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Seit jeher ist "boy meets girl" die Prämisse der Liebesfiktion - und "boy gets girl" beziehungsweise "boy loses girl" deren Schlusspunkt. In der filmischen Darstellung der Liebe zwischen zwei Figuren unterschiedlichen Geschlechts haben sich etliche dramaturgische und ästhetische Konventionen entwickelt. Doch welche Herausforderungen ergeben sich, wenn ein Film von der Liebe zwischen einem boy, einem girl und einer zusätzlichen, dritten Person handelt? Wenn die Liebe in diesem Figuren- und Beziehungsdreieck in alle Richtungen verläuft und somit eine sexuelle Ambivalenz ins Spiel kommt? Wenn es nicht (nur) um das Glück zu zweit, sondern zu dritt geht? Andreas Köhnemann nimmt in "Liebe in alle Richtungen" die erzählerischen und inszenatorischen Strategien in den Blick, die bei einer Abweichung von der herkömmlichen "Junge trifft Mädchen"-Liebesfilmformel zum Einsatz kommen können. Eingebettet in literatur- und filmwissenschaftliche sowie gender- und queertheoretische Kontexte werden zehn Filme einer eingehenden Untersuchung unterzogen: Claude Chabrols "Zwei Freundinnen", Bertrand Bliers "Abendanzug", Andrew Flemings "Einsam, zweisam, dreisam", Gregg Arakis "The Doom Generation", Anne Fontaines "Eine saubere Affäre", Michael Mayers "Ein Zuhause am Ende der Welt", Alexis Dos Santos' "Glue", Adam Salkys "Dare - Hab' keine Angst, tu's einfach!", Tom Tykwers "Drei" sowie Xavier Dolans "Herzensbrecher".
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Seitenzahl: 386
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Andreas Köhnemann:
Liebe in alle Richtungen
Sexuell ambivalente Dreiecksbeziehungen im Film
© 2014 Mühlbeyer-Verlag, Frankenstraße 21a, 67227 Frankenthal, Inh. Harald Mühlbeyer
www.mühlbeyer-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.
Umschlagbild: © DREI, X Filme Creative Pool/Berlin
Umschlaggestaltung: Steven Löttgers, Birkenheide (www.loettgers-design.de)
Lektorat, Gestaltung und Produktion: Harald Mühlbeyer, Mühlbeyer-Verlag
ISBN:
978-3-945378-00-7 (Epub)
978-3-945378-01-4 (Mobipocket)
978-3-945378-09-0 (PDF)
978-3-945378-02-1 (Print)
Inhalt
Title Page
Impressum
1. Einleitung
2. Heteronormativität
2.1 Gender und Queer Studies
2.2 Heteronormativität im Kino
3. Liebe im Dreieck – und darüber hinaus
3.1 Das trianguläre Begehren
3.2 Polyamory
4. Filmische Liebesdreiecke I: 2+1
4.1 TENUE DE SOIRÉE
4.2 LES AMOURS IMAGINAIRES
Exkurs: Männliche Schauobjekte – William Holden, Richard Gere, Rudolph Valentino
Exkurs: Pier Paolo Pasolinis TEOREMA
Exkurs: Roger Avarys THE RULES OF ATTRACTION
4.3 DARE
4.4 A HOME AT THE END OF THE WORLD
4.5 THE DOOM GENERATION
4.6 NETTOYAGE Á SEC
4.7 DREI
5. Filmische Liebesdreiecke II: A+B+C
5.1 LES BICHES
5.2 THREESOME
5.3 GLUE
6. Standardsituationen des Liebesfilms
6.1 ›Visuelle / dialogische Promiskuität‹
6.2 Die erste(n) Begegnung(en)
6.2.1 Paar trifft X
6.2.2 A trifft B trifft C trifft A
6.3 Die traute Dreisamkeit
6.4 Der unsichtbare Dritte
6.4.1 (Dis)Pleasure in looking
6.4.2 In absentia
6.5 Die Liebesszene
6.6 Die Auseinandersetzung
6.6.1 Wenn zwei sich streiten…
6.6.2 Wenn drei sich streiten…
6.7 Das (un)happy ending
6.7.1 Die Zerstörung des Liebesdreiecks
6.7.2 Das Bestehen des Liebesdreiecks
7. Fazit und Ausblick
8. Anhang
8.1 Literaturverzeichnis
8.2 Filmverzeichnis
8.3 Abbildungsverzeichnis
Danksagung
Anmerkungen
1. Einleitung
»Ich begegne in meinem Leben Millionen von Leibern; von diesen Millionen kann ich nur einige Hundert begehren; von diesen Hunderten aber liebe ich nur einen.« (Roland Barthes)[1]
Dieser Gedanke, den Roland Barthes in seinem Werk Fragmente einer Sprache der Liebe unter dem Stichwort ›Anbetungswürdig‹ notiert, ist keineswegs ungewöhnlich: Die Liebe, so schildert der Psychoanalytiker Martin S. Bergmann, sei »ihrem Wesen nach dyadisch, also auf das Paar beschränkt.«[2] Auch in den zahlreichen Filmen, die im Reclam-Genre-Band über das Melodram und die Liebeskomödie vorgestellt werden, bedeute Liebe stets die »Liebe zu einer einzigen Person«, schreibt Thomas Koebner in der Einleitung zu jener Anthologie; Liebe wähle offenbar »unter der Vielzahl der Möglichkeiten«[3] aus.
In der Filmgeschichte »aller Länder und Gesellschaften« sei der Komplex ›Liebe‹ von einer »außerordentlichen Bedeutung«[4], um abermals Koebner zu zitieren. Der Filmkritiker Frederik König bezeichnet »die romantische Liebe zwischen zwei Menschen in der (modernen) Welt« gar als »das große Thema des Kinos«; er kommt zu der Erkenntnis: Die Liebe »ist für den Film, der selbst eine universale Sprache ist, ein ewig aktuelles Thema und stärkt ihn in seiner globalen Wirkkraft«[5]. Für das classical Hollywood cinema zwischen 1917 und 1960, welches David Bordwell, Janet Staiger und Kristin Thompson anhand von 100 US-amerikanischen Studioproduktionen analysierten, stellen die drei Autoren fest: »Of the one hundred films in the UnS [= unbiased sample, d. Verf.], ninety-five involved romance in at least one line of action, while eighty-five made that the principal line of action.«[6] Jene Dominanz der Liebe in filmischen Erzählungen lässt eine Konstituierung des Genres ›Liebesfilm‹ nahezu unmöglich erscheinen; Anette Kaufmann gelingt dies in ihrer Publikation Der Liebesfilm: Spielregeln eines Filmgenres allerdings äußerst überzeugend, indem sie das »eigentliche Erzählziel«[7] eines Films als wesentliches definitorisches Kriterium vorbringt. Vielen gilt der Liebesfilm indes nicht als konsistentes Genre.[8] In der Überzahl der Genre-Studien werden Filme, in denen die Liebeserfüllung das Handlungsziel bildet, unter die major genres ›Melodram‹ (melodrama) oder ›Komödie‹ (comedy) subsumiert.[9] Ausschlaggebend für die Einteilung der entsprechenden Filme ist dabei oft der jeweilige Handlungsausgang: In Melodramen mit zentraler Liebesgeschichte (manchmal als romantic dramas verstanden)[10] sei die Liebe »ein Verhängnis, eine Passion, also auch eine Leidensgeschichte«[11], in welcher es letztlich – in der Mehrheit der Filme – »zu Abschied und Trennung für immer«[12] komme, während das Verliebtsein in Liebeskomödien (romantic comedies) »zum märchenhaft fröhlichen Ende der Erzählung«[13] führe. Es gebe jedoch, bemerkt Koebner, »etliche Grenzfälle.«[14] Catherine L. Preston weist zudem auf sogenannte romantic hybrids hin – etwa die Melangen aus romantic drama und Thriller. Als Beispiel wird von Preston (neben anderen) THE BODYGUARD / BODYGUARD (USA 1992, R: Mick Jackson) genannt.[15]Was sämtliche Liebesfilme – ob sie in Studien nun als melodramatische oder komödiantische Werke beziehungsweise als ›Hybride‹ eingestuft werden – vereine, sei deren Haupterzählstrang: »the development and recognition of love«, und zwar in (nahezu) allen Fällen »between the two heterosexual main characters.«[16] Die Liebe im Kino, so Jürgen Felix, fange »zumeist mit einer ›Boy meets girl‹-Story«[17] an. Auch bei Bordwell / Staiger / Thompson ist mit romance stets »heterosexual romantic love«[18] gemeint.
