3,99 €
Acht Männer sollst du küssen, bevor du deine große Liebe findest! So lautet die Prophezeiung, die Gabby an einem eiskalten Morgen am Brighton Pier erhält. Zurück in London macht sie sich sofort auf die Suche, die jedoch nicht von Erfolg gekrönt ist. Stattdessen landet sie mit ihrem Mitbewohner Tom im Bett. Und als hätte Gabby nicht schon genug Probleme, zieht auch noch ihre Großtante Ida in ihre Londoner WG. Als Gabby in all dem Chaos endlich erkennt, wen sie wirklich liebt, scheint es fast zu spät ... . Dieser Roman erschien erstmals 2018 unter dem Titel "London Love Story - Liebe und andere Missverständnisse"
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 341
1. Hot Father Christmas
2. Familien-Scheinidylle
3. Auf Männerjagd
4. Frohes neues Jahr
5. Lady Fiona und andere Monster
6. Jobsuche und Männerfunde
7. Sexdate mit Folgen
8. Drachen in London
9. Hochzeit mit Hindernissen
10. Hot Father Summer
© Kelly Stevens
überarbeitete Neuauflage 2020
Erstmals veröffentlicht 2018 unter dem Titel „London Love Story – Liebe und andere Missverständnisse“ bei Romance Edition Verlagsgesellschaft, Austria
Covergestaltung: NH Buchdesign
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt
ISBN 9783752620030
Acht Männer sollst du küssen, bevor du deine große Liebe findest!
So lautet die Prophezeiung, die Gabby an einem eiskalten Morgen am Brighton Pier erhält. Zurück in London macht sie sich sofort auf die Suche, die jedoch nicht von Erfolg gekrönt ist. Stattdessen landet sie mit ihrem Mitbewohner Tom im Bett. Und als hätte Gabby nicht schon genug Probleme, zieht auch noch ihre Großtante Ida in ihre Londoner WG. Als Gabby in all dem Chaos endlich erkennt, wen sie wirklich liebt, scheint es fast zu spät ...
"Liebe nach Herzenslust" sind moderne Liebesgeschichten, bei denen die Frauen schon mal am Traumprinzen vorbeilaufen, bevor es ein Happy End gibt.
»Verdammt!«
Gabby hielt das Küchenhandtuch vor sich hoch, sodass alle den großen Brandfleck sehen konnten. Ein etwa kopfgroßes Loch klaffte ziemlich genau in der Mitte des Tuchs. »Welcher Idiot war das?«
Ihre drei Mitbewohner – Shelly, Emma und Tom – sahen sie durch das Loch hindurch so unschuldig an, als hätten sie noch nie in ihrem Leben mit einem Gasherd zu tun gehabt, und schon gar nicht mit dem temperamentvollen Uraltexemplar, das in ihrer WG-Küche stand.
Auch Gabby kämpfte, obwohl sie schon seit acht Monaten in ihrem möblierten Zimmer wohnte, ab und zu noch mit den Tücken der antiquierten Technik oder dem WG-Leben per se. Sie mochte mit ihren zweiundzwanzig Jahren manchmal etwas chaotisch sein und hatte auch schon den einen oder anderen kleineren Unfall verursacht. Aber wenn sie ein Küchenhandtuch in Brand gesetzt hätte, würde sie sich zumindest daran erinnern.
»Meine Güte, dann wirf es eben weg. Ich muss los.« Emma, eine kleine, mollige Blondine Anfang zwanzig, trank ihren Tee aus, stellte den Becher ins Spülbecken und griff nach ihrer Jacke. »Wünscht mir Glück.«
»Viel Glück«, kam ein dreifaches Echo. Gabby wusste, dass Emma gleich ein Vorstellungsgespräch hatte und den Job in einem Schnellrestaurant dringend brauchte. Dabei hatte ihre Mitbewohnerin Anthropologie studiert und träumte davon, ferne Länder zu bereisen.
Die ganze WG war eine Ansammlung gescheiterter Existenzen Anfang zwanzig, die gedacht hatten, in London Karriere machen zu können, und sich stattdessen mit schlecht bezahlten Aushilfsjobs notdürftig über Wasser hielten. Zusammengewürfelt durch die Willkür ihres Vermieters, der die Zimmer einzeln möbliert vermietete. Immerhin zu bezahlbaren Preisen, was für eine Londoner Innenstadtlage keineswegs selbstverständlich war.
Gabby pfefferte das Küchenhandtuch in den Mülleimer, der bereits überquoll. Noch ein Nachteil einer WG: Im Zweifelsfall fühlte sich niemand für unangenehme Arbeiten verantwortlich. Wobei Gabby sich da nicht ausnahm.
»Du arbeitest doch in einem Kaufhaus, da kannst du heute Abend neue mitbringen«, warf jetzt auch noch Shelly ein, als würde sie das Ganze nichts angehen.
Bloß weil Gabby während des Weihnachtsgeschäfts einen Hilfsjob im Verkauf bei einem luxuriösen Kaufhaus in der Nähe der Oxford Street ergattert hatte, hieß das noch lang nicht, dass sie die Waren, die sie dort einkaufte, nicht bezahlen musste. Zehn Prozent Rabatt waren angesichts der Preise, die das Nobelkaufhaus nahm, ein Witz. Da ging sie lieber nach der Arbeit zu Marks & Spencer oder in einen der Ein-Pfund-Shops abseits der Oxford Street.
Shelly hatte gut reden. Die große, schlanke Brünette arbeitete über eine Zeitarbeitsfirma bei einer Bank und hatte von ihnen vier noch das geregeltste Einkommen. Ihr traute Gabby die Küchenhandtuch-auf-dem-brennenden-Gasherd-liegen-lassen-Aktion tatsächlich am wenigsten zu, denn Shelly lebte schon am längsten hier und war die Ordentlichste von ihnen. Nach ihrem Schulabschluss hatte sie sich in diversen Trainings-on-the-job und Abendkursen weiterqualifiziert, bevor sie über eine Zeitarbeitsfirma in die Bankbranche vermittelt worden war.
Während Gabby selbst noch im Pyjama war, einem roten mit rosa Herzchen, trug Shelly wie jeden Morgen ihren dunkelgrauen Hosenanzug, eine frisch gebügelte Bluse sowie schwarze Pumps und sah wie immer perfekt gestylt aus. Selbst ihr Mantel, den sie gerade anzog, hätte aus dem Nobelkaufhaus kommen können, stammte aber, wie Gabby wusste, aus einem Second-Hand-Designer-Sale.
»Bis heute Abend«, verabschiedete sich Shelly.
»Ja, bis dann.« Missmutig strich sich Gabby ihre langen kupferroten Locken über die Schultern und spülte die Becher ihrer Mitbewohnerinnen ab, während sie darauf wartete, dass das Wasser für ihren Tee kochte.
