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Ein Abgrund dunkler Verbrechen am sonnigen Mittelmeer. Der ehemalige Ermittler Manuel Rivera führt ein unbeschwertes Leben an der Küste von Altea. Warme Nächte am Strand, teure Weine und die Sorgen der Liebe sind seine vornehmlichen Beschäftigungen. Bis er eines Abends ein verletztes Mädchen vor seiner Tür findet: Elena. Durch sie lernt er, dass er nicht nur seine Vergangenheit bei der spanischen Polizei, sondern auch eine Aufgabe im Leben vermisst. Als Manuel sich entscheidet, dem Mädchen zu helfen, werden Elena und er Teil eines gefährlichen Geheimnisses, das bis weit in die Zirkel der Mächtigen reicht.
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Seitenzahl: 383
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Thomas Lojek schreibt Krimis inmitten seiner spanischen Großfamilie. Sie erzählen die großen und kleinen Schicksale der mediterranen Welt. Südeuropäische Lebensfreude spricht aus ihnen ebenso wie ein ehrlicher Blick auf die Abgründe dieser Region. Für seine Krimis arbeitet Thomas Lojek mit Spezialeinheiten der Polizei zusammen.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Richard Bradley/Alamy
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Dr. Marion Heister
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-784-2
Ein Mittelmeerkrimi
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.
Für Belén
Dein Lächeln bedeutet mir die Welt.
Te amo.
Hier am Mittelmeer sterben wir an der Liebe, einen süßen, anstrengenden Tod, den man Leben nennt. Das Blau zwischen Himmel und Meer erinnert uns daran, wie schwer es ist, zu lieben. Denn dazu muss man leben. Auch wenn es wehtut.
Bevor sich alles für mich veränderte, schaute ich noch sorglos hinaus in dieses Blau. Mit meinen Freunden im Dorf trank ich Wein. Ging hinein in die Wärme des Abends und zurück zu meinem Haus am Strand. Dann sah ich sie.
Das Mädchen lag im Eingang meines Sommerhauses. Sie bewegte sich nicht. Ich lief zu ihr, drehte sie um. Blut blieb auf meinem Hemd zurück. Sie drückte sich an mich. Ihre Augen waren geschwollen, das Gesicht blutig. Sie flüsterte etwas. Ich verstand es nicht.
»Ruhig, meine Kleine«, sagte ich. »Hier passiert dir nichts.«
Ich hob sie auf und trug sie in mein Haus. Dort legte ich sie auf die Couch im Wohnzimmer. Sie hielt sich an mir fest. So sehr, dass ich sie von mir losmachen musste.
Ich lief in die Küche, nahm ein Handtuch und kehrte zu ihr zurück, setzte mich an ihre Seite. Sie schaute mich an. Ich wischte ihr mit dem Handtuch das Blut vom Gesicht.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
Ihr Blick wich mir aus.
Ich tupfte ihr Blut von der Nase.
»Scheiße, lass das. Das tut weh!«
»Gebrochen ist nichts«, sagte ich und gab ihr das Handtuch. »Drück das jetzt für eine Weile auf die Wunde an deiner Lippe.«
Sie nahm das Handtuch und presste es gegen ihren Mund.
»Wen soll ich anrufen?«, fragte ich.
Keine Antwort.
»Wenn du mir nichts sagen willst, muss ich die Polizei anrufen!«
Sie griff meinen Arm. »Bitte nicht …«
»Hast du etwas angestellt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Hast du Ärger?«
Sie machte eine Bewegung. Ich verstand.
Zurück in der Küche kramte ich im Medizinschrank, fand Medikamente, Pflaster und Jodsalbe. Ich warf eine Tablette Paracetamol in ein Glas Wasser. Dann nahm ich alles an mich und ging zurück ins Wohnzimmer.
»Hier, trink das.« Ich hielt ihr das Glas mit Paracetamol hin.
Sie trank und verzog das Gesicht.
»Warum willst du nicht, dass ich jemanden anrufe?«, fragte ich.
»Bitte nicht. Morgen.«
Ich schaute sie an. Unschlüssig, was ich tun sollte.
»Wie alt bist du?«, fragte ich.
»Zwanzig!«
»Du lügst doch!«
»Okay, achtzehn!«
»Hör auf, mich zu verarschen!«
»Schon gut, schon gut. Ich bin siebzehn. Ehrlich. Im Oktober werde ich achtzehn.«
Das Mädchen war außergewöhnlich hübsch. Die langen schwarzen Haare lagen ihr über den Schultern. Ihre braunen Augen hatten einen rebellischen Ausdruck.
