Lichtkind - Sylvia Wage - E-Book

Lichtkind E-Book

Sylvia Wage

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Beschreibung

»Worum geht's denn eigentlich?«, frage ich Lu, die im Schneidersitz auf dem Fensterbrett hockt und Grünen Tee trinkt. »Jedenfalls nicht um Vampire«, sagt sie. »Dafür kommen aber echt viele Vampire im Buch vor«, sage ich und blase die Backen auf, wie früher, wenn Herr Hieke mir mit Kommasetzung kam. »Ja, aber darum geht's ja nicht.« »Stimmt.« »Aber worum geht's dann?« »Öhm. Um dich?«, schlägt Lu vor. »Das Leben, deine Mutter ... Bücher, Beziehungen? Piet, mich und ...« »Und Godot!«, brüllt Piet aus seinem Zimmer. »Klar! Logisch! Godot!«, brüllen Lu und ich zurück, und ich füge deutlich leiser hinzu: »Ja, aber: Worum geht es?« »Keine Ahnung«, sagt Lu, »muss es denn immer um irgendwas gehen?« »In Büchern schon.« »Nicht in dem hier«, sagt Lu und gießt sich Tee nach.

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Die Autorin

Sylvia Wage, geb. 1974 im tiefsächsischen Zwickau, gelebt in Dresden, gestrandet am Rande Berlins, vertreibt sich die Arbeitszeit mit PR und die Freizeit (gern auch mal an der frischen Luft) mit Pfeil, Bogen, Kite, Hund und Familie. Wenn sie dann nicht gerade Blognetzwerke (wababbel) administriert oder Lesungen (ver/W/ort/bar) organisiert, dann erzählt sie: vom Seltsamen im Alltäglichen, vom Absurden des Alltags und manchmal, in den besten Momenten: einfach nur vom Leben.

Mehr: www.debruma.de

Inhaltsverzeichnis

Kisten

Lu

Sechs Wochen

Schmuckparty

Irre

Mimi

Gardinen

Im Park

Fortpflanzung

Bewohner

Bücher

Vampire

Im Park II

Piet

Zeit

Olena

… und aus Liebe?

Anthrazit

Koitabilitätsfaktor

Muttiqualitäten

Menschliches am Morgen

Klischees

Gardinen II

Geld

Instabil

Gebacken

Jung

Lesen

Ein Angebot

Liegen bleiben

Ein Anruf

Geregelte Tätigkeit

Spät

Schlaflos

Zoo

Lasagne

Uniformiert

Eva

Arbeitsbeschaffungsmaßnahme

Sushi

Big Daddy

Eugenia

Oper

Bessere Gesellschaft

Gutenachtgeschichten

Ende mit Ficus

Karoline

Unerwartet

Kaffee oder Tee

Sollte

Wozu hat man Freunde

Alles Blau

Verflucht

Pelmeni

Freundinnen?

Traumjob

Pandas

Die Wahrheit über den Weihnachtsmann

Weihnachtsmarkt

Stollen

Nachwehen

Perspektiven

Perspektiven II

Oper II

Auszug

Kopflos

Kopflos II

Geburtstag

Ausgestellt

Alles Gute, oder wie man so sagt

Ein Gerücht

Blass

Beim Steuerberater

Vampire II

Das Wesentliche zuerst

Eine Frage

Prägnant

Jupiter

Hühnersuppe mit Erbsen

… wenn ich alt bin

Die Familie

Nur eine Fahrt

Karpfen

Asche zu Asche

Eine Frage der Statistik

Ohrringe und Wunderkinder

Wenig Dämonisches

Der Chemiker

Diavortrag

Endlose Fakten und keine Antworten

Top Secret?

Was für Katzen?

X-Men

Löchrig

Döner mit alles

… ein ganz normaler Junge

Wir melden uns

Urlaub

Morgengrauen

Frühlingsspaziergang

Vom Werden und Vergehen

Yaksha

Rot

Müssen wir nicht?

Frankreich?

Schokolade und Tabak

Der Zauber trank

Ewig

Losing my religion

Paris

Narzissen in Vorgärten

Riesig

… ohne Bart

Schmuggelware

USB

Bikram-Yoga

Logik

Geld und Verbindungen

Namen

Drei Uhr Tee

Ein Date

Schutzhund

Evan

Bluttrinker

Ein Freund

Schuhe

Schneller

Schuhe II

Weinprobe, danach

Mutation

Die Wahrheit über den Osterhasen

Tränen

Schulkind

Tagebuch

Laufen

Ingwerwasser

Ahasver

Ahasver II

Grillen

Bibliothek

Ende mit Ficus II

Geschichtsstunde

Walter

Konsequenz

Konsequenz II

Naturgewalt

Geschmeide

Nichts ist, das ist es ja gerade

Ohren in Rot

Metall

Lesezeichen

… und weg

korbendallas

korbendallas II

Das Fehlen von Normalität

Zu laut

Erklärung I

Laufen

An der Straßenecke

Verschoben

Rückweg

Erklärung II

Besuch

Korben Dallas

Was?!

Ich bring dich um

Vor der Tür

Vollvogel

Lass die Hunde los

Der Liebende

Marvel Avengers

Stilecht

Der Zettel

Faktenlage

Vampire im Nebel

Wahre Liebe

Ausgehen

Aufgebrezelt

Linchen

Und Tschüss!

