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Es herrscht Unsicherheit in Sachen Liebe und Sex, weiß Dirk Revenstorf aus seinem Alltag als Psychologe und Therapeut. Denn heute ist Sexualität allgegenwärtig. Die alten Konventionen stimmen nicht mehr, und alles, was Spaß macht, ist erlaubt. Selbst Untreue ist kein Tabubruch mehr. »Sind unter diesen Bedingungen Liebe und Sexualität in dauerhaften Beziehungen überhaupt noch möglich?«, so fragen viele. Dirk Revenstorf ist überzeugt, dass die Paarbeziehung eine Zukunft hat. Er zeigt, wie wir all die Bilder, Erwartungen und Vorstellungen, die heute an uns herangetragen werden, hinter uns lassen und gemeinsam mit dem Partner eine erfüllte Beziehung entwickeln können.
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Seitenzahl: 280
Dirk Revenstorf
Liebe und Sex in Zeiten der Untreue
Wege aus der Verunsicherung
Knaur e-books
Wie geht Beziehung im 21. Jahrhundert? Es herrscht Unsicherheit in Sachen Liebe und Sex, weiß Dirk Revenstorf aus seinem Alltag als Psychologe und Therapeut. Denn heute ist Sexualität allgegenwärtig. Die alten Konventionen stimmen nicht mehr, und alles, was Spaß macht, ist erlaubt. Selbst Untreue ist kein Tabubruch mehr. »Sind unter diesen Bedingungen Liebe und Sexualität in dauerhaften Beziehungen überhaupt noch möglich?«, so fragen viele. Dirk Revenstorf zeigt, wie wir all die Bilder, Erwartungen und Vorstellungen, die heute an uns herangetragen werden, hinter uns lassen und gemeinsam mit dem Partner eine erfüllte Beziehung entwickeln können. Er ist überzeugt, dass die Paarbeziehung eine Zukunft hat.
Meiner Liebsten gewidmet
Ich möchte mich bei Halko Weiss, Uli Clement, Oskar Bernd Scholz und Alina Haipt bedanken, dass sie mich ermutigt und den Text durch vielfache Kommentare und kritische Hinweise verbessert haben. Und auch Klaudia Schall danke ich, dass sie den Text so sorgfältig redigiert hat. Am meisten hab ich meiner Frau und Geliebten zu verdanken, die mich unermüdlich auf Schwächen der Darstellung hingewiesen und meine Vorstellungen durch so viele Ideen bereichert hat, dass ich wie immer sagen muss: Vieles, was ich niedergeschrieben habe, ist auf dem Boden unserer gemeinsamen Gespräche gewachsen.
Wenn die Liebe dir winkt, folge ihr, sind ihre Wege auch schwer und steil. Und wenn ihre Flügel dich umhüllen, gib dich ihr hin, auch wenn das unterm Gefieder versteckte Schwert dich verwunden kann. Und wenn sie zu dir spricht, glaube an sie, auch wenn ihre Stimme deine Träume zerschmettern kann, wie der Nordwind den Garten verwüstet.
Khalil Gibran
Wir leben in Zeiten, in denen fast alles erlaubt ist, und trotzdem sind wenige glücklich. Depression und Angst nehmen sogar weltweit zu. Glücklich macht die Liebe und sie ist ein Kind der Freiheit. Mit der Freiheit steht die Untreue im Raum. Liebe macht glücklich, und Untreue ist einer der Steine auf dem Weg. Sie ist bedrohlich, lässt langjährige Beziehungen einstürzen. Sie wird nicht verstanden, zum Unfall erklärt. Es hat sie schon immer gegeben; nur wurde sie hinter vorgehaltener Hand erwähnt. Sie sollte eigentlich nicht sein. Sie war skandalträchtig – Karrieren zerbrachen an ihr. In den westlichen Kulturen hat sich daran etwas geändert. Sie wird von VIPs vorgelebt, wird in Beziehungsangeboten und in Internet-Pornos wie selbstverständlich dargestellt. Sie wird in sexualisierter Werbung indirekt als Denkmöglichkeit suggeriert. Sie ist unterschwellig omnipräsent. Es ist so, als würde sie bei dem Gedanken an Liebe immer mitgedacht. So wie man heimlich an die Vermeidung von Leiden denkt, wenn man über Glück redet.
Menschen suchen Glück in der Liebe, und den meisten ist Treue sehr wichtig. Sie müssen durch Untreue nicht unglücklich werden. Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, die Liebe im Falle der Untreue nicht aufzugeben, sie einigermaßen gelassen hinzunehmen, möglicherweise sogar etwas aus ihr zu lernen und sich dem Projekt zuzuwenden, in der Liebe zu wachsen. Auch sie ist schwer zu verstehen, einerseits durch die Irrationalität ihrer Macht, die manchmal an Besessenheit grenzt, aber auch durch ihre Verquickung mit der Sexualität.
Wie soll man damit umgehen?
Davon handelt das Buch.