Blieb als weiterer Schuldiger noch Tom. Da er erst vor acht Tagen eingezogen war und sie bisher kaum mit ihm geredet hatte, wusste Gabby so gut wie nichts über ihn. Er wirkte wie der typische Junge von nebenan – nett, langweilig und, wie die meisten Männer, etwas unaufmerksam. Seine hellbraunen Haare waren so lang, dass sie ihm ins Gesicht hingen – ein Umstand, den er sich zunutze machte, um Gabby nicht ansehen zu müssen, während sie ihn ins Kreuzverhör nahm. Er hielt den Kopf gesenkt und die Hände auf seinem Schoß unterhalb der Tischplatte.
Schuldig allein durch sein Benehmen, fand Gabby. Leider musste auch sie los, um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen, bevor sie ihm ein Geständnis hatte entlocken können. Tom würde wahrscheinlich nie etwas zugeben; er schien eher der schweigsame Typ.
Gabby tauschte ihren Pyjama gegen arbeitstauglichere Kleidung und machte sich auf den Weg zur U-Bahn. Die Circle Line war voll und auch auf der Oxford Street drängten sich die Menschen, obwohl die meisten Geschäfte noch gar nicht geöffnet hatten. Ein Mann rempelte Gabby an und als sie ihm hinterherrief, dass er gefälligst aufpassen solle, rief er nur zurück, dass es wohl Zeit sei, dass sie mal wieder ordentlich durchgefickt werde. O du fröhliche, besinnliche Vorweihnachtszeit!
Um ins Kaufhaus zu gelangen, nahm Gabby den Personaleingang in der Seitenstraße. Der Typ von der Securityfirma bestand darauf, ihre Handtasche zu durchsuchen. Was soll ich darin schon verstecken, eine Bombe vielleicht?, dachte Gabby zynisch. Dann fiel ihr ein, dass sie normalerweise sowohl Tampons als auch Kondome mitschleppte, auch wenn sie beides gerade nicht benötigte. Weil der Mann ihr gegenüber soeben rot wurde, nahm sie an, dass er mindestens eins von beidem entdeckt hatte. Geschah ihm recht. Was wühlte er auch in ihrem Leben herum?
Sie nahm die Treppe in den zweiten Stock, weil die Aufzüge noch nicht fuhren, hängte ihren Mantel auf und legte ihre Tasche in den Schrank. In der Personaltoilette um die Ecke versuchte sie, ihre Haare zu einem Zopf zu bändigen, und frischte ihr Make-up auf. Ihre weiße Bluse hatte, wie sie missmutig feststellte, bereits einen kleinen Fleck. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Chefin nichts bemerkte, denn die war mit Argusaugen hinterher, dass ihre Mitarbeiter immer tipptopp und gepflegt aussahen, schließlich ging es um das Image des Kaufhauses. Selbst wenn sie ihnen gerade einmal den Mindestlohn zahlten. Auch Gabbys schwarzer Rock war streng genommen ein paar Zentimeter zu kurz für die Kleidervorschriften, aber sie hatte noch keine Zeit gehabt, den anderen zu waschen.
Wenigstens ihre schwarzen Pumps entsprachen den Vorgaben. Offiziell sollten sie mit Strumpfhosen kombiniert werden, aber ihre letzte hatte heute Morgen eine Laufmasche bekommen, deshalb trug Gabby schwarze halterlose Strümpfe. Sie musste nur daran denken, sich nicht zu bücken oder vorzubeugen, damit es niemand bemerkte.
Wird schon schiefgehen, sagte Gabby sich. Wenn der Tag schon so anfängt, kann es eigentlich nur noch besser werden.
Tatsächlich wurde es nicht besser, sondern schlimmer. Das Gebäude verströmte noch den Charme vergangener Jahrhunderte. Die nachträglich eingebaute Klimaanlage konnte es mit der Belastung durch die Besucherströme jedoch nicht aufnehmen. Die Luft war trocken und stickig, ganz besonders in der Lederwarenabteilung, in der Gabby arbeitete. Ihre Chefin war gereizt und meckerte an allem herum. Die Kunden waren genervt und behandelten sie von oben herab und während Gabby durch eine Kundin abgelenkt war, wurde eine teure Ledertasche gestohlen.
Wieso leistet sich das Kaufhaus mehrere Hausdetektive und all die Security, wenn dann trotzdem fröhlich geklaut wird?, dachte Gabby, während ihre Chefin sie zurechtwies. Hatten die anderen alle geschlafen? Dabei verdienten die bestimmt deutlich mehr als sie.
Entsprechend war Gabby auf hundertachtzig, als sie Richtung Personaltoiletten ging, um sich nach der ganzen Aufregung etwas frisch zu machen.
Das Kaufhaus leistete sich sogar einen eigenen Weihnachtsmann, der in der Spielzeugabteilung, die sie gerade durchqueren musste, auf einer Art Holzthron saß. Wahrscheinlich ein armer Student, der von Kindern keine Ahnung hatte. Auf seinen Knien saß ein Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt, und heulte, während seine Mutter danebenstand.
Gabby blieb so lang in der Toilette, wie sie es sich gerade noch erlauben konnte, ohne dass ihre Chefin misstrauisch werden würde. Dann straffte sie ihre Schultern und ging zurück in Richtung Lederwaren.
Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Father Christmas jetzt allein war. Seine Schultern hingen nach unten, als wäre er ziemlich fertig. Allerdings nicht fertig genug, um ihr mit verstellter Stimme ein Komm zu Santa, Kleine, ho, ho, ho! nachzurufen und dabei suggestiv auf seinen Oberschenkel zu klopfen.
Augenblicklich machte Gabby auf dem Absatz kehrt und baute sich vor dem falschen Santa auf. »Hey, du! Kümmere dich lieber um die Kiddies und ihre zahlungskräftigen Eltern, anstatt die Mitarbeiter anzubaggern!«
So, dem hatte sie es aber gegeben! Sein Ho, ho, ho zum Abschied klang deutlich zerknirscht.
Durch den Aufruhr wegen des Diebstahls war ihre Mittagspause ausgefallen. Gabbys Magen knurrte, als sie gegen drei Uhr endlich zehn Minuten Pause zugestanden bekam und sich auf den Weg zum Aufenthaltsraum machte, wo ihr Sandwich lag. Besser gesagt, liegen sollte. Irgendjemand schien den Inhalt des Kühlschranks als Allgemeingut betrachtet zu haben, denn ihr Sandwich war weg. Genauso wie der Smoothie, den sie sich heute Morgen in einem Anfall von Wenn das Leben scheiße ist, beschenk dich selbst gegönnt hatte.