Trau keinem

Io

Dabei sein ist alles

Dunkle Seiten

Kindergartenfest

Lügner

Gentleman der alten Schule

Wessis

Aufbruch

Schokolade

Lost in Mutation

Der schmale Riese

Mama

Lichtkind

Im Keller

Im Keller II

Macht

Cola

Wunderkind II

Noch mehr Fragen

Pfannkuchen

Massenveranstaltung

Party

Meeting

Nüchtern

Vor dem Schlafengehen

Babyblues

Sommer

Vogelfutter

DomRep

Sommer II

Abschied

Wer oder Was

1 Kisten

Die Hälfte meines Lebens habe ich weggeworfen.

Die Sachen, all den Kram, der sich ansammelt über die Jahre. Kleidung, Bücher, Vasen, Christbaumkugeln und Holzosterhasen. Schuhe, Bilder, Geschirr. Haarspangen und Eierkocher, Schuhcreme (eingetrocknet), Lippenstifte, Urlaubsmitbringsel, Kuscheltiere. Stifte. Erstaunlich, wie viele Stifte man in fünf Jahren anhäuft.

Fort.

Der Rest steckt in Kartons. Kisten, die ein imposantes Stapelwandbild abgeben.

»Du wirst was von dem Zeug entsorgen müssen.« Meine Mitbewohnerin steckt den Kopf durch die Tür.

»Ich könnte die Kartons auch dekorativ gestalten.«

»Serviettentechnik?«

»Ich dachte an Filzblumen und Glitzer.«

»Hübsch. Kaffee?«

»Gern.«

Ich habe so vieles weggeworfen, auf ein paar Kisten mehr kommt es nicht an.

2 Lu

»Also: du trennst dich, wirfst deinen Job hin und kommst zurück. Von mir aus. Aber gibt es einen bestimmten Grund, warum du mit einer Lesbe zusammengezogen bist?«

Wir sitzen in dem Sammelsurium aus Möbeln, Elektrogeräten, Töpferkunst und Götterstatuen, von dem Lu behauptet, es sei die Küche, und trinken ayurvedischen Kräutertee. Harmoniemischung.

»Sie ist keine Lesbe, Mama.«

»Also, wenn man sich Lu nennt …«

»Nicht sie nennt sich Lu, ihre Eltern waren das.«

»Luise.«

»Was?«

»Sie heißt sicher Luise.«

»Sicher nicht. Sie heißt Lu.«

»Oder Luisa?«

»…«

»Hast du ihren Ausweis gesehen?«

»Äh? Nein?«

»Siehst du.«

Ich schaufle zwei weitere Löffel Zucker in meinen Tee. Ich bin wieder daheim.

3 Sechs Wochen

Vor sechs Wochen wohnte ich in Frankfurt. Mitten im Zentrum, auf hundertzwanzig Quadratmetern. Ich hatte ein Arbeitszimmer, ein eigenes Bad und einen begehbaren Kleiderschrank.

Ich arbeitete. Nichts Besonderes. Einer dieser Jobs, in denen man keine Karriere macht, nicht allzu gut verdient, aber auch nicht allzu viel tun muss. Nette Kollegen. Viel Routine. Der Chef ein Gelegenheitscholeriker. Wenn er brüllte, hatte man am Abend wenigstens etwas zu erzählen.

Der Mann an meiner Seite war ein großartiger Kerl, mit zurückgehendem Haaransatz und beachtlichem Jahreseinkommen. Er räumte jeden Abend die Spülmaschine ein und auf seinem Nachttisch lag Pessoas Buch der Unruhe. Es lag seit zwei Jahren da und er war auf Seite →.

Wir kannten uns mehr als fünf Jahre und wir kannten uns gut. Alle Streitpunkte so weit ausgelotet, dass sie entweder geklärt waren oder man ihnen geschickt ausweichen konnte. Keine Notwendigkeit mehr, andauernd zusammenzuhängen. Er ging am Wochenende biken, ich mittwochs zum Yoga und allein in die Oper. Dafür sonntags Candle-Light-Dinner beim Italiener. Die Rollen waren verteilt, der Sex effizient.

An diesem Punkt heiratet man und bekommt Kinder. Haben wir nicht getan.

Oder man schläft mit Mimi, der Krankenschwester. Hat er getan.

So was kommt vor. Einige zerdepperte Tassen und ein halbes Jahr Paartherapie später heiratet man, bekommt Kinder und lässt die Finger vom Mobiltelefon des Partners.

Alles kein Grund zu kündigen, seine Sachen zu packen und in seine Heimatstadt zurückzuziehen. Habe ich aber getan.

4 Schmuckparty

Wenn es sich herumspricht, dass du aufgrund besonderer Umstände in deine Heimatstadt zurückkehrst – und dank meiner Mutter sprach sich das schnell herum – dann wollen dich alle möglichen Leute sehen. Vor allem die, die du nicht sehen willst.

So erhielt ich, noch ehe die Hälfte meiner Kisten ausgepackt war, eine Einladung zu einer Schmuckparty.

»Du gehst da hin«, entschied Lu.

»Wieso sollte ich?«

»Weil die sonst alle hier auftauchen. Einzeln.«

»Es werden wohl kaum alle auf dieser Party sein …«

»Natürlich nicht alle«, erläuterte Lu und machte ihr Muss-ich-direigentlich-alles-erklären-Gesicht, »aber die neugierigsten. Und die können dann dein bisschen Leiden unter all den übrigen verbreiten. Fertig.«

»Aber du kommst mit.«

Lu kam mit.