Liebe und Sex gehören zu den Vexierbildern unseres Erlebens ebenso wie Krankheit, Tod und Rausch. Sie sind schwer fassbare Bestimmungsstücke des Glücks und der Verzweiflung, des Wohlbefindens und der Verunsicherung. Für Liebe und Sex gibt es kaum verbindliche Regeln, wie sie etwa für das Autofahren oder den Abschluss von Geschäften gelten. Es gibt zahlreiche Vorstellungen darüber, was schicklich ist und was man am besten tut und lässt; aber sie verschwimmen in einer Grauzone der Unbestimmtheit persönlicher Maßstäbe. Geregelt sind die Verbote von Sex mit Kindern, Untergebenen und Vergewaltigung. Ob man Sex nachts oder am Tag hat, ob Sex im Bett, auf dem Küchentisch, im Hotel oder in der Natur stattfindet, darf jeweils neu entschieden und zwischen den Partnern abgestimmt werden. Ob Liebesbeziehungen monogam oder polyamourös gelebt werden, ist verhandelbar. Ob Sex unabhängig von romantischer Liebe und Bindungsanliegen als rekreative Freizeitbeschäftigung oder in der häuslichen Gemeinschaft als anständig betrachtet wird, schwankt von Person zu Person und von einer gesellschaftlichen Gruppierung zur anderen. Ob Analsex, sadomasochistisches Bonding oder Homosexualität normal oder abartig sind, darüber hat jeder eine andere Meinung. Ob die Anziehung, die eine bestimmte Person auf mich ausübt, sexuelle Lust oder Verliebtheit oder Anzeichen dafür ist, dass ich die Liebe meines Lebens gefunden habe, ist nicht immer klar zu erkennen; die Grenzen verwischen sich im Nebel der Gefühle. Liebe, Sex und Erotik stürzen uns in ein heilsames Chaos der Verunsicherung, von dem wir im günstigen Fall wie Phönix aus der Asche auferstehen oder in ihm untergehen. [1]
Dieser verwirrende und subjektiv so bedeutungsvolle Teil unseres Lebens spielt sich heute in einem Raum und einer Zeit ab, die wir Postmoderne nennen. Obwohl es eine erhebliche Diskussion über die chronologische und inhaltliche Bestimmung der Epochen in Geschichte, Kunst oder Philosophie gibt, soll hier mit traditionell die Zeit bis zur Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts gerechnet werden. Mit Romantik ist die danach beginnende Epoche bis zum Einsetzen der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts, mit Moderne die Zeit der Industrialisierung bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts gemeint, und die mit der Nachkriegszeit, dem Existenzialismus und der 68er Revolte beginnende Phase soll als Postmoderne[2] bezeichnet werden. Die ganze neuere Zeit wird getragen vom Geist der Aufklärung – mancherorts mit verwunderlichen Rückfällen in fundamentalistische Dogmen.
Aufklärung und Moderne proklamierten Ideen und Prinzipien, hatten utopisches Pathos. Es ging um Gleichheit, Freiheit, Menschenrechte, um die Emanzipation der Arbeiterklasse durch den Marxismus, um die Erhellung des Unbewussten durch die Psychoanalyse, die Vermehrung des Gemeinwohls durch den Kapitalismus und um die Gleichberechtigung von Frau und Mann – das alles genährt vom Optimismus des Fortschritts. Das Bauhaus-Manifest von Walter Gropius ist ein Beispiel dafür: »Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens«. [3] Ein solches Projekt der Menschheit muss in vieler Hinsicht als gescheitert angesehen werden angesichts des »Jahrhunderts des Todes« [4], durch die noch nie da gewesene Anhäufung von Kriegen, von faschistischen und stalinistischen Vernichtungslagern, der Atombomben, der großen Desaster wie Tschernobyl, Fukushima und anderer Umweltkatastrophen.
In viel subtilerer Weise, als sich der Fortschritt für die äußere Umwelt als ruinös erweist, wirkt er sich im Menschen selbst aus: Dessen Natürlichkeit geht verloren. Der Politologe Francis Fukuyama sieht das Ende des Humanen gekommen und weist darauf hin, dass die Menschen durch Drogen stromlinienförmig gemacht werden, indem sie mit Amphetaminen zu fleißigen Arbeitsbienen geformt und mit Antidepressiva der schlechten Laune beraubt werden. Demnächst würden Menschen geklont wie das allerdings recht kurzlebige Schaf Dolly und durch Genmanipulation zu idealen Wesen mit bestimmtem Wuchs, bestimmter Haarfarbe, symmetrischem Körper und hoher Intelligenz stilisiert. Das werden sich natürlich nur die reichen Mitglieder der Gesellschaft leisten können. Der Rest bleibt chancenlos zurück und wird vielleicht als Organspender gezüchtet werden, wie es in dem Film Was bleibt dargestellt wird.
Die Postmoderne kann als ironische Reaktion auf den gescheiterten Optimismus der Moderne gesehen werden. Sie ist durch die Dekonstruktion des universellen Wahrheitsanspruchs von Ideen charakterisiert wie etwa die der Aufklärung, der rationalen Durchdringung der Welt, des Sozialismus, der freien Marktwirtschaft. Zwar ist die Postmoderne in gewissem Sinne hypermodern. [5] Sie basiert mehr als je zuvor auf vier Grundpfeilern der Moderne – Demokratie, Individualismus, Kapitalismus und Technologie –, aber sie haben ihren Glanz verloren. Es gibt kein ideelles Ziel des Fortschritts mehr; vielmehr besteht das Ziel des Fortschritts in permanenter Steigerung des Konsums. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa spricht sogar von einem beschleunigten Konsum. Immer schneller wird die Entwicklung neuer Technologien und Produkte vorangetrieben, um der notwendigen Expansion der Wirtschaft nachzukommen, die der Kapitalismus fordert, indem immer schneller und mehr Konsumgüter auf den Markt geworfen werden – so viele, wie sie der Kunde gar nicht mehr verbrauchen kann. Der moderne Mensch kauft den »ganzen Beethoven«, ohne ihn je ganz zu hören, den »ganzen Herrmann Hesse«, ohne ihn je ganz zu lesen. Der Deutsche kauft viel zu viele Lebensmittel und wirft 80 Kilogramm im Jahr davon weg. Die Welt ist in einem viel grandioseren Maße absurd geworden, als es die Existenzialisten Mitte des letzten Jahrhunderts geahnt haben.