»Verdammt!«, fluchte Gabby zum zweiten Mal an diesem Tag. Es half nichts, sie musste entweder schnell vor die Tür oder in die überteuerte Lebensmittelabteilung im Untergeschoss, um sich etwas zu besorgen.
Oder sie klaute jemand anderem etwas. Aus der Kühlschranktür lachte sie ein Schokoriegel an.
Hastig und mit schlechtem Gewissen schlang sie die Süßigkeit hinunter, trank Wasser dazu und ging wieder auf die Personaltoilette, um sich eventuell verräterische Schokospuren aus dem Gesicht zu waschen.
Father Christmas war schon wieder allein, als sie zurückkam. Besonders erfolgreich schien er in seinem Job nicht zu sein. Dummerweise musste sie an ihm vorbei, wollte sie keinen Riesenumweg durch mehrere andere Abteilungen machen.
»Komm zu Santa, Kleine, ho, ho, ho!«, rief er ihr doch tatsächlich wieder zu.
Brauchte der Weihnachtsmann eine Brille, weil er sie nicht erkannt hatte, oder langweilte er sich? Gabby stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe vorhin schon Nein gesagt!«
»Ach komm, bald ist Weihnachten. Setz dich auf Santas Knie, erzähl ihm deinen Wunsch und schon wird er in Erfüllung gehen. Behauptet das Kaufhaus jedenfalls.«
Hm, der Mann schien doch Humor zu besitzen. Ein Lichtblick in einem bisher wirklich furchtbaren Tag. Da niemand in der Nähe war, nahm Gabby vorsichtig auf seinem Knie Platz. »Hoffentlich kannst du mit Frauen besser umgehen als mit Kindern«, bemerkte sie.
Der Weihnachtsmann errötete zwischen seinem weißen Bart und seiner roten Mütze. Gabby grinste in sich hinein.
Dann aber tätschelte er ihr Bein mit seiner behandschuhten Rechten. Ihr Rock war durch die sitzende Pose ein Stückchen hochgerutscht, sodass seine Finger genau auf der nackten Stelle zwischen Rocksaum und Spitzenabschluss ihrer Strümpfe zum Liegen kam.
Gabbys Haut kribbelte. »Pfoten weg!«, knurrte sie, irritiert von dem Gefühl, das seine Berührung auf ihrem Schenkel auslöste.
Er ließ seine Hand jedoch liegen, als hätte er sie gar nicht gehört. »Warst du denn auch schön artig, dass du dir ein Geschenk verdient hast?«
Was für ein blödes Klischee. »Ja, klar!«
Der Weihnachtsmann nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet. »Und was wünschst du dir in deinem Weihnachtsstrumpf, mein liebes Kind?«
Gabby drehte ihren Kopf, sodass sie Father Christmas besser ansehen konnte. Der Teil seines Gesichts, der nicht von Bart oder Perücke bedeckt war, war faltenlos. Wahrscheinlich war er jünger als sie. Ob sie so einen Bubi überhaupt schockieren durfte?
»Ich wünsche mir einen heißen Kerl, der mich ordentlich durchvögelt«, teilte sie Santa mit.
Der bekam daraufhin einen Hustenanfall. Es klang ein bisschen wie ho-ho-hmmm. Seine hellblauen Augen tränten leicht. »Passt ein ganzer Mann denn überhaupt durch euren Schornstein?«, fragte er dann mit bemüht ernsthaftem Gesichtsausdruck.
»Natürlich«, behauptete Gabby. »Er kann ihn auch direkt sauber machen.«
»Ein heißer Mann, der gut putzen und vögeln kann. Na, das ist mir ja mal ’n Wunsch.« Father Christmas schob Gabby von seinen Knien. »So gehe nach Hause, mein Kind, und verhalte dich wohl.«
Durch Wohlverhalten werde ich garantiert keinen Mann abbekommen, dachte Gabby, während sie zu ihrem Arbeitsplatz zurückeilte. Die meisten ihrer ehemaligen Schulfreundinnen, die sich wie Schlampen aufgeführt und sich jedem Mann an den Hals geschmissen hatten, waren inzwischen verheiratet. Vielleicht nicht glücklich, aber immerhin verheiratet. Während sie als Single in einer WG mit lauter gescheiterten Existenzen lebte. Fast könnte man meinen, sie selbst wäre auch eine.
Ihre Chefin machte Gabby prompt zur Schnecke, wo sie denn so lang gewesen sei. Dass sie Schokoladenraub begangen und den hausinternen Weihnachtsmann provoziert hatte, wollte Gabby aus naheliegenden Gründen natürlich nicht erwähnen. Stattdessen murmelte sie etwas von einem Unfall, Kollegen helfen und Unpässlichkeit. Sollte sich ihre Chefin doch irgendeins davon aussuchen. Glücklicherweise kamen in diesem Moment gleich mehrere Kunden auf sie zu, sodass keine Zeit für Nachfragen blieb.
Während Gabby einem gut aussehenden Geschäftsmann die Vorzüge einer ledernen Laptoptasche zu erklären versuchte, schweiften ihre Gedanken ab. Wohlverhalten, was für ein altmodischer Ausdruck. Ertappt konzentrierte sie sich wieder auf ihren Kunden. Attraktiv, gepflegt und seiner Kleidung nach erfolgreich. Natürlich trug er einen Ehering. Die Guten waren einfach zu schnell vom Markt.
Obwohl Gabby ihn fachmännisch beriet, verabschiedete der Mann sich mit den Worten, er müsse es sich noch überlegen. Dabei hatte Gabby immer gedacht, Unentschlossenheit wäre eher für Frauen typisch. Vielleicht hatte ihn der hohe vierstellige Preis doch abgeschreckt? Eine Laptoptasche war kein Statussymbol wie beispielsweise ein Chronometer. Hätte sie ihn stattdessen in die Uhrenabteilung im Erdgeschoss schicken sollen?
Gabby warf einen Blick auf ihre eigene, schmucklose Armbanduhr und bemerkte mit Erleichterung, dass sich ihre Schicht dem Ende näherte. Es war ein langer, anstrengender Arbeitstag gewesen und ihre Füße taten ihr vom vielen ungewohnten Stehen weh.
Mit einem erleichterten Seufzer verabschiedete sie sich von ihrer Chefin, schnappte sich ihre Handtasche und machte sich noch einmal auf den Weg zu den Personaltoiletten.
Auf dem Gang stieß sie mit Father Christmas zusammen, genauer gesagt mit seinem Bauch. Er fühlte sich weich an, wie ein Kissen. Ein ausgestopfter Weihnachtsmann. Ihm musste unter dem Kostüm ganz schön warm geworden sein, denn das Kaufhaus war gut geheizt.
