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Unsterblich und unwiderstehlich!
Jet Lassiter liebt seinen Job als Pilot bei der Airline der Argeneaus. Er sieht die Welt und trifft interessante Leute - auch wenn die meisten davon sich von Blut ernähren. Vor allem Quinn Peters, eine berühmte Chirurgin, die erst vor Kurzem zur Unsterblichen wurde, hat es ihm angetan. Doch dann stürzt sein Flugzeug in den Bergen ab. Jet und Quinn kommen mit ein paar Kratzern davon, seine anderen unsterblichen Passagiere sind allerdings schwer verletzt. Sie brauchen dringend Blut - und da Jet die einzige Quelle dafür ist, würde er das kaum überleben. Mit Quinns Hilfe kann er entkommen, aber bald wird klar, dass der Absturz kein Unfall war und dass es jemand auf Quinns Leben abgesehen hat.
"Ein wunderbarer Neuzugang für die Serie. Ich erwarte jedes Buch voller Vorfreude!" ROMANCE READER
Band 33 der erfolgreichen Vampirserie um die liebenswerte Argeneau-Familie
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Seitenzahl: 526
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Lynsay Sands bei LYX
Impressum
LYNSAY SANDS
Liebe gesucht, Vampir gefunden
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ralph Sander
Jet Lassiter, Pilot bei Argeneau Enterprises, liebt seinen Job. Er hat die Aufgabe, Unsterbliche zu verschiedensten Einsatzorten rund um den Globus zu fliegen. Dabei sieht er viel von der Welt und trifft interessante Leute – auch wenn die meisten davon nur Blut auf ihrem Speiseplan stehen haben. Unter seinen Passagieren ist auch die attraktive Chirurgin Quinn Peters, die erst vor Kurzem zur Unsterblichen wurde und alles andere als glücklich darüber ist. Nach einem mysteriösen Flugzeugabsturz, den beide zum Glück überleben, beginnt eine gefährliche Verfolgungsjagd. Denn vier weitere unsterbliche Passagierinnen sind schwer verletzt worden und nun auf Jets Blut aus, um ihre Wunden zu heilen. Jet und Quinn wissen beide, dass dies seinen Tod bedeuten würde. Auf der Flucht kommen sich die beiden trotz der widrigen Umstände näher. Quinn sieht sich in der Pflicht, Jet zu beschützen, doch er ist nicht der Einzige, dessen Leben in Gefahr ist. Bald schon wird klar, dass der Absturz kein Unfall war. Jemand hat es offenbar auf Quinn abgesehen …
Quinn wurde aus einem tiefen Schlaf gerissen und fand sich in einer Welt aus Lärm und Chaos wieder. Sie schauderte und sah sich verwirrt um, da sie zu verstehen versuchte, wie es mitten im Sommer so kalt sein konnte und was die Ursache dafür sein mochte, dass die Leute ringsum so kreischten und schrien. Im ersten Moment war es gar nicht so einfach herauszufinden, was hier los war. Eisiger Wind wehte ihr so brutal entgegen, dass sie nicht durchatmen konnte und ihre Haare um ihren Kopf herumgewirbelt wurden, was ihr immer wieder die Sicht nahm. Zudem flackerte das Licht unablässig, weshalb sie nur blitzartig wahrnehmen konnte, wie Sitze und kleine Tische an ihrem Platz vorbeischossen. Alles, was lose irgendwo herumgelegen hatte, flog kreuz und quer durch die Gegend. Und dann sah sie in einem Moment, in dem gerade das Licht wieder anging und ihr die Haare nicht ins Gesicht wehten, wie ein Kaffeebecher auf ihren Kopf zugeflogen kam.
Instinktiv duckte sie sich in ihrem Sessel zur Seite und wandte das Gesicht ab, um einen Zusammenprall zu vermeiden. Dabei fiel ihr Blick auf die Frauen, die auf der anderen Seite des Gangs saßen. Beide hatten von der Statur her etwas Amazonenhaftes, aber beide schrien aus Leibeskräften und klammerten sich an den Armlehnen ihrer Plätze fest, die aufgerissenen Augen voller Entsetzen auf etwas gerichtet, das sich irgendwo vor ihnen leicht unterhalb ihrer Augenhöhe befinden musste. Dieser Anblick genügte, um ihren Verstand wieder in Aktion treten zu lassen und sich daran zu erinnern, dass sie sich in einem Flugzeug befand, das von Italien nach Kanada unterwegs war. Sie drehte den Kopf ein kleines Stück zur Seite, um zu sehen, was die beiden so voller Entsetzen anstarrten. Ihre Augen weiteten sich vor Bestürzung, als sie ein Loch von fast einem halben Meter Durchmesser in der Bordwand des Flugzeugs entdeckte. Die Flughöhe und diese Öffnung waren also der Grund dafür, dass dieser eisige, brutale Wind durch die ganze Kabine fegte. Irgendein Teil ihres Verstands begriff diesen Zusammenhang, doch was ihr noch viel mehr Sorge machte, war die Stelle, an der dieses Loch klaffte, denn allem Anschein nach musste sich dort ein Fenster befunden haben.
Wieso hatte sie davon nichts mitbekommen? Die Frage war ihr gerade erst durch den Kopf gegangen, als von der Seite etwas mit voller Wucht gegen ihren Schädel schlug. Vor Schmerz stöhnte Quinn auf. Sie hatte gerade die Hand gehoben, um die Stelle abzutasten, an der sie getroffen worden war, als auch schon der zweite Treffer folgte, der sie dazu veranlasste, sich weit genug nach vorn zu beugen, bis ihre Brust ihre Knie berührte, sodass ihr Kopf von der Rückenlehne der Sitzreihe vor ihr geschützt wurde. Dabei verschränkte sie die Finger im Nacken und folgte, den Blick auf den Boden gerichtet, den üblichen Anweisungen des Bordpersonals vor Beginn eines jeden Fluges. Es schien ihr im Moment das Klügste zu sein.
Kaum hatte Quinn diese Position eingenommen, als sie ein Geräusch hörte, das wie das Starten eines Motors klang. Erst in dem Moment wurde ihr klar, dass genau dieses Geräusch gefehlt hatte, als sie aus dem Schlaf gerissen worden war. Der Sinkflug der Maschine flachte ein wenig ab, so als ob die Piloten alles versuchten, den Absturz zu verhindern. Ihr wurde bewusst, dass sie den Atem anhielt und voller Sorge den Motoren lauschte, die sich nicht so anhörten wie noch beim Start. Das gleichmäßige Brummen klang nun mehr nach einem stotternden Husten, fand sie. Gleich darauf entrang sich ihr ein gequältes Stöhnen und sie schnappte nach Luft, als ein brutaler Ruck durch die ganze Maschine ging. Ihm folgte das laute Kreischen von Metall, das von einer ungeheuren Gewalt zerrissen wurde. Der verheerende Lärm schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen, und Quinn wurde gegen ihren Sitz geschleudert.
Als sie nach Luft ringend wieder zu den Frauen sehen wollte, die auf der anderen Seite des Gangs saßen, brauchte sie ein paar Sekunden, ehe sie begriff, was sie dort sah. Blankes Entsetzen überkam sie, klaffte doch auf dieser Seite der Maschine ein riesiges Loch, und von den Frauen war nichts mehr zu sehen, ebenso wenig wie von ihren Sitzen oder dem Boden, mit dem diese fest verbunden gewesen waren. Dort gab es jetzt nur noch die Aussicht auf die Welt dort draußen, die in die Dunkelheit der Nacht getaucht war. Schemen huschten vorbei, bei denen es sich um Bäume handeln musste, während die Maschine sich zu drehen begann. Offenbar hatten sie die Maschine, die sich nun mitten durch einen Wald pflügte, nicht mehr rechtzeitig abfangen können.
Zweifellos würden sie alle sterben, dachte Quinn, ließ den Kopf sinken und kniff die Augen zu, bevor sie zu beten begann. Es war ein einfaches Gebet, denn außer »Oh Gott, oh Gott, oh Gott« kam ihr nichts über die Lippen – eine fast stumme Litanei aus Verzweiflung und Flehen. Dann machte das Flugzeug wieder einen heftigen Satz und gequältes Kreischen des Metalls übertönte alles, bevor die Maschine endlich zum Stehen kam.
Erstaunt darüber, noch unter den Lebenden zu sein, setzte Quinn sich auf und schaute sich um. Sie ließ ihren Blick über die Überreste des Flugzeugs wandern, von der Stelle, an der das kleine Loch im Rumpf entstanden war – mutmaßlich eines der Fenster –, über die ganze Länge der Maschine bis unmittelbar vor der hinteren Sitzreihe, in der die beiden verbliebenen Mitglieder ihres fünfköpfigen Teams saßen und sich ebenfalls umsahen. Es schien, als hätte ein Riese ein Stück aus dem Rumpf gerissen, um einen Blick ins Innere werfen zu können.
»Bäume haben Tragfläche abgerissen. Haben Wand mitgenommen.«
Quinn stutzte bei dieser grimmigen Erklärung, die mit einem ausgeprägten russischen Akzent abgegeben wurde. Sie drehte sich zu der Frau um, die gesprochen hatte. Kira Sarka. Die große blonde Frau und ihre sehr viel kleinere Leibwächterin Liliya waren bereits von ihren Plätzen aufgestanden und zu ihr gekommen.