Es gibt keine Utopie mehr; der Mensch ist im Jetzt angekommen. Der Verlust traditioneller Bindungen und des Vertrauens in die Zukunft geht einher mit der Einbuße eines tragenden Gemeinschaftsgefühls. Die Postmoderne ist bestimmt durch radikale Pluralität mit dem Bekenntnis zu Feminismus und Multikulturalismus, durch Emotionalität, Amoralismus und Fusionismus in Gesellschaft und Kultur. Diese Melange verspricht ein bisher nie da gewesenes Ausmaß an individueller Freiheit und bringt gleichzeitig ein Gefühl der Verlorenheit mit sich und die Unfähigkeit, an die Liebe zu glauben. Welcher Mann traut sich noch zu sagen »Ich liebe dich von ganzem Herzen«, ohne zu fürchten, dass sie weiß, dass er weiß, dass sie weiß, dass dieser Satz in irgendeinem Lore-Roman steht, lamentiert Umberto Ecco in der Nachschrift zu seinem Roman Der Name der Rose.[6]
Die Liebe aufzugeben wäre von allen Abstrichen, die in der postmodernen Welt von der Geborgenheit gemacht werden müssen, allerdings der größte Verlust. Sie ist die Kraft, die der Zerstörung durch Aggression am ehesten etwas entgegensetzen kann. Der Poet Khalil Gibran sagt, dass Liebe und Sex spüren lassen, dass das Leben mehr ist als Verwirrtheit des Geistes und Traurigkeit des Gemüts, und dass sie etwas geben, was größer ist als jede Angst. Selbst Albert Camus, der Prophet der Sinnlosigkeit des Daseins, stürzte sich von einer Liebesaffäre in die nächste. [7] Offenbar transzendieren die Liebe und der Sex vieles, was die Geschichte an Absurdität und die instrumentelle Vernunft an emotionaler Verkümmerung beschert.
Mit dem Aufkommen der Moderne, die sich mit Säkularisierung, Rationalität und Emanzipation als Erbe der Aufklärung präsentierte, veränderte sich die Qualität von Liebesbeziehungen. Der Fortschritt der Industrienationen in den Bereichen Technik, Gesundheit und Wohlstand ging mit moralischem Elend und einer existenziellen Verunsicherung in den familiären Beziehungen einher. Der Zuwachs an Freiheit hatte einen Preis – nämlich den Verlust an Orientierung. Allein schon dadurch, dass herkömmliche Ritterlichkeit und Charakterbildung – im Mittelalter und in der Romantik moralischer Rückhalt einer Beziehung – an Bedeutung verloren. Weiter auch dadurch, dass das Zusammenfallen von Sexualität und emotionaler Bindung mehr und mehr in Frage gestellt wurde. Das hatte Gründe. Einmal die Emanzipation insbesondere der Frau, über die Rollenerwartungen hinausgehen zu dürfen; dann der Trend, sich zunehmend mehr sexuelle Freiheit zu gestatten, und schließlich die Verherrlichung des Konsums, zu dessen Kontingent mittlerweile auch die Sexualität zählt. Das vollzog sich in mehreren Schritten (siehe Tabelle 1 und 2).
Zunächst ermöglichten Aufklärung und Moderne es Männern und Frauen, traditionelle Vorstellungen von Werbung, sexueller Annäherung, langfristiger Bindung und Trennung hinter sich zu lassen und die individuelle Liebesbeziehung zur Grundlage der Ehe zu machen; die Frau musste sich seit der Romantik nicht mehr einer arrangierten Ehe fügen und konnte den Antrag eines Mannes ablehnen; allerdings war sie nur innerhalb der Ehe sexuell berechtigt, und sie endete tragisch wie Flauberts Madame Bovary oder Tolstois Anna Karenina, wenn sie sich nicht daran hielt und dies öffentlich wurde.
Später wurde es modern, sich Promiskuität offen zu gestatten. Zuerst in der Bohème des 19. und 20. Jahrhunderts – wie etwa beschrieben in Henry Millers Stille Tage in Clichy, wo sich vor allem Männer eine Libertinage erlaubten, von der man allerdings den Eindruck hat, die Frauen ließen es über sich ergehen; und schließlich in der sexuellen Befreiung Ende des 20. Jahrhundert, die auch die Frauen erfasste – beschrieben z.B. in Das sexuelle Leben der Catherine M. von Catherine Millet [8] oder zu sehen in Madonnas provokativen, immer noch stilvollen Musikvideos bis zu bizarren Geschmacksverirrungen, wie der von Miley Cyrus 2013 bei ihrer Präsentation auf dem mtv Music Award. [9]
Die Industrialisierung lebt vom wirtschaftlichen Wachstum, um die Investitionen durch Gewinne wieder hereinzuholen; das erfordert Konsum, und zwar in beschleunigtem Ausmaß. Dazu wird der Konsum als ultimative Lebensqualität gepriesen und als Wahrzeichen der Gewinner. Diese Illusion wird durch einen immensen Aufwand und eine Zunahme an psychologischer Raffinesse in der Werbung vorangetrieben. Im Internet geht das so weit, dass jeder Nutzer aufgrund der über ihn im Rahmen seiner eigenen Netzaktivität ausspionierten Daten ungefragt mit individuellen Angeboten gemäß seinem bisherigen Kaufverhalten und Interessenprofil bedient wird – oft ohne dass er es merkt.