»Schluss für heute?«, erkundigte er sich freundlich, aber immer noch mit verstellter Stimme. Anscheinend war er noch im Dienst, obwohl Gabby erwartet hätte, dass alle wohlerzogenen kleinen Kinder um diese Zeit bereits beim Abendessen oder im Bett waren.
»Ja. Endlich.« Gabby packte ihre Handtasche fester. Nach dem Diebstahl der Ledertasche und ihres Lunchs traute sie hier niemandem mehr, noch nicht mal einem Weihnachtsmann. »Packst du schon deinen Rentierschlitten?«
»Mit deinem heißen Kerl, der dich ordentlich durchvögelt?«
Diesmal war es Gabby, die errötete. Es war hier aber auch gut geheizt!
»Nette Strümpfe übrigens«, bemerkte Father Christmas etwas gönnerhaft mit Blick auf Gabbys Beine. »Wenn die an deinem Kamin hängen, komme ich ganz bestimmt.«
Ob ihm die Doppeldeutigkeit seiner Aussage überhaupt bewusst war?
Jemand drängte sich an ihnen vorbei. Dabei fiel Gabbys Handtasche zu Boden und ein Teil des Inhalts landete auf den Fliesen. Sie bückten sich beide gleichzeitig danach.
»Du hast da was verloren«, sagte Santa süffisant und reichte ihr zwei Kondome.
Gabby stopfte ihre Tampons zurück in die Tasche und griff hastig danach. »Danke.«
»Warum gleich zwei?«, fragte der Weihnachtsmann beiläufig, während er sich wieder aufrichtete. Mit seinem dicken Bauch war das anscheinend nicht so einfach, denn er atmete hörbar.
»Falls mir an einem Tag gleich zwei heiße Typen über den Weg laufen«, konterte Gabby. »Oder ein besonders potenter.« Träumen war ja wohl noch erlaubt.
»Ich dachte schon, dass eins abgelaufen ist.« Es klang, als müsste Santa sich das Lachen verbeißen.
Gabby warf einen Blick auf das aufgedruckte Haltbarkeitsdatum. Verdammt, er hatte recht! Mai, leider des aktuellen Jahres, und November. Jetzt war Dezember.
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging sie in den Vorraum der Personaltoilette und warf das Mai-Kondom in den Mülleimer. November behielt sie vorsichtshalber. Man konnte ja nie wissen …
Father Christmas, der ihr gefolgt war, lachte verrucht. »Findest du mich eigentlich auch heiß, Kleine?«
Kurz war Gabby in Versuchung, ihm eins mit ihrer Handtasche überzuziehen, aber die war immer noch geöffnet und ein zweites Mal wollte sie den Inhalt nicht vom Fußboden aufsammeln. Irgendwas hatte dieser Weihnachtsmann an sich, dass sie sich in seiner Gegenwart wie eine Katze fühlte, die gegen den Strich gestreichelt wurde. »Sorry, ich steh nicht auf ältere Männer mit Bart«, antwortete sie schließlich spröde.
»Kein Problem. Ich steh normalerweise auch nicht auf zickige Kontrollfreaks, aber für dich mache ich eine Ausnahme.«
»Träum weiter!«
»Du auch.« Er grinste frech. »Da hast du schon mal die Gelegenheit, Mitte Dezember Weihnachtsgeschenke auszupacken, und dann nutzt du sie nicht …«
Das wollte Gabby nicht auf sich sitzen lassen. Angriffslustig fuchtelte sie ihm mit dem November-Kondom vor der Nase herum. »Etwa hier und jetzt?«
»Wieso nicht? Morgen könnte ich schon wieder am Nordpol sein.«
»Ja, und dir von deinen Rentieren einen runterholen lassen.«
Father Christmas prustete vor Lachen. »Das Bild bekomme ich nie mehr aus meinem Kopf! Um das zu verhindern, musst du unbedingt selbst Huf, äh, Hand anlegen.«
»Und was habe ich davon?«, fragte Gabby herausfordernd.
Santa warf einen vielsagenden Blick auf die Kondomverpackung. »Willst du das etwa auch ungenutzt wegwerfen? Wäre eine Verschwendung, kannst du mir glauben.«
Gabby ließ ihren Blick zu seinem Schritt wandern, aber es war zu viel Polsterung im Weg, um abschätzen zu können, ob er sich einen Spaß mit ihr erlaubte oder tatsächlich etwas Vielversprechendes unter dem roten Kostüm verbarg.
Wahrscheinlich wollte er sie nur provozieren und würde einen Rückzieher machen, sobald sie ihn beim Wort nahm. »In Ordnung«, sagte Gabby und lächelte ihn verführerisch an. »Damen oder Herren? Santas gibt’s nicht.«
»Dann Damen.«
Er folgte ihr doch tatsächlich durch die Tür, auf der eine stilisierte Frauenfigur prangte.
Wenn er hier erwischt werden würde, würde er Ärger bekommen. Und sie auch.
Gabby wollte ihn gerade zurückscheuchen, als er sie an seinen Polsterbauch zog und küsste. Außer seiner Zunge bekam sie noch jede Menge Wollfäden in den Mund und zog ihren Kopf ruckartig zurück. »Rasier dich erst mal, du schmeckst wie ein Lama!«
Santa spuckte Rauschbartwolle aus und schob sich dann kurzerhand den gesamten Bart nach unten. »Schon erledigt.« Er zog sie erneut an sich. »Hast du echt schon mal ein Lama geküsst?«
»Auch nicht besser als Rentiere«, murmelte Gabby, momentan abgelenkt von seiner Nähe, die sich überraschend gut anfühlte.
»Doch. Lamas spucken. Ich nicht.«
Stattdessen drängte sich seine Zunge ein weiteres Mal zwischen ihre Lippen. Diesmal ohne Wolle. Der Mann weiß, was er tut, dachte Gabby mit einem Seufzer und beschloss, dass sie erst einmal genießen durfte.
»Kannst du mir mal helfen?«, stöhnte der Weihnachtsmann. »In dem Kostüm ist es so heiß …«
Erst jetzt merkte Gabby, wie stark er schwitzte. Da er nach wie vor Handschuhe trug, war seine Bewegungsfähigkeit zusätzlich eingeschränkt. In einem Anflug von Mitleid knöpfte sie ihm die rote Kostümjacke auf, die er mit einem Seufzer der Erleichterung auszog, und half ihm dann, sich seines Bauchs zu entledigen. Ohne Kissen um die Taille war Santa deutlich schlanker als zuvor.
Und deutlich nackter. Gabby wurde ebenfalls heiß. Unter seinem Kostüm trug er ein verwaschenes weißes T-Shirt, das so nass geschwitzt war, dass es fast schon durchsichtig erschien, und hellblaue Boxershorts, die stellenweise ebenfalls an seinem Körper klebten. An einer bestimmten Stelle hingegen standen sie deutlich sichtbar ab.