»Du kommst wirklich mit?« Ich traute der Sache nicht.

»Klar. Ich bin ein Mädchen. Das ist eine Schmuckparty. Also?«

»!«

»Ich hab auch ’nen Schuhtick.«

»Nimm’s mir bitte nicht übel, aber allein aus der Tatsache, dass du drei Paar Wanderschuhe besitzt, leitet sich kein Schuhtick ab.«

»Du vergisst meine Turnschuhe.«

»Und die Gießwein-Hauspantoffeln, richtig?«

»Siehste!«

Wir gingen zur Schmuckparty. Lu in Trekkinghosen und ich im Sommerkleidchen, mit locker hochgesteckten Haaren.

Die Gastgeberin gab sich überzeugend warmherzig. Wir tauschten Erinnerungen und Neuigkeiten, aßen Miniquiches und tranken Asti Cinzano. Jetzt habe ich die passenden Ohrringe zu meinem Sommerkleidchen und Lu einen Satz Armbänder. Kollektion: ›Geheimnisvoller Orient.‹

Sie will Katzenhalsbänder daraus machen.

5 Irre

»Ich zieh die Irren einfach an.« Meine Tasche landet in einer Ecke, die Jacke in einer anderen.

»Du ziehst die Irren nicht an«, sagt Lu und trägt unbeeindruckt ihr Glas und eine Flasche Rotwein an mir vorbei ins Wohnzimmer. Der Fernseher läuft, n-tv.

»Ach so, dann ist ja gut.«

»Du begegnest nicht mehr Irren als jeder andere auch. Die Welt ist voll davon«, sagt Lu, nachdem die Nachrichten vorbei sind. »Der Punkt ist: du hörst ihnen zu.«

Mit den kurzen, von Grau durchzogenen Haaren und ihrer Vorliebe für Orange erinnert Lu an eine buddhistische Nonne. Eine buddhistische Nonne mit Iron-Maiden-T-Shirt.

»Hä?«

»Kein Mensch hört zu. Man erfasst die Fakten, meistens, oder versucht, einen Überblick zu bekommen – gerade so weit, bis man glaubt zu wissen, worum es geht. Aber kein Mensch hört zu. Und den Irren schon gar nicht.«

»Keiner?«

»Außer dir.«

»Oh bitte …«

»Pass auf. Als ich dich in Frankfurt besucht habe vor drei Monaten. Vier? Unwichtig. Da haben wir die ehemalige Klassenkameradin meines Bruders getroffen.«

»Stimmt.«

»Ihr Baby lag im Krankenhaus.«

»Ja. Herzin- …«

Lu unterbricht mich: »Wie war der Name des Babys?«

»Elly. Mit y.«

»Noch Fragen?«

»Zufall.«

»Ach?«

»Also sollte ich es mir abgewöhnen? Das Zuhören?« Wir sind bei der zweiten Flasche Wein.

»Vergiss es. Das ist, als würde man versuchen, nicht mehr ängstlich zu sein. Oder aufbrausend. Oder phlegmatisch.«

»Na toll. Und was …?«

»Rede.«

»Hä?«

»Solange du redest, kannst du nicht zuhören.«

»Ich soll erzählen?«

»Ja.«

»Wovon?«

»Davon. Von allem. Von nichts. Egal.«

»Und wenn das niemand hören will?«

»Wie gesagt: es hört eh keiner zu.«

Also erzähle ich.

6 Mimi

Ich war nicht wütend.

Nicht auf ihn, nicht auf Mimi. Nicht auf die Socken, die ich fünf Jahre lang gewaschen hatte. In festen Beziehungen sind fiese grippale Infekte nun mal häufiger als Spaziergänge im Mondschein.

Mimi war reizend, jung und himmelte ihn an. Passiert. Wenn sie mich so angehimmelt hätte, wäre ich vielleicht auch mit ihr ins Bett gegangen.

Kein Zorn.

Keine Enttäuschung.

Keine Kullertränen.

Nur Erleichterung.

Mein ganzes bequemes Leben. Das Erreichte, das Erarbeitete, das Zugefallene. Es hatte nichts mit mir zu tun. Schon eine Weile nicht mehr. Vielleicht seit dem Tag, als ich zu ihm nach Frankfurt zog, wer weiß das schon.

Durch Mimi hatte ich einen Grund zu gehen. Was immer es über mich aussagt, wenn erst ein Wesen mit rosaroten Ohrringen und Hello-Kitty-Handtasche auftauchen muss, damit ich Entscheidungen treffe, aber für Mimi hoffe ich, es bringt ihr einen Platz ein. An seiner Seite. Mit eigenem Bad und begehbarem Kleiderschrank.

7 Gardinen

»Komm mit, im Aldi haben sie Gardinen.«

Meine Mutter. Steht um acht Uhr morgens in der Tür; ich – barfuß, ungeschminkt und mit Kaffeetasse in der Hand – versuche, so verärgert wie möglich auszusehen, damit sie ihr Vorhaben direkt wieder aufgibt.