»Zumindest deinen Vornamen könntest du mir sagen. Wie soll ich dich sonst ansprechen?«
»Elena.«
»Elena … und wie weiter?«
»Morgen, bitte? Mir tut alles weh, wenn ich spreche. Bitte … nur etwas ausruhen. Morgen, dann erzähle ich Ihnen alles.«
Ich hielt ihr eine Schachtel hin.
»Valium. Dann merkst du die Schmerzen nicht so sehr, und du kannst etwas schlafen.«
Elena zögerte.
»Keine Angst. Ich tue dir nichts. Schlafende Minderjährige mit blutigen Lippen sind nicht mein Typ.«
»Ja, ich weiß …«
»Ach, ja? Woher?«
»Ich kenne Sie. Sie sind Manuel Rivera.«
»Und woher weißt du das?«
»Autsch, das tut weh, verdammt!« Sie tastete nach der Wunde an ihrer Lippe.
Ich legte die Schachtel Valium auf den Schrank. »Hier, falls du es dir anders überlegst! Und jetzt beiß die Zähne zusammen, das wird wehtun!«
Ich tupfte Jodsalbe auf ihre Wunden. Sie fluchte. Das ging eine Weile so, bis ich mich zurücklehnte. Ich betrachtete mein Werk. Ihr Gesicht war nun sauber, und die Wunden waren behandelt. Ihr Blick ruhte auf mir. Sie hatte keine Angst.
»Du ruhst dich jetzt aus«, sagte ich. »Versuche zu schlafen.«
»Okay, danke.«
»Ich bleibe hier, dort im Sessel neben dir«, sagte ich. »Du kannst beruhigt schlafen. Dir passiert hier nichts.«
Sie nickte.
Ich nahm das blutige Handtuch und ging in die Küche. Dort ließ ich es in der Spüle zurück und schaute für einen Moment durch das Fenster. Die Nacht lag über dem Mittelmeer. Die Palmen in meinem Vorgarten wiegten sich im Wind.
Ich öffnete eine Schublade und nahm eine Pistole heraus.
Meine Glock 17. Ich war seit Jahren nicht mehr im Dienst. Ich wusste nicht, was dem Mädchen passiert war. Aber falls jemand nach ihr suchte, um die Sache zu Ende zu bringen, war ich lieber vorbereitet. Ich ließ die Pistole im Hosenbund und unter meinem Hemd verschwinden.
Ich ging zur Hintertür, schloss sie ab und stellte einen Blumentopf auf den Boden, direkt vor die Tür. Sollte jemand versuchen, auf diese Weise ins Haus zu kommen, würde der Topf Lärm machen.
Ich ging zur Vordertür und schloss sie ebenfalls ab, legte den Riegel vor.
Im Wohnzimmer lag Elena auf der Couch und schnarchte leise. Die Schachtel mit Valium lag neben ihr. Ich überprüfte den Inhalt. Zwei Tabletten fehlten. Das war okay. Die Dosierung der Tabletten war gering, und das Mädchen konnte den Schlaf gebrauchen.
Ich setzte mich in einen Sessel. Von hier aus konnte ich die Haustür sehen und die Hintertür schnell erreichen. Ich spürte den Druck der Pistole in meinem Gürtel. Ein vertrautes Gefühl. Wie damals. Nach einiger Zeit schlief ich ein.
Der Blumentopf! Jemand versuchte ins Haus zu kommen. Ich erwachte, sprang auf. Es war Morgen.
Mit der Pistole in der Hand lief ich zur Hintertür. Meine Mutter und meine Schwester Ángela standen dort, starrten mich an.
»Sag mal, bist du verrückt geworden?«, fuhr meine Schwester mich an. »Du kannst doch nicht mit einer Waffe durchs Haus rennen!«
Ángela und meine Mutter tauchten ständig unangekündigt in meinem Strandhaus auf. So wie heute. Ángela war ein paar Jahre älter als ich und ließ mich das gerne wissen.
»Es hätte wer weiß was passieren können.« Ihr Blick war wütend.
»Es tut mir leid. Es hat Einbrüche gegeben. Erst gestern, ein paar Häuser weiter«, sagte ich.
Das stimmte nicht. Doch ich hoffte, dass ich so aus der Sache herauskam, ohne weitere Fragen. Bis mir einfiel, dass ein junges Mädchen auf meinem Sofa lag.
Ich lief ins Wohnzimmer. Das Sofa war leer. Elena war weg. Sie hatte mir einen Zettel zurückgelassen. »Sofía Morell Gómez – Un besito, Elena«.