Um die Geschichte eines ›Jungen‹ und eines ›Mädchens‹ – eines Paares – zu erzählen, bedürfe es wiederum diverser »obstacles to love«[19], erklärt Ronald B. Tobias, in dessen Filmhandbuch 20 Master Plots (And How to Build Them) die Liebe den vierzehnten der 20 master plots bildet: »›Boy Meets Girl‹ isn’t enough. It must be ›Boy Meets Girl, But …‹«[20]. Ein solches ›Aber‹, das die Liebe eines Paares (vorübergehend) behindert, kann ein Dritter / eine Dritte im Bunde sein. So konstatiert Rainer Maria Rilke in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910 erschienen) über den Dritten im Drama: »[E]s kann rein nichts geschehen ohne ihn, alles steht, stockt, wartet.«[21] Und Susanne Lüdemann legt in ihrem Aufsatz Ödipus oder ménage à trois: Die Figur des Dritten in der Psychoanalyse dar:
Wo Verbindungen zu zweien entweder zu symbiotischer Verklebung oder zu kompromisslosem Antagonismus neigen […], scheint erst die Dazwischenkunft eines Dritten für jenes Maß an Differenzierung oder Komplexität zu sorgen, das nötig ist, um Redundanz in Information zu verwandeln und damit Variation (psychologisch gesprochen: ›Entwicklung‹; dramaturgisch gesprochen: ›Handlung‹) zu ermöglichen.[22]
Von Georg Seeßlen wird die Dreiecksgeschichte – neben der Geschichte einer opfervollen Mutterschaft, der Geschichte der bösen Frau und der Geschichte einer großen Karriere der Frau – als eines der vier essenziellen Motive angeführt, die man als Handlungsgerüst des woman’s film[23] bestimmen könne;[24] Ursula Vossen gibt die Dreiecksgeschichte (neben der Karriere, der Prüfung / Krisenbewältigung, der Mutterschaft, der bösen Frau sowie der Familiensaga) ebenfalls als erstes Motiv von insgesamt sechs kombinier- und variierbaren Grundmotiven melodramatischer Handlungsgerüste an.[25] Gemeinhin kommen in einer Dreiecksgeschichte die folgenden Konstellationen infrage: »eine Frau zwischen zwei Männern; ein Mann zwischen zwei Frauen; oder ein doppeltes Dreieck, in dem beide Protagonisten noch anderweitig gebunden sind.«[26]
Höchst selten nimmt sich der / die Dritte dabei wie »der beste Mensch unter dem Himmel«[27] aus, wie dies beim »ehrliche[n] Albert«[28] in Johann Wolfgang von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther (1774) der Fall ist. In romantic comedies erscheine jene(r) Dritte meist augenscheinlich als »the wrong partner«[29] – und es lasse sich, so Josef Schnelle in seinem Beitrag zu Nora Ephrons SLEEPLESS IN SEATTLE / SCHLAFLOS IN SEATTLE (USA 1993), ein »keineswegs immer milder Spott«[30] feststellen, dem ein solcher wrong partner im Filmverlauf ausgesetzt sei. So gibt der pragmatische Allergiker Walter (Bill Pullman) als wrong man für die Protagonistin Annie (Meg Ryan) eine überdeutlich lächerliche Figur in Ephrons Inszenierung ab, während es im Film über Victoria (Barbara Garrick) – die wrong woman für den Protagonisten Sam (Tom Hanks) – abschätzig heißt: »She laughs like a hyena.«
Mark D. Rubinfeld versteht die Konstellation ›Held / Heldin / wrong partner‹ in romantic comedies als foil plot, in dem es zum Entwurf von Karikaturen komme. Er differenziert zwischen vier foil plot-Variationen: the prick / dweeb / bitch / temptress foil plot. In den ersten beiden Fällen müsse sich die Heldin zwischen zwei Männern – dem Helden und dem prick (zu Deutsch etwa ›Mistkerl‹) beziehungsweise dem dweeb (≈ ›Schwachkopf‹) – entscheiden, im dritten und vierten Fall stehe der Held zwischen zwei Frauen: der Heldin und der bitch (≈ ›Miststück‹) beziehungsweise der temptress (≈ ›Verführerin‹).[31] Die dritte Figur in einem romantic comedyfoil plot bedeute, so Rubinfeld, »nothing more than a narrative device«[32]; im dweeb foil plot sei der Dritte etwa ein dermaßen überzeichneter ›Schwachkopf‹, dass der Held dagegen automatisch ›glänzen‹ müsse.[33]
David R. Shumway macht in seinem Aufsatz über screwball comedies[34] noch auf eine weitere Strategie aufmerksam, um dritte Figuren als Wahlmöglichkeiten für eine Liebesbeziehung mit dem jeweiligen Helden / der jeweiligen Heldin des Films von vornherein auszuschließen: die Rollenbesetzung.
We cannot imagine Rosalind Russell in love with Ralph Bellamy in HIS GIRL FRIDAY. We want her to be with Cary Grant from the moment they meet in his office at the beginning of the film.[35]
Während jener Wunsch des Publikums, dass das ›richtige‹, starbesetzte Paar letztendlich zueinander findet und der wrong partner ›von der Leinwand verschwindet‹, in komödiantisch erzählten Dreiecksgeschichten üblicherweise auch in Erfüllung geht, sei dies, so Anette Kaufmann, in romantic dramas weit weniger selbstverständlich.[36] Man denke beispielsweise an den Türklinkenmoment in Clint Eastwoods THE BRIDGES OF MADISON COUNTY / DIE BRÜCKEN AM FLUSS (USA 1995), in welchem sich Francesca (Meryl Streep) schließlich gegen die große Liebe (in Gestalt Eastwoods) und für das Fortbestehen ihrer Ehe entscheidet. Obendrein könne der / die Dritte in einem romantic drama »eine ernstzunehmende antagonistische Größe«[37] sein. Dergestalt wird etwa Billy Zane als cholerischer Verlobter von Rose (Kate Winslet) in James Camerons TITANIC (USA 1997) zusätzlich zur Schiffskatastrophe zu einer Bedrohung für Leben und Wohlergehen der zwei Liebenden Jack (Leonardo DiCaprio) und Rose. Johannes Binotto weist allerdings – wenn auch nicht in Bezug auf ein romantic drama, sondern in Bezug auf eine Mixtur aus Liebeskomödie und Thriller – darauf hin, dass ein schurkischer Dritter die Romanze eines Paares weniger bedroht, als vielmehr ›am Leben hält‹; über den kriminellen Ray (Ray Liotta) – welcher der Dritte in der Beziehung zwischen Charles und Lulu (Jeff Daniels und Melanie Griffith) in Jonathan Demmes SOMETHING WILD / GEFÄHRLICHE FREUNDIN (USA 1986) ist und in der Erzählung als besagte antagonistische Größe fungiert – schreibt Binotto:
[N]ur so lange, wie er sich zwischen Lulu und Charles stellt, können diese sich noch Illusionen über eine gemeinsame Zukunft machen. Wenn sich aber am Ende die beiden, nun gänzlich befreit von allen Altlasten, auf der Strasse [sic] gegenüberstehen, fragt man sich, ob es nicht die Hindernisse waren, die die bittere Einsicht verhindert haben, dass sie beide gar nicht echt, sondern nur je des anderen Phantasie waren[38].