»Na los! Los! Die sind schnell weg!«

Lu taucht im Flur auf, das Telefon in der Hand. »Hör mal.« Sie zögert, wirft einen Blick auf meine Mutter. »Ähm, es ist, du weißt schon …«

Ich habe die Wahl: ich kann mit meiner Mutter Gardinen kaufen oder mit meinem Ex telefonieren. Hm …

Am Anfang stammeln wir beide Blödsinn. Dann klären wir Dinge. Sachliches. Nach fünf Jahren schließt sich eine Tür nicht ohne Weiteres. Man muss aufräumen, damit sie zugeht.

»Es tut mir leid«, sagt er, als ich bereits auflegen will.

»Muss es nicht.«

»Doch.«

Pause.

»Wenn du – ich wollte nicht, wir … es war … ich dachte, wir würden heiraten.«

»Das dachte wohl jeder«, sage ich leise und es ist mies von mir, ihn den Schuldigen sein zu lassen.

Als ich wiederkomme, steht meine Mutter noch immer startbereit in der Tür.

»Weißt du«, sagt sie und kramt in ihrer Handtasche, »wenn du dich entschuldigst, nimmt er dich vielleicht zurück.«

8 Im Park

»Mein Leben hatte einfach nichts mehr mit mir zu tun«, sage ich zu Lus Bruder, den ich zufällig im Park treffe.

Eigentlich ist er Lus Halbbruder. Kind aus zweiter Ehe. Als ich ihn das letzte Mal sah, steckte er mitten in der Pubertät. Schlaksig, pickelig. Nervig.

Inzwischen ist er groß geworden.

Sehr groß.

Ich glaube, mir wird warm.

Also: Wir laufen uns zufällig über den Weg. Wir plaudern.

»Finde ich super, dass du Lu im Buchladen hilfst, ist dringend nötig. Aber warum eigentlich? Hattest du nicht ’nen besseren Job?«

»Mein Leben hatte einfach nichts mehr mit mir zu tun.«

»Ah, Selbstfindung«, sagt er und obwohl darin keine Wertung mitschwingt, fühle ich mich zum ersten Mal seit sechs Wochen beschissen.

Kotzelendbeschissen.

9 Fortpflanzung

»Wann weiß man, dass man Kinder will?«, frage ich Lu.

Wir sitzen auf den Stufen der Eingangstreppe. Es ist noch hell und warm. Wir wollen nicht in die Wohnung, wir wollen nirgendwohin. Nur einen Moment im Abendwind. Godot säuft genüsslich aus der Regentonne.

»Woher soll ich das bitte wissen?«

»Du hast ein Kind.«

»Ich hab kein Kind. Ich habe Piet.«

Das ist, wenn man Piet kennt, ein unschlagbares Argument.

10 Bewohner

In der teilsanierten Altbauwohnung mit grünem Hinterhof, in einer Nebenstraße unweit des Stadtzentrums wohnen:

Lu und ich,

Piet

und

Godot. Ein acht Jahre alter Doggenmischling.

Godot zählt nicht. Er ist lebendes Inventar. Hintergrunddekoration. Ich bemerke ihn nur, wenn ich über ihn falle. Was häufig geschieht, denn Godots Hauptbeschäftigung besteht darin, im Weg zu liegen.

Piet zählt. Er ist fünf, zu still und sein Zimmer ist azurblau. Er kann stundenlang neben Godot liegen, im beinahe lautlosen Zwiegespräch. Oder er läuft mir hinterher. Beobachtet. Er fragt nicht viel, aber wenn, will er die ganze Antwort. Wenn ich sie nicht habe, tue ich gut daran, sie zu finden. Sonst schläft Piet nicht. Und auch sonst niemand. Außer Godot.

11 Bücher

»Du kennst die Bedingungen?« Lu ist reichlich nervös. Es wird mein erster Tag ohne sie im Buchladen.

»Sicher. Ich streite mich nicht mit den Kunden und verkaufe jeden Mist.«

»Falsch. Du gibst absolut keine Buchkritik ab. Selbst wenn dich jemand darum anfleht. Du gibst nichts von dir, was vom Klappentext abweicht. Keine Ironie. Keine Kommentare. Nichts. Verstanden?«

»Ja. Sir!«

»Und du verkaufst jedes Buch, das wir haben, und alles andere bestellst du. Kommentarlos. Klar?«

»Hör mal, so schlimm bin ich gar nicht …«

»Doch. Das bist du. Wenn es um Bücher geht, bist du völlig …«

»Bekloppt?«

»Besessen.«

»Ach komm.«

»Erinnerst du dich an letzte Weihnachten, als dir Eva ein Buch von Utta Danella geschenkt hat?«

»Ähm …«

»Eva hat geheult.«

»Vielleicht sollte lieber ich mit Piet zum Arzt gehen und du bleibst?«

»Nein, nein. Ist schon in Ordnung. Hör einfach auf mich und … du weißt schon.«

Lu geht. Die Tür ist beinahe zu. Da dreht sie sich um. »Ach, eines noch …«

»Ja?«

»Pass auf, dass niemand über Godot fällt.«

12 Vampire

»Wir haben Vampire.« Piet sagt das beiläufig, ohne von seinem Buch hochzusehen.

Ich bleibe stehen. »Nun … besser als Ameisen.«

»Was hast du gegen Ameisen?« Jetzt sieht er mich an.

»Sie klauen Essen.«

»Aber doch nur ganz wenig!«

»Ist eine prinzipielle Frage.«

Piet vertieft sich wieder in sein Buch.

