tätigkeiten eingesetzt, meist sogar für acht oder zehn Stunden am Tag bei einer miserablen Entlohnung. Die allgemeine Armutslage brachte hervor, die Kinder der Familien mit „zum Broterwerb“ heranzuziehen. Ein „gefundenes Fressen“ für Kapitalisten jeglicher Art, Kinder für passende Hilfsarbeiten in allen Bereichen von Produktion, Zirkulation und Distribution einzusetzen. Die kleinen, meist flinken Finger konnten Kleinarbeiten besonders gut bewerkstelligen. Andere mussten Transport- oder Verladeleistungen erbringen, vielfach bei körperlicher Überbelastung im Kindesalter durch das Bewegen schwerer Kisten, Säcke, Fässer oder anderer Gegenstände. Nur allzu oft nutzten Reeder, Kaufleute, Fabrikanten und auch die Herren der Altonaer Stadt- und Hafenbürokratie die Schnelligkeit der Kinder für Botengänge aus. Zu Fuß brachten die Kleinen dringende Nachrichten, Rechnungen, Dokumente, kleine Warenpakete oder sonst etwas schneller als die Post mit Postkutsche an die Empfänger. Nicht nur Schnelligkeit, sondern vor allem Zuverlässigkeit waren hier gefragt. Manche Dienstherren in Altona und Hamburg machten es sich zur Regel, von den kleinen Boten eine Art „Pfand“, ein wertvolles Stück etwa, zur Hinterlegung zu verlangen. So glaubte man, sicher zu sein, dass die Kinder ihren Auftrag pünktlich und zufriedenstellend ausführten. Schließlich mussten sie wiederkommen, um ihre Pfandgabe zurück zu erhalten und ihren Lohn zu bekommen.

Wie aus Erzählungen überliefert ist, soll es Heinrich im Alter von acht Jahren einmal passiert sein, dass er nichts für eine Pfandabgabe besaß. Ein Kaufmann, der ihm Botendienste für ein paar Pfennige anbot, war entsetzt darüber und wollte den kleinen Boten schon weg schicken. Dann aber fiel dem raffinierten Mann ein hinterlistiger Trick ein: Heinrich sollte ihm einfach seine Schuhe da lassen. Schon abgetragen und arg beschädigt, zog er sie wortlos aus und stellte sie in eine Ecke des Kontors. Also musste er jetzt seinen Botenauftrag barfüßig ausführen, bis in den Stadtteil Ottensen laufen, bei herbstlicher Kälte, durch Altonas Nebel – es war November geworden… Manch einer hätte aufgegeben, doch der Mut des kleinen Jungen schien bewundernswert zu sein, wenngleich ihm „Rachegedanken“ durch den Kopf gegangen sein müssen. Seine Wut überwand er mit Schnelligkeit, um bald seine Schuhe wieder zu bekommen. Er hielt es so für besser, die Novemberkälte schneller zu überstehen. Aber dann kam alles ganz, ganz anders…