Gabby sprach das Offensichtliche aus: »Du bist ja klatschnass!«
Kurzerhand zog der Weihnachtsmann sein T-Shirt über den Kopf und die Boxershorts runter. Jetzt sah er gar nicht mehr so weihnachtlich aus, von seiner Perücke, der Mütze und dem Bart, der ihm immer noch um den Hals hing, mal abgesehen. Er wirkte jung, schlank und trainiert. Vielleicht Mitte zwanzig, schätzte Gabby. Fasziniert folgte sie mit ihrem Blick dem Spiel seiner Muskeln, ließ ihn von seiner Brust über seinen Bauch bis zu dem V wandern, das sich von seinen Hüften bis zu seinem gestutzten Schamhaar zog. Unter der Perücke waren seine Haare wahrscheinlich dunkelblond oder mittelbraun. Gabby beobachtete, wie sich sein Penis noch ein Stückchen weiter hob, bis er fast waagerecht von seinem Körper abstand.
»Soll ich auf mein Rentier warten oder hast du doch noch Lust auf dein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk?«
Gabby schickte ihre restlichen, noch vorhandenen Bedenken kurzerhand Richtung Nordpol. Auf jeden Fall weit weg. »Rentiere haben hier keinen Zutritt«, antwortete sie und umschloss seinen warmen Schaft mit beiden Händen. Er zitterte leicht unter ihrer Berührung und die ersten Lusttropfen zeigten sich an seiner Spitze. Sie begann, ihn auf und ab zu reiben, sanft nach oben mit einer kreisenden Handbewegung um die Eichel, fest nach unten.
Santa stöhnte. »Wir müssen uns beeilen.«
Typisch Mann. Dann fiel Gabby wieder ein, wo sie sich befanden: Sie standen am Eingang der Damentoilette, neben dem Waschbecken. Die beiden Kabinen waren glücklicherweise leer. Trotzdem konnte jederzeit jemand hereinkommen.
Schnell ließ sie von ihm ab und wollte die Folienverpackung öffnen, doch er stoppte sie: »Warte.«
Mit kleinen Trippelschritten, weil ihm immer noch seine Boxershorts und die Kostümhose um die Knöchel hingen, drängte er sie gegen das Waschbecken. Inzwischen hatte er immerhin den linken Handschuh ausgezogen, sodass er ihre Bluse aufknöpfen konnte. Den cremefarbenen BH, den sie darunter trug, zog er nach unten, sodass ihre Brüste auf den Schalen zum Liegen kamen. Genießerisch senkte er den Kopf, um nacheinander die bereits harten Spitzen in den Mund zu saugen. Sie spürte, wie er ihre Nippel abwechselnd sanft zwischen die Zähne nahm und mit der Zunge dagegen stupste, darüber strich oder sie umkreiste. Ihre Knie gaben nach und sie musste sich am Waschbecken abstützen, um nicht zu fallen. Wenn sie den Blick senkte, sah sie nur die rote Weihnachtsmütze und ab und zu seine Zungenspitze, die über ihre Haut strich.
»Dreh dich um«, befahl er rau und Gabby gehorchte. Die Lust aufs Reden war ihr vergangen, stattdessen konzentrierte sie sich aufs Fühlen. Sie ließ zu, dass Father Christmas ihr den Rock hochschob und das Höschen nach unten zog, bis es auf den Fliesen landete. Das werde ich nachher ganz gewiss nicht mehr anziehen, so dreckig, wie der Boden hier bestimmt ist, dachte Gabby und kam sich beim bloßen Gedanken, ohne Unterwäsche durch London zu laufen, furchtbar verrucht vor.
Hinter ihr ging Santa in die Knie und bedeutete ihr, ihre Beine etwas weiter auseinander zu stellen. Sie spürte den Stoff seiner Mütze an ihrem Po, was ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Der nächste folgte, als seine Zungenspitze von hinten durch ihre Spalte strich, sie in einem schnellen Tempo leckte, ein Stück weit in sie eindrang. Gabby hechelte vor Verlangen und drängte ihm ihren Hintern entgegen, doch er hielt sie in Position. Gerade, als sie dachte, sie würde allein von seinem Zungenspiel kommen, ließ er von ihr ab und richtete sich wieder auf.
»Kondom!«, befahl er leise und Gabby tastete auf dem Waschbeckenrand danach, riss die Folie auf, zog den Gummi hervor und dachte geistesgegenwärtig sogar noch daran, die Verpackung in den nebenstehenden Mülleimer zu werfen. Sie wandte sich ihm zu, ergriff seinen Penis mit einer Hand, setzte das Kondom auf und rollte es mit der anderen ab. Wahrscheinlich war Sex wie Fahrradfahren, das verlernte man nicht.
»Dreh dich wieder um«, wies Santa sie an. Gabby spürte seine Eichel an ihrem Po, dann am unteren Rücken und hätte am liebsten nach hinten gegriffen, um ihn zu ihrem Eingang zu dirigieren, doch sie brauchte beide Hände, um sich am Waschbecken abzustützen.
Endlich war er in Position und schob sich ein paar Zentimeter in sie hinein. Gabby wimmerte und drückte verlangend den Rücken durch, in der Hoffnung, dass er dadurch tiefer in sie gleiten würde. Sie wollte ihn endlich ganz in sich spüren.
»Na, da ist aber jemand heiß auf mich«, raunte Santa, anscheinend zufrieden mit der Art, wie sie sich ihm anbot. Mit beiden Händen griff er ihre Hüften und stieß in sie.
Sie konnte einen lustvollen Aufschrei nicht unterdrücken, woraufhin Santa ihr sofort seine behandschuhte Hand vor den Mund hielt. »Leise!«
Gabby wimmerte unterdrückt. Endlich schien er ein Einsehen zu haben, denn er stieß erneut in sie. Sie beugte sich nach vorn, so weit der Waschtisch es zuließ, um den Winkel zu verändern, was ihn zu einem bestätigenden Knurren verleitete. Im Spiegel sah sie ihr eigenes Gesicht und dahinter seins, halb verdeckt von ihrem Kopf und seiner Weihnachtsmütze.
Dann beschleunigte Santa seine Stöße und Gabby konnte an nichts anderes mehr denken, als daran, wie gut er sich in ihr anfühlte. Seine linke Hand lag inzwischen auf ihrem Venushügel, Zeige- und Mittelfinger genau über ihrer Klitoris sandten von dort aus kleine Blitze direkt in ihr Lustzentrum. Seine Rechte spielte mit ihrem rechten Nippel, zupfte an der Brustwarze und kniff sanft hinein. Der Effekt war durch den Stoff des Handschuhs ungewohnt, aber nicht minder erregend. Gabby biss sich auf die Lippe, um nicht lauthals zu stöhnen ob der dreifachen Stimulation.