»Sie in Ordnung, da?«, fragte Kira, während sie einen kurzen Blick auf den Platz warf, auf dem Quinn saß.
»Da«, bestätigte Quinn, dann räusperte sie sich und sagte: »Ja, danke der Nachfrage. Ist eine von Ihnen verletzt worden?«
Sie machten einen guten Eindruck, dennoch war vieles im Flugzeug herumgewirbelt worden, da Becher und Gläser und andere Dinge aus der kleinen Bordküche durch die gesamte Kabine geflogen waren. Sie hatte sogar das Gefühl, einmal einen Laptop gesehen zu haben, der einfach durch die Maschine geschossen war.
»Njet. Wir suchen nach Nika, Marta und Annika. Sehen Sie nach Piloten.«
Quinn zog die Augenbrauen zusammen, als sie die Namen der drei Frauen hörte. Marta und Nika waren die beiden, die auf der anderen Seite des Mittelgangs neben ihr gesessen hatten. Annika hatte sich weiter hinten aufgehalten und einen der beiden Plätze belegt, die sich gegenüber denen von Kira und Liliya befunden hatten. Diese dritte Frau war ihr völlig entfallen.
»Warten Sie, ich komme mit. Vielleicht sind sie verletzt und brauchen mich«, erwiderte Quinn und stand auf, musste sich aber an der Rückenlehne ihres Sitzes festhalten, da ihre Beine noch zu sehr zitterten, als dass sie sie hätten tragen können. Nach einem solchen Erlebnis war das zwar alles andere als verwunderlich, nichtsdestotrotz ärgerlich, wie sie fand.
»Njet. Unsterbliche brauchen nicht Arzt. Sterbliche ja. Sie gucken nach Piloten«, forderte Kira sie auf und war bereits verschwunden, noch bevor Quinn protestieren konnte.
Nicht dass Quinn überhaupt hätte protestieren wollen, denn Kira hatte völlig recht. Als Unsterbliche brauchten die aus dem Flugzeug geschleuderten Russinnen allenfalls Blut, falls sie sich verletzt hatten. Aber die Piloten waren Sterbliche, und die benötigten ihre Hilfe. Sofern sie überhaupt noch lebten, überlegte sie, während sie sich in den Mittelgang begab – oder besser gesagt: das, was davon noch übrig war – und sich nach vorn bewegte.
Der letzte heftige Stoß, der durch die Maschine gegangen war, bevor sie endgültig zum Stehen gekommen war, hatte wohl zu bedeuten, dass sie mit irgendetwas kollidiert war. Dabei musste es die Piloten am schlimmsten erwischt haben, da sie ganz vorn saßen. Quinn wusste nicht, was sie im Cockpit vorfinden würde. Sie und die beiden anderen Unsterblichen waren unverletzt geblieben, dennoch hielt sich in der Luft der schwere Geruch von Blut. Der hatte jedoch gar nichts zu bedeuten, da die kleine Bordküche nur so in Blut schwamm, da beim Aufprall die Kühlschranktür aufgeflogen war und sich der Inhalt überall in der Küche verteilt hatte. Die dort gelagerten Blutkonserven waren bei der Kollision an einer Wand oder an einem anderen Hindernis zerschellt, und dementsprechend sah der kleine Raum nun aus.
Quinn verzog den Mund, als jeder Schritt so schmatzte wie ein Tritt mitten in einen Morast hinein. Tatsächlich war es der mit Blut getränkte Teppichboden. Sie näherte sich der Tür zum Cockpit und versuchte, sich auf das gefasst zu machen, was sie dahinter erwartete.
Schmerz holte Jet aus einer tiefen Bewusstlosigkeit. Das Pochen in seinem Kopf war so brutal, dass er unwillkürlich stöhnte. Er machte die Augen einen Spaltbreit auf und betrachtete irritiert die Szene, die sich ihm bot. Er saß aufrecht im Halbdunkel da, vor sich einen eingeschalteten Bildschirm, daneben reihenweise leuchtende Kontrolllampen auf einem Armaturenbrett und eine Mittelkonsole. Was er sah, genügte um zu erkennen, dass er im Cockpit eines Flugzeugs saß.
Ja, genau, ging es ihm leicht benommen durch den Kopf. Er war hier bei der Arbeit, weil eine Gruppe Vampirellas von Europa nach Kanada zurückgeflogen werden sollte.
Im Moment flogen sie aber nicht, wie es schien. Jedenfalls hörte er nicht das Brummen der Motoren. Waren sie gelandet? Wieso tat ihm der Kopf so weh? Himmel, er war wohl eingeschlafen, ohne Rücksicht zu nehmen auf Miller und … Abrupt endete der Gedanke, und Jet drehte sich instinktiv zu dem älteren Mann um, den er als Copilot auf diesem Flug begleiten sollte. Jeff Miller war gut zwanzig Jahre älter als er. Er war ein verdammt anständiger Kerl und ein hervorragender Pilot – und er war Jets Mentor gewesen, als der vor über vier Jahren für Argeneau Enterprises zu arbeiten begann. Jeff Miller war ein Mann, den Jet respektierte und zu dem er aufsah. Er war auch der Mann, der in diesem Moment von einer dieser Vampirellas attackiert wurde.
»Hau ab! Lass die Finger von ihm!«, herrschte Jet die Frau an und packte sie am Arm, um sie wegzuziehen und so zu verhindern, dass sie sich noch länger über seinen Freund und Kollegen beugen konnte.
Sofort richtete sie sich auf und drehte sich zu ihm um. Jet sah sie verdutzt an, als er sie wiedererkannte. Ihm war gesagt worden, dass sie irgendeine russische Prinzessin oder etwas in der Art mit ihren vier Leibwächterinnen und eine amerikanische Unsterbliche nach Toronto bringen sollten. Da er mit den Flugvorbereitungen beschäftigt gewesen war, als sie an Bord gekommen waren, hatte Miller sie in Empfang genommen und begrüßt. Jet war daher nicht klar gewesen, dass es sich bei der Amerikanerin um Quinn Peters handelte. Jetzt wanderte sein Blick über ihr bleiches Gesicht und ihre zierliche Figur.
Jet war der Unsterblichen erstmals auf einem seiner ersten Flüge begegnet, als er den Auftrag erhalten hatte, sie zusammen mit Marguerite Argeneau Notte und Julius Notte von Albany, New York, nach Toronto zurückzufliegen. Sechs Monate später hatte er Quinn nach Italien gebracht, wo sie bei ihrer Schwester und deren Sohn leben sollte. Seitdem war er ihr nicht mehr begegnet. Als er sie nun betrachtete, fielen ihm sofort die Veränderungen an ihr auf, die die Zeit mit sich gebracht hatte.
Es waren keine körperlichen Veränderungen, denn die hübsche Asiatin sah eigentlich immer noch so aus wie bei ihrer ersten Begegnung. Sie war immer noch klein und zierlich … und das in jeder Hinsicht. Kleine Nase, kleiner Schmollmund, ein zierliches Gesicht mit breiten Wangenknochen. Größer als eins fünfundfünfzig konnte sie unmöglich sein, wobei er sie sogar eher auf eins fünfzig schätzte. Dabei war sie immer noch so schlank, dass er den dringenden Wunsch verspürte, sie irgendwohin zum Essen einzuladen, damit sie etwas auf die Rippen bekam.
Alles an ihr war klein und zierlich, nur nicht ihre Augen, denn die waren riesig groß und so dunkelbraun, dass sie fast schon schwarz wirkten. Lediglich die silbernen Sprenkel verrieten, dass sie eine Unsterbliche war.
Was sich in den vier Jahren seit ihrer letzten Begegnung verändert hatte, das waren ihre glatten dunklen Haare, die sie bis weit über die Schultern hatte wachsen lassen. Ansonsten war sie so wie damals, jedenfalls rein äußerlich. Doch als er sie das erste Mal gesehen hatte, war sie in schlechter Verfassung gewesen, mit verquollenen Augen und irgendwo zwischen Trauer und Entsetzen gefangen, als Marguerite sie ins Flugzeug gebracht und auf einen Platz gesetzt hatte. Quinn schien es damals nicht mal bewusst gewesen zu sein, wo sie sich befand und wer bei ihr war. Sie hatte auf ihn den Eindruck gemacht, als befände sie sich in einem katatonischen Zustand. Ein halbes Jahr später war sie ihm zwar weniger erstarrt vorgekommen, aber fast noch genauso schweigsam, hatte sie doch auf seine Begrüßung an Bord der Maschine nur ängstlich dreingeblickt und ein höfliches Lächeln aufgesetzt, das ihm seltsam traurig vorgekommen war.