Ich nahm den Zettel an mich. Ángela und Mama brauchten nichts davon zu wissen. Die Sache mit der Pistole war schon Aufregung genug.
»Und das? Was ist das, Manuel?« Ángela hatte das blutige Handtuch in der Spüle gefunden.
»Ach, ja … Ein Jogger ist gestern gestürzt. Draußen auf dem Weg zum Dorf. Ich habe ihm geholfen. Seine Wunden versorgt.«
Ángela musterte mich. Sie glaubte mir kein Wort.
Mutter griff sich das Handtuch. »Das gehört in die Wäsche!«
»Warum seid ihr eigentlich zur Hintertür rein?«, fragte ich.
»Deswegen!« Ángela stieß den Riegel der Vordertür etwas zu laut auf.
Dann war Elena vielleicht noch hier? Beide Türen waren verschlossen gewesen.
Ich lief die Treppe hinauf, um in meinem Schlafzimmer nachzusehen. Leer. Gästezimmer. Niemand. Ich ging nach unten ins Bad. Dort stand das Fenster offen. Das Mädchen wusste sich zu helfen, das musste ich ihr lassen.
Vorne an der Haustür hörte ich Rufe und Gelächter. Paco und Enzo. Meine Freunde aus dem Dorf. Sie kamen oft vorbei, einfach so.
Paco war Mitte sechzig, Witwer und verbrachte die meiste Zeit mit Fischen. Er war sein Leben lang Polizist gewesen und genoss nun seinen Ruhestand.
Enzo war halb so alt wie Paco, dennoch waren die beiden unzertrennlich. Enzo war ein charmanter Taugenichts, der mal hier, mal dort arbeitete. Wenn Paco zum Fischen ging, war er meistens dabei.
»Manuel! Wie siehst du denn aus?«, rief Paco, kniff mir in die Wange. »Du hast wohl nicht gut geschlafen, oder?«
»Zu viel Wein gestern, was?«, rief Enzo.
»Siehst du, Mama?«, hörte ich Ángela aus der Küche. »Er hat getrunken. Ich habe es dir doch gesagt!«
Paco trug einen Korb mit Doradas und Calamares.
»Los, ab in die Pfanne damit!«, rief er.
»Das hier habe ich nur für dich gefangen!«, sagte Enzo zu meiner Schwester und hielt ihr eine Dorada hin. »Wann verlässt du endlich deinen Mann für mich?«
»Deine Alba wird mich umbringen, mein Lieber!«, sagte sie.
Enzo war verheiratet und hatte zwei Kinder. Trotzdem lebte er sein Leben weiter in jugendlicher Unbeschwertheit. Ganz zum Missfallen seiner Frau Alba, die ihn ständig vor die Tür setzte, nur um ihn zwei Stunden später wieder aufzunehmen.
»Sag mal, hast du etwa in deiner Kleidung geschlafen?«, fragte mich meine Mutter. »Du riechst ja fürchterlich!«
»Du warst also betrunken?« Ángela stand in der Küchentür.
»Natürlich war er betrunken. Wir alle waren es!«, rief Enzo. »Wo ist die Pfanne? Ich will Calamares in Olivenöl sehen!«
»Hallo, Manuel«, hörte ich hinter mir.
Vanessa, meine Nachbarin, stand in der Haustür. Wir hatten eine Affäre. Oder eine Art Beziehung. Oder irgendetwas dazwischen. Ich wusste es nicht.
»Hast du dich im Haus geirrt?«, rief Enzo aus der Küche. »Du gehörst zu mir, Vanessa. Das weißt du doch.«
»Pass mal auf, dass dich deine Alba nicht so hört. Ich wette, dann bist du auf einmal ganz kleinlaut«, sagte Ángela.
»Natürlich. Darum bin ich doch immer hier!«
»Aber mir Versprechungen machen, was, Enzo?«, knurrte Vanessa. Sie hatte Humor. Das mochte ich.
Sie übernachtete regelmäßig bei mir. Dennoch war es nie mehr als das. Wir sprachen nie darüber.
Sie schlang ihre Arme um mich und gab mir einen Kuss. In der Küche wechselten Blicke zwischen Mama und Ángela.
»Ich bin über Nacht in Castellón. Bei meinem Bruder. Ich wollte dir nur Bescheid sagen.«
»Bleibst du nicht zum Frühstück, Vanessa?«, rief Paco aus der Küche. »Wir haben frischen Calamar!«
»Nein danke, Paco. Ich muss weiter«, sagte Vanessa. »Wollte nur eben Hallo sagen!«
»Ich bitte dich … Frischer Calamar!«, beharrte Paco.