In zwei wesentlichen Punkten haben sich die filmischen Dreiecksbeziehungen, die in der vorliegenden Arbeit erforscht werden sollen, von den zuvor erwähnten Konstellationen zu unterscheiden. Der erste Punkt lässt sich ansatzweise in den Reflexionen François Truffauts finden, die dieser über seine Lektüre des von ihm verfilmten Romans Jules et Jim / Jules und Jim (1953) von Henri-Pierre Roché anstellt:
Beim Lesen von Jules und Jim hatte ich das Gefühl, hier einem Beispiel dafür zu begegnen, wozu ein Film noch nie imstande war: zwei Männer zu zeigen, die dieselbe Frau lieben, ohne daß das ›Publikum‹ einer dieser Figuren mehr zugetan wäre als den anderen, da er das Bedürfnis verspürt, sie alle drei gleichermaßen zu lieben. Dieses anti-selektive Element war es, das mich bei dieser Geschichte, die der Verlag als ›Eine reine Liebe zu dritt‹ vorstellte, am meisten berührte.[39]
Während dritte Figuren im Großteil der literarischen und filmischen Werke lediglich vonnöten sind, um – so Rilke – »von dem Schicksal zweier Menschen zu erzählen, die es einander schwer mach[en]«[40], und sie sich meist nicht als denkbare alternative Partner / Partnerinnen gerieren (»These films always tell us early on who we are supposed to root for«[41], hält Shumway in seinem Text über screwball comedies fest), entdeckt Truffaut in der Figurenkonstellation und -zeichnung von Jules et Jim etwas Unkonventionelles: Alle drei Figuren lassen sich als einander ebenbürtig auffassen; keiner ist a priori als wrong partner auszumachen. Allen drei wird annähernd gleich viel Raum in der Erzählung zugestanden.
Die von Truffaut zum Ausdruck gebrachte ›Anti-Selektion‹ des Werks ist ein konstitutiver Teil des ersten Kriteriums, das die in dieser Arbeit zu durchleuchtenden filmischen Dreiecksbeziehungen zu erfüllen haben: des Kriteriums der Geschlossenheit des Liebesdreiecks. Diese Geschlossenheit zeichnet sich darüber hinaus durch eine ›Anti-Selektion‹ seitens der drei Figuren aus: In Rochés Roman beziehungsweise Truffauts Adaption JULES ET JIM / JULES UND JIM (F 1962, mit Jeanne Moreau, Oskar Werner und Henri Serre in den Hauptrollen) liebt Catherine Jules nicht minder als Jim, und desgleichen besitzt die Männerfreundschaft sowohl für Jules als auch für Jim einen ebenso hohen Stellenwert wie die Verehrung, die beide jeweils Catherine entgegenbringen. »Il nous aime tous les deux« (Er liebt uns beide), sagt Catherine einmal über Jules, als Jim sich nach diesem erkundigt – und sie könnte Gleiches über Jim beziehungsweise, in abgewandelter Form, über sich selbst sagen.
So geht die Liebe in JULES ET JIM bereits ›in alle Richtungen‹; es handelt sich um eine ménage à trois – den »Spezialfall«[42] einer Dreiecksgeschichte (wie Philipp Brunner es im Lexikon der Filmbegriffe ausdrückt). Als weiteres Beispiel sei Ernst Lubitschs DESIGN FOR LIVING / SERENADE ZU DRITT (USA 1933) mit dem geschlossenen Figurendreieck Tom / George / Gilda (Fredric March / Gary Cooper / Miriam Hopkins) genannt – weshalb Truffauts Äußerung, noch nie sei ein Film zu solch einem anti-selektiven Element imstande gewesen, relativiert werden muss. An neueren Produktionen sei McGs THIS MEANS WAR / DAS GIBT ÄRGER (USA 2012) erwähnt, in welchem sich die Spionage-Kameraden FDR und Tuck (Chris Pine und Tom Hardy) in dieselbe Frau (Reese Witherspoon) verlieben, sowie Oliver Stones SAVAGES (USA 2012), in dem die Freunde Chon und Ben (Taylor Kitsch und Aaron Johnson) eine gemeinsame Freundin (Blake Lively) haben.
Doch ist mit jenen Konstellationen, in welchen das Werk keinem der drei Charaktere die Chance auf die Sympathie des Publikums nimmt und in welchen sich alle drei Charaktere einander verbunden fühlen, das zweite Kriterium noch nicht erfüllt, das diese Arbeit an die zu untersuchenden Filme stellt: die sexuelle Ambivalenz. Das Wort ›ambivalent‹ bedeutet ›zweiwertig‹ / ›zwiespältig‹ (lateinisch ambi- ›zu beiden Seiten‹ und valens ›stark, mächtig‹). Der Begriff ›Ambivalenz‹ wurde – so Friedrich Kluge in seinem etymologischen Wörterbuch – 1911 von Eugen Bleuler gebildet; seit 1916 ist das Adjektiv ›ambivalent‹ in Gebrauch (erstmals durch Sigmund Freud).[43] In der Psychoanalyse wird Ambivalenz als »[g]leichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle, z.B. Liebe und Haß, in der Beziehung zu ein- und demselben Objekt«[44] verstanden. Als Gegenteil der Ambivalenz lässt sich somit die Eindeutigkeit bezeichnen. ›Sexuelle Ambivalenz‹ als Kriterium der Filmauswahl dieser Arbeit meint, dass es in den Liebesdreiecken der zu analysierenden Werke mindestens eine Figur geben muss, deren sexuelle Präferenz nicht eindeutig, sondern ambivalent ist; das heißt: Die betreffende Figur darf im jeweiligen Film weder als eindeutig heterosexuell noch als eindeutig schwul beziehungsweise lesbisch verortet werden. Gleichwohl gilt es, die Termini ›heterosexuell‹, ›schwul‹ und ›lesbisch‹ sowie weitere Termini wie ›queer‹, ›homo-‹ und ›bisexuell‹ vorab – in Unterkapitel 2.1 (›Gender und Queer Studies‹) – zu diskutieren.
Diese Arbeit wird sich insgesamt zehn Primärfilmen mit geschlossenen und sexuell ambivalenten Liebesdreiecken widmen. Die Auswahl der Filme soll nachstehend noch erläutert werden. Je nachdem, wie das Liebesdreieck jeweils narrativ hergestellt wird, erfolgt die Zuordnung der zehn Werke zu einer der beiden in Betracht kommenden Konstellationen: ›2+1‹ oder ›A+B+C‹.
Im ersten Fall begegnet ein (noch näher zu spezifizierendes) Paar einer (ebenso noch näher zu spezifizierenden) dritten Figur. Dieser Konzeption entsprechen sieben der zehn Filme:
Bertrand Bliers TENUE DE SOIRÉE / ABENDANZUG (F 1986)
Gregg Arakis THE DOOM GENERATION (USA / F 1995)
Anne Fontaines NETTOYAGE À SEC / EINE SAUBERE AFFÄRE (F / SP 1997)
Michael Mayers A HOME AT THE END OF THE WORLD / EIN ZUHAUSE AM ENDE DER WELT (USA 2004) [im Folgenden: HOME]
Adam Salkys DARE / DARE – HAB’ KEINE ANGST, TU’S EINFACH! (USA 2009)
Tom Tykwers DREI (D 2010)
Xavier Dolans LES AMOURS IMAGINAIRES / HERZENSBRECHER (CDN 2010)
Die übrigen drei Filme, die einer Analyse unterzogen werden sollen, lassen sich dagegen der Konstellation ›A+B+C‹ zuordnen; hier treffen drei Figuren aufeinander, wodurch sich vier gleichwertige Möglichkeiten der Paar- beziehungsweise Triobildung (AB / BC / CA / ABC) ergeben:
Claude Chabrols LES BICHES / ZWEI FREUNDINNEN (F / I 1968)
Andrew Flemings THREESOME / EINSAM, ZWEISAM, DREISAM (USA 1994)
Alexis Dos Santos’ GLUE (RA / UK 2006)
Obzwar die Kaufmann’sche Methode der Klassifizierung des Liebesfilms als eigenständiges Genre im Folgenden noch relevant sein wird, wurde für die Filmauswahl dieser Arbeit keine Beschränkung auf ein bestimmtes Genre vorgenommen, um auf diesem Wege einen (Sub)Genre-Mix wie THE DOOM GENERATION (in welchem Roadmovie, Horror- / Splatterfilm[45] und Teenagerromanze[46] miteinander verquickt sind) ebenso miteinbeziehen zu können wie eine romantic comedy (etwa THREESOME), ein Melodram (etwa HOME) et cetera. Auch wurde von einer zeitlichen / nationalen / stilepochalen Beschränkung abgesehen, um nicht einzelne, äußerst lohnende Werke aufgrund ihres Produktionsjahres oder -landes ausschließen zu müssen (etwa LES BICHES von 1968, welcher deutlich früher als die übrigen Primärfilme entstanden ist). Jedoch sollen (und dürfen) all jene Unterschiede im Umgang der Filme mit dem in dieser Arbeit behandelten Thema, die sich aus der jeweiligen Genrezugehörigkeit beziehungsweise aus dem jeweiligen zeitlichen und/oder kulturellen Kontext der Werke ergeben, keinesfalls ausgeblendet werden; sie werden daher an entsprechender Stelle Berücksichtigung finden.