Jetzt war sie viel wachsamer und klarer, als sie sich von Miller abwandte, um ihm einen verärgerten Blick zuzuwerfen, da er sie so grob angefasst hatte. Dieser Gesichtsausdruck verschwand jedoch gleich wieder, und an seine Stelle rückte eine fast professionelle Miene.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie mit sanfter Stimme, schob seine Hand von ihrem Ellbogen und umfasste sein Handgelenk, während sie seine Augen nacheinander forschend ansah. »Sie waren bewusstlos, als ich hereinkam. War das Hypoxie oder haben Sie sich beim Absturz den Kopf gestoßen?«
Jet sah sie erstaunt an, dass sie den medizinischen Begriff für Sauerstoffmangel benutzte, doch dann fiel ihm ein, dass sie Chirurgin war. Zumindest war sie das in ihrem früheren Leben gewesen, bevor sie von ihrem durchgedrehten Ehemann angegriffen und zur Unsterblichen gewandelt worden war, nachdem diesem zuvor genau das Gleiche widerfahren war. Jet hatte das von den anderen unsterblichen Passagieren erfahren, mit denen er regelmäßig an die unterschiedlichsten Orte flog. Sie waren Vollstrecker, die Vampir-Ausgabe von Cops, die sich auf den Flügen immer wieder überraschend redselig zeigten. Das lag zum Teil daran, dass viele von ihnen in ihm einen Freund sahen. Aber er vermutete, dass sie zugleich auch das nachvollziehbare Bedürfnis verspürten, sich nach einem Einsatz erst einmal zu entspannen und das Erlebte zu verarbeiten, indem sie darüber redeten, was geschehen war, und auch wenn er selbst ein Sterblicher war, betrachteten sie ihn dennoch als vertrauenswürdig. Man wurde schließlich kein Pilot bei Argeneau Enterprises, wenn man nicht als vertrauenswürdig angesehen wurde.
Die Passagiere, die Jet für Argeneau Enterprises zu befördern hatte, waren fast ausnahmslos Untersterbliche. Laut der speziellen Unterweisung, die er mit Beginn seiner Tätigkeit für das Unternehmen erhalten hatte, waren diese Leute mehr eine wissenschaftliche Entwicklung, auch wenn sie seiner Meinung nach im Wesentlichen das waren, was man sich unter einem Vampir vorstellte. Ihnen missfiel diese Bezeichnung allerdings, was er ihnen auch nicht verübeln konnte. Schließlich waren Vampire tote und seelenlose Wesen, und das galt für die Unsterblichen nicht. Bei ihnen handelte es sich um Menschen, denen man künstlich geschaffene Nanos injiziert hatte, deren eigentliche Aufgabe es hatte sein sollen, Krankheiten zu heilen und Verletzungen zu beheben, um nach getaner Arbeit den Körper wieder zu verlassen. Dummerweise war die Programmierung der Nanos zu ungenau gewesen, weshalb diese begonnen hatten, auch den Alterungsprozess als Krankheit zu betrachten. Ihre Arbeit war daher nie getan, da sie unablässig den Idealzustand des Wirts wiederherstellten und dabei mehr Blut verbrauchten, als der Körper produzieren konnte.
Somit waren die Unsterblichen gezwungen, sich das Blut aus anderen Quellen zu beschaffen. Die Nanos hatten ihre Wirte so verändert, dass dies für sie ein Leichtes war, da sie deutlich stärker und schneller waren als Sterbliche, ihnen Nachtsicht verliehen und sie mit Fangzähnen ausgestattet wurden, die sie zu perfekten Jägern machten. Um ihnen noch einen zusätzlichen Vorteil zu verschaffen, erhielten sie die Fähigkeit, die Gedanken ihrer Beute zu lesen und sie zu manipulieren.
Im Grunde genommen also Vampire. Nur eben keine Toten. Und zum Glück bewahrten sie sich das Gewissen, das sie vor ihrer Wandlung besessen hatten. Deshalb begnügten sich die meisten von ihnen mit Blut von der Blutbank, anstatt »von der Quelle« zu trinken, wie sie es nannten, wenn sie sich Blut von Sterblichen holten. Wer das tat, galt bei ihnen als Abtrünniger und wurde gejagt und zur Strecke gebracht.
»Sind Sie wegen Sauerstoffmangels bewusstlos geworden oder haben Sie sich den Kopf gestoßen?«, fragte Quinn ihn jetzt, da sie wohl annahm, dass er mit dem Begriff Hypoxie nichts anfangen konnte. Sie maß seinen Puls und sah ihm tief in die Augen, um nach irgendwelchen Symptomen für was auch immer Ausschau zu halten, wie Ärzte das eben so machten. Jetzt wurde ihm auch bewusst, dass sie nicht ihre Fangzähne, sondern ihre Finger gegen Millers Hals gedrückt hatte, als Jet sie packte, um sie vom Piloten wegzuziehen. Tatsächlich hatte er das schon gesehen, noch bevor er wusste, wen er da vor sich hatte.
Jet wollte gerade erklären, dass er wusste, was Hypoxie war, weil das, ebenso wie ein Gefühl für die jeweilige Flughöhe, zur Standardausbildung eines Piloten gehörte, als sie erneut das Wort ergriff.
»Mister …« Ihr Blick wanderte zu seinem Namensschild. »… Lassiter«, las sie seinen Namen ab. »Erinnern Sie sich, was passiert ist?«
»Ich wurde von irgendwas am Hinterkopf getroffen«, murmelte er und wunderte sich, dass seine Stimme so rau klang. »Dadurch muss ich bewusstlos geworden sein. Die Landung habe ich jedenfalls verpasst, das steht fest.«
Bei diesen Worten begann er den Blick auf das zu richten, was sich auf der anderen Seite der Windschutzscheibe befand. Da draußen herrschte völlige Dunkelheit, weshalb er rein gar nichts erkennen konnte. Der Lichtschein der Instrumententafel reichte zwar nicht aus, um draußen irgendetwas auch nur ansatzweise zu beleuchten, doch das, was im Cockpit zu sehen war, genügte vollauf, um ihn in helle Aufregung zu versetzen. Auf seiner Seite wies die Windschutzscheibe ein spinnennetzartiges Geflecht aus Rissen auf, doch auf Millers Seite fehlte das Glas. Stattdessen war der Rahmen eingedrückt worden – und mit ihm die Instrumententafel und das ganze Metall drumherum.
Jets Blick wanderte dorthin, wo das verdrehte und zusammengedrückte Metall den Unterleib des anderen Mannes so umschloss, als hätte es versucht, ihn zu verschlingen. Der obere Teil schien sich in seine Brust gebohrt zu haben. Jet blickte in Millers Gesicht und kniff die Augen zu, als er sah, wie grau dessen Haut wirkte. Miller war genauso ein Sterblicher wie er selbst. Zumindest war er das gewesen. »Er ist tot«, flüsterte er.
»Ja«, bestätigte Quinn leise und fügte an: »Wahrscheinlich war er auf der Stelle tot.«
Jet kniff die Lippen zusammen. Er wusste, sie wollte ihn mit diesen Worten trösten, aber das war schlichtweg unmöglich. Miller war ein guter Freund gewesen. Erst vor zehn Minuten hatte er Jet noch amüsiert erzählt, was seine Tochter wieder einmal angestellt hatte. Jetzt war er tot, und seine Tochter hatte keinen Vater mehr.
»Sie haben da eine Beule, aber keine Abschürfung.«
Jet stutzte angesichts ihrer Worte und begriff dann erst, dass sie sein Handgelenk längst losgelassen hatte und nun seinen Kopf untersuchte, wobei ihre Finger vorsichtig durch sein kurzes Haar strichen.
»Es geht mir gut«, brummte er, löste den Sitzgurt und wollte aufstehen, um ihrer Berührung auszuweichen. Ein Fluch entglitt ihm, als sich die Welt um ihn herum so heftig zu drehen begann, dass er nicht anders konnte, als nach der Armlehne zu greifen, um Halt zu finden. Statt der Armlehne erwischte er jedoch Quinns Arm.
Zwar versteifte sie sich bei dieser Berührung, dennoch schob sie seine Hand nicht weg, sondern bedeckte sie mit ihrer. »Machen Sie langsam. Sie stehen unter Schock. Ihnen ist kalt und schwindlig, Sie sind schweißgebadet und noch wacklig auf den Beinen. Atmen Sie erst ein paar Mal tief durch … und ziehen Sie die hier an. Sie zittern am ganzen Leib.«
Jet machte die Augen auf und begriff erst in diesem Moment, dass er sie zugekniffen hatte. Er sah, dass sie ihm seine Pilotenjacke hinhielt, auch wenn er keine Erklärung dafür hatte, wieso sie die Jacke in der Hand hielt. Er hatte sie über die Rückenlehne seines Sitzes gehängt, aber er bezweifelte, dass sie sich nach der Bruchlandung noch dort befunden hatte. Mit einem gemurmelten »Danke« nahm er die Jacke an sich und zog sie über. Dabei atmete er wiederholt tief ein und aus, was ihm zwar Stiche in der Brust bescherte, ihn dennoch nicht davon abhielt.