Etwa gleichzeitig mit einer zunehmenden Verherrlichung des Konsums seit der Mitte des 20. Jahrhunderts fand die Entkopplung von Sexualität und emotionaler Bindung statt. Dass es Sex in festen Beziehungen gibt, aber auch außerhalb, ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Das kann als Zeichen des Fortschritts und der Aufhebung einer jahrhundertelangen ekklesiogenen Repression gewertet werden, in der Sex und Frauen verteufelt und Menschen in ihrer Sexualität mit der Auflage sozialer Verpflichtung gegängelt wurden und den Segen der Kirche erbitten mussten. Durch den Wandel wird Sex als Attraktor frei verfügbar – auch für die Werbung, was mit einer zunehmenden und hochgradig perfektionierten Sexualisierung des Kommerzes einhergeht. Zum andern kommt es ganz unverhohlen zur Beförderung von Sexyness als einem wünschenswerten Persönlichkeitsattribut und expliziter als früher zu einem Kriterium in der Partnerwahl. Der Sexappeal hält Einzug ins Familienleben. Alle müssen sexy aussehen, auch Mutti am Herd und Papi im Chefsessel – wenigstens in der entsprechenden Werbung für Kochgeräte oder Medikamente gegen Inkontinenz nach Prostata-Operation.
Damit wird die sexuelle Anziehungskraft zum sozialen Qualitätsmerkmal und zum Stabilisator des Selbstbewusstseins. Attraktivität der äußeren Erscheinung war schon immer erstrebenswert, aber sie wird heute nicht nur als bewundertes Attribut von Popikonen zur Schau gestellt; sie wird durch die konzertierte Aktion von Mode, Medien und Kosmetikindustrie mehr als früher auch Otto Normalverbraucher als machbar vorgegaukelt. Man muss nur die richtige Designergarderobe, das richtige Make-up und Parfum tragen und nötigenfalls einige Schönheits-OPs und Botox-Spritzen über sich ergehen lassen. Menschen sollen in der Werbung glücklich aussehen, indem sie sexuell attraktiv gezeigt werden, und es wird suggeriert, dass dies durch die empfohlene Mode und Kosmetik möglich wird.
Gleichzeitig ist als Resultat der sexuellen Befreiung eine Kommerzialisierung der Sexualität zu verzeichnen, die in einem massiven Anstieg erotischer Angebote ohne Bindungsanspruch auf dem Markt sowie deren Konsum zum Ausdruck kommt. Die Enttabuisierung von Sex und die Priorisierung des Konsums führen dazu, dass sich der Markt den Blickfang sexueller Reize zur Werbung für zahlreiche Konsumgüter von der Zahnpasta bis zum Sportwagen zunutze macht. Frauen und nach ihnen auch Männer werden in der Werbung zu triebhaften Wesen stilisiert, die durch phantastische Körper und sexuell suggestive Posen auf oder mit oder in Konsumgütern beeindrucken; die entsprechenden Bilder und Videos werden in den Medien zur Schau gestellt, als wäre Sexualität außerhalb anderweitig wahrscheinlich auch vorhandener emotionaler Bezüge erwünscht und jederzeit verfügbar.
Dieser kulturelle Trend annullierte die Begrenzung der individuellen Selbstbestimmung durch die Gemeinschaft und durch die herkömmliche Moral, solange die Rechte anderer nicht verletzt werden. Der Gleichberechtigung der Frau und der sexuellen Freiheit konnte nichts mehr entgegengesetzt werden. Wer mit wem wann und wie Sex hat, ist reine Privatsache geworden. Das gilt für Männer und Frauen in homosexuellen und heterosexuellen Beziehungen – solange keine Abhängigkeitsverhältnisse missbraucht werden wie etwa bei Präsident Clintons oder General Petraeus’ Affären mit Angestellten oder Untergebenen.
Im Zuge der uneingeschränkten Nutzung der Sexualität in der Werbung und ihrer Liberalisierung in privaten Beziehungen wird sie selbst in das Konsumkontingent einbezogen und vermarktet. Angebote außerhalb der Familie sind als rekreative Freizeitsexualität im Gegensatz zu prokreativer Familiensexualität frei verfügbar und können abgekoppelt von emotionalen Bedürfnissen gelebt werden (siehe Tabelle 1). Exzessiv und billig im Porno-Internet, professionell durch erotische Dienstleistungen aller Klassen und durch unverbindliche Partnersuche und Kuppeldienste in entsprechenden Foren und Dating-Börsen, so wie die folgenden Anzeigen: [10]
Frischer fröhlicher intelligenter attraktiver u. gepflegter Mann 45, 1.85 sucht Frau mit ähnlichen Attributen, zw. 30 u. 45, der es vorwiegend um Lust u. Leidenschaft geht u. mit viel Spaß eine diskrete Affäre genießen möchte.
Oder: Reifer M 180, NR, NT sucht jüngere W für schöne Orgasmen.