»Nein wirklich. Es geht nicht. Termine!«
»Diese Jugend!«, beschwerte sich Paco. Und er sagte zu Mama: »Wir waren damals ganz anders, oder?«
»Ich ganz sicher nicht«, sagte sie. »Fünf Kinder. Ein Haus. Ein Mann, der nur seine Arbeit kannte. Ich musste mich immer um alles allein kümmern. Ihr Männer macht ja doch nichts!«
»Ja, ja, schon gut«, murmelte Paco. Er konzentrierte sich lieber wieder darauf, einen Calamar zu säubern.
»Du solltest vielleicht duschen?«, sagte Vanessa zu mir.
»Ja, das sollte er! Und zwar sofort!« Mama schlug mit einem Geschirrtuch nach mir und drängte mich damit in Richtung Bad.
»Wir sprechen …?«, rief Vanessa.
Sie warf mir einen Kuss zu. Ich nickte, wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Sie ging, winkte allen noch einmal zu, verließ das Haus.
»Los, Mama, sag ihm, dass er sich endlich duschen soll!«, keifte Ángela aus der Küche.
»Beeil dich, Manuel!«, schimpfte Enzo. »Das Essen ist fast fertig. Wir warten nicht auf dich!«
»Ach, lasst mich doch alle in Ruhe, ihr Nervensägen!«, rief ich. »Wenn ich aus dem Bad komme, will ich euch hier nicht mehr sehen!«
Natürlich war das ein Bluff. Und natürlich würden sie danach immer noch hier sein. Das Frühstück würde draußen auf der Terrasse im Garten stehen. Wir würden essen, streiten, trinken. Und natürlich würde ich sie ertragen. So wie sie mich ertrugen.
Ich drehte die Dusche auf, versuchte die Gedanken an Elena unter den Strahlen des warmen Wassers zu vergessen. Während es aus der Küche nach Tortilla, Calamar, frischem Brot und Kaffee roch.
Ich saß auf der Terrasse hinter meinem Haus im Sonnenschein.
Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks. Gemeinsam hatten Paco und Ángela die Calamares zubereitet. Mit Knoblauch, Petersilie und einem Hauch Zitrone. Meine Mutter hatte eine riesige Tortilla de Patatas aufgetragen. Der Duft lag noch in der Luft. Es gab frisches Brot aus dem Dorf. Dazu Jamón Ibérico, Queso Manchego, Altramuces, gesalzene Mandeln und Oliven. Wir hatten gegessen, geredet, getrunken. Ich hatte zwei Flaschen Marqués de Riscal Reserva spendiert. Viel war von dem Wein nicht übrig geblieben.
Ich hing meinen Gedanken nach. Ángela war irgendwo mit meiner Mutter im Haus verschwunden. Enzo kümmerte sich um den Garten. Das machte er regelmäßig. Ich legte ihm dafür ein paar Scheine in ein Glas neben der Mikrowelle, und er nahm sie an sich, wenn er ging. Auf diese Weise musste ich ihn nicht damit beschämen, dass ich ihm Geld gab. Und seine Familie konnte es gebrauchen.
Paco trat hinaus auf die Terrasse, stellte mir ein Glas Mistela con Anís hin, einen süßen Weißwein, gemischt mit Anisschnaps.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er. »Du wirkst, als würde dich etwas beschäftigen.«
Ich erzählte Paco von Elena.
»Du solltest vorsichtiger sein«, sagte er. »Du hast immer noch viele Feinde. Von damals!«
Da hatte er nicht ganz unrecht.
»Ein minderjähriges Mädchen in deinem Haus«, meinte er. »Du wärst nicht der erste Mann, dem man damit eine Falle stellt.«
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich war unvorsichtig gewesen.
»Was hältst du davon?«, fragte ich Paco und holte den Zettel hervor, den Elena mir zurückgelassen hatte.
»Sagt mir nichts«, antwortete er nach einem Blick auf den Namen.
Aus unserem Dorf war das Mädchen also nicht. Paco kannte hier alles und jeden.
Mein Sommerhaus lag in El Palonet, etwas südlich von Altea. Ein Dorf ohne Bedeutung. Tourismus gab es hier kaum. Der Hafen war klein, und in der Bucht standen nur einige Ferienhäuser von wohlhabenden Familien aus Valencia, die Ruhe suchten.
»Vielleicht finden wir etwas«, sagte ich und tippte auf meinem Handy in Google den Namen ein.