Jet kannte sich mit Schocks aus. Das hier war nicht das erste Mal, dass er so reagierte. Während seiner Zeit als Kampfpilot bei der Navy hatte es mehr als eine riskante Situation gegeben. Aber das war eine völlig andere Erfahrung gewesen als sein Posten bei Argeneau Enterprises, einem Konzern, unter dessen Dach sich zahlreiche Unternehmen tummelten. Das verhalf dem Konzern zu einer Größe, die es rentabel machte, eigene Flugzeuge anzuschaffen und eigene Piloten einzustellen, die die Firmenbosse und andere Personen rund um die Welt fliegen konnten. Es war ein Job, von dem jeder zivile Pilot träumte: gut bezahlt und ohne Stress, mit unzähligen Vergünstigungen als Ausgleich für die Tatsache, dass man mit Vampiren unterwegs war. Natürlich wusste keiner der Piloten, der sich auf einen Job bei Argeneau Enterprises bewarb, darüber Bescheid, wen es da zu befördern galt. Für den Rest der Welt existierten keine Vampire, nur die beim Konzern angestellten Piloten kannten die Wahrheit. Es war eine Information, die ihnen zu ihrer eigenen Sicherheit und der ihrer Passagiere nicht vorenthalten werden durfte, da es zu Situationen wie der kommen konnte, in der sie sich jetzt befanden. Er begann zu überlegen, was nun zu tun war. Er musste erst einmal einen Notruf absetzen und dann das an Bord befindliche Blut an jeden Unsterblichen ausgeben, der verletzt worden war.
Bei diesem Gedanken musste er unwillkürlich den Mund verziehen, denn die Sache mit dem Blut war der eine Punkt, mit dem Jet immer noch von Zeit zu Zeit haderte. Der einzige Grund, wieso er das alles überhaupt nur hatte akzeptieren können, war Abigail, seine beste Freundin seit Kindertagen und für ihn mehr Schwester als alles andere. Sie war vor fünf Jahren zur Unsterblichen geworden. Man hatte sie gewandelt, um ihr das Leben zu retten, aber nun war sie die Lebensgefährtin und glückliche Ehefrau eines Unsterblichen, der über hundert Jahre alt war. Trotzdem war sie immer noch die gute alte Abs, wie er sie schon immer gekannt und geliebt hatte. Das musste ja nun etwas über diese Unsterblichen aussagen.
Auch wenn er auf diese Veränderung bei Abigail zunächst mit Abscheu und Angst reagiert hatte, weil er die Blutsauger mit den Vampiren aus jenen alten Horrorfilmen gleichgesetzt hatte, mit denen er aufgewachsen war, hatte Abigail ihn dazu bringen können, diesen Leuten eine Chance zu geben – auch wenn diese Unsterblichen im Großen und Ganzen Vampire waren, ganz gleich, welchen Namen sie sich selbst gegeben hatten. Sie konnte nicht zu einem Ungeheuer geworden sein, wenn sie gleichzeitig immer noch die fürsorgliche, liebevolle Frau war, die er kannte. Zumindest hatte er sich das so zurechtgelegt, und größtenteils war er auch zu dem Schluss gekommen, dass es stimmte. Trotzdem gab es immer noch einen winzigen Teil seines Verstands, der damit zu kämpfen hatte.
»Was ist mit den anderen Passagieren?«, fragte er nach ein paar Atemzügen und mehr aus Anstand als aus echter Sorge um diese Leute. Quinn wirkte völlig unversehrt, und er zweifelte nicht daran, dass die anderen ebenfalls wohlauf waren. Es war offensichtlich, dass das Cockpit am meisten abbekommen hatte. Außerdem waren alle seine Fluggäste unsterblich und somit nur schwer umzubringen. Daher hörte er auch nur mit einem halben Ohr zu, als sie antwortete.
»Wir haben drei Frauen verloren. Ms Sarka und ihre Leibwächterin Liliya haben sich auf die Suche nach ihnen begeben.«
»Okay, gut«, antwortete Jet reflexartig, dann stutzte er, als ihre Worte tatsächlich zu ihm vordrangen. »Was soll das heißen: Wir haben drei Frauen verloren?«
»Auf dieser Seite des Flugzeugs war ein Loch entstanden, und dann waren die drei Frauen, ihre Sitze, ein Teil des Bodens und ein Teil der Bordwand plötzlich nicht mehr da«, erklärte sie mit ernster Miene.
»Wie bitte?«, fragte er ungläubig und schnappte nach Luft. Dann taumelte er an ihr vorbei durch die offene Cockpittür nach draußen. Er musste noch die beengte Küche durchqueren, um ins Passagierabteil zu gelangen, doch noch bevor er dort ankam, konnte er das Loch sehen, das im Rumpf klaffte. Die gesamte rechte Seite des Flugzeugs war weg und mit ihr sämtliche Sitze bis auf die beiden hintersten. Auch die Tragfläche war verschwunden, wie er feststellen musste, als er in den dunklen Wald hinausstarrte. So etwas hatte Jet noch nie zuvor gesehen. Voller Entsetzen schüttelte er den Kopf.
»Miller war gerade von der Toilette ins Cockpit zurückgekehrt, als von draußen ein seltsames Ploppen zu hören war«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Quinn. »Beide Motoren fielen aus, und dann fiel der Luftdruck ab, und da die Tür zum Cockpit noch offen stand, flog alles Mögliche bei uns vorne rein. Ich weiß noch, dass Jeff etwas brüllte und zu seinem Platz lief. Und dann traf mich irgendwas am Hinterkopf und …« Er zuckte mit den Schultern. Der Treffer hatte ihm das Bewusstsein genommen, und Miller hatte sich diesem Desaster ganz allein stellen müssen.
Jet verzog missmutig den Mund. Miller genoss den Ruf, ein Fliegerass zu sein. So hatte er den Job bei Argeneau Enterprises überhaupt erst bekommen können. Diese Landung bewies, dass er den Ruf und den Posten verdient hatte, war es ihm doch gelungen, die Maschine halbwegs intakt zu landen. Es war schon verdammt unfair, dass er dann diese Landung nicht überlebt hatte.
»Sie kommen«, sagte Quinn plötzlich und ging an ihm vorbei, um sich dort hinzustellen, wo das Loch im Rumpf klaffte.
Jet sah sie verwirrt an. Er hatte rein gar nichts gehört, doch es überraschte ihn nicht, als auf einmal zwei blonde Frauen draußen auftauchten, eine so zierlich wie Quinn, die andere von der Statur einer Amazone. Sie kamen plötzlich draußen zum Vorschein und machten einen Satz zurück ins Flugzeug. Kira Sarka und ihre Leibwächterin Liliya. Jet hatte die beiden schon einige Male geflogen.
Kira, die große Frau, sah zwischen Quinn und Jet hin und her, dann zog sie eine Augenbraue hoch. »Wo ist Captain Miller?«
»Er hat den Absturz nicht überlebt«, antwortete Quinn mit betretener Stimme.
Bedauern und Resignation spiegelten sich auf dem Gesicht der Frau wider. »Ist Schande. War guter Mann. Mich oft geflogen«, sagte sie mit ernster Miene. Dann schüttelte sie den Kopf und sah hinaus in die pechschwarze Nacht. »Wir gehen.«
Quinn schien über diese Ankündigung genauso überrascht zu sein wie Jet, folgte der Frau aber ohne Widerworte. Jet war nicht so einfach zu überzeugen.
»Einen Augenblick mal«, protestierte er und fasste Quinn am Arm, um sie zurückzuhalten. »Wir müssen Bescheid geben, was passiert ist, damit sie uns Hilfe schicken.«
»Haben wir schon versucht«, erwiderte Liliya, die kleinere Blonde. »Unsere Mobiltelefone haben hier draußen keinen Empfang.«
Jet verzog mürrisch den Mund und sagte: »Dann ist es das Klügste, dass wir hier warten, wo sich die Notfunkbake befindet. Hier sind wir immerhin einigermaßen vor Tieren und vor Wind und Wetter sicher.«
»Notfunkbake?«, fragte Kira interessiert.
»Ja, die Notfunkbake«, wiederholte er, doch dann wurde ihm klar, dass ihr das vermutlich überhaupt nichts sagte. Also fügte er hinzu: »Das ist ein Notfall-Alarmsystem, das in den meisten Flugzeugen eingebaut ist. Das Signal führt die Helfer direkt zu uns.«
»Wann?«
»Was … wann?«
»Wann kommen die Retter?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete er leicht gereizt. »Vielleicht in ein paar Stunden, vielleicht auch erst morgen.«
»Sie nicht haben Stunden«, machte Kira ihm klar.
Er sah finster drein, dann wurde ihm auf einmal etwas bewusst. »Wo sind die übrigen drei Frauen? Haben Sie sie nicht gefunden?«
»Da. Wir sie gefunden«, sagte Kira und schaute betrübt drein.
»Sind sie tot?«, fragte er erstaunt, denn das wäre der einzige Grund, weshalb die beiden ohne sie zurückgekehrt waren. Waren sie enthauptet worden, als die Seite aus dem Rumpf herausgerissen worden war? Oder war das Triebwerk an der abgetrennten Tragfläche in Flammen aufgegangen, von denen sie erfasst worden waren? Soweit er wusste, waren das die einzigen Möglichkeiten, um einen Unsterblichen zu töten.
»Nicht tot.«
»Dann sollten wir zu ihnen gehen und sie herbringen«, sagte Jet und ging bis zu der Kante, an der der Boden herausgerissen worden war.
»Njet«, widersprach Kira energisch und stellte sich ihm in den Weg.