Maßgeblich wurde die Auswahl der Primärfilme von der Frage bestimmt, ob die Beziehungsdynamiken im jeweiligen Liebestrio (bestehend aus zweien, die eine dritte Figur treffen, oder aus dreien, die sich finden) die Handlung dominieren – ob also die Dreiecks-Liebesgeschichte im Zentrum der filmischen Erzählung steht. Als Orientierungshilfe diente dabei eine Definition vom American Film Institute (AFI) zur Wahl der 100 greatest love stories of all time aus dem Jahre 2002 – eine Definition, in welcher gar die Möglichkeit enthalten ist, dass mehr als zwei Figuren einander in Liebe zugetan sind: Als love story gelte »[r]egardless of genre, a romantic bond between two or more characters, whose actions and/or intentions provide the heart of the film’s narrative.«[47]
Während jedoch der Ausdruck ›romantic bond‹ in erster Linie auf die ›romantische‹ Liebe (Eros) abzuzielen scheint, wie sie der Soziologe John Alan Lee als Liebesstil charakterisiert,[48] kann die Bande zwischen den drei Figuren in den hier zu analysierenden Filmen auch die noch zu erläuternden anderen fünf Lee’schen Liebesstile mit einschließen.[49] Das Liebesdreieck kann beispielsweise zwei Figuren beinhalten, deren Liebe sich von beiden Seiten oder von einer Seite ausgehend als eine vorwiegend ›freundschaftliche‹ Liebe (Storge) gemäß Lee[50] gestaltet – insofern das Kriterium der sexuellen Ambivalenz in der Gesamtkonstellation des Dreiecks eingelöst wird (wie dies bei HOME, DARE, LES AMOURS IMAGINAIRES und THREESOME der Fall ist). DESIGN FOR LIVING, JULES ET JIM und ähnlich gelagerte Filme, in denen die zwei männlichen Charaktere des Dreiecks eine ›freundschaftliche‹ Liebe verbindet, wurden ausgeschlossen, da die erotische Attraktion im jeweiligen Beziehungsgeflecht gänzlich im Rahmen der Heterosexualität – im Nicht-Ambivalenten – bleibt. Alfonso Cuaróns Y TU MAMÁ TAMBIÉN (MEX 2001), Antony Cordiers DOUCHES FROIDES (F 2005) und Salvador García Ruiz’ CASTILLOS DE CARTÓN / LIEBESSPIELE (SP 2009) bleiben weniger strikt innerhalb sexuell eindeutiger Grenzen. Da die sexuelle Ambivalenz aber letztlich nicht prononciert genug in der jeweiligen Erzählung angelegt ist, wurden die drei Werke ebenfalls nicht als Primärfilme ausgewählt.
Eine Vielzahl von Produktionen erfüllt wiederum zwar das Kriterium der sexuellen Ambivalenz – doch ist jeweils die Geschlossenheit des Liebesdreiecks beziehungsweise die von François Truffaut geschilderte ›Anti-Selektion‹ des Werks nicht (ausreichend) gegeben: In CABARET (USA 1972) von Bob Fosse ist die von Helmut Griem gespielte Figur dem Protagonistenpaar Sally und Brian (Liza Minnelli und Michael York) nicht ebenbürtig, während in Bertrand Bliers LES VALSEUSES / DIE AUSGEBUFFTEN (F 1974) Marie-Ange (Miou-Miou) eine im Vergleich zu Jean-Claude und Pierrot (Gérard Depardieu und Patrick Dewaere) deutlich untergeordnete Rolle zukommt; in Marco Bergers PLAN B (RA 2009) erfüllt die Frauenfigur Laura (Mercedes Quinteros) gar einzig und allein den Zweck, die Geschichte zwischen ihrem Ex-Freund Bruno (Manuel Vignau) und ihrem neuen Freund Pablo (Lucas Ferraro) in Gang zu bringen, indem sie Bruno durch die plötzliche Beendigung der gemeinsamen Beziehung dazu veranlasst, einen unkonventionellen Racheplan – die Verführung Pablos – zu schmieden. In THREE OF HEARTS / DREI VON GANZEM HERZEN (USA 1993) von Yurek Bogayevicz ist Connie (Kelly Lynch) demgegenüber zwar eine gleichwertige dritte Figur, jedoch sind Joe und Ellen (William Baldwin und Sherilyn Fenn) das deutlich favorisierte Liebespaar innerhalb der filmischen Erzählung.
Während all jene Werke nicht als Primärfilme dieser Arbeit infrage kamen, weil sie jeweils nicht allen drei Figuren (beziehungsweise allen Figurenbeziehungen) gleichermaßen gerecht werden, lag der Ausschluss diverser anderer Werke darin begründet, dass jeweils nicht alle Figuren einander in Liebe zugetan sind (sondern zwei von ihnen in erster Linie um die Liebe der dritten Figur rivalisieren).[51] In einigen anderen Werken ist indes die Geschichte des geschlossenen, sexuell ambivalenten Liebesdreiecks eher als Nebenstrang zu werten.[52] Zwei spezielle Fälle sind ohne Zweifel Anne Fontaines Werk NATHALIE… / NATHALIE – WEN LIEBST DU HEUTE NACHT? (F / SP 2003) sowie dessen Remake CHLOE (USA / CDN / F 2009) von Atom Egoyan: Hier setzt eine Ehefrau (Fanny Ardant / Julianne Moore) eine Prostituierte (Emmanuelle Béart / Amanda Seyfried) auf ihren Gatten (Gérard Depardieu / Liam Neeson) an, um dessen Treue zu testen – und verfällt alsbald selbst der jungen Frau beziehungsweise deren detaillierten Berichten über die (angeblichen) erotischen Begegnungen mit dem Ehemann. Weil sich die Beziehung zwischen dem Mann und der Prostituierten letztendlich als bloße Behauptung der jungen Frau entpuppt (da die erotischen Begegnungen nie stattfanden), wurden NATHALIE… und CHLOE nicht als Primärfilme ausgewählt.
Neben der Geschlossenheit (dass es sich also, wie Otto Friedrich in seiner Filmkritik zu DREI schreibt, um eine »totale Dreiecksgeschichte«[53] handelt) und neben der sexuellen Ambivalenz – in Sascha Westphals Rezension zu LES AMOURS IMAGINAIRES ist von einer »queeren Überschreibung«[54] von JULES ET JIM die Rede – galt es, weitere Punkte festzulegen, um die Filmauswahl einzugrenzen. So wurden etwa Filme mit einer (zu) starken vierten Figur ausgeschlossen. Dies betrifft beispielsweise Philip Kaufmans HENRY & JUNE (USA 1990), in dem Anaïs Nin (Maria de Medeiros) und das Ehepaar Henry und June Miller (Fred Ward und Uma Thurman) eine Dreiecksliebe verbindet. Aufgrund der Tatsache, dass Anaïs’ Gatte Hugo (Richard E. Grant) den Handlungsverlauf als vierter Akteur wesentlich mitbestimmt – und somit nicht die Dynamik des Beziehungsgeschehens im Dreieck das alleinige Erzählzentrum ausmacht –, wurde Kaufmans Werk nicht als Primärfilm ausgewählt. Darüber hinaus ist in HENRY & JUNE das Kriterium, dass in jeder Figurenbeziehung eine gegenseitige Verbundenheit bestehen muss, nicht erfüllt, da etwa Hugo und June kein inniges Verhältnis zueinander haben. Weitere Beispiele für Filme, in denen es um die Gefühlsverstrickungen in einem Figurenquartett geht (und die deshalb ausgeschlossen wurden), sind André Téchinés LES ROSEAUX SAUVAGES / WILDE HERZEN (F 1994) mit Henri (Frédéric Gorny) als starke vierte Figur, die in den Liebesreigen von François, Maïté und Serge (Gaël Morel, Élodie Bouchez und Stéphane Rideau) miteinbezogen wird, sowie François Ozons GOUTTES D’EAU SUR PIERRES BRÛLANTES / TROPFEN AUF HEIßE STEINE (F 2000), in welchem Véra (Anna Thomson) zum Liebestrio Léopold / Franz / Anna (Bernard Giraudeau / Malik Zidi / Ludivine Sagnier) hinzustößt; in Maria Maggentis PUCCINI FOR BEGINNERS (USA 2006) ist die Figur ›Samantha‹ (Julianne Nicholson) die wichtige Vierte neben Allegra, Philip und Grace (Elizabeth Reaser, Justin Kirk und Gretchen Mol) – und in BEING JOHN MALKOVICH (USA 1999) von Spike Jonze ist es der Schauspieler John Malkovich (gespielt von John Malkovich), der (unfreiwillig) eine ausschlaggebende Rolle im geschlossenen, sexuell ambivalenten Beziehungsdreieck Craig / Lotte / Maxine (John Cusack / Cameron Diaz / Catherine Keener) einnimmt.