In der Marktwirtschaft entwickelte sich der Begriff des Liberalismus extremer als in den übrigen gesellschaftlichen Kontexten. Und zwar als Maxime der Wirtschaftlichkeit, die als Gütesiegel des freien Marktes dessen Funktionieren garantieren soll und von moralischer Legitimation entbunden ist. [11] Sie wurde zum Götzen, dem sich der Staat und natürlich die Bürger unterzuordnen hatten. Der Staat erkennt die Wirtschaftlichkeit bereitwillig als tragenden Mechanismus an, um Arbeitsplätze zu erhalten und Steuern zu kassieren. Der Bürger verschließt sich dem nicht, weil er dem Eindruck verfällt, ihm widerfahre Gutes. Er wird zum Konsumenten gekürt, umworben mit Bildern, die suggerieren, dass er durch seine Kaufkraft sich der Gruppe von gutaussehenden Wesen zurechnen darf, die ihm in den Werbespots entgegenlächeln. Ohne Konsumenten keine Wirtschaftlichkeit; also muss der Konsum angeheizt werden. Die Kombination von sexueller Freiheit und Wirtschaftlichkeitsdenken führt wie erwähnt auch dazu, dass die Sexualität selbst vermarktet wird.
Freiheit, das in Programmformeln wie Einigkeit und Recht und Freiheit oder Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Freie Marktwirtschaft und Ähnlichem hochgehaltene Prinzip der letzten 200 Jahre, wird öffentlich anders praktiziert als in privaten Beziehungen, und den Begriff der politischen Freiheit als Legitimation für die Libertinage in Liebesbeziehungen heranzuziehen ist irreführend. In der Öffentlichkeit ist die Freiheit des Individuums durch komplizierte Gesetzeswerke und ein Geflecht von Instanzen so geregelt, dass Schaden weitgehend abgewendet werden kann. Freiheit in der Beziehung dagegen kennt keine Regeln und unterliegt der individuellen Auslegung. Da kann jeder ungestraft seinen Egoismus und Opportunismus ausleben. Durch die damit verbundene Willkür und Unverbindlichkeit liegt die Verletzungsgefahr in Liebesbeziehungen auf der Hand.
Wenn man vor Konsum und Vermarktung erschrickt, könnte man kulturpessimistisch Abstumpfung und Verflachung argwöhnen, die der postmodernen Beziehungskultur drohen. Dialektisch könnte man es allerdings auch positiv sehen: Vom Muff der traditionellen Schamhaftigkeit befreit, darf die Sexualität nunmehr ungeniert als beglückende Ressource gefeiert und in der Liebesbeziehung als körperlich-seelische Einheit erlebt werden. So gesehen ist sexuelle Attraktivität zu Recht ein Faktor, der zur Stärkung des Selbstwerts beitragen kann. Dabei wird eine Verschiebung des Fokus in Liebesbeziehungen deutlich. Traditionell lag ihnen eine kollektiv getragene Moral zugrunde, verkörpert durch Kirche und Staat. Die Aufklärung sorgte dafür, dass individuelle Bedürfnisse bei der Partnerwahl berücksichtigt wurden. Die Moderne förderte unter der Fahne der Befreiung eine Entkoppelung von Bindung und Sexualität, und die Postmoderne führte in gewissem Ausmaß zu einer Versachlichung von Beziehungen, indem der Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung auch für Sexualität und Liebesbeziehungen geltend gemacht wird. Eine neue Wende nehmen Liebesbeziehungen womöglich auch dadurch, dass die gesellschaftliche Vorherrschaft der Männer schrumpft und nicht nur die Rechte, sondern auch die Macht der Frauen in Wirtschaft und Politik zunehmen, wodurch eine gewisse Rollenkonfusion entsteht, wie noch erläutert wird (siehe Tabelle 2).
Tabelle 2: Wandel gesellschaftlicher Bestimmungsstücke von Beziehungen
Die postmoderne Beziehungskultur ist durch unbegrenzte persönliche Freiheit, eine von Scham und Prüderie befreite Sexualität, ungezwungenes Körperbewusstsein und unbefangenes Streben nach Glück durch Konsum charakterisiert. Die neue Natürlichkeit findet dann auch in fröhlicher Sexualisierung der Werbung Ausdruck ebenso wie in ungenierten Angeboten auf dem Beziehungsmarkt. Und das Ganze mit der Aussicht einer baldigen Vorherrschaft der Frauen mit Konsequenzen, die noch nicht abzusehen sind.
Heißt das, dass Treue nicht mehr zählt und Zeiten der Untreue angebrochen sind, in denen sich keiner den Spaß verderben lassen möchte? Wenn man die Bilder und den uneingeschränkten Zugang zur Erotik im Internet betrachtet und den sexuellen Exhibitionismus in den Medien, könnte man das glauben. Zugleich mit der Freiheit stiegen die Verunsicherung und der Wunsch nach Geborgenheit. Jedenfalls konstatiert der Sexualforscher Volkmar Sigusch, dass 95 Prozent des Geschlechtsverkehrs sich in festen Beziehungen abspielen. [12] Aber was ist eigentliche Untreue? Eine Vielzahl von Disloyalitäten. Ein langer Blick, ein intensives Gespräch, die Erwähnung einer Schwärmerei, ein Kuss, Geschlechtsverkehr, Masturbation beim Anschauen eines Pornos. Alles das kann das Gefühl der Disloyalität hervorrufen.