Das Ziel seines Auftrages war ein Kolonialwarenhändler mit einem kleinen, aber mit Waren vollgestopften Ladengeschäft. Heinrich überbrachte dem Ladenbesitzer auftragsgemäß mehrere Briefe und Päckchen. Der ältere Herr musterte den Kleinen, bemerkte aber sofort, dass der Junge barfüßig zu ihm gekommen war. „Wie das, bei dieser Kälte?“, entgegnete er entsetzt und erstaunt zugleich und zeigte auf Heinrichs nackte Füße. Der Junge senkte verschämt sein Köpfchen und erklärte dann kleinlaut, was sich zugetragen hatte. „Dieser Halsabschneider! Nimmt den Kindern noch das Schuhwerk!“ So soll der Ladenbesitzer erzürnt gesagt haben. „Was bekommst Du von ihm?“ ging der Mann im Laden fragend auf ihn ein. „6 Pfennige.“, so Heinrichs Antwort. „Ja, was machen wir da?“ fragte er sich selbst hin und her gerissen. – „Warte einen Augenblick!“ Der Mann verschwand zwischen den Regalen und Kisten seines Ladens und brachte ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen hervor. Heinrich glaubte, er solle dieses Paket dem Kaufmann bringen. Aber nein doch! Der Händler entnahm dem Papier ein Paar Kinderschuhe und Heinrich sollte sie probieren. Der Junge tat, was ihm „befohlen“. „Gut sehen sie aus. Nur etwas zu groß für mich“, meinte Heinrich erregt. „Das macht nichts“, soll der ältere Herr erwidert haben. „Besser mit größeren Schuhen durch den Winter als mit nackten Füßen bis zum nächsten Sommer. Du wirst noch wachsen. Wenn Du willst, schenke ich sie Dir und würde mich aber freuen, wenn Du mir bei einigen Dingen hilfst.“ Der Herr meinte Botengänge – und zahlte ihm künftig das Doppelte… Dann lief das Kind zurück zum Kaufmann im Hafen. Vor Freude spürte er die herbstliche Kälte kaum noch. Freudestrahlend holte er seine zerschlissenen Schuhe und seinen „Lohn“ ab und ging wortlos davon. Heinrich lief nach Hause und lieferte seinen Hungerlohn bei Mutter ab, so, wie er es längst gewohnt war. Mutter aber war ebenso erstaunt über Heinrichs neue Schuhe, kaum begreifend, wie es dazu gekommen war.

Wie Kinderarbeit damals geleistet wurde, zeigt auch die Entwicklung der Zigarrenherstellung in Altona und Ottensen. Die Manufakturbesitzer hatten ein besonders einfaches System ausgeklügelt, womit es ziemlich einfach möglich war, Heimarbeit in den engen, dunklen Arbeiterwohnungen zu organisieren. Einfach war die Sache deshalb, weil es nur weniger Hilfsmittel und Instrumente bedurfte, die man sich relativ leicht beschaffen oder leihen konnte. Das waren einfache Werkzeuge für die Zigarrenherstellung, etwa scharfe Messer, Rollgeräte und Verpackungshilfen.

In Altona gab es aber auch Fabrikanten, die überhaupt keine Arbeitsmittel bereitstellten. Andere verliehen sie gegen eine Gebühr und wenige stellten Werkzeuge und Vorrichtungen unter „Nutzungsabzug“ bereit. Auch Vater Möller erkannte die Möglichkeit, auf diese Art die Einkommenslage der Familie verbessern zu können und organisierte zusammen mit einem Handwerker die nötigen Werkzeuge und Vorrichtungen. Dann sollten seine Frau und die Kinder Tag für Tag Zigarren in bester Qualität herstellen, für nur wenige Pfennige.

Als Heinrich 9 Jahre alt war, versuchte er sein Glück in einer Altonaer Seilerei, die Schiffstaue und Seile für die Schifffahrt herstellten. Aber er ging eher lustlos an seine Aufgaben, empfand das Ganze eintönig und langweilig, doch tat er es, um einige Pfennige für die Familienkasse zu erarbeiten.

Abb. 3: Die Palmaille als Prachtstraße damals.

In dieser Zeit reifte auch die gesetzliche Zulassung zur Produktion von Zündhölzern immer mehr heran. In Altona entstand eine Zündholzfabrik, die anfangs noch die Struktur einer Manufaktur hatte. Flinke, kleine Hände wurden gebraucht und so lag es für den Fabrikanten nahe, Kinder und Frauen für Produktion und Verpackung in größerer Zahl einzustellen. Ihre niedrige Entlohnung sicherte Höchstprofite für den Fabrikanten. Gerade in den Anfangsjahren nach 1844 schien der Absatz der neuen Zündhölzer überall als gesichert, denn quasi jeder brauchte sie. In Niederschriften zu Heinrichs Leben und Schaffen findet man die Anmerkung, er sei alsbald zum „Zündholz-Assistenten“ ernannt worden. [ 2]

Völlig anders vollzog sich Heinrichs kindliches Dasein in seiner „arbeitsfreien Zeit“, also dann, wenn er mal nicht Kinderarbeit in der Zündholzfabrik leisten musste.