»Kleiner?«

»Hm?«

»Was war das mit den Vampiren?«

»Wir haben welche.«

»Wo?«

»Im Haus.«

»Wie: im Haus?«

»Sie besuchen Olena.«

Olena wohnt zweites Stockwerk rechts. Außer der Schwere ihres Parfüms ist mir nichts weiter an ihr aufgefallen.

»Wann besuchen die Vampire sie denn so?«

»Dienstags, gegen fünf. Meistens.«

»Blutsaugende Dämonen besuchen Olena meistens dienstags gegen fünf?«

»Ich hab nicht gesagt, dass sie Blut saugen.«

»Du hast gesagt Vampire.«

»Ja, genau.«

Ich setze mich mitten in den Türrahmen. Godot legt mir in einem Anfall von Aktionismus die riesige Schnauze auf das Bein.

»Mach dir keine Sorgen«, tröstet mich Piet, »ich hab es nur gesagt, damit du Bescheid weißt und dich nicht wunderst.«

Als ob ich mich noch wundern würde.

13 Im Park II

»Was machst du?«

Lus Bruder steht plötzlich hinter mir.

»Ich warte auf Godot«, sage ich und wedle mit der Hundeleine.

»Huah!« Er lacht, klopft mir auf die Schulter und weg ist er.

14 Piet

»So ein klein wenig außergewöhnlich ist Piet aber schon …«

Ich sehe zu, wie Lu mit geübten Handgriffen Vesperbrote schmiert.

»Was du nicht sagst.«

»Wenn man sich mit ihm unterhält - er spricht nicht wie ein Fünfjähriger.«

»Redest du denn mit ihm, als wäre er fünf?«

»…?«

»Wo ist dein Problem?«

»Ich hab nicht gemeint, es sei ein Problem …«

»Warte mal.«

Lu verschwindet. Ich packe die Brote in Tüten, schneide zwei Äpfel.

Als sie zurückkommt, gibt mir Lu ein Foto. Piet ist darauf wenige Tage alt. Seine Haut ist runzelig. Faltig. Sie wirkt wie Baumrinde. Er sieht direkt in die Kamera. Seine Augen sind tief dunkelblau. Auf der Aufnahme wirken sie beinahe schwarz. Das ist nicht das Foto eines Neugeborenen, es ist das eines alten Mannes.

»Das Licht ist seltsam – oder der Winkel«, versuche ich mich an einer Erklärung. »Fotos können echt merkwürdig sein.«

»Das sage ich mir auch immer.«

»Machst du dir Sorgen?«

»Worüber?«

»…«

»Magst du Piet? Ich meine, abgesehen davon, dass er mein Kind ist?«

»Klar! Er ist was Besonderes.«

»Wo ist dann das Problem?«

»So einfach ist das?«

»Das ganze Leben ist einfach«, sagt Lu und lächelt.

15 Zeit

Wenn ich Zeit hätte. Wenn mein Leben nicht aufgefressen würde von Arbeit, Alltagswust und Steuererklärungen, dann …

Nichts dann.

Seit ich hier bin, habe ich noch kein Buch gelesen, war nicht laufen im Park, habe keinen Fritz-Lang-Film gesehen. Nicht einmal die Kisten sind ausgepackt. Die Tage plätschern dahin. Es wird Abend, Nacht, Morgen.

Ich bin nicht aktiv. Ich mag keinen Sport. Kant zu lesen ist öde. Geschirrstapel und Staubflocken sind mir egal. Alles, was ich tun will, ist nachts um drei Rotwein trinken und Family Guy ansehen. Mit einem schnarchenden Godot neben mir.

So viel zur Selbstfindung.

16 Olena

Piet ist bei mir. Er hat sich hustend vor dem Kindergarten gedrückt und steckt jetzt kopfüber in einer meiner Bücherkisten.

Gestern Abend hat Lus Bruder aus ein paar Brettern so etwas Ähnliches wie ein Regal in meinem Zimmer errichtet. Ich konnte Piet davon abhalten, es blau anzustreichen, dafür hilft er mir jetzt beim Auspacken.

Auspacken bedeutet: ich sitze im Schneidersitz auf der Fensterbank, während Piet jedes einzelne Buch untersucht und eine Zusammenfassung des Inhalts von mir erwartet.

Wir brauchen zwei Stunden für zwölf Bücher.

Von meinem Platz aus sehe ich Hauseingang und Straße. Beobachte das Kommen und Gehen, während ich mich mühsam an Geschichten erinnere, die ich vor Jahren gelesen habe.

Es ist ein altes Haus. Es gibt weder Sprechanlage noch elektrischen Türöffner. Wenn es klingelt, muss man die Treppen hinunterlaufen. An den Schritten im Treppenhaus kann ich die Besucher und Bewohner erkennen. Beim Knallen von Olenas Absätzen hebt Godot die Schlappohren.

Wie viele Russinnen ist Olena eher interessant als schön. Sie trägt Goldschmuck und kräftige, dunkle Farben. Ihr Lachen ist laut, selten fröhlich.

Dreimal hallen ihre Schritte an diesem Vormittag durchs Treppenhaus. Vom Fenster aus kann ich die Besucher sehen: Alle sind Männer. Zwei, die einen monströsen Karton in ihre Wohnung wuchten, dann ein blasser Typ mit randloser Brille, der einen Umschlag bringt, und ein weiterer gegen Mittag. Er macht sich nicht die Mühe zu klingeln, hupt nur ungeduldig. Steigt dann aber aus dem Auto, um Olena die Beifahrertür aufzuhalten.