Bemerkenswert ist auch, dass die im Netz ausgestellten Schönheiten derart stilisierte Superkörper haben, dass sie schon wieder in die von Fukuyama diagnostizierte Kategorie der Unnatürlichkeit fallen. Die perfektionierte Verführungsgestik und Mimik, wie sie etwa die Sängerinnen Rihanna oder Nicki Minaj [13] in aufwendigen Videoclips demonstrieren, lassen sie wie Kunstfiguren von einem anderen Planeten erscheinen, die der sexuellen Realität des Alltags vollkommen entrückt sind. Ist es vielleicht nur eine geruchsfreie visuelle Untreue, die propagiert wird, die wie eine der vielen Kochsendungen nie nachgekocht wird? Dann handelt es sich vielleicht um eine Sublimierung der sexuellen Aktivität in harmlosen Voyeurismus.
Vielleicht ist die nächste Herausforderung der Emanzipation von Liebesbeziehungen nicht die unbeschwerte Nutzung von bindungslosen Beziehungsangeboten oder frei verfügbarem Sex, sondern die Überwindung des Dilemmas, sich scheinbar zwischen Eifersucht und Monotonie entscheiden zu müssen. Der gegenwärtige Trend, Monogamie hinter sich zu lassen und in polyamourösen Beziehungsstrukturen ohne Lüge in Geborgenheit und Loyalität zu leben, hat die Alltagstauglichkeit noch nicht massenhaft unter Beweis gestellt. Menschen, die diese Beziehungsform gewählt haben, beschreiben sie als lebendig und zugleich anstrengend; es erfordert sicher mehr Rücksicht und Austausch zwischen allen Betroffenen als in monogamen Beziehungen üblich. Doch ist der mit moralischem Makel behaftete Begriff der Untreue überholt. [14]
Frauen sind in westlichen und vielen asiatischen Ländern durch gesetzliche Regelung gleichberechtigt, auch in der Bildung, und nehmen das in einem für die männliche Hälfte der Welt allmählich irritierenden Ausmaß wahr. In den USA stieg in den letzten 40 Jahren der Anteil der (25- bis 34-jährigen) Frauen mit College-Abschluss um 22 Prozentpunkte auf 36 Prozent; bei den Männern stieg er nur um sechs Prozent auf deutlich geringere 28 Prozentpunkte. [15] Zurzeit werden 60 Prozent aller Bachelor-Zertifikate von Frauen erworben. Renommierte Privatuniversitäten in den USA, die früher gar keine Frauen aufnahmen, wie Johns Hopkins, George Washington und andere, führen Männerquoten ein, damit die männlichen Studenten in der Flut der Frauen nicht untergehen. In Australien und Großbritannien gibt es mittlerweile spezielle Fördermaßnahmen, um männlichen Studenten zu gleichem Ausbildungsstand zu verhelfen. In China wurde ein Programm zur getrennten Schulung von Jungen und Mädchen eingeführt, nachdem man feststellte, dass 80 Prozent der 50 Millionen Schul- und Studienversager männlich sind. [16]
60 % der Bachelor-Abschlüsse machen Frauen (USA)
36 % Frauen/28 % Männer machen einen College-Abschluss (USA)
10 Mio. Schulversager weiblich/40 Mio. männlich (China)
junge Ärzte 64 % weiblich (Spanien, Frankreich)
Apotheker 60 % weiblich (USA)
selbständige Unternehmen 40 % weiblich geführt (China)
Familieneinkommen 42 % von Frauen (USA)
Tabelle 3: Bildungsvorsprung der Frauen (nach Rosin 2012)
Immer mehr Berufe erfordern soziale Fertigkeiten, die Frauen seit der Steinzeit besitzen, wo sie ihre körperliche Unterlegenheit durch Vernetzung auszugleichen wussten. Dafür sind die Bereiche des weiblichen Gehirns, die für Empathie, Sprache und Kommunikation zuständig sind, besser ausgebaut als im männlichen Gehirn. [17] Frauen lernen schneller und sind bildungshungriger: In Indien lernen viele Frauen Englisch, um in den internationalen Callcenters zu arbeiten; nicht so die Männer. In Afrika, dem Kontinent, von dem noch vor ein paar Jahren viele glaubten, er müsse sein patriarchales Mittelalter von Mord und Korruption durchmachen und womöglich daran zugrunde gehen, fallen die männlichen Machtbastionen: Die Afrikanische Union wird von der Südafrikanerin Nkosazana Dlamini-Zuma geführt; in Liberia regiert Ellen Johnson Sirleaf; in Kenia sind 64 Prozent der Abgeordneten weiblich, und Außen- und Verteidigungsministerium werden von Frauen geleitet [18]. Frauen machen weltweit bessere Examen und sind in Wirtschaft, Medizin, Jura und Wissenschaft inzwischen sehr gefragt.