»Alle drei sind verletzt und bewusstlos«, ging Liliya erklärend dazwischen. »Marta und Nika sind in einer Baumkrone gelandet, beide noch in ihren Sitzen angeschnallt. Annika liegt auf dem Waldboden, aber ihr Sitz hat sich so verdreht, dass sie von den Armlehnen eingeklemmt wird.«
Jet zuckte zusammen, da er sich vorstellen konnte, wie schmerzhaft das sein musste. »Ein Grund mehr, sie herzuholen, damit …«
»… damit sie Sie reißen in Stücke?«, gab Kira zurück.
Jet riss fassungslos die Augen auf. »Was?«
»Sie haben schwere Verletzungen erlitten«, stellte Liliya klar. »Momentan sind sie alle bewusstlos. Aber wenn sie erst mal aufwachen, werden sie nicht lange brauchen, um sich aus ihren Sitzen zu befreien. Wir müssen Sie von hier wegschaffen, bevor es dazu kommt, weil Sie sonst nicht in Sicherheit sind.« Als sie seinen völlig ratlosen Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Wenn sie aufwachen, werden sie dringend Blut benötigen.«
»Wir haben Blut an Bord«, erwiderte Jet und machte Anstalten, in die Bordküche zurückzukehren. Er besann sich jedoch eines Besseren, als er sah, dass die Kühlschranktür offen stand und Wände und Boden mit Blut besudelt waren. Das musste beim Aufprall geschehen sein, den kein einziger Blutbeutel überlebt hatte.
»Es hätte ohnehin nicht annähernd gereicht, wenn die Verletzungen so schlimm sind, wie ich befürchte.«
Jet verkrampfte sich, als er die ruhig klingende Stimme hinter sich hörte. Er drehte sich um und sah, dass Quinn unmittelbar hinter ihm stand, und direkt hinter ihr standen die Russinnen. Keine von ihnen schien sich über den Zustand der Bordküche zu wundern, aber vermutlich hatten sie den Schlamassel schon gesehen, als er es noch nicht hatte glauben wollen, dass die rechte Seite des Flugzeugs einfach verschwunden war. Dass er dabei durch Blutlachen gewatet war, hatte er schlichtweg nicht wahrgenommen.
»Wir gehen«, wiederholte Kira entschieden. »Geruch von Blut wird sie anlocken, und sie werden finden nur Ihr Blut.«
»Wohin sollen wir gehen?«, fragte Jet besorgt. »Wir waren irgendwo über dem Great Clay Belt in Ontario, als die Motoren ausfielen. Hier gibt es Bären, Elche, Luchse und Füchse. Wir …«
Er verstummte, als ein langgezogenes, schrilles Kreischen die nächtliche Stille zerriss. Einen solchen Laut hatte Jet noch nie gehört. Es war wie eine Mischung aus Schmerz und Wahnsinn. Er spürte eine Gänsehaut an den Armen und im Nacken, als ein zweiter Schrei auf den ersten folgte. »Sie wachen auf«, machte Liliya ihnen klar.
»Da. Jetzt wir gehen«, verkündete Kira, und im nächsten Moment musste Jet erleben, wie die Amazone ihn packte und über die Schulter warf, um mit ihm aus dem Flugzeug zu springen.
Quinn war sich nicht sicher, wie lange sie schon davonrannten, aber seit dem ersten, langgezogenen Kreischen, in das andere eingestimmt hatten und das ihnen auf ihrem Weg durch den Wald zu folgen schien, waren die Schreie leiser geworden und verstummt. Entweder waren sie schnell genug und weit genug gelaufen, um die drei Frauen abzuhängen, oder aber diese waren zum Wrack zurückgekehrt und suchten dort nach Blut.
Sie sah sich beim Laufen im Wald um, was dank ihrer Nachtsicht kein Problem war. Das war einer der Vorteile, die die Wandlung mit sich gebracht hatte und der sich jetzt als sehr nützlich erwies. In dieser fast undurchdringlichen Dunkelheit hätten sie sich ohne ihre Nachtsicht nicht vom Flugzeug entfernen können, und erst recht wäre es unmöglich gewesen, durch den Wald zu rennen. Es war ein alter Wald, dessen unebener Grund mit abgebrochenen Ästen und umgestürzten Bäumen übersät war. Quinn hatte bislang stur vor sich auf den Boden geblickt, um ein Stolpern zu vermeiden. Als sie sich jetzt umsah und bemerkte, wie schnell die Umgebung an ihnen vorbeihuschte, musste sie kurz darüber staunen, mit welcher Geschwindigkeit sie unterwegs waren.
Anders als ihre Zwillingsschwester Petronella war Quinn noch nie sonderlich athletisch gewesen. Als Sterbliche hatte sie genug mit ihrem Studium zu tun gehabt, um Ärztin und schließlich Chirurgin zu werden, sodass für sportliche Aktivitäten keine Zeit geblieben war. Und obwohl sie seit mittlerweile vier Jahren eine Unsterbliche war, hatte sich daran nichts geändert. Daher war es für sie etwas ganz Neues, sich so zu bewegen. Genauso erstaunlich war die Tatsache, dass sie noch gar keine Erschöpfung verspürte, obwohl sie inzwischen mindestens seit fünfundvierzig Minuten rannte. Vielleicht waren sie aber auch schon eine Stunde lang unterwegs.
Ihr Blick wanderte zum Piloten, der über Kiras Schulter hing. Irritiert nahm sie seine Blässe zur Kenntnis. Anscheinend war er bewusstlos. Ihr fiel ein, dass er eine Kopfverletzung erlitten hatte und dass es womöglich nicht gut für ihn war, kopfüber getragen zu werden. Voller Sorge begann sie schneller zu laufen, um zu Kira Sarka aufzuschließen, damit sie sie dazu veranlassen konnte, kurz stehen zu bleiben und den Zustand des Piloten zu überprüfen. Gleich darauf bemerkte sie, dass sie sich dieses Unterfangen ersparen konnte, denn als sie noch gut zehn Meter voneinander entfernt waren, wurde die Russin auf einmal langsamer und blieb dann von sich aus stehen.
Als Quinn bei ihr ankam, ließ Kira soeben den Piloten von ihrer Schulter gleiten, um ihn auf den Boden zu legen.
»Sie ihn untersuchen«, sagte Kira, als sie sich wieder aufrichtete. »Ich muss Baum klettern. Sehen, wo wir sind.«
»Ich werde raufklettern«, warf Liliya ein und schaute besorgt drein.
»Njet. Sie bleiben, falls sie sind nahe und greifen an. Sie den Sterblichen beschützen«, sagte Kira nachdrücklich und war schon weg, noch bevor die kleinere Frau protestieren konnte.
Liliya schnalzte verärgert mit der Zunge, stellte sich dann aber zu Quinn und betrachtete irritiert den Piloten. »Er ist sehr blass.«
»Ja«, gab Quinn zurück und kniete sich hin, um ihn sich genauer anzusehen.
»Was stimmt nicht mit ihm?«, wollte Liliya wissen und kniete sich ebenfalls hin, um den Mann aus der Nähe zu betrachten.
»Beim Absturz wurde er von irgendetwas am Kopf getroffen und daraufhin ohnmächtig«, erklärte Quinn, während sie nach seinem Handgelenk griff, um seinen Puls zu messen. »Vermutlich hätte er nicht kopfüber getragen werden dürfen.«
»Immerhin besser, als von Nika, Marta und Annika in Stücke gerissen zu werden«, sagte Liliya ernst.
Quinn begann zu überlegen. Vor dem Absturz hatte sie sich mit keiner der Russinnen unterhalten, aber Liliya und Kira machten einen ganz normalen Eindruck. Bestimmt galt das doch auch für die anderen drei Frauen, oder etwa nicht?
»Sie würden ihm doch sicher nichts antun, nicht wahr?«, fragte sie. »Ich meine, wir sind doch alle zivilisierte Menschen, und die greifen andere schließlich nicht grundlos an und …«
»Sie haben massive Verletzungen erlitten«, führte Liliya ihr vor Augen. »Wirklich üble Verletzungen.«
»Ja, aber wir heilen auch schnell. Ihre Körper werden doch schon von dem Moment an repariert, in dem sie die Verletzungen erlitten haben. Inzwischen müsste mit ihnen eigentlich alles wieder in Ordnung sein. Oder zumindest so gut wie.«
»Da«, stimmte Liliya ihr zu. »Aber es wird sehr viel Blut notwendig sein, um alle Reparaturen durchzuführen. Mehr Blut, als ihr Körper zur Verfügung hat. Sie werden Schmerzen haben und nach mehr Blut verlangen.«
»Trotzdem …«, lenkte Quinn ein, doch Liliya fiel ihr ins Wort.