Ein Vampir war nicht darunter. Aber es ist auch nicht Dienstag und nicht gegen fünf.

17 … und aus Liebe?

»Vermisst du ihn?«, frage ich Lu und meine Piets Vater.

Wir liegen bäuchlings auf dem Teppich und trinken Balvenie. Double Wood.

»Klar.«

»Hast du je bereut, dass du nicht mitgegangen bist?«

»Klar.«

Pause. Dann: »Immer wenn ich versuche, mit dem Laptop ins WLAN zu kommen.«

»Haha.«

»Ernsthaft. Es sind diese Momente, in denen du etwas fragen willst, wie du es schon tausendmal getan hast, aber da ist niemand mehr, der dir antwortet. Du bist allein.«

Lu schenkt sich nach.

»Nicht mal heulen kannst du, denn du musst ja dieses Drecks-WLAN auf die Reihe bekommen …«

»Weißt du«, sagt Lu, »diese ganze Sache mit den gleichberechtigten Beziehungen, Wegfall der Rollen, Selbstverwirklichung für alle – das hat einen Haken.«

»Hm?«

»Wenn jeder das Recht auf seinen eigenen Weg hat, dann geht irgendwann jeder seines Weges.«

»Was?«

»Ein gleichberechtigter Partner wird sein Leben nicht hinschmeißen, um deines zu leben.«

»… und wenn man sich liebt?«

»Dann dauert es wahrscheinlich etwas länger.«

18 Anthrazit

Ich bin spät dran.

Mit Godot im Schlepptau springe ich Treppen hinunter, reiße die Tür auf und kann gerade noch ausweichen.

Vor der Tür steht jemand.

Ich sehe kurz hoch, murmele »Entschuldigung«, zerre Godot weiter, stolpere, fluche und mache mich endlich auf den Weg zum Kindergarten.

Während ich vorwärts haste, hängt mir die flüchtige Begegnung nach. Ein Mann. Dunkle Kleidung. Sein Gesicht …

Ich habe viele Männer kommen und gehen sehen in den letzten Tagen. Dieser war anders.

Piets Vampire fallen mir ein.

Blödsinn.

Es ist nicht Dienstag und überhaupt, ich habe ihn kaum gesehen. Wenn ich an solchen Geschichten spinne, bin ich offenbar nicht ausgelastet.

»Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann«, sage ich zu Godot und mache ihn am Zaun des Kindergartens fest.

»Nicht schwarz. Anthrazit«, sagt Piet, der hinter dem Zaun steht und wartet.

19 Koitabilitätsfaktor

Der nächste Abend. Wir wiederholen die Sache mit dem Balvenie.

»Olena hat gut Besuch, oder?«

Lu sieht mich prüfend an.

»Beim Auspacken der Kisten habe ich es zufällig beobachtet.«

»Du hast deine Kisten ausgepackt?«

»Fast.«

»…«

»Hat sie immer so viel Besuch?«

»Von Männern?«

»Ja.«

»Hat sie.«

»Ah so.«

»Hoher Koitabilitätsfaktor.«

»Hoher Koibaili… Koitalio… Koitabilitätswas?« Scheiß Whisky.

»Hoher Koitabilitätsfaktor. Praktische Sache. Immer ein Mann da, der was trägt, hämmert …«

»Ein Essen bezahlt.«

»Genau.«

»Du meinst, kürzere Röcke und rote Fingernägel und ich bekomme doch noch ein Bücherregal, das nicht droht zusammenzubrechen?«

»Hm: der typische Irrtum. Natürlich schaden weder lange Haare noch lange Beine, aber an sich ist das Signalisieren von Paarungsbereitschaft völlig ausreichend.«

»Krieg ich hin.«

»Nö.«

»Wie: Nö? Ich bin paarungsbereit!«

»Ich war noch nicht fertig. Signalisieren von Paarungsbereitschaft ohne Komplikationen.«

»Wo verursache ich denn bitte Komplikationen? Und wenn Olena unkompliziert ist, dann lass ich Piet mein Zimmer blau anmalen!«

»Siehst du, deshalb wird das bei dir nichts. Ich sagte ›signalisieren‹, nicht ›sein‹. Es geht um den Eindruck, den du machst, nicht darum, wer du bist.«

»Und was mach ich falsch?«

»Gar nichts. Aber deine Person schimmert immer durch, und sich mit einer Person auseinanderzusetzen ist …«

»… kompliziert.«

20 Muttiqualitäten

Immer noch Abend. Immer noch Balvenie.

»Das schätzen also Männer an Frauen: einen hohen Koitabilitätsfaktor. Super.«

»Wann habe ich was von ›schätzen‹ gesagt?«

»…!«

»Es bringt sie zum Sabbern und dazu, dir die Wohnung zu renovieren … aber schätzen? Nein, schätzen werden sie eher Muttiqualitäten.«

»Was ist das jetzt wieder?«

»Wenn eine Frau nach Hause kommt und der Partner hockt vor dem Computer. Mit drei Freunden, zwei Kästen Bier, ohne Untersetzer und Zigarren rauchend. Was macht sie?«

»Tobt.«

»Das, oder besser noch – sie schaut vorwurfsvoll, reißt die Fenster auf und sagt: ›Du weißt doch genau, dass der Kanarienvogel Asthma hat.‹«

»Aha.«

»Eine Frau mit Muttiqualitäten aber sagt: ›Jungs, braucht ihr noch Bier? Dann fahr ich schnell zur Tanke.‹«

»Und macht Schnittchen.«

»Genau.«

21 Menschliches am Morgen

Ich hocke dezent verkatert vor meinem Kaffee. Lu funktioniert, wie nur Mütter funktionieren. Mit irrsinniger Geschwindigkeit wäscht sie Geschirr, wischt Tisch und Arbeitsplatte ab, macht Frühstück.