Auch Filme, in denen amouröse Spannungsfelder entworfen werden, welche aus mindestens fünf Figuren bestehen, von denen wiederum drei in einer geschlossenen, sexuell ambivalenten Beziehung zueinander stehen, mussten unberücksichtigt bleiben. Als Musterbeispiel eines solchen Spannungsfeldes sei Woody Allens VICKY CRISTINA BARCELONA (SP / USA 2008) genannt, in welchem Vicky und Doug (Rebecca Hall und Chris Messina) das Figurendreieck Cristina / Juan Antonio / Maria Elena (Scarlett Johansson / Javier Bardem / Penélope Cruz) ergänzen. Zudem seien erwähnt: Rainer Werner Fassbinders WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (BRD / I 1971), Lisa Cholodenkos LAUREL CANYON (USA 2002), Roger Avarys THE RULES OF ATTRACTION / DIE REGELN DES SPIELS (USA / D 2002) und Robert Salis’ GRANDE ÉCOLE / GRANDE ÉCOLE – SEX IST EINE WELT FÜR SICH (F 2004).
Ferner wurde auf Filme verzichtet, in denen sich zwei Familienmitglieder unterschiedlichen Geschlechts zur selben Person hingezogen fühlen und diese Gefühle von jener Person in beide Richtungen erwidert werden. So sind etwa Vater und Tochter (Götz George und Jeanette Hain) in Hermine Huntgeburths DAS TRIO (D 1998) einem Dritten (Felix Eitner) in gegenseitiger Liebe verbunden. In Baltasar Kormákurs 101 REYKJAVÍK / 101 REYKJAVIK (IS / DK / F / N / D 2000) liebt eine Dritte (Victoria Abril) hingegen gleichzeitig Mutter und Sohn (Hanna María Karlsdóttirund Hilmir Snær Guðnason) und wird dabei von beiden zurückgeliebt (wobei das Beziehungsgeflecht mit der Freundin des Sohnes [Þrúður Vilhjálmsdóttir] noch eine vierte Figur mit einschließt); ebenso entwickelt sich in Egoyans CHLOE ein Beziehungsdreieck zwischen Mutter, Sohn und der Titelfigur (Julianne Moore, Max Thieriot und Amanda Seyfried) – wenngleich dieses Dreieck nicht im Handlungszentrum des Werks steht (und mit dem Ehemann / Vater [Liam Neeson] auch hier ein Vierter mit im Spiel ist). DieFigurenkonstellation ›Bruder / Schwester / Dritte(r)‹ findet sich zum Beispiel in Julian Jarrolds BRIDESHEAD REVISITED / WIEDERSEHEN MIT BRIDESHEAD (UK / I / MA 2008) sowie in Achim von Borries’ WAS NÜTZT DIE LIEBE IN GEDANKEN (D 2004), obgleich das Beziehungsdreieck Günther / Hilde / Hans (August Diehl / Anna Maria Mühe / Thure Lindhardt) wieder Teil eines amourösen Spannungsfeldes ist, das zwei weitere Figuren (Daniel Brühl als Paul und Jana Pallaske als Elli) mit einschließt. Da in den genannten (und in vergleichbaren) Filmen durch die verwandtschaftliche Beziehung zwischen den zwei Figuren unterschiedlichen Geschlechts und durch die beidseitige Attraktion, die jeweils zur dritten Figur besteht, sowohl die Geschlossenheit als auch die sexuelle Ambivalenz des Beziehungsdreiecks grundsätzlich gegeben ist, entsprechen manche der Werke den Kriterien dieser Arbeit und könnten der Konstellation ›2+1‹ zugeordnet werden. Die Filme wurden jedoch aus der Untersuchung ausgeklammert, weil sich aus dem Verwandtschaftsverhältnis des jeweiligen Protagonistenpaares andere Schwerpunkte ergeben würden als jene, die in dieser Arbeit gesetzt werden sollen.
Die Motive für den Ausschluss diverser anderer Werke – Coline Serreaus POURQUOI PAS! / WARUM NICHT! (F 1977), Randal Kleisers SUMMER LOVERS (USA 1982), Rawson Marshall Thurbers THE MYSTERIES OF PITTSBURGH / EIN VERHÄNGNISVOLLER SOMMER (USA 2008), Joaquín Oristrells DIETA MEDITERRÁNEA (SP 2009), Rudolf Thomes DAS ROTE ZIMMER (D 2010) sowie Xavier Villaverdes EL SEXO DE LOS ÁNGELES/ THE SEX OF ANGELS (SP / BR 2012) – sollen in Zusammenhang mit der nun folgenden Schilderung der Intention und des Aufbaus dieser Arbeit noch dargelegt werden.
Die Leitfrage dieser Arbeit lautet: Welche narrativen und ästhetischen Potenziale bergen Filme über geschlossene, sexuell ambivalente Dreiecksbeziehungen? Es gilt, den Innovationen nachzuspüren, die von solchen Filmen gewagt werden (können) – sei es eine bildkompositorische Figurenanordnung, die sich von den Regularitäten der kinematografischen Präsentation eklatant unterscheidet; sei es eine eingängige filmische Standardsituation, die durch entsprechende Variation ins Unerwartete, eventuell gar ins Irritierende getrieben wird; oder seien es Protagonisten, die den geschlechterspezifischen (und Mainstream-Kino-spezifischen) Rollenbildern nicht recht entsprechen wollen. All diese sich bietenden Möglichkeiten der Figurenzeichnung, Dramaturgie und Bildfindung, die – im Idealfall – zu »Abweichungen von Denk- und Darstellungsklischees«[55] führen können, sollen ins Blickfeld genommen werden.
Da ein geschlossenes, sexuell ambivalentes Liebesdreieck nicht mit der bereits angedeuteten Norm – der Beschränkung auf das heterosexuelle Paar – übereinstimmt, soll jene Norm zunächst näher betrachtet werden. Dies soll unter Einbezug eines »Grundbegriff[s] der Queer-Theorie«[56] geschehen: der Heteronormativität. Gemeint ist damit »ein binäres, zweigeschlechtlich und heterosexuell organisiertes und organisierendes Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkschema.«[57] Um dieses Schema zu erörtern, sollen einige Grundgedanken der Gender und Queer Studies – etwa Judith Butlers heterosexual matrix – in die Arbeit eingebracht werden. Im darauffolgenden Unterkapitel ›Heteronormativität im Kino‹ soll kurz darauf eingegangen werden, inwiefern sich jenes Schema in der Darstellung von Liebesbeziehungen im Film registrieren lässt. Aufgrund des begrenzten Umfangs soll an dieser Stelle lediglich die Darstellung in Mainstream-Filmen berücksichtigt werden. Unter ›Mainstream-Filmen‹ werden dabei, nach Jens Eder, alle Spielfilme verstanden, »die durch die Verwendung konventioneller Mittel auf Popularität bei einem großen Publikum und auf den kommerziellen Erfolg hin angelegt sind.«[58] Die Darstellung von Liebesbeziehungen in Filmen solcher Art soll hier zunächst als Hintergrundfolie dienen, um in Kapitel 4 und 5 die Abweichung (beziehungsweise eine mögliche Form der Abweichung) zu untersuchen.