»Sie werden unter Blutlust leiden. Ein Unsterblicher, dem das widerfährt, hat nichts Zivilisiertes mehr an sich. Schmerz und Durst rauben ihm den Verstand, und er würde seine eigene Mutter leer saugen, um das lebenspendende Elixier zu erhalten, das seinen Schmerzen ein Ende setzt.« Ihr Blick kehrte zu dem bewusstlosen Piloten zurück. »Jede Einzelne von ihnen müsste ihn vollständig aussaugen, um die Menge an Blut zu sich zu nehmen, die sie derzeit benötigen. Aber sie sind zu dritt, und auch wenn wir alle diesen Mann kennen und mögen, werden sie sich um ihn reißen wie drei ausgehungerte Hunde um einen Kadaver«, prophezeite sie und versicherte Quinn noch einmal: »Wenn sie uns einholen, werden sie ihn in Stücke reißen.«
Quinn schwieg einen Moment lang und ließ sich Liliyas Worte wieder und wieder durch den Kopf gehen, die vor ihrem geistigen Auge Bilder entstehen ließen, die geradewegs aus einem Slasher Movie hätten stammen können. Ein Rascheln aus dem Gebüsch links von ihnen veranlasste sie beide dazu, sich abrupt nach dort umzudrehen. Zu sehen war nichts. Vermutlich nur irgendein Waldbewohner, dennoch wollte Quinn kein Risiko eingehen. Sie richtete sich auf und sagte: »Wir sollten weitergehen.«
»Da«, stimmte Liliya ihr zu und bückte sich, um nach dem Oberarm des Piloten zu greifen. »Nehmen Sie seinen anderen Arm. Wenn wir ihn so zwischen uns tragen, hängt sein Kopf nicht wieder nach unten.«
Automatisch beugte sich Quinn vor und fasste nach dem anderen Arm des Mannes. Ihr war gesagt worden, dass sie als Unsterbliche schneller und stärker war und über eine bessere Nachtsicht verfügte, doch bislang war es für sie nie wichtig gewesen nachzufragen, wie stark und wie schnell sie war, und sie hatte auch noch nicht versucht es herauszufinden. Jetzt allerdings interessierte es sie, und sie fand es auch Stück für Stück heraus. Auf dem Weg durch den Wald hatte sich schon bewahrheitet, was ihre Schnelligkeit und die Nachtsicht anging. Also konnte sie wohl davon ausgehen, dass sie auch über mehr Kraft verfügte. Dennoch überraschte es sie, dass sie völlig mühelos mit nur einer Hand das halbe Gewicht des Piloten stemmen konnte, was Liliya auf der anderen Seite ebenso gelang. Der Mann war gut zwei Meter groß, er machte einen wohlgenährten Eindruck und wog vermutlich zwischen hundert und hundertfünfzehn Kilo, und dennoch fühlte er sich für sie leichter an als jene Fünf-Kilo-Gewichte, die sie als Sterbliche für ihr Fitnesstraining gestemmt hatte.
Wegen seiner Größe mussten beide Frauen die Arme weit nach oben strecken, um ihn so tragen zu können, dass seine Füße nicht über den Boden schleiften.
»Wir warten auf Kira, dann gehen wir los.« Liliya hatte kaum ausgesprochen, als Kira plötzlich genau vor ihnen auf dem Boden landete. Zwar war sie auf den Baum geklettert, aber offenbar hatte sie nicht auf dem gleichen Weg nach unten kommen wollen und war stattdessen gesprungen. Der Aufprall war von der Wucht eines Felsblocks, und Quinn konnte sogar spüren, wie der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Kira schien das Ganze nicht das Geringste ausgemacht zu haben.
»Sie kommen. Wir gehen«, sagte Kira nur, dann drehte sie sich um und eilte voraus.
»Haben Sie von da oben irgendwo Lichter sehen können, die auf eine Stadt oder ein Dorf hindeuten?«, fragte Quinn, als sie und Liliya ihr mit dem zwischen ihnen hin und her baumelnden Piloten folgten.
»Da. Lichter von Kleinstadt oder Siedlung. Ganz in Süden«, antwortete Kira. »Wir da lang gehen.«
Quinn wollte noch fragen, wie weit nach Süden sie gehen mussten und wie weit die drei anderen Frauen von ihnen entfernt waren, aber da rannte Kira bereits los und Quinn musste ihre Fragen vorläufig zurückstellen. Stattdessen beschleunigten sie und Liliya ihre Schritte, um die andere Frau nicht aus den Augen zu verlieren. Trotz ihrer überlegenen Kraft und Schnelligkeit erwies sich das als gar nicht so einfach, denn da sie den Piloten trugen, kamen sie nur deutlich langsamer voran. Was jedoch weniger mit seinem Gewicht zu tun hatte, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass sie nicht die ganze Zeit über zu dritt nebeneinander laufen konnten. Zwischen den Bäumen verlief kein Trampelpfad, und die Bäume standen stellenweise so dicht, dass sie fast nur hintereinander gehen konnten. Jedes Mal, wenn das der Fall war, verloren sie ein wenig mehr den Anschluss. So wie in dem Moment, als sich Kira zufällig zu ihnen umdrehte und sie anherrschte: »Wir müssen sein schneller. Liliya, leg du ihn über Schulter.«
Quinn war ganz hinten und konnte nicht sehen, was Liliya sah, daher kam es für sie völlig überraschend, dass die andere Frau nicht Kiras Aufforderung nachkam, sondern einen Fluch ausstieß und den Piloten einfach losließ.
Darum bemüht, den Piloten so zu halten, dass er nicht zu Boden sinken konnte, sah Quinn Liliya hinterher. Ihre Miene war dabei vermutlich genauso von Schock gezeichnet wie die von Kira, die langsamer wurde und weiterhin über die Schulter zu ihnen sah.
»Was …?«, begann Kira, kam jedoch nicht weiter, da sie gegen einen riesigen dunklen Schemen lief, den Liliya allem Anschein nach lange vor ihr bemerkt hatte. Jedenfalls vermutete Quinn, dass die zierliche Blonde deshalb den Piloten losgelassen hatte und davongerannt war. Ihr musste klar gewesen sein, dass die andere Frau blindlings in ihr Verderben lief, weil sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Begleiterinnen hinter ihr gerichtet war. Noch im Laufen rief Liliya ihr eine Warnung zu.
Der große Schemen entpuppte sich als Bär, der sich zu Quinns Entsetzen auf die Hinterbeine stellte und zu brüllen begann. Das Tier hatte sich bereits auf dem Rückzug befunden, da Kiras Ruf für den Bär Warnung gewesen sein musste, dass sich ihm jemand näherte. Doch sie war zu schnell für ihn, sodass sich ein Zusammenstoß nicht mehr verhindern ließ. Hätte Kira sofort reagiert und wäre sie stehen geblieben, hätte alles Nachfolgende vielleicht vermieden werden können. Aber so war es nicht gelaufen, und nun stand da dieser zweihundert Kilo schwere und über zwei Meter große Bär und holte mit seiner Pranke nach Kira aus. Die Krallen des Tiers erwischten die Russin an Hals und Gesicht und schnitten sich tief in ihr Fleisch, bevor sie von der Wucht des Hiebs gegen einen Baum geschleudert wurde.
Ob der Bär sich danach auch noch auf sie gestürzt hätte, um sie zu zerfleischen, war eine Frage, die unbeantwortet blieb. Denn Liliya hatte in diesem Moment den Bären erreicht und ging auf ihn los. Der Anblick war so ziemlich das Albernste, was Quinn je zu sehen bekommen hatte. Liliya stürzte sich mit ihren gut ein Meter fünfzig und allenfalls fünfzig Kilo Kampfgewicht auf diesen viermal so schweren, pelzigen Riesen und verpasste ihm einen Fausthieb in die Magengrube, der den Koloss mit einem Schnauben wieder auf alle viere runtergehen ließ. Dann ließ sie eine Serie von Schlägen in das Gesicht und auf die Nase des Tiers folgen.
Dem Bären war das offenbar zu viel, da er vor Schmerz aufheulte und nicht mal versuchte, nach Liliya zu schlagen. Stattdessen machte er kehrt und verschwand in Windeseile zwischen den Bäumen, gefolgt von den finsteren Blicken einer zierlichen Blonden.
»Gott im Himmel.«
Quinn stutzte angesichts dieser gemurmelten Worte und sah zu dem Mann, der nicht einseitig in sich zusammengesackt war, obwohl Liliya ihn losgelassen hatte, sondern aufrecht neben Quinn stand. In der kurzen Zeit, in der sie beide mit ihm in ihrer Mitte durch den Wald gerannt waren, war er wieder zu Bewusstsein gekommen. Quinn wollte ihn fragen, wie es seinem Kopf ging, wurde jedoch abgelenkt, als Liliya vor Entsetzen laut nach Luft schnappte.
Gleich darauf stieg Quinn Blutgeruch in die Nase. Der Pilot war augenblicklich vergessen. Stattdessen eilte sie zu Liliya und kniete sich neben diese vor Kira hin. Die Amazone lag am Fuß des Baums, gegen den sie geschleudert worden war, der Kopf war in einem viel zu spitzen Winkel zur Seite weggeknickt.