»Gerade männerfreundlich bist du aber auch nicht.«

»Ich bin nicht gerade menschenfreundlich, wenn schon«, antwortet Lu und füllt Godots Wassernapf.

»Du weißt, was ich meine.«

»Männerfeindlichkeit würde voraussetzen, dass ich von Frauen eine höhere Meinung habe. Habe ich aber nicht.«

Es ist sieben Uhr morgens, wir haben nicht mal fünf Stunden geschlafen und Lu gibt das blühende Leben. Ich lege meinen Kopf auf der Tischplatte ab. Direkt neben der Kaffeetasse.

»Frauen sind kein bisschen besser.«

»Kommst du mir jetzt mit Papaqualitäten?«

»Im weitesten Sinne vielleicht. Frauen verlieben sich nicht in Männer, sie verlieben sich in Lebensumstände.«

»Das berechnende Weib«, sag ich und gähne.

»Quatsch, Rechnen. Dafür müsste man denken. Nein, alles Intuition. Nestbautrieb. Sozialer Status.«

»Pure Romantik.«

»Gibt es auch. Der böse Bube, den sie allein zu zähmen vermag. Der Ritter, der vom Pferd steigt, um für sie Blumen zu pflücken.«

»George Clooney.«

»Eher der DJ in der Dorfdisko.«

»Ich geh wieder ins Bett …«

»Mit wem?«, fragt Lu.

»Godot.«

22 Klischees

Wir sind auf dem Weg zum Kindergarten. Piet führt Godot, ich trage die Beutel mit Matschehose, Regenjacke und Vesperbrot, Lu sortiert im Gehen Unterlagen.

»Mal abschließend«, sage ich, »dieses ganze Mann/Frau-Ding ist doch nichts als Klischee.«

»Meinst du?«

»Ja. Eine überkommene Vorstellung oder ein eingefahrenes Denkschema, eine abgedroschene Redensart oder vorgeprägte Ausdrucksweise, ein überbeanspruchtes Bild/Stilmittel …«

»Hast du noch schnell im Kluge nachgeschlagen?«

»Nein. Wikipedia.«

»Ahja.«

»Trotzdem.«

»Ich denke: das Gerede vom Klischee ist ein Klischee«, sagt Lu. Ich mache ein Geräusch zwischen Gurgeln und Stöhnen und trete dem armen Godot auf die Pfote, der dabei war, einen Mülleimer zu beschnüffeln.

»Menschen sind nicht originell. Paradoxerweise sind sie nicht mal individuell. Sie sind – warte, wie war das noch – ach ja: eingefahren, vorgeprägt, vorhersehbar.«

»Vorhersehbar war nicht dabei.«

»Leg ich drauf.«

23 Gardinen II

»Ich hab dir Gardinen gekauft«, sagt meine Mutter und im gleichen Atemzug: »Was ist das denn?«

»Ein Bücherregal, und ich will keine Gardinen.«

»Das sind doch nur Bretter! Und das sind nicht die Gardinen aus dem Aldi, die habe ich aus dem Möbelladen da unten.«

Ich sage erst mal nichts mehr. Zum einen überfordert es mich, zwei Dinge gleichzeitig zu diskutieren, zum anderen weiß ich nicht, was ›Möbelladen da unten‹ bedeuten soll und was das Wichtigste ist: Ich mag keine Gardinen.

»Kannst du dir wirklich keine Möbel leisten? Kind! Ich will doch nur, dass dein Zimmer ordentlich aussieht.«

»Ich weiß nicht, ob Gardinen da viel ausrichten«, kommentiert Lu, die auf meinem Bett sitzt.

»Für jemanden, dessen Küche aussieht, als wäre in einem Hindutempel ein Töpfermarkt explodiert, kannst du einem wirklich auf den Sack gehen«, sage ich und Lu streckt mir die Zunge raus.

Meine Mutter hat die kurze Ablenkung genutzt, ist auf die Fensterbank geklettert und versucht Stores (Blumenmuster!) an der Gardinenstange zu befestigen. In ihrer Tasche entdecke ich die passenden Überhänge. Sie sind lachsrosa.

»Was machst du da?« Piet steht plötzlich in meinem Zimmer. Allmählich wird es voll.

»Ich hänge Gardinen auf, Piet. Damit das Zimmer ein wenig hübscher wird«, erklärt meine Mutter und eines muss man ihr lassen: Flink ist sie. Die Hälfte hat sie bereits.

»Ich finde das Zimmer schön, so wie es ist.«

Gutes Kind!

»Du bist noch zu klein, um das zu beurteilen. Wenn du erst größer bist …«

Beim Stichwort ›größer‹ schiebt sich Godot durch die Tür, bleibt stehen und überlegt ein Weilchen, wo er liegen soll. Piet protestiert inzwischen lautstark gegen die Gardinen, meine Mutter hängt die Dinger unbeeindruckt weiter auf, Lu versucht erst Godot, dann Piet aus dem Raum zu schieben und ich entwickle Verständnis für Amokläufer.