In den Unterkapiteln 3.1 (›Das trianguläre Begehren‹) und 3.2 (›Polyamory‹) soll es zur komprimierten Vorstellung zweier Konzepte kommen, um diese für die Filmanalyse jeweils noch heranziehen zu können: zum einen der Theorie des triangulären Begehrens, die René Girard in Figuren des Begehrens: Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität entwickelt, zum anderen des als ›Polyamory‹ bezeichneten Beziehungskonzepts, dem sich Thomas Schroedter und Christina Vetter in Polyamory: Eine Erinnerung widmen.
Die Analyse der filmischen Dreiecksbeziehungen, die daran anschließen soll, wird sich zunächst, wie oben erwähnt, in die Konstellationen ›2+1‹ und ›A+B+C‹ aufgliedern. In beiden Fällen wird das Hauptaugenmerk auf zwei Aspekte gerichtet sein:
Welche Aussagen lassen sich über Anlage und Darstellung der Figuren treffen?
Welche Gestaltung erfahren die Beziehungsdynamiken im ›totalen‹ Dreieck?
Insbesondere hinsichtlich der ersten Konstellation – in welcher eine dritte Figur ins Dasein eines Paares tritt – sollen die Subjekt / Objekt-Relationen beziehungsweise die Blickstrukturen, die innerhalb des im Filmverlauf entstehenden Dreiecks vorliegen, herausgearbeitet werden – obgleich dieser Punkt natürlich auch in Bezug auf die zweite Spielart (›A+B+C‹) relevant sein wird.
Um die in den einzelnen Filmen verhandelten Figurendreiecke im Rahmen dieser Arbeit gegenüberstellen zu können, war es bei der Auswahl der Werke von Belang, dass eine gewisse Vergleichbarkeit gegeben ist. Die Konstellation ›2+1‹ betreffend ging es vor allem darum, dass einerseits die Paare, andererseits die dritten Figuren der Filme bestimmte gemeinsame Merkmale aufweisen.
Bei der Sichtung der infrage kommenden Werke stellten sich zwei Paarkonstellationen als vorherrschend heraus: das enge Freundespaar sowie das Ehe- / Liebespaar, jeweils bestehend aus einer Frau und einem Mann. Filme mit anderen Paarkonstellationen wurden daher als Primärfilme dieser Arbeit ausgeschlossen. Dies betrifft DAS ROTE ZIMMER: Darin begegnet der Kussforscher Fred (Peter Knaack) dem Frauenpaar Luzie und Sibil (Katharina Lorenz und Seyneb Saleh), welches die Seele der Männer zu erkunden gedenkt. Neben der Paarkonstellation entspricht hier auch die Darstellung des Dritten – welcher angesichts der beiden verführerischen Frauen nicht weiß, wie ihm geschieht, und (so Ekkehard Knörer) in seiner Weltfremdheit »eine sehr typische Thome’sche Männerfantasie«[59] ist – nicht der vorherrschenden (und daher für diese Arbeit interessanten) Erscheinungsform.
Bezüglich der dritten Figur erwies sich eine spezielle Art und Weise, wie diese Figur filmisch in Szene gesetzt beziehungsweise von dem Protagonistenpaar (und dem Zuschauer / der Zuschauerin) wahrgenommen wird, als gemeinsame, wenn auch überaus diffuse Komponente vieler Filme: Die dritte Figur erscheint in diesen Fällen als Projektionsfläche für Sehnsüchte und Begierden. Diese Einsicht führte dazu, dass Werke, die jene Komponente nicht besitzen, ausgeschlossen wurden. Hierzu zählt THE MYSTERIES OF PITTSBURGH, in welchem der junge Art (Jon Foster) das Paar Cleveland und Jane (Peter Sarsgaard und Sienna Miller) kennen und lieben lernt; Art – der Dritte – ist in Rawson Marshall Thurbers Film die zentrale Figur, die ihre Gedanken und Gefühle mittels voice-over zum Ausdruck bringt, während der Zuschauer / die Zuschauerin das Paar Cleveland und Jane ausschließlich aus Arts Perspektive erlebt. Auch in DIETA MEDITERRÁNEA und in EL SEXO DE LOS ÁNGELES fungiert der Dritte (gespielt von Alfonso Bassave beziehungsweise von Álvaro Cervantes) kaum als Projektionsfläche; hinzu kommt, dass in DIETA MEDITERRÁNEAeine Figur (Olivia Molina als Sofía) deutlich im Mittelpunkt steht – und dass beide Werke sowohl dramaturgisch als auch ästhetisch wenig ergiebig (für diese Arbeit) anmuten, da sie in ihrer Erzählweise, Figurenzeichnung und Bildgestaltung weitaus konventioneller wirken als die zehn ausgewählten Filme. Lina (Valerie Quennessen), die dritte Figur in Randal Kleisers SUMMER LOVERS von 1982, entspricht wiederum der Darstellung als Projektionsfläche. Ihre Beziehung zu dem Paar Michael und Cathy (Peter Gallagher und Daryl Hannah) bleibt aber im heterosexuellen Rahmen: Nach dem Liebeserlebnis von Michael und Lina freunden sich die Ehefrau und die Geliebte an – und beginnen mit Michael ein Leben zu dritt.
Was die sieben Primärwerke mit der Konstellation ›2+1‹ betrifft, so soll in dieser Arbeit besagte Art und Weise der Inszenierung beziehungsweise Wirkung der dritten Figur tiefer ergründet werden. Dafür soll – neben weiteren Texten – das von Eva Eßlinger und anderen herausgegebene Werk Die Figur des Dritten herangezogen werden, in welchem jene Figur – wie der Untertitel der Publikation besagt – als ein kulturwissenschaftliches Paradigma konturiert wird. Ferner sollen einige Ansätze aus Laura Mulveys Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema miteinbezogen werden, um die Strategien zur Darstellung der dritten Figur auf der Kamera- und Montageebene zu bestimmen. In Mulveys Grundlagentext der feministischen Filmtheorie (1973 erstmals erschienen) heißt es, das Kino biete »a number of possible pleasures. One is scopophilia (pleasure in looking).«[60] Der Frau komme, so Mulvey, eine exhibitionistische Rolle zu, in welcher sie gleichzeitig angesehen und zur Schau gestellt werde.[61] Jene »to-be-looked-at-ness«[62] trifft auch auf einige der dritten Figuren in den Primärwerken mit der Konstellation ›2+1‹ zu. Da es sich bei diesen jedoch ausnahmslos um männliche Figuren handelt, sollen an dieser Stelle Überlegungen zur Inszenierung männlicher Figuren beziehungsweise Schauspieler in die Untersuchung einfließen. Allgemeine Überlegungen solcher Art finden sich etwa in Texten von Steve Neale und Richard Dyer, wohingegen sich unter anderen Miriam Hansen, Steven Cohan und Annette Brauerhoch in Beiträgen jeweils auf einen konkreten Einzelfall – das heißt: auf die Präsentation eines Schauspielers in einem bestimmten Werk (oder mehreren Werken) – beziehen.
Auf zwei filmische Darstellungen männlicher Figuren soll detaillierter eingegangen werden: zum einen auf die Darstellung von James Dean beziehungsweise der Figur ›Jim‹ in Nicholas Rays REBEL WITHOUT A CAUSE / …DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN (USA 1955), zum anderen auf die Darstellung der Figur des Gastes, verkörpert von Terence Stamp, in Pier Paolo Pasolinis TEOREMA / TEOREMA – GEOMETRIE DER LIEBE (I 1968). Obgleich in beiden Werken kein geschlossenes, sexuell ambivalentes Dreieck arrangiert wird, lassen sich in ihnen gewisse Inszenierungsmodalitäten erkennen, die sich in den sieben Primärfilmen mit der Konstellation ›2+1‹ wiederfinden und daher für die Analyse von Bedeutung sein werden – so zum Beispiel die Wahl der Kameraeinstellungen, um das Begehren nach Jim beziehungsweise nach dem Gast, welches jeweils von den übrigen Figuren ausgeht, visuell umzusetzen.