»Ihr Genick ist gebrochen«, murmelte Quinn, deren Sorge sich noch steigerte, als Liliya die Russin anhob, um sie flach auf den Boden zu legen. Kiras Kopf kippte so zur Seite, dass man deutlich sehen konnte, in welch blutige Masse Gesicht und Hals verwandelt worden waren. Die Klauen des Bären hatten sich durch das Gewebe geschnitten, als wäre es weich wie Butter. Die Schnitte setzten an der Nase an und wurden tiefer, je näher sie dem Ohr kamen. Offenbar hatte jede einzelne Kralle ein Stück der Halsschlagader zerfetzt, überlegte Quinn, als sie sah, wie viel Blut die Frau bereits verloren hatte, während immer noch mehr aus der klaffenden Wunde gepumpt wurde. Die Chirurgin in ihr gewann die Oberhand, als sie im nächsten Moment reflexartig ihre Hand auf den Hals der Frau presste, um die Blutung zu stoppen. »Wir sollten …«
»Sie müssen mit Jet von hier verschwinden«, unterbrach Liliya sie mit ernster Miene, zog Quinns Hand von der Wunde und drückte sie weg. »Jetzt sofort.«
Quinn sah sie verdutzt an. »Wer ist Jet?«
Liliya riss erstaunt die Augen auf, während sie wie selbstverständlich antwortete: »Der Pilot.«
»Sie meinen Lassiter?«, fragte sie unschlüssig.
»Lassiter ist sein Nachname. Er hört auf Jet«, erklärte Liliya.
»Oh«, entfuhr es Quinn, die Jet für einen albernen Namen hielt. Ein Spitzname, weil er Pilot war, vermutete sie, verdrängte dann aber den Gedanken und wandte ein: »Aber Kira …«
»Kira ist verletzt und hat viel Blut verloren«, fiel Liliya ihr ungeduldig ins Wort. »Sie stellt für Jet jetzt genauso eine Bedrohung dar wie Nika, Marta und Annika. Sie müssen ihn von hier wegbringen, damit er in Sicherheit ist. Suchen Sie nach der Stadt, die Kira vom Baum aus gesehen hat, und fordern Sie Hilfe für Kira und die anderen an. Die brauchen Blut, und zwar in großen Mengen.« Sie ließ Quinns Handgelenk los und fügte, den Blick auf Kira gerichtet, leise hinzu: »Und sagen Sie ihnen, dass sie sich beeilen sollen, wenn sie Jet retten wollen – und die Sterblichen in der Siedlung, von dem aus Sie anrufen.«
»Was?«, fragte Quinn erschrocken. »Sie glauben doch nicht, dass die Frauen eine Stadt angreifen werden.«
»Sie sind wahnsinnig vor Blutlust. Sie werden jeden angreifen, der ihr Verlangen nach Blut stillen kann. Und jetzt gehen Sie schon, bevor sie aufwacht. Schaffen Sie Jet so weit wie möglich von hier weg.! Und zwar schnell.«
»Ich?« Quinn schaute bestürzt drein. »Können Sie nicht wenigstens mitkommen?«
Sofort schüttelte Liliya den Kopf. »Ich kann Kira nicht hier zurücklassen. Ich bin ihre Leibwächterin, ich muss immer an ihrer Seite bleiben. Sie werden ohne mich weitermachen müssen. Gehen Sie schon!«
Quinn zögerte und verzog missmutig den Mund, während sie Kira betrachtete. Sie wollte nicht allein weitergehen. Sie fühlte sich bei den Russinnen besser aufgehoben. Immerhin hatte sie keine Ahnung von Wäldern und Bären … und eigentlich nicht mal von Unsterblichen. Warum hatte sie sich nicht alles von Marguerite beibringen lassen, als die das bei ihr versucht hatte?
»Gehen Sie!«
Der Ausruf kam so unverhofft, dass Quinn unwillkürlich zusammenzuckte und aufsprang. Dann drehte sie sich aufgebracht um, weil jemand sie am Arm fasste. Es war der Pilot. Er war ihr zu Kira und Liliya gefolgt und hatte alles mitangehört. Jetzt war er es, der sie von den beiden Frauen wegzuschieben versuchte.
»Wir sollten besser von hier verschwinden«, sagte er und dirigierte sie in die Richtung, die sie auf ihrem Weg durch den Wald eingeschlagen hatten, bevor ihnen der Bär in die Quere gekommen war.
Dennoch wollte Quinn sich lieber nicht von der Stelle rühren. Eine Situation wie diese hatte sie noch nie erlebt, und sie fühlte sich hoffnungslos überfordert. »Ich bin mir nicht sicher …«
»Ich schon«», erwiderte Jet mit finsterer Miene. »Hören Sie das nicht? Sie kommen schon wieder näher, und wenn Kira gleich aufwacht, ist sie womöglich in einer genauso schlechten Verfassung wie die drei. Mir wäre es lieber, nicht hier im Wald von einem Rudel Vampirellas in Stücke gerissen zu werden.«
»Sie sind keine Vampirellas«, herrschte Quinn ihn an, dann verstummte sie kurz und horchte genau hin. Im nächsten Moment riss sie erschrocken die Augen auf, als sie in der Ferne das Kreischen ihrer Verfolgerinnen hörte. Sie waren jetzt näher als zu dem Zeitpunkt, als Kira auf den Baum geklettert war. Sie gewannen eindeutig an Boden. Sie jagten sie, ging es Quinn durch den Kopf. Sie musste nervös schlucken. Ihr Blick wanderte zu Liliya, um die Frau nahezu anzuflehen, doch mit ihnen zu kommen. Aber Jet begann, sie hinter sich herzuziehen, ehe sie noch etwas sagen konnte.
»Wir müssen hier weg«, beharrte er und schleifte sie mit sich.
»Sie müssen das, wir nicht«, stellte sie klar und befreite sich aus seinem Griff. Es ärgerte sie ganz gewaltig, von ihm so behandelt zu werden. Ihr Ehemann hatte schon die Angewohnheit gehabt, sie herumzukommandieren und hierhin oder dorthin zu dirigieren, als wäre sie ein Kind, dem man zeigen musste, wo es langging.
»Ja, Sie haben recht«, sagte Jet mürrisch und trat einen Schritt zurück. Sein Gesichtsausdruck war auf einmal kühl und distanziert. »Ich weiß gar nicht, wie ich auch nur glauben konnte, eine Vampirella würde einem simplen Sterblichen wie mir helfen wollen, vor anderen Vampirellas in Sicherheit gebracht zu werden. Bleiben Sie ruhig bei denen. Ich werde jedenfalls zusehen, dass ich von hier wegkomme.«
Er wandte sich ab und rannte los, während Quinn ihm verärgert hinterhersah und von Gewissensbissen geplagt wurde.
»Ohne Sie hat er keine Chance«, sagte Liliya und lenkte Quinns Blick zurück auf die zierliche Blonde, die sich wieder aufgerichtet und zu ihr gestellt hatte. »Die werden ihn einholen und bis auf den letzten Tropfen leertrinken.«
Quinn trat vor Unbehagen über diese Aussicht von einem Bein aufs andere, sagte dann aber: »Eine große Hilfe werde ich ihm nicht sein. Ich kenne mich in diesen Wäldern nicht aus, und ich …« Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich bin nicht stark genug, um ihn zu tragen, oder …«
»Natürlich sind Sie das«, unterbrach Liliya sie mit Nachdruck. »Sie sind eine Unsterbliche. Sie sind so stark wie ich. Sie können ihn genauso über Ihre Schulter legen und tragen, wie Kira es getan hat. Sie sind nicht verletzt, Sie brauchen im Moment kein Blut, also können Sie Kira und den anderen davonlaufen. Sein Leben hängt von Ihnen ab, Quinn. Und von Ihnen hängt auch das Leben der Menschen in dieser Siedlung oder Stadt ab – oder was Kira auch immer vom Baum aus gesehen haben mag. Jeder Sterbliche, der sich in ihrer Reichweite befindet, schwebt in Lebensgefahr, solange Mortimer als Chef der Vollstrecker noch keine Retter mit Blut losgeschickt hat«, redete sie auf Quinn ein. »Und das wird er auch nicht machen, wenn Sie nicht irgendwo ein Telefon auftreiben und ihn anrufen.«
»Oh Gott«, keuchte Quinn und merkte, wie ihr bei der Vorstellung übel wurde, dass so viele Menschenleben einzig und allein davon abhingen, wie stark und wie schnell sie war. Das waren noch nie ihre Stärken gewesen. Sie war Chirurgin, und ihr Verstand war schon immer ihr bestes Werkzeug gewesen.
»Dann benutzen Sie Ihren Verstand«, forderte Liliya sie auf, da sie offenbar ihre Gedanken gelesen hatte. »Benutzen Sie Ihren Verstand und Ihre Kraft, und retten Sie diese Leute, Quinn. Sie sind die einzige Hoffnung, die sie haben.«
»Ja, richtig«, hauchte Quinn.
»Ich werde versuchen, sie ein wenig aufzuhalten, indem ich ihnen entgegengehe, aber Sie müssen sich jetzt auf den Weg machen«, sagte Liliya und schob sie dabei leicht an. »Jet ist so hilflos wie ein Kleinkind, wenn er es mit Unsterblichen zu tun bekommt. Ohne Sie wird er nicht überleben.«
Liliya musste sie nicht noch einmal schubsen, denn als die blonde Frau die letzten Worte ausgesprochen hatte, war Quinn bereits im Weiterlaufen begriffen. Es war der Vergleich mit einem hilflosen Kleinkind, das sie hatte losrennen lassen. Dabei hatte sie an ihren Sohn Parker denken müssen. Der war gerade acht gewesen, als ihr Ehemann auf sie beide losgegangen war. Quinn war nicht in der Lage gewesen, ihren Sohn vor seinem eigenen Vater zu beschützen, ein Umstand, der sie seit vier Jahren quälte. Ihre Verwirrung und ihr Entsetzen darüber, dass ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden war, nachdem ihr Ehemann sie in eine Vampirin verwandelt hatte, waren schon schlimm gewesen, aber das war alles bedeutungslos verglichen mit den Schuldgefühlen, die ihr zu schaffen machten, weil sie nicht in der Lage gewesen war, ihren Sohn zu beschützen.