Santas Stöße wurden schneller. Sein Atem ging in Keuchen über. Gabby spürte, wie die Lust sich in ihrem Körper ausbreitete, wie ihre Beine anfingen zu zittern, sich die Röte auf ihrem Dekolleté ausbreitete. Sie hatte sich noch nie selbst dabei zugesehen, wie sie kam, aber heute zwang sie sich, die Augen offen zu halten.
Ihr Orgasmus gipfelte in einem kehligen Schrei und sofort legte sich Santas Hand wieder über ihren Mund. Gabby spürte, wie sich ihre Muskeln wellenförmig um seinen Penis krampften, bis auch er in ihr zuckte. Er stöhnte etwas, das wie Baby klang, als er sich in sie ergoss.
»Mann, das war … Wow.« Bevor sie mehr sagen konnte, hörten sie plötzlich ein Geräusch von nebenan. Keine Sekunde später wurde die Tür der Damentoilette aufgerissen und jemand von der Security stand vor ihnen. »Was ist denn hier los?«
»Lauf!«, zischte Father Christmas Gabby zu. Obwohl diese noch im postkoitalen Ausnahmezustand war, ließ sie sich das nicht zweimal sagen. Mit einer Hand hielt sie ihre Bluse vor der Brust zusammen, mit der anderen griff sie ihre Handtasche und versuchte gleichzeitig, ihren Rock runterzuziehen, während sie sich an dem Mann vorbeiduckte und aus dem Raum lief. Mit ihren Pumps konnte sie zwar nicht sprinten, aber sie war trotzdem schnell im Treppenhaus, lief ein Stockwerk hoch, weil sie davon ausging, dass potentielle Verfolger sie eher unten vermuten würden, und schloss sich dort in der Personaltoilette ein, um ihre Kleidung zu richten.
Schwer atmend blieb sie vor dem Spiegel stehen. Dieser Raum sah identisch wie der im Stockwerk darunter aus. Sie betrachtete ihr gerötetes Gesicht, die glänzenden Augen, die zerzausten Haare, und begann schallend zu lachen. Es hatte etwas Befreiendes. Die Situation war so absurd gewesen, da konnte man nur darüber lachen.
Hoffentlich war dem Weihnachtsmann eine gute Ausrede eingefallen. Das war schon sehr gentlemanlike von ihm gewesen, ihr den Rücken zu decken und damit die Flucht zu ermöglichen. In ihrem Angestelltendress dürfte sie von hinten kaum zu erkennen gewesen sein. Sie konnte nur hoffen, dass sich niemand an ihre roten Haare erinnerte. Die waren schon recht verräterisch.
Noch immer glucksend verließ Gabby die Toilette, nahm die Rolltreppe in den zweiten Stock und holte ihren Mantel aus dem Personalraum, bevor sie sich ihre Mütze tief ins Gesicht zog und über den Personaleingang das Gebäude verließ.
Draußen war es dunkel, aber die Oxford Street erstrahlte vor lauter Weihnachtsbeleuchtung. Warum war ihr das bisher noch nicht aufgefallen? Obwohl noch mehr Menschen unterwegs waren als heute Morgen, rempelte sie diesmal niemand an.
Auf dem Nachhauseweg kaufte sie eine Packung Küchenhandtücher und Mince Pies. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund war ihr plötzlich weihnachtlich zumute.
Anscheinend war sie nicht die Einzige. Jemand hatte ihr Wohnzimmer mit einem künstlichen Tannenbaum in Giftgrün, der mit bunten Lametta-Girlanden behängt war, dekoriert. Sogar ein Mistelzweig hing über der Tür. Falls Tom denkt, dass er irgendeine von uns küssen kann, macht er sich umsonst Hoffnungen, sinnierte Gabby. Sie zumindest stand auf richtige Männer. Auf solche wie ihren Santa beispielsweise. Schade, dass sie so überstürzt die Flucht hatte ergreifen müssen. Ob er morgen wohl wieder da war?
»Na, Gabby, geht’s dir besser?«, fragte Shelly, die mit einer halb vollen Weißweinflasche ins gemeinsame Wohnzimmer kam.
»Ja. Obwohl ich einen kompletten Horrortag hatte.« Bis auf die paar Minuten in der Kaufhaustoilette, die Gabby ihren Mitbewohnern wohlweislich verschwieg. »Läuft irgendwas Nettes im Fernsehen?«
»Stirb langsam, A Christmas Carol und Tatsächlich Liebe«, verkündete Emma nach einem Blick ins Programm.
»Stirb langsam«, rief Tom, der gerade hereinkam, aus dem Hintergrund.
»A Christmas Carol«, entschied Emma. »Ich habe den Job bekommen, ich möchte feiern. Also darf ich auswählen.«
»Nein, ich möchte Tatsächlich Liebe sehen«, mischte sich Shelly ein.
Alle drei sahen Gabby erwartungsvoll an. Hing die Entscheidung etwa von ihr ab? Das ist ja mal ganz was Neues. »Tatsächlich Liebe.«
»Den haben wir bestimmt schon ein halbes Dutzend Mal gesehen«, maulte Emma.
»Die anderen etwa nicht?«, entgegnete Gabby. »Komm schon. Ich mache uns auch was Warmes zu trinken.«
»Aber bitte mit viel Alkohol«, grummelte Emma.
»Hilft mir jemand?«
Ausgerechnet Tom gesellte sich zu Gabby an den Herd. Er schien in einer merkwürdigen Stimmung zu sein, irgendwas zwischen geknickt und euphorisch. Da hätte sie fast lieber auf Hilfe verzichtet. »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
Er warf ihr einen kurzen Blick zu und senkte ihn gleich wieder, als wäre ihm irgendwas unangenehm. »Keine. Na ja, sie haben mir bei der Arbeit mein Mittagessen geklaut, und dann bin ich auch noch gekündigt worden.«
Tom arbeitete also doch. Bisher hatte er noch gar nichts von einem Job erzählt. Ob er ihn lang gehabt hatte?
»Oh, mir auch«, sagte Gabby, überrascht über diese Gemeinsamkeit. Verspätet setzte sie hinzu: »Ich meine, das mit dem Mittagessen, nicht die Kündigung.« Obwohl es bei ihr beinah auch passiert wäre – beziehungsweise noch passieren konnte, sollte man sie erkannt haben. »Tut mir leid für dich.«
»Na ja, schon okay. Das, was dazwischen war, hat es wieder wettgemacht.« Er griff an Gabby vorbei nach einem der neuen Küchenhandtücher.