Während neun der zehn zu analysierenden Werke den fixierten Kriterien in toto entsprechen, ließe sich gegen die Aufnahme von LES AMOURS IMAGINAIRES als Primärfilm einwenden, dass Nicolas (Niels Schneider) – der Dritte – dem Protagonistenpaar Marie und Francis (Monia Chokri und Xavier Dolan) nicht ebenbürtig ist und dass das Werk (um François Truffauts Worte aufzugreifen) wohl nicht das Bedürfnis verspürt, ihn gleichermaßen zu ›lieben‹. Damit wäre die Geschlossenheit nicht erfüllt. Jedoch ist Nicolas keine Randfigur; er mutet nicht etwa wie ein prick oder dweeb im Rubinfeld’schen Sinne an. Das Zustandekommen einer Liebesbeziehung zwischen Nicolas und Marie oder Francis kann als Erzählziel aufgefasst werden.
Erwähnt sei überdies, dass die Zuordnung von HOME zur Konstellation ›2+1‹ weniger klar ist als in den übrigen neun Fällen. Da Anlage und Darstellung der Figur ›Bobby‹ (Colin Farrell) jener oben beschriebenen Art und Weise der Inszenierung / Wirkung des Dritten aber exakt entsprechen und Jonathan und Clare (Dallas Roberts und Robin Wright) bei Bobbys Ankunft in New York ein Freundespaar bilden, wurde der Film der Konstellation ›2+1‹ zugeordnet – obschon er sich dadurch, dass sich Bobby und Jonathan schon seit Jugendtagen kennen, erzählerisch von den restlichen Werken mit jener Konstellation unterscheidet.
Da sich nicht alle Aspekte der Primärfilme beziehungsweise der darin zum Thema gemachten Dreiecksbeziehungen im Rahmen der vorliegenden Arbeit erfassen lassen, wurde eine bestimmte »filmische Maßeinheit«[63] auserwählt, um die Analyse der zehn Werke im sechsten Kapitel fortzuführen: die Standardsituation.
Bei Standardsituationen handelt es sich um Situationen, die im Kino immer wieder zu sehen sind – »erste Begegnung und Abschied, Liebes- und Todesszene, Verfolgung und Zweikampf, Verführung und Familienstreit usw.«[64] Gleichwohl – so Koebner in seinem Artikel über Dramaturgie – seien bestimmte Standardsituationen nicht in allen Genres in gleichem Maße vertreten.[65] Ebendarum soll der bereits erwähnten Untersuchung von Anette Kaufmann zu den Spielregeln des Liebesfilms im sechsten Kapitel dieser Arbeit nun eine maßgebliche Bedeutung für die Analyse der Primärfilme zukommen. Denn unabhängig davon, dass die Ereignisse in den zu analysierenden Werken mal mit suspense[66], mal mit »Ausrutscher[n] ins Groteske«[67] verquickt sind, mal als »Tragödie«[68], mal als »story on the teenage experience«[69] erzählt werden und unabhängig davon, dass lediglich eines der Primärwerke (nämlich THREESOME) tatsächlich dem Kaufmann’schen Werkkanon[70] angehört, ist es naheliegend, dass Filme über die Entstehung und Entwicklung eines Liebestrios eben jenes Repertoire an Standardsituationen abrufen, das Kaufmann in ihrem Buch über den Liebesfilm darlegt: ein Repertoire an »szenischen Bausteine[n]«[71], aus welchen sich eine Liebesgeschichte zusammensetzen lasse. Da sich Kaufmann überwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) auf Filme bezieht, in denen es um die Liebe eines heterosexuellen – und zum Teil auch heteronormativ organisierten – Paares geht, sollen ihre Schilderungen zusätzlich zu den in Unterkapitel 2.2 (›Heteronormativität im Kino‹) gewonnenen Erkenntnissen Hilfe dabei leisten, die Abweichungen von der eingängigen Form erkennbar zu machen, die sich wiederum aus den Abweichungen von der Heteronorm in den Liebesdreiecken der zehn Primärfilme ergeben. Dass eine Analyse von Standardsituationen geeignet ist, um Normabweichungen greifbar zu machen, formuliert auch Koebner.[72]
Kaufmann fasst die für den Liebesfilm infrage kommenden Standardsituationen zu Themenkomplexen zusammen, welche sich an der Chronologie eines gängigen Beziehungsablaufs orientieren: ›Beginn‹ (›Begegnung‹ et cetera), ›Kennenlernen‹, ›Körperliche Intimität‹, ›Irritation / Zerwürfnis‹, positives / negatives ›Ende‹.[73] Diese Reihenfolge – von der ersten Begegnung bis zum happy beziehungsweise unhappy ending – soll in dieser Arbeit übernommen werden, noch ergänzt um einen zusätzlichen Punkt. Die weiter oben skizzierte Aufgliederung des Forschungsmaterials in die Spielarten ›2+1‹ und ›A+B+C‹ soll im sechsten Kapitel nicht fortgesetzt werden – abgesehen von der Untersuchung der Standardsituation ›Die erste(n) Begegnung(en)‹, in welcher abermals eine Unterteilung (›Paar trifft X‹ bzw. ›A trifft B trifft C trifft A‹) erfolgen soll. Im Komplex ›Die traute Dreisamkeit‹ sollen Situationen zusammengefasst werden, in denen sich das jeweilige Trio näher kennenlernt, während der Komplex ›Die Liebesszene‹ erotische Schlüsselsituationen zum Gegenstand haben soll. Neben den Punkten ›Die Auseinandersetzung‹ (›Wenn zwei sich streiten…‹ bzw. ›Wenn drei sich streiten…‹) und ›Das (un)happy ending‹ (›Die Zerstörung‹ bzw. ›Das Bestehen‹ des Liebesdreiecks) soll ein weiterer Punkt erforscht werden, in welchem es um Situationen mit einem ›unsichtbaren Dritten‹ geht – obgleich hier Überlagerungen mit anderen Situationen möglich sind. Gemeint sind damit einerseits Fälle, in denen ein Dritter / eine Dritte als (unbemerkter) Beobachter / (unbemerkte) Beobachterin zweier Figuren auftritt (›(Dis)Pleasure in looking‹), und andererseits Fälle, in denen ein Dritter / eine Dritte zwar abwesend ist, jedoch vermittelst bestimmter Inszenierungsstrategien dennoch ›anwesend‹ zu sein scheint (›In absentia‹). All diesen Situations-Unterkapiteln soll noch das Unterkapitel ›Visuelle / dialogische Promiskuität‹ – über die Möglichkeiten, die ›Liebe in alle Richtungen‹ in Wort und Bild zu vermitteln – vorangestellt werden.
Der Zugang zu den Filmen über die Standardsituationen im sechsten Kapitel ist schließlich der Grund, weshalb POURQUOI PAS! als Primärwerk ausgeschlossen wurde. Da sich Fernand, Alexa und Louis (Sami Frey, Christine Murillo und Mario Gonzales) bereits vor Filmbeginn gefunden haben und zu einem Liebestrio wurden, sind die hier zu untersuchenden Situationen in Coline Serreaus Liebeskomödie schlichtweg nicht vorhanden; der Film setzt gewissermaßen nach dem happy ending (zu dritt) ein und erzählt unter anderem von der Integration einer vierten Person (Nicole Jamet als Sylvie) in die Wohn- / Lebensgemeinschaft sowie von der Konfrontation mit Ex-Ehepartnern beziehungsweise mit der Familie.
Neben den zehn Primärfilmen sollen jedoch stets auch andere Werke in die Arbeit integriert werden, falls sich in diesen bestimmte Momente finden lassen, die die hier angestellten Reflexionen über filmische Liebesdreiecke noch bereichern können. Dies gilt etwa für John Hustons REFLECTIONS IN A GOLDEN EYE / SPIEGELBILD IM GOLDENEN AUGE (USA 1967) mit dem womöglich schwindelerregendsten Finale aller (Kino-)Zeiten, in welchem die Darstellung einer hochkomplexen Dreiecksbeziehung gewisse gestalterische Konsequenzen auf Ebene der Kamera hat.