Und schließlich war Jet – sie hielt den Spitznamen immer noch für albern – Lassiter auch der Sohn von irgendjemandem. Wenn Quinn eines nicht gebrauchen konnte, dann noch mehr Schuldgefühle. Sie glaubte zwar nicht daran, dass sie ihn vor vier außer Kontrolle geratenen Unsterblichen retten konnte. Aber wenn sie es nicht wenigstens versuchte, würde sie sich das niemals verzeihen können.
Jet wurde von ziemlich unerfreulichen Gedanken über Unsterbliche im Allgemeinen und eine hübsche Vampirella im Besonderen geplagt, als er hörte, dass sich ihm jemand mit schnellen Schritten näherte. Er war bis an den Rand der Erschöpfung gerannt, seit er Quinn und die Russinnen hinter sich zurückgelassen hatte, aber die nackte Panik hatte ihm Flügel verliehen. Letztlich spielte es natürlich keine Rolle, denn einer Unsterblichen konnte er niemals davonlaufen.
Da er nicht so zu Boden gerissen werden wollte, wie es ein Löwe mit einer Antilope machte, wartete er ab, bis er sich sicher war, dass seine Verfolgerin nahe genug an ihn herangekommen war, um ihn gleich zu überholen. Dann wirbelte er herum, um sich seiner Angreiferin zu stellen. Jet erkannte noch, dass es sich um Quinn handelte, doch die duckte sich bereits und ging ihn an wie beim Football, wenn ein Spieler einen anderen erledigen wollte.
Jedenfalls fühlte es sich so an, als sie ihre Schulter in seine Magengrube rammte und ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Als er einen schmerzhaften Moment später wieder durchatmen konnte, musste er feststellen, dass sie ihn über ihre Schulter geworfen hatte. Kopfüber hing er so da, dass er auf ihren Hintern starren konnte, während seine Finger über den Waldboden scheuerten, der mit irrsinniger Geschwindigkeit an seinen Augen vorbeijagte.
Er verzog das Gesicht, nahm die Arme hoch und verschränkte die Hände, damit sie nicht länger über den Boden streiften. Quinn rannte derweil unbeirrt in die Richtung weiter, in die er auch unterwegs gewesen war. Diese Frau nahm sich nicht mal die Zeit, ihm beim Laufen zu erklären, was hier los war. Sie stürmte einfach weiter, die Arme um seine Oberschenkel geschlungen, damit er ihr nicht von der Schulter rutschte, während sie über im Weg liegende Baumstämme sprang und um Bäume herumeilte, die genau dort standen, wo sie eigentlich entlang wollte.
Erleichterung machte sich in Jet breit. Wenigstens hatte er mit ihrer Hilfe halbwegs eine Chance zu überleben. Natürlich versetzte es seinem Stolz einen kleinen Stich, dass er sich von einem so zierlichen Geschöpf tragen lassen musste, aber Jet war Realist genug, um sich vor Augen zu halten, dass sie kein gewöhnlicher Mensch war. Sie mochte zwar klein sein, aber Patronenkugeln waren auch klein, und dennoch konnten sie einem Mann in bestimmten Situationen das Leben retten. Dieser Gedanke weckte bei ihm den Wunsch, eine von diesen speziellen Pfeilpistolen zu besitzen, die die Vollstrecker benutzten. Damit hätte er vielleicht eine Chance gehabt, die Vampirellas abzuwehren, die es auf sein Blut abgesehen hatten. Zukünftig würde er darauf bestehen, dass eine solche Pistole sich an Bord jeder Maschine befand, mit der er Unsterbliche befördern sollte. Falls er das hier überlebte, um wieder fliegen zu können … und falls er weiterhin als Pilot für Argeneau Enterprises arbeiten würde, dachte Jet grimmig. Das war aber nicht das Einzige, was ihm Unmut bereitete, hatte sein Kopf doch erneut so zu dröhnen begonnen wie zuvor, als Kira Sarka ihn auf die gleiche Weise geschultert hatte. Vermutlich war das auf seine Kopfverletzung und den Umstand zurückzuführen, dass ihm das Blut in den Kopf stieg.
Um sich von den stärker werdenden Schmerzen abzulenken, dachte er darüber nach, ob er überhaupt noch länger für Argeneau Enterprises arbeiten und Unsterbliche in alle Welt fliegen wollte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie begeistert er gewesen war, als man ihm diesen Job angeboten hatte. Jetzt hingegen musste er leise seufzend zugeben, dass es womöglich ein gewaltiger Fehler gewesen war, diesen Job anzunehmen. Bei anderen Fluggesellschaften musste man sich nur Sorgen um Terroristen machen, die das Flugzeug in die Luft jagen wollten, oder um Entführer, die irgendwen mit der Kaperung der Maschine zu erpressen versuchten. Oder man starb bei einem Absturz, ging es ihm gleich darauf durch den Kopf, als Jeff Millers Gesicht vor seinem geistigen Auge auftauchte. Zwar war er froh darüber, dass der Mann den Absturz nicht überlebt hatte, da er ansonsten längst von den Vampirellas zerfetzt worden wäre. Doch Jet hatte zumindest eine Chance, das hier zu überleben, auch wenn die verschwindend gering war.
Schlimmer wäre es gewesen, hätte Miller auf seinem Platz eingeklemmt überlebt, wo er den blutrünstigen Russinnen ausgeliefert gewesen wäre. Jets Gedanken entwickelten einen Moment lang ein Eigenleben und zeigten ihm wie in einem Horrorfilm, was sich dann im Cockpit abgespielt hätte. Er konnte sich gut vorstellen, dass er sich geweigert hätte, den anderen Piloten allein zurückzulassen. Also wäre er entweder bei ihm geblieben und mit ihm zusammen abgeschlachtet worden, oder aber Kira hätte ihn sich gegen seinen Willen über die Schulter geworfen und weggebracht. Dann hätte er sich Millers Schreie anhören müssen, sobald die drei ausgerasteten Vampirellas über ihn hergefallen wären, während er selbst von der Amazone durch den Wald getragen wurde.
Jet verzog den Mund angesichts seiner abschweifenden Gedanken und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, damit er sich mit konstruktiveren Dingen befassen konnte. Zum Beispiel mit der Frage, wie sie den verletzten Vampirellas entkommen konnten und wo sie auf Zivilisation und ein Telefon stoßen würden. Soweit er das beurteilen konnte, rannte Quinn momentan nur blindlings drauflos, um den Abstand zu ihren Verfolgerinnen zu vergrößern. Aber irgendwann würde auch sie anhalten müssen. Er vermutete, dass sie durch diese körperliche Anstrengung schneller als üblich ihre Kräfte aufbrauchte, und dass sie nicht ewig so weitermachen konnte, ohne zwischendurch Energie nachzutanken. Andere Menschen hätten etwas essen müssen, aber er war sich nicht sicher, ob sie stattdessen womöglich Blut benötigte. Würde er bereit sein, sie notfalls sein Blut trinken zu lassen, um sicherzustellen, dass sie beide überlebten?
Seine unsterbliche Freundin Abs hatte ihm mal erklärt, dass ihre Art in der Lage war, der Person Lustgefühle zu bereiten, von der sie tranken. Sie hatte davon erzählt, wie Tomasso sie das erste Mal gebissen hatte, indem er sie mit Küssen und Liebkosungen abgelenkt hatte, sodass sie nichts als eine unglaubliche Ekstase wahrgenommen hatte, ehe sie in Ohnmacht gefallen war.
Genau das stellte Jet sich jetzt vor. In seinen Gedanken saß er in einer wunderschönen Gartenlaube, während Quinn vor ihm kniete. Sie legte die Hände sanft an seinen Kopf und küsste ihn, wobei sie sich so weit vorbeugte, dass ihre kleinen Brüste über seinen Oberkörper strichen, während sie die Hände in seinen Haaren vergrub. Es fiel ihm nicht schwer, sich die Erregung auszumalen, die er verspüren würde, wenn er den Kuss erwiderte. Er stellte sich vor, wie sich seine Hände um ihre Hüften legten und dann weiter nach hinten glitten, bis sie ihren Po erreicht hatten, ihn drückten und dann zu ihren Brüsten wanderten, um sie zu streicheln und zu massieren. Durch den Stoff ihrer weißen Seidenbluse hindurch fand er ihre Nippel, drückte und drehte sie sanft, während sie den Kuss unterbrach und mit ihren Lippen über seine Wangen strich.
Ihr exotischer, berauschender Duft stieg ihm in die Nase, ihr warmer Atem berührte seinen Hals, dann spürte er ihre Lippen an jener empfindlichen Stelle an seinem Hals …