Dabei sah sie den Verband an seiner rechten Hand. »Was hast du denn angestellt?«
Er versteckte seine Verletzung wie beiläufig hinter dem Rücken. »Nicht so wild. Was ist denn nun mit Tatsächlich Liebe? Hätte dich gar nicht für eine Romantikerin gehalten. Ich dachte, du stehst mehr auf heiße Kerle, die dich ordentlich durchvögeln.«
Am nächsten Morgen wurde Gabby durch Emma geweckt, die lauthals und in falscher Tonlage unter der Dusche sang.
Ihr Wecker zeigte zwanzig nach drei an. Draußen wurde es jedoch bereits hell, was bedeutete, dass es deutlich später sein musste.
Gabby angelte nach ihrem Smartphone: kurz nach acht. Mit einem Fluch sprang sie aus dem Bett und klopfte an der Badezimmertür. »Hey, wie lange brauchst du noch?«
»Lalala-lahaaangeee!«, trällerte Emma, offenbar bester Laune. Die musste ja auch nicht wie Gabby pünktlich im Nobelkaufhaus sein, um überflüssige Luxusartikel an genervte Leute im Weihnachtsstress zu verticken.
Zum Glück hatten sie in der Wohnung noch eine separate Toilette, selbst wenn die so aussah, als wäre sie seit Ewigkeiten nicht geputzt worden. Gabby entschied sich für eine schnelle Katzenwäsche in der Küche, froh, dass gerade niemand dort war. Shelly war um diese Zeit schon auf dem Weg zur Arbeit und Tom … An Tom wollte sie lieber nicht denken.
An ihre Wäsche hatte sie auch nicht gedacht, was bedeutete, dass sie heute Morgen nichts Frisches zum Anziehen hatte. Jedenfalls nichts, was den Kleidungsvorschriften und ihrer Chefin gefallen würde. Aber wann hätte sie auch waschen sollen? Gestern Abend war sie abgelenkt gewesen. Es kam schließlich nicht alle Tage vor, dass sie einen Weihnachtsmann vögelte.
Der Abend in der WG war merkwürdig gewesen, obwohl Gabby ihren Filmwunsch durchgesetzt hatte. Vielleicht lag es an den Mengen an Alkohol, mit denen sie auf Emmas neuen Job und Toms Kündigung angestoßen hatten? Dass sie zum ersten Mal seit Langem wieder Sex gehabt hatte, und dann auch noch so aufregenden, war für Gabby ebenfalls ein Grund zum Feiern gewesen. Selbst wenn sie den tunlichst für sich behalten hatte.
Gabby verzog beim Anblick der vielen leeren Flaschen auf dem Küchenboard das Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie das Pochen in ihren Schläfen. Kurz überlegte sie, ob sie ihre Chefin anrufen und sich krankmelden sollte, aber als Aushilfe wurde sie nur für tatsächlich geleistete Stunden bezahlt. Leider brauchte sie das Geld, deshalb griff sie anstatt zum Telefon zu einer Kopfschmerztablette. Wer feiern kann, kann auch arbeiten, hatten ihre Lehrer früher immer gesagt.
»Sag mal, kannst du mir eine weiße Bluse leihen?«, rief sie durch die geschlossene Badezimmertür.
»Die passt dir sowieso nicht«, rief Emma zurück.
Auch wieder wahr. Gabby nahm sich eine frische Strumpfhose aus Shellys Schrank, bevor sie Rock und Bluse von gestern über ihre Unterwäsche zog und sich großzügig mit einer Gratisprobe Eau de Toilette betupfte.
Für Frühstück blieb keine Zeit mehr. Auf dem Weg zur U-Bahn kaufte Gabby eine Flasche Orangensaft und ein Sandwich für ihre Lunchpause. Damit musste sie über den Tag kommen.
Obwohl sie so spät dran war, durchsuchte der Securityguard ihre Tasche extra gründlich. Vielleicht auch gerade deswegen. Nun, Kondome würde er heute keine finden, da sie ihren Vorrat noch nicht wieder aufgefüllt hatte. Ob er ihre Abwesenheit bemerken und welche Schlüsse er wohl daraus ziehen würde? Doch er kommentierte nichts.
Im Personalraum warf Gabby hastig ihre Sachen in den Schrank und ging zu ihrem Arbeitsplatz, als wäre sie schon seit Ewigkeiten im Haus. Sie hatte tatsächlich Glück, ihre Chefin schien ihr verspätetes Kommen nicht bemerkt zu haben.
Der Vormittag verging rasch. Gabby verkaufte einige teure Lederwaren und ärgerte sich, dass sie keine Umsatzprovision bekam. Damit hätte sie ihren mickrigen Mindestlohn nennenswert aufbessern können.
Auf dem Weg zur Personaltoilette warf sie einen Blick auf den Platz, wo gestern der Weihnachtsmann gesessen hatte. Heute war er leer.
Das war ihr lieber so – oder etwa doch nicht?
Unwillig schüttelte Gabby den Kopf, der dank der Tablette nur noch leicht pochte, um alle Gedanken an Männer, die Weihnachtsmannkostüme trugen, und was sie darunter anhatten, zu verdrängen.
Im Pausenraum dachte sie zunächst, dass man ihr auch heute ihr Mittagessen geklaut hätte, bis ihr einfiel, dass sie es nicht in den Kühlschrank, sondern zusammen mit ihrem Mantel in den Schrank gelegt hatte. Das Sandwich war zwar inzwischen etwas labberig und der Saft warm geworden, aber immerhin war beides noch da. Eine Kollegin aus der Spielwarenabteilung machte gleichzeitig mit Gabby Pause, sprach sie jedoch nicht an, sondern schlang hastig ihr eigenes Sandwich hinunter, bevor sie wieder zurück an die Arbeit ging.
Es war später Nachmittag, als Gabby erneut zur Personaltoilette musste. Diesmal hörte sie schon von Weitem ein lautes Ho, ho, ho! und sah die Schlange von Kindern, die auf den Weihnachtsmann wartete.
Neugierig trat sie näher, doch Statur und Stimme deuteten auf einen älteren Mann hin. Einen, der zudem deutlich besser mit Kindern umgehen konnte als der gestrige, wenn sie die gespannte Erwartung, die aus deren Gesichtchen leuchtete, als Indiz nahm. Dieser Weihnachtsmann entsprach exakt dem Klischee eines gütigen, älteren Mannes, der Kinder glücklich machte und ihre Eltern dadurch zum Kaufen animierte. Genau das, was das Kaufhaus bezwecken wollte.
Warum war sie dann trotzdem enttäuscht?
Aufgrund der verlängerten Öffnungszeiten während der Vorweihnachtszeit war es später Abend, als Gabby Schluss machen konnte. Inzwischen hatte sie so einen Heißhunger, dass sie sich bei einem asiatischen Take-away das Tagesgericht bestellte und gleich dort aß, bevor sie in die U-Bahn stieg.