In den meisten Arbeiter- oder Fischerfamilien Altonas mit mehreren Kindern war Armut weit verbreitet. So spielte sich der Alltag der Jüngsten fast immer in den dunklen Innen- oder Hinterhöfen ab. Die Sprösslinge versuchten ihre Interessen und Neigungen in einfachen Wettspielen umzusetzen, ohne oder mit nur wenigen primitiven Hilfsmitteln. Oft halfen nur ein kleines Stück Kreide, einige alte Bretter, Steine, ein paar Meter Strick oder Zweige von Büschen und Bäumen. Die Kleinen waren erfinderisch. Der Einfallsreichtum der Kinder war grenzenlos. Sozusagen aus dem Nichts entstanden spannende Wettspiele. Ein Ball war ziemlich selten zu sehen, weil viele Familien sich solche Kugeln nicht leisten konnten. Stattdessen waren Wurfspiele und Zielspiele in großer Variabilität sehr beliebt, von Steinwürfen, Rohrblasen mit Vogelbeeren bis zum Bogenschießen mit selbst gefertigten Bogen aus Weidenzweigen. Spielzeug, um sich auch mal selbst oder mit den Geschwistern zu beschäftigen, gab es kaum bzw. nur in besser gestellten bürgerlichen Familien. So blieb für Heinrich nur dieses Milieu, dieses Umfeld. Wenn ihm danach war, führte sein Weg in den nahe gelegenen Hafen an der Elbe, nach St. Pauli eben. Hier gab es immer etwas zu erleben, Interessantes zu beobachten. Dinge und Abläufe genauestens zu verfolgen, war übrigens eine von Heinrichs frühen Gaben, hinzu zu seiner aufblühenden Sehnsucht nach der weiten Welt, nach dem Meer. Was hätte er alles mit einem großen Schiff erleben können!? Wenn es Gelegenheit gab, ließ er sich von den bärtigen Seemännern Erlebnisse und Abenteuer erzählen. Viel „Seemannsgarn“ muss auch dabei gewesen sein, denn abends, als er Mutter oder den Geschwistern diese Geschichten aus seiner Sicht wiedererzählte, gab es so manches Gelächter, weil Heinrich völlig fasziniert aber unbemerkt wieder einmal auf ein Seemannsmärchen hereingefallen war.

Später wollte er mehr wissen vom Leben auf den Schiffen und wie es beim Fischfang zuging. Bald bat er zwei Fischer, ihn mit an Bord zu nehmen und mit zum Fang auszulaufen. Mutter hatte das erlaubt, war er doch drei Tage unterwegs, nur mit dem Nötigsten und einer Flasche ostfriesischen Tee von Mutter und etwas Brot ausgerüstet. Tag und Nacht auf einem Fischerboot zu verbringen, bei beachtlichem Wellengang, war nicht so leicht wegzustecken. Doch Heinrich bewährte sich als „tapferer Seemann“ und „Fischer“ zugleich. Kleine einfache Tätigkeiten musste er schon selbst verrichten. Die beiden Fischer brachten ihm bei, wie er mit dem Leben auf dem Boot zurecht kommen konnte, zeigten ihm wichtige Handgriffe und Tricks, führten ihn in die Handhabung von Seilen und Tauen ein, brachten ihm bei, wie Fische zu fangen waren. Das alles war für den Kleinen wichtig geworden, um mit den Tücken des Meeres fertig zu werden. Sogar ein kleines Fangnetz soll Heinrich bekommen haben. Doch tatsächlich ein paar Meerestiere ins Netz zu bekommen, war gar nicht so leicht. Heinrich musste sich als kleiner Junge schon etwas Fanggeschick aneignen, sich in Geduld üben, oft auch noch einmal alles von vorn beginnen. Wenn das Netz also leer war, hieß es, das Ganze noch einmal zu wiederholen, bis endlich seine Beute an Bord gezogen werden konnte. Doch schließlich soll der Junge gegen Ende seiner Fischfangtour doch noch Glück gehabt haben. Sein Fang füllte immerhin drei Kisten, die er behalten durfte. Den angelandeten Fang trug er sogleich auf den Fischmarkt zum Verkauf. Die Fischer zeigten ihm noch, wie er die Meerestiere ansprechend einsortieren und anbieten sollte. So kam es, dass der kleine Fischer mit einem kleinen Ertrag und einem kleinen Rest Fische, die übrig geblieben waren, nach Hause zurückkehrte.