Wie Korea die Austragung der Olympischen Winterspiele 2018 gewann, wird in folgender Anekdote berichtet. Jahrelang wurden die steifen Herren aus Seoul in Anzügen und Krawatten mit mangelhaften Fremdsprachenkenntnissen vom Olympischen Komitee nicht ernst genommen. Erst als eine Frau, die flüssig Englisch, Französisch und Chinesisch sprach, an die Spitze der Delegation gestellt wurde, erhielt Korea den Zuschlag. [19] Zwar sind 2013 immer noch lediglich 17 der 195 Staatsoberhäupter der Welt Frauen, nur in vier Prozent der 500 reichsten Unternehmen ist der Chef weiblich, und nur 17 Prozent der Aufsichtsräte sind Frauen. [20] Daraus sollen in Deutschland einmal 30 Prozent werden, der Gesetzentwurf wurde gerade verabschiedet. Dennoch: 49 Prozent der Arbeitnehmer in den USA sind bereits Frauen, und einige Frauen sind mächtig wie in Deutschland Elke König, die Chefin der BaFin [21], die seit 2012 die Verwicklung der Deutschen Bank in unerlaubte Zinsabsprachen überprüft (die sog. Libor-Affäre) und die Macht hat, den gesamten Vorstand der Bank zu suspendieren. [22]
Frauen haben keinen Bonus – im Gegenteil: Sie erhalten in vielen Berufen nach wie vor geringere Gehälter als Männer, und die oberste Riege des Managements ist immer noch von Männern dominiert. Aber Frauen besetzen zunehmend die Posten in den Berufen der gehobenen Klasse und nehmen politischen und gesellschaftlichen Einfluss, wie Sheryl Sandberg, die Chefin von Facebook, der Mark Zuckerberg attestiert, dass sie in vier Jahren den Umsatz seiner Internetfirma verzehnfacht habe. In den USA hatten Frauen im Jahr 2011 bereits 51 Prozent der Positionen in gelernten Berufen und Management inne – 1980 waren es 26 Prozent. Am Beispiel der Apothekerinnen: 1960 gab es acht Prozent, heute 60 Prozent weibliche Apothekenbetreiber. In Frankreich sind 58 Prozent der jüngeren Ärzte (unter 35) Frauen, in Spanien sind es 64 Prozent. Ähnlich sieht es in anderen akademischen Berufen aus.
Zwar bekommen Frauen nicht in allen Berufen gleich viel Geld wie die Männer für ihre Arbeit, aber auch das ändert sich. In China werden 40 Prozent der selbständigen Unternehmen von Frauen geführt. In den USA tragen heute Frauen im Durchschnitt 42 Prozent zum Familieneinkommen bei; 1970 waren es nur fünf Prozent. 2008 hatten in den USA in der Arbeiterklasse Frauen im Median sogar ein höheres Einkommen als die Männer. Frauen in dieser Gesellschaftsschicht verzichten oft auf Ehemänner, weil sie nicht bereit sind, die arbeitslosen Väter ihrer Kinder durchzufüttern; sie bleiben lieber alleinerziehend, gehen putzen und schulen nebenbei um. [23] Es sind zwar immer noch nur einzelne Frauen, die in die männlich dominierten Spitzenpositionen vordringen, aber sie müssen dabei nicht einmal ihre Mutterrolle aufgeben, wie Anne-Marie Idrac, die Chefin der französischen Eisenbahn Gesellschaft SNCF mit vier Kindern, oder Anne Lauvergeon, die Vorstandsvorsitzende des französischen Nuklearkonzerns Areva mit zwei Kindern, oder die deutsche Ministerin Ursula von der Leyen mit sieben Kindern.
Für die Männer scheinen perspektivisch Berufe mit körperlichem Einsatz übrig zu bleiben, wo sie den Mund nicht aufmachen müssen, wie Dachdecker, Schweißer und Kraftfahrer. Obwohl auch sie zu allen anderen Berufen Zugang haben, nutzen sie offenbar ihre Bildungschancen nicht in dem Maße wie die Frauen. Sie werden eher entlassen, bleiben länger arbeitslos, schulen nicht um und gehen früher in Rente. Frauen lassen sich übrigens von körperlichen Tätigkeiten nicht zurückhalten. Eine Hamburger Automechanikerin äußerte sich in der Presse ärgerlich darüber, dass sie dauernd interviewt werde, weil sie in diesem traditionell männlichen Beruf als Frau Aufsehen errege.
Kein Mensch weiß so recht, warum die Männer nicht mitziehen, obwohl sie sich mit der Rolle des weniger Verdienenden oder des Hausmannes nicht zurechtfinden, die wohl für viele einer narzisstischen Kränkung gleichkommt. Eine Erklärung für den Strukturwandel in der Bildung ist die, dass die am Ende des 20. Jahrhunderts Studierenden (in der Altersklasse 25 bis 35) oft Mütter hatten, die wieder beruflich tätig geworden sind, nachdem sie geschieden waren oder die Kinder groß waren. Sie sind gute Modelle für ihre Töchter, aber nicht für die Söhne.
Die andere schon genannte These ist die, dass immer mehr Berufe weniger Körperkraft und mehr soziale Fertigkeiten erfordern, wofür das männliche Gehirn nicht so gut ausgestattet ist. Es ist für Frauen offenbar leichter, männliches Verhalten anzunehmen, als umgekehrt. [24]
Offenbar ist eine neue Form von Matriarchat im Kommen, wie nicht nur Feministinnen prognostizieren –, aber wohl anders als die matrifokalen Kulturen der Jungsteinzeit vor 10000 Jahren, von denen Anthropologen vermuten [25], dass die Hierarchie flach, soziale Unterdrückung gering und die Sexualität heilig gewesen sei; obwohl darüber nichts Genaues bekannt ist, weil keine schriftlichen Zeugnisse vorliegen. Bildzeugnisse in Mosaiken legen dies jedoch nahe. In den erhaltenen 119 Wandbildern der Ausgrabung von Çatal Hüyük, einer 10000 Einwohner zählenden Siedlung in Anatolien von vor 6000 Jahren, finden sich keine Darstellungen von Kampf oder Sklaverei oder Folter. [26] Ähnliche Sozialstrukturen werden von den minoischen Kretern, den gnostischen Christen in Ägypten, den frühen Kelten, indianischen Ureinwohnern Nordamerikas und den Balinesen angenommen. [27]
Es gibt zeitgenössische matrifokale Kulturen, etwa bei den Zapoteken in Mexiko, wo die Frauen die wirtschaftliche Macht haben. [28] Dort sind trotz Katholizismus Trennung, Eifersucht und Homosexualität keine große Themen. Die homosexuellen Männer, in der weiblichen Rolle als Transvestiten erkennbar, Mushes genannt, sind in der Öffentlichkeit beliebt und die Mütter sind stolz auf ihre homosexuellen Söhne. Allerdings wirken Männer in Juchitán, der Hauptstadt der Zapoteken, generell schmächtig im Gegensatz zu den beleibten und prächtig herausgeputzten Frauen. Sie sind unauffällig schwarz-weiß gekleidet, neigen zum Alkoholismus und werden gelegentlich von ihren Frauen verprügelt.