Eine Stunde später sitzen meine Mutter und Lu beim Tee, Godot schläft auf meinem Bett und Piet hilft mir, die Gardinen wieder abzuhängen. Über den Hof läuft der Mann in Anthrazit und klingelt.

Einen Augenblick später hallen Olenas Schritte durchs Treppenhaus.

24 Geld

Askese hört genau dann auf lustig zu sein, wenn du gezwungen bist, billigen Rotwein zu trinken.

25 Instabil

Die meisten Menschen sind gern verliebt.

Ich nicht.

Ich will wissen, wo ich stehe. Was man von mir hält. Was man von mir will. Das ganze Blicke- und Gestengetausche. Unverfängliche Verabredungen. Das Hoffen. Die Selbstdarstellung. Die Ernüchterung. Man befindet sich in einem instabilen Zustand. Alles ist zerbrechlich.

Es fehlt, einen Körper neben mir liegen zu haben, den ich kenne wie meinen eigenen. Zu wissen, wie sich der nächste Kuss anfühlen wird.

Ich will mich nicht verlieben.

26 Gebacken

»Oh!«

Es ist spät geworden, Lu sieht müde aus. Piet müsste schon seit einer Stunde im Bett sein.

»Wir backen, Mama!«

»Das ist nicht zu übersehen.«

Ist es wirklich nicht.

Überall stapeln sich Schüsseln, Obsthäufchen sind über die Arbeitsplatte verteilt. An Ganesha klebt Teig.

Zum Glück ist er abwaschbar. Alle anderen Götter habe ich in weiser Voraussicht zugedeckt, Zerbrechliches in Sicherheit gebracht und die Kochbücher ins Wohnzimmer geräumt. Dennoch habe ich Backen mit einem Fünfjährigen komplett unterschätzt. Piet ist mehlweiß, Gesicht und Haare sind von Buttercreme verschmiert.

»Charlotte, Mama!«

»Wer?«

»Der Kuchen. Der heißt so. Eine Charlotte!«

Piet strahlt.

»Oh. Der sieht lecker aus.«

Das ist eine Untertreibung. Der Kuchen ist perfekt. Eine Kuppel aus Biskuitschnecken, gefüllt mit Schichten aus Buttercreme, Kirschen, Bananen, Pfirsichen. Piet und ich sind enttäuscht. Wir hatten mit mehr Begeisterung gerechnet.

»Jakob wird sich freuen.«

»Jakob?«, fragen Piet und ich unisono.

»Ihr wisst schon, mein Bruder: groß, blond, handwerklich unbegabt …«

»…«

»Hör mal, Piet, Jakob holt dich morgen vom Kindergarten ab und passt auf dich auf, bis ich aus dem Laden komme.«

»Kann sie nicht auf mich aufpassen?« Piet zeigt auf mich und sein bettelnder Blick schlägt den von Godot, wenn es Steaks gibt.

»Ich besuche meine Mutter«, werfe ich ein.

»Ich komm mit!«

»Seit wann hast du etwas gegen Jakob?«, rettet mich Lu.

»Ich habe nichts gegen Jakob. Aber seine neue Freundin will immer, dass ich im Sandkasten spiele. Außerdem kichert sie.«

27 Jung

Jakobs Freundin kichert. Andauernd.

Meine Mutter hat kurzfristig abgesagt. Jetzt sitze ich am Küchentisch neben Piet und sehe Jakob zu, wie er das dritte Stück Kuchen isst. Seine Freundin wollte keines, sie ist auf Kirschen allergisch.

Das Gespräch pendelt zwischen Buchladen und Kindergarten. Nach zwanzig Minuten andauernder Heiterkeit will ich mit Godot in den Park. Piet sieht mich flehend an. Ich bleibe. Jakob kaut. Seine Freundin redet.

»Den ganzen Tag Bücher! Wie ist das denn so?«

»Eigentlich ist es egal, ob man Bücher oder Wurst verkauft. Kunden sind Kunden.«

Kichern.

»Ach was!«

Kichern.

»Da gibt es doch ganz bestimmt Unterschiede.«

»Stimmt. Bisher wollte noch keiner 150 Gramm Proust, wenn du das meinst.«

Kichern.

»Na«, wendet sie sich abrupt an Piet, »hast du schon eine kleine Freundin?«

Piet schaut verzweifelt, was sie falsch deutet.

Kichern.

»Und willst du sie mal heiraten?«

»Äh?«

Kichern.

»Willst du denn mal heiraten?« Piet schaut auffallend harmlos hinter seinem Kakaobecher hervor.

»Na klar.«

»Den Jakob?«

Kurz Stille. Dann: Kichern.

Jakob bleibt das vierte Stück Kuchen im Hals stecken. Godot erhebt sich, was ich nutze: »Ich glaube, der Hund muss raus.«

»Ich helfe dir!«, sagen Piet und Jakob gleichzeitig.

Kichern.

28 Lesen

»Setz dich auf die Bank und iss in Ruhe dein Eis«, sage ich zu Piet. »Ich geh schon mal vor.«

Lu ist allein im Laden, was mir sehr entgegenkommt.

»Der Kindergarten hat herausgefunden, dass Piet lesen kann. Sie wollen mit dir reden.«