Abb. 4: Der Altonaer Fischmarkt zum 1860.

Diese Fischfangtour sollte für ihn gewissermaßen zu einer Art „Schlüsselerlebnis“ werden, denn er hatte inzwischen begriffen, dass ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen, eigenen Willen, oft harte Arbeit, Mut und Geduld voraussetzen. So konnte Heinrich wirklich stolz auf sich sein, einen solchen kleinen, für ihn aber „großen Fang“ gemacht zu haben. Zudem hatte er vieles von den Fischern gelernt und neue Freunde gewonnen. Gewiss, sie hatten es ihm nicht leicht gemacht, doch sein eigener Erfolg hatte ihn für alles belohnt.

Heinrichs Interessen in gerade diesem Kindheitsalter waren äußerst vielfältig. Dabei war er wissbegierig, immer auf der Suche, Neues und dabei sich selbst neu zu entdecken, furchtlos, fröhlich gestimmt und oft zu Scherzen und Streichen aufgelegt, jedoch kindgemäß, immer noch wankelmütig und unentschlossen. Aber da war noch eine andere Sache, die sich alsbald zu einer Leidenschaft mit Begabung entwickeln sollte, die sogar der Mutter noch verborgen geblieben war: Heinrichs musisches und grafisches Talent, einzigartig für ein Kind seines Alters.

Eines Tages brach er wieder mal auf, um in St. Paulis Hafengebiet etwas zu erleben. An einem Kai nahe am Fischmarkt sah er einem älteren Maler zu, wie er Hafen- und Fischerszenen zu Papier brachte. Der Mann mit einem Vollbart, dem eines Kapitäns gleich, zog Heinrich in seinen Bann. Heinrich setzte sich auf einen Holzbalken und sah ihm stumm zu, beobachtete messerscharf, wie der Maler emsig an seinem Motiv arbeitete. Bald aber durchbrach der Maler die stumme Beobachtungsphase:

„Na, Kleiner, was ist denn so interessant für Dich?“ sprach er mit der tiefen Stimme eines Bassisten gleich.

„Mir gefällt es, wie Sie das Bild malen“, meinte Heinrich etwas verschämt mit gesenktem Kopf.

„Was muss man machen, damit man ein solches Bild herausbekommt?“

„Zuerst musst Du Dir mit Geduld einige Kenntnisse aneignen, auch Fertigkeiten, etwas zu gestalten, dann üben und nochmals üben, immer wieder, bis Du es geschafft hast, ohne aufzugeben meisterhaft zu arbeiten.“ Das war viel.

„Möchtest Du denn vielleicht mal was probieren?“

„Ja, schon. Aber ich habe doch nichts zum Probieren.“

Der Maler griff in eine kleine Holzkiste und holte ein paar Blätter von seinem Skizzenpapier hervor, dazu einen kleinen Bleistiftstummel und ein Stück Kohlestift. Mit Papier und Bleistift war Heinrich zu Hause schon umgegangen, ohne Anleitung, nur um sich malend zu beschäftigen.

Dabei zeigte Heinrich schon mit sechs Jahren seine Neigung, wirklich gern zu malen und zu zeichnen. Aber schon bald waren ihm die einfachen primitiven Kinderzeichnungen zu wider und fast hätte er Zeichnungen jeglicher Art für immer beiseite gelegt, wäre nicht seine Mutter auf die Idee gekommen, ihm zu raten, sich doch mal beim Nachzeichnen nach natürlichen Vorlagen zu versuchen. Bäume, Pflanzen, Blüten, Menschen Tiere gab es schließlich in Hülle und Fülle. Auch Märchenszenen nach seiner Phantasie lagen ihm sehr.

Nun war er an den Maler im Hafen geraten, der ihm einige Aufgaben stellte, um sich üben zu können. Heinrich sollte sich zuerst einfache Motive suchen und Details gut beobachten, auf Feinheiten und Größenverhältnisse achten. Heinrich tat, was ihm geraten. Nach einiger Zeit bereits konnten sich die ersten Ergebnisse durchaus sehen lassen.