Mir war sofort klar, was meine Mutter mit ihren Anspielungen
bezweckte.
„Ich weiß wirklich nicht,
wo mir der Kopf steht! Gisela ist krank und Brenda dafür in deren
Gruppe eingesprungen. Ich bin also mit allen fünfundzwanzig Kindern
allein.“ Meine Mutter machte ihre Verzweiflung noch deutlicher,
indem sie sich mit einem tiefen Seufzer auf einen der Küchenstühle
fallen ließ.
Es war keineswegs so, dass meine Mutter mit ihren mehr als
dreißig Jahren Berufserfahrung als Erzieherin nicht dazu fähig
gewesen wäre, allein eine vollbesetzte Kindergartengruppe zu
betreuen. Es war vielmehr so, dass sie sich wünschte, dass ich
beruflich mal in ihre Fußstapfen trete, und allein aus diesem Grund
überlegte sie sich immer wieder Ausreden, mich in die heiligen
Hallen des katholischen Kindergartens in Görnbeek zu bekommen.
Obwohl ich mir dieser Tatsache bewusst war, spielte ich mit.
„Aber Mom, nachmittags sind noch nie alle fünfundzwanzig
Kinder da gewesen. Warum sollte das gerade heute so sein?“
„Im Normalfall natürlich nicht. Aber Bjarne Bender hat im
Morgenkreis in seiner unglaublich jovialen Art erklärt, dass er
beschlossen habe, seinen heutigen Geburtstag nicht zuhause, sondern
in der Marienkäfergruppe mit allen zur Gruppe gehörenden Kinder zu
feiern, weil halt alle seine Freunde wären und er sich nicht
entscheiden könne, wen er zu sich nach Hause einlädt. Eine
dreistöckige Geburtstagstorte war nur ein Versprechen, was er dabei
machte.“ Meine Mutter schlug sich theatralisch die Hand vor die
Stirn.
Okay, unter diesen Umständen gab ich mich geschlagen. Bjarne
Bender an sich war schon anstrengend genug, aber an seinem
Geburtstag mit solch einer Ankündigung noch mal eine größere
Nummer. Ich schluckte Moms Köder mit einem inneren Grinsen.
„Au weia! Das erklärt natürlich alles. Du könntest Hilfe
gebrauchen, stimmts?“
„Kann man wohl sagen. Aber wo soll ich so schnell jemanden
finden, der aushilft?“ Mom sah mich flehend an.
„Okay, Mom. Wann soll ich im Kindergarten sein?“
„Du möchtest mir wirklich helfen, Schatz? Das ist aber schön!
Am besten wäre es, wenn du schon kurz vor zwei kommst und den Tee
für die Kinder kochst.“
„Dann habe ich ja noch über eine Stunde Zeit.“ Ich trank den
letzten Schluck meines O-Saftes aus und stand auf.
„Was hast du vor?“, fragte Mom.
„Ich gehe noch in den
Co-Op, was zu knabbern holen. Ich wollte mich noch kurz
mit Betty treffen, um für die Mathe-Arbeit zu lernen. Um kurz vor
zwei bin ich dann pünktlich im Kindergarten.“
„Willst du dich denn nicht vorher noch umziehen? Mit dieser
fürchterlichen Jeans bist du kein gutes Beispiel für die
Kinder!“
Ich winkte ab. Wie gewohnt, wenn es um meinen eigenwilligen
Klamotten-Stil ging. „Mir gefallen die Löcher!“, sagte ich noch und
trat im Anschluss aus der Haustüre.
Ich betrat den kaum belebten kleinen Supermarkt der Straße
unseres malerischen Hafenstädtchens Görnbeek.
„Hallo Patrizia!“ Kilian saß an der Kasse. Er lächelte sein
unglaublich süßes Lächeln, welches mir einfach immer wieder die
Knie weich werden ließ.
„Hi!“, rief ich etwas zu laut und lächelte zurück. Dabei
rannte ich eine ältere Frau um, die ich leider erst bemerkte, als
das Missgeschick schon passiert war. Oh Mann, wie peinlich!
„Min Deern, pass doch auf, wo du hinläufst. Hast du denn keine
Augen im Kopf?“, fragte die Dame, die sich nach meinem Rempler
gerade noch so am Packtisch festhalten konnte.
Ich sah sie betreten an. „Entschuldigung! Es tut mir wirklich
furchtbar leid. Ich habe Sie nicht gesehen.“
Die Dame schaute mich erst wütend an, dann entspannte sich ihr
Gesichtsausdruck. Sie schaute abwechselnd von mir zu Kilian und
grinste wissend. Ich senkte den Blick. War das denn wirklich so
offensichtlich?
Die Dame schmunzelte immer noch, als sie ihre Einkaufstüten
griff und im Anschluss den Laden verließ.
„Na, Prinzesschen? Was hast du heute so vor?“, fragte
Kilian.
Ich hasste Prinzessinnen, aber ich liebte es, wenn Kilian mich
so nannte.
„Ich arbeite heute Nachmittag im Kindergarten. Meine Mom kommt
mit den Plagegeistern allein nicht klar, und deshalb springe ich
ein.“
Sobald ich in Kilians grüne Augen sah, versank ich beinahe
darin. Ich war mal wieder auf dem Weg ins Land der Träume.
„Ist Benedikt zuhause?“, fragte Kilian.
Ich wurde schneller aus meinem Traumland herausgezogen, als
mir lieb war. Benedikt, Benedikt! Immer wieder Benedikt! Konnte
Kilian nicht einmal zur Abwechslung an Kilians kleine Schwester
denken?
„Muss er arbeiten?“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Weiß ich nicht.“
Ich verließ Kilian und suchte im Regal mit dem Knabberzeug nach
einer Tüte Frit-Sticks. Wieso hätte ich ihm erzählen sollen, dass
Benedikt heute kurzfristig frei bekommen hat? Die beiden würden
sowieso nur mit ihren Motorrädern herumfahren und mich allein
zuhause lassen. Außerdem, als sein bester Freund müsste Kilian
eigentlich wissen, wann mein Bruder frei hatte, oder nicht? So eng
konnte die Freundschaft zwischen den beiden ja dann wohl doch nicht
sein.
Ich hatte mittlerweile gefunden, was ich suchte und war wieder
an der Kasse angekommen. Kilian lehnte sich in seinem Stuhl zurück
und sah mich abschätzend an. Was war das denn nun schon wieder für
ein seltsames Verhalten?
„Wie alt bist du eigentlich, Patrizia?“
Unglaublich! Endlich ein Anfang. Kilian fragte nach meinem
Alter. Na, wenn das nichts zu bedeuten hatte!
„Sechzehn!“, brachte ich mit stolzgeschwellter Brust
hervor.
„Was, echt? Dann hat Benedikt ja doch Recht. Ich hätte wetten
können, dass er das Alter seiner eigenen Schwester nicht kennt. Ich
habe dich für keinen Tag älter als vierzehn geschätzt.“
Dieser Mistkerl! Er hatte dieses verdammt miese Talent, mich
jedes Mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Kilian
Lütten würde mich niemals als potenzielle Freundin ansehen.