Die Zapoteken betreiben im Wesentlichen eine Subsistenzwirtschaft und verkaufen die Überschüsse auf dem Markt, der von den Frauen beherrscht wird. Möglicherweise ist es auch ein Charakteristikum der Frauenherrschaft, dass Juchitán vom Feiern zu leben scheint. Es gibt über 400 Straßenfeste pro Jahr, an denen jeweils das ganze Stadtviertel beteiligt ist. Die einen machen die Musik, die anderen die Dekoration, die Nächsten bedienen oder kochen. Tanzen sieht man nur die Frauen miteinander, die Männer bleiben im Hintergrund und betrinken sich. In dieser Kultur kann man eigentlich nicht von Gleichberechtigung sprechen, da die Frauen deutlich dominanter in Erscheinung treten.
Anders geht es bei den Mosuo in der kalten Bergregion an Chinas Hängen des Himalaya zu, wo Männer und Frauen selten heiraten und in großen mehrstöckigen Blockhäusern mit ihren Ursprungsfamilien zusammenleben. Die älteste Frau im Haus ist die Chefin. Die Frauen erhalten nach der Menarche ein Parterrezimmer und lassen abends einen Mann für die Nacht ein, der morgens wieder geht. Die Väter kennen oft ihre Kinder nicht, die in der Großfamilie der Mutter aufgezogen werden. Die Mosuo meinen, dass Partner einander niemals so nahe stehen wie mütterliche Blutsverwandte und deshalb die Kinder in der Mutterfamilie am besten aufgehoben sind. Auch bei den Mosuo wirken die Frauen stolz und selbstbestimmt. Sie reiten wie die Männer die kleinen Bergpferde, sind schön gekleidet, und die Arbeit teilen sich beide Geschlechter. Auch die Männer scheinen mit dem familiären Arrangement einverstanden zu sein. Frauen und Männer haben gleichermaßen die freie Auswahl des Partners für die nächste Nacht; es kommt dennoch gelegentlich zu langfristigen Beziehungen. Das maoistische Regime erzwang die Heirat, aber nach der Lockerung der Parteirichtlinie ließen sich fast alle Mosuo wieder scheiden und kehrten in ihre Ursprungsfamilien zurück. [29]
Beide traditionellen Gesellschaften funktionieren, und die Frauen machen einen zufriedenen Eindruck. Die zukünftigen Matriarchate der Industrienationen werden anders aussehen – schon allein dadurch, dass es nicht um Subsistenz, sondern um Produktion von Gütern und Vermehrung von Kapital geht, und das ist mit Konkurrenz verbunden. Die neuen Alpha-Frauen regieren mit einem »heart of steel« – übrigens besonders ausgeprägt in den ansonsten patriarchalen Kulturen Asiens wie Japan oder Korea – und laufen den Männern mit deren ureigenen Strategien den Rang ab. Allerdings haben postpatriarchale Frauen eine innere Hemmung zu überwinden, meint Sheryl Sandberg, um die eben oft auch unpopuläre Chefrolle anzunehmen, in der sie dann »bossy« genannt werden, was noch nie einem Mann vorgeworfen wurde. Die Facebook-Chefin ermutigt die Frauen, sich gegen ihre innere Blockade zu stemmen. In diesem Sinne kann man auch Beyoncés Song »Flawless« verstehen, indem sie mit sexuell deutlicher Gestik den Frauen die Bemächtigung der Ressourcen signalisiert und dabei darauf hinweist, dass den Mädchen eingetrichtert wird, dass sie nicht zu erfolgreich sein sollen, damit die Männer keine Angst bekommen, dass sie kompetitiv sein sollen – aber nicht um Jobs, sondern um die Aufmerksamkeit der Männer usw.; in einem Wort, dass sie nicht makellose Frauen zu sein anstreben sollen. Das könnte auch wieder eine kommerzielle Ausbeutung eines Emanzipationstrends sein. Eindeutiger ist da schon der weibliche Protest im Song der Sängerin Pink, die »Dear Mr. President (Bush)« fragt, wie gut er denn schlafen kann oder wie es ihm geht, wenn er in den Spiegel schaut.
Da erfolgreiche Frauen gelernt haben, nice girls don’t get corner offices, die begehrten Büros mit zwei Fensterfronten, haben sie sich die bisher als männlich geltenden Formen der Durchsetzung zugelegt. Entsprechend treten sie auch sexuell fordernd auf und haben keine Hemmung, sich zu nehmen, wonach ihnen ist, anstatt zu warten, bis sie dazu eingeladen werden. Dadurch wird die im letzten Jahrzehnt beliebt gewordene, mehr oder weniger anonyme Aufreißer-Kultur (hook-up) oder der »spring break« in der angloamerikanischen College-Szene von Frauen nicht als degradierend empfunden. [30]