Bayswater, das Viertel, in dem sie lebte, lag zwischen dem bekannten Paddington und dem noblen Notting Hill. Hier wohnten viele Migranten, weshalb die Preise noch nicht so stark angezogen hatten wie in den beiden benachbarten Stadtteilen.
Dies hatte jedoch den Nachteil, dass es Stellen gab, an denen Gabby bei Dunkelheit nicht gern allein vorbeiging. Im Winter leider ein unmögliches Unterfangen bei ihren Arbeitszeiten. Aber ganz weit raus zu ziehen und jeden Tag stundenlang zu pendeln, wie es viele Familien mit Kindern machten oder Angestellte, die sich die hohen Immobilienpreise in der City nicht leisten konnten, darauf hatte sie auch keine Lust. Schließlich war sie nach London gezogen, um in London zu leben, nicht im Umland. Irgendwelche Kompromisse musste man im Leben eingehen, das hatte sie hier schnell gelernt.
Ohne nach rechts und links zu schauen, ging sie den Queensway hinab, an den Läden und Restaurants vorbei und auf die Westbourne Grove. Noch um zwei Ecken, dann wurde es etwas ruhiger. Ein kompletter Straßenzug weiß gestrichener, mehrstöckiger, viktorianischer Reihenhäuser streckte sich in einem Halbbogen vor ihr aus.
Gabby erkannte ihren Eingang an der Hausnummer und den Kerben in den Stufen. Sie schloss die schwere Haustür auf und stieg die Stufen bis zur obersten Wohnungstür hoch. Ihre WG erstreckte sich über zwei Etagen, den vierten Stock und das darüber liegende Dachgeschoss. Der schöne Ausblick auf die Dächer der Umgebung entschädigte für die vielen Stufen.
Im Wohnzimmer fand Gabby ihre beiden Mitbewohnerinnen und eine angebrochene Flasche Ginger Wine. Gabby zog ihre Pumps aus und warf sich auf eins der beiden alten Sofas, um sich ihre schmerzenden Füße zu massieren. Einerseits freute sie sich auf Weihnachten, weil ihre Aushilfstätigkeit dann bald vorbei war, andererseits musste sie sich für die Zeit danach schnellstmöglich um einen neuen Job kümmern. Nur wann, wenn sie den ganzen Tag arbeitete?
»Schau halt online nach«, empfahl Shelly ohne allzu großes Mitleid.
Ihre Mitbewohnerin hatte gut reden. Für Banken war die Zeit um den Jahreswechsel traditionell am geschäftigsten. Für Jahresabschlussarbeiten wurden regelmäßig Aushilfen gesucht. Aber den ganzen Tag in einem Großraumbüro zu sitzen und auf einen Computerbildschirm voller Zahlen zu starren, war nicht Gabbys Welt. Mathematisch war sie leider etwas minderbegabt, wie einer ihrer Lehrer es ausgedrückt hatte.
Doch es lag nicht nur an ihrer Mathematik-Allergie, dass Gabby trotz abgeschlossenem Literaturstudium und zwei Jahren in London noch nicht wusste, was sie eigentlich wollte. Außer einem netten Mann, gutem Sex und genug Geld, um hier leben zu können. Eigentlich ganz normale und keine überzogenen Wünsche. Zielerreichung bisher: null. So viel Mathematik beherrschte selbst Gabby.
»Wo ist denn Tom?«, fragte sie beiläufig.
»Der ist weg«, antwortete Emma. »Ich habe ihn heute Nachmittag mit einem großen Koffer aus dem Haus gehen sehen.«
»Wahrscheinlich will er Weihnachten nicht hier verbringen«, kommentierte Shelly. »Vor allem, weil er seinen Job verloren hat. Wo kommt er eigentlich her?«
Sie sahen sich an und zuckten dann alle drei gleichzeitig die Schultern.
»Vielleicht ist er über die Feiertage bei seiner Familie?«, spekulierte Emma. »Gekündigt hat er das Zimmer jedenfalls nicht. Zumindest weiß ich nichts davon.«
Mit leichtem Bauchgrimmen dachte Gabby daran, dass auch sie Weihnachten bei ihrer Familie, sprich ihren Eltern, ihrem älteren Bruder Brian und ihrer Großtante Ida, verbringen musste. Wie alle Jahre wieder würde dann unweigerlich das Thema ihrer beruflichen Zukunft auf die festlich gedeckte Tafel kommen und ihr die Weihnachtslaune verderben. Falls es die Fragen nach ihrem Liebesleben nicht schon vorher geschafft hätten.
Ja, sie war Single, na und? Dafür lebte sie jetzt in London und nicht mehr in Hove, dem kleinen Seebad, das nahtlos in das mondänere Brighton überging.
Anfangs war Gabby fast jeden Abend ausgegangen. Nicht nur, um ihre neu gewonnene Freiheit ohne die argwöhnischen Blicke ihrer Eltern oder deren Nachbarn zu genießen, sondern natürlich auch in der Hoffnung, einen potentiellen Partner zu finden.
Doch London war teuer. Bereits ein Abend in einem angesagten Club kostete mehr als sie an einem Tag verdiente, von den Mietpreisen gar nicht zu reden. Für den Preis ihres WG-Zimmers hätte sie in Hove ein ganzes Häuschen mieten können.
Zugegeben, manchmal vermisste sie das Meer. Die Themse war eben doch nicht dasselbe und eine Mittagspause im Park nicht mit einer am Strand zu vergleichen. Aber es war schon seit Langem ihr Wunsch gewesen, in London zu leben. Von so etwas Nervigem wie Geld – oder in ihrem Fall Geldmangel – würde sie sich nicht davon abbringen lassen, ihren Traum zu leben.
Das sagte Gabby sich auch ein paar Tage später, als sie im National-Express-Bus nach Brighton saß. Obwohl ihre Eltern immer betonten, dass sie sich keine Weihnachtsgeschenke wünschten, waren sie doch beim ersten und einzigen Mal, als Gabby sie beim Wort genommen und ihnen nichts geschenkt hatte, sehr enttäuscht gewesen. Also hatte Gabby für ihren Vater zwei Paar Socken im Gepäck, für ihre Mutter eine Schachtel Marzipanpralinen, für ihren Bruder die Autobiografie eines Fußballstars und für ihre Großtante einen Seidenschal.
Obwohl der Fernbus einigermaßen pünktlich war und ihre Familie von ihrer Ankunft wusste, holte sie niemand ab. Die Geste wäre nett gewesen, selbst wenn Gabby die Besuche bei ihren Eltern immer als recht verkrampft empfand.