Die Intention der vorliegenden Arbeit ist hiermit umrissen. Dass sich das »Ablaufschema«[74], welches von der jeweiligen filmischen Standardsituation vorgegeben wird, herausfordern lässt, indem etwa die sexuelle Ambivalenz einer Figur hinzukommt und indem ›Liebe‹ für diese Figur nicht zwangsläufig ›Liebe zu einer einzigen Person‹ bedeutet, sei kurz noch an einer Sequenz exemplifiziert, die aus einem Film stammt, welcher nicht zu den Primärwerken dieser Arbeit gehört, da das Kriterium der Geschlossenheit nicht gänzlich erfüllt ist: YA LYUBLYU TEBYA / DAS HERZ WILL, WAS ES WILL... (RUS 2004) von Olga Stolpovskaja und Dmitry Troitsky. Jene Sequenz entspricht der Standardsituation ›Liebeserklärung‹, welche, so Kaufmann, oftmalig mit der Standardsituation ›Versöhnung‹ verknüpft werde: In den meisten Fällen erkläre der Mann der Frau seine Liebe und sorge damit für die Gefühlssicherheit, die als Basis für das happily ever after funktioniere.[75] »Ich muss dir etwas Wichtiges sagen, ich will, dass du es weißt, hörst du?«[76], setzt Timofei (Evgeniy Koryakovskiy) in der betreffenden Sequenz an, um der Nachrichtensprecherin Vera (Lyubov Tolkalina) seine Gefühle per Telefon mitzuteilen. »Ich liebe dich. Komm heute zu mir, ich brauche dich. Ich will dich, hörst du? Kommst du zurück?« Er sitzt derweil in seinem Büro vor einem TV-Gerät, während sich Vera in der Garderobe ihrer Arbeitsstätte befindet. Die Kamera zeigt die beiden Protagonisten in Nah-, Groß- oder Detailaufnahmen an deren jeweiligem Aufenthaltsort – doch sie zeigt noch etwas anderes, nämlich die Bildschirme der Fernsehapparate, die in Timofeis sowie in Veras Nähe stehen. Über die Mattscheiben flimmert eine Telenovela: ein Mann, eine Frau – und eine Liebeserklärung. Das Bekenntnis Timofeis ist eine nahezu wortwörtliche Nachahmung des Telenovela-Monologs.
Abb. 1 bis 4: Fernmündliche Nachahmung (YA LYUBLYU TEBYA).
Die Ausgestaltung der Standardsituation ›Liebeserklärung‹, die sich in den Ausschnitten der Telenovela erahnen lässt, korrespondiert in jeglicher Hinsicht mit »der herkömmlichen Produktionsform«[77] einer solchen Standardsituation – und so steht auch Timofeis Erklärung, die eine Imitation dieser Herkömmlichkeit ist, zunächst im Einklang mit der Konvention. Nach einer weiteren übernommenen Aussage vonseiten Timofeis, »Verzeih mir, ich liebe dich sehr«, fragt Vera: »Und ihn?« – womit die Abweichung von der Norm beginnt. Denn Timofei liebt nicht ausschließlich Vera, er liebt auch noch ihn – Uloomji (Damir Badmaev), der bei einer gewagten Zauntanz-Aktion auf die Kühlerhaube von Timofeis Wagen gefallen und seither Teil von Timofeis Leben ist. Da die Liebesbekenntnis- / Versöhnungs-Schablone hierfür keinen Text mehr bietet, kommt die fernmündliche Nachahmung der trivialen Telenovela-Sentenzen unweigerlich zum Erliegen. »Ihn liebe ich auch«, gibt Timofei zu verstehen – woraufhin Vera das Telefonat mit dem Vorwurf, dies sei »ein unsinniges Gespräch«, beendet.
Ob sinnig oder nicht, in jedem Fall nimmt das Gespräch durch Timofeis ›Sowohl / Als auch‹-Haltung in Bezug auf das Thema ›Liebe‹ beziehungsweise das Thema ›sexuelle Präferenz‹ einen Verlauf, wie man ihn überaus selten im Kino / Fernsehen erlebt – und überdies indiziert die Dopplung der Situation ›Liebeserklärung‹, dass diese zu den filmischen Situationen gehört, »die immer wiederkehren, unabhängig vom jeweiligen Film, und [die] ein bestimmtes Ablaufschema gleichsam als Kanalisierung des erzählerischen Flusses vorgeben.«[78] Um die Abweichungen von solchen Schemata soll es in dieser Arbeit gehen.
2. Heteronormativität
2.1 Gender und Queer Studies
Im Folgenden gilt es, einige Begriffe der Gender Studies und Queer Studies zu erläutern. Ein bestimmtes Werk soll dabei als primäre Quelle dienen: Gender / Queer Studies: Eine Einführung von Nina Degele aus dem Jahre 2008. Während die Gender Studies im Zuge der Frauenforschung der Siebzigerjahre entstanden, gingen die Queer Studies in den Neunzigerjahren aus philosophischen und literaturwissenschaftlichen Kontexten des französischen Poststrukturalismus hervor (wobei die Gay and Lesbian Studies von Degele als Vorläuferinnen der Queer Studies genannt werden).[79] Obgleich sich die beiden Fachrichtungen aus unterschiedlichen historischen Zusammenhängen mit verschiedenen Themen- und Interessenschwerpunkten entwickelten, betrachtet Degele sie nicht getrennt voneinander. Die Autorin befasst sich mit drei theoretischen Strömungen in den Gender und Queer Studies: erstens mit der strukturorientierten Gesellschaftskritik, in welcher es vor allem darauf ankomme, sich auf der Makroebene gesellschaftlicher Strukturen mit geschlechtlicher Ungleichbehandlung (beispielsweise im Recht, in den Medien) zu beschäftigen; zweitens mit dem interaktionistischen Konstruktivismus, in welchem eine Analyse der Prozesse stattfinde, wie Geschlecht (im Alltag) in der Interaktion zwischen Personen hergestellt werde; und drittens mit dem diskurstheoretischen Dekonstruktivismus, in welchem es in erster Linie darum gehe, sich kritisch mit Begriffen und Kategorien (etwa ›männlich‹ und ›weiblich‹) auseinanderzusetzen.[80] Degele intendiert dabei nicht den wechselseitigen Ausschluss der drei Strömungen, sondern eine komplementäre Sichtweise. Eine Gemeinsamkeit der Strömungen erkennt sie im Motiv des Entnaturalisierens: Vermeintlich ›Natürliches‹ wie Geschlecht oder Sexualität solle »als sozial konstruiert ausgewiesen, neudeutsch: dekonstruiert werden.«[81] Dazu biete sich der Begriff der Heteronormativität an.[82] Auf diesen soll sich auch hier die Aufmerksamkeit richten – wofür neben Degeles Werk insbesondere zwei Publikationen herangezogen werden sollen: zum einen Heteronormativität: Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht, welches 2007 von Jutta Hartmann und anderen herausgegeben wurde; zum anderen Heteronormativität und Homosexualitäten von 2008, zu dessen sechs Herausgebern Rainer Bartel zählt. Eine zentrale Bedeutung in diesem Unterkapitel soll zudem dem im Jahre 1990 publizierten Buch Gender Trouble – welches 1991 unter dem Titel Das Unbehagen der Geschlechter in Deutschland erschienen ist – zukommen. Die Verfasserin Judith Butler ist dem diskurstheoretischen Dekonstruktivismus zuzuordnen.
Zunächst ist die Klärung einzelner Termini vonnöten, um diese (auch in den nachfolgenden Kapiteln der Arbeit) anwenden zu können. Begonnen werden soll mit dem Terminus ›queer‹ – welchem zugrunde liege, dass er nicht definiert werden kann.[83] Als Adjektiv bedeute queer etwa ›seltsam, komisch, unwohl‹, ›gefälscht, fragwürdig‹, als Verb meine es ›jemanden irreführen‹, ›etwas verderben, verpfuschen‹.[84] Queer sei, so Annamarie Jagose, »ein Begriff im Wandel«: Einst als homophobes Schimpfwort in Gebrauch, sei es zum »Sammelbegriff für ein politisches Bündnis sexueller Randgruppen und zur Bezeichnung eines neuen theoretischen Konzepts«[85] geworden (obschon das Wort, wie Thomas Schroedter und Christina Vetter anmerken, auch heute noch in einigen Fällen abwertend benutzt werde[86]