Die ersten Suchergebnisse erschienen.
Ich klickte auf einen der Links und überflog die Seite.
»Hm«, machte ich.
»Was ist?«, fragte Paco.
Ich reichte ihm das Handy.
Er setzte seine Brille auf und las vor: »Der Körper eines toten Mädchens wurde in der Nacht zum Donnerstag am Strand von Baixa gefunden. Ein Nachbar fand den reglosen Körper zwischen vier und fünf Uhr morgens und benachrichtigte die Polizei. Die lokalen Ermittler bestätigten den Namen der Toten: Sofía Morell Gómez, siebzehn. Die Polizei erklärte der Presse, dass es sich um Selbstmord handele. Nach ersten Erkenntnissen hatte Sofía eine Überdosis Schlaftabletten genommen und war danach aufs Meer hinausgeschwommen, um zu sterben. Nur wenige Stunden später wurde sie von der Strömung an den Strand von Baixa getragen. Die Polizei schließt ein Verbrechen aus. Es gab keine Hinweise auf Fremdeinwirkung. Wir trauern mit der Familie und drücken unser aufrichtiges Beileid aus.«
Paco schaute mich an. »Hm … Das Datum … Das war vor etwa drei Wochen. Warum lässt dir diese Elena den Namen eines toten Mädchens aus Baixa zurück?«
Baixa war nur zwei, drei Kilometer von El Palonet entfernt. Ein verschlafenes kleines Städtchen. Die Gegend bestand aus Orangenplantagen, Feldern mit Olivenbäumen, staubigen Wegen, Fincas und Campos. Der Ort selbst hatte einen schönen alten Stadtkern, aber es gab dort nichts von Bedeutung. Der Hafen war klein, der Strand kaum mehr als ein Sandstreifen.
Baixa war das alte Spanien. Staubig, still und beherrscht von einigen Familien mit Geld, Einfluss und Ländereien.
Paco legte das Handy vor mir auf den Tisch. Ich blickte auf das Bild von Sofía unter dem Artikel. Sie wirkte nett, war hübsch. Aber etwas unscheinbar. Kein Vergleich zu Elena, die diesen rebellischen Funken von zu viel Leben in sich trug.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Paco. »Und mir gefällt auch dein Gesichtsausdruck nicht.«
»Welcher Gesichtsausdruck?«
»Du machst dir Gedanken dazu. Mir machst du nichts vor.«
»Du irrst dich. Das Letzte, was ich im Moment gebrauchen kann, ist Ärger mit irgendwelchen Teenagerdramen. Nein danke!«
Er glaubte mir kein Wort. Ich sah es ihm an. Und tatsächlich fühlte ich eine seltsame Unruhe in mir.
»Was wirst du tun?«, fragte Paco.
»Das hier trinken«, sagte ich und kippte den Mistela in einem Schluck hinunter.
Ich fuhr durch Baixa. Die Sonne stand in den Gassen. Blau der Himmel. Aus einer Bar drang der Duft von Olivenöl. Es roch nach Brot aus der Pfanne, Tomaten, Sepia und Wein.
Zwei Männer saßen an einem Tisch vor der Bar.
»Gibt es hier so etwas wie einen Park?«, rief ich.
»Nach rechts. Immer geradeaus. Über den Marktplatz. Dann wieder nach rechts. Da ist der Park.«
»Danke«, sagte ich und fuhr weiter.
Ich folgte der Beschreibung und erreichte den Park. Ich ließ meinen Wagen stehen, betrat das Gelände und schaute mich um. Meine Überlegung war einfach. In einem Ort wie Baixa gab es für Jugendliche nur zwei Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben: Park oder Strand. Also fing ich hier an, im Park.
An einer Bank hatten sich ein paar Jungs versammelt. Sie hörten Musik. Es roch nach Marihuana.
Ich ging hinüber zu ihnen.
»Kennt jemand von euch eine Elena?«
Kopfschütteln. »Nein!«
Ich ging weiter, zur nächsten Bank. Die gleiche Reaktion. Wahrscheinlich logen sie, aber was sollte ich machen? Ich war kein Offizieller. Und selbst dann würden sie mir nicht die Wahrheit sagen. Eher im Gegenteil.
Ich überlegte. Elena hatte Ärger. Öffentlichkeit würde das Mädchen meiden. Wenn sie hier war, dann nicht in den Gruppen von Jugendlichen, die hier überall herumstanden. Ich musste umdenken. Der Park war zu groß, ich brauchte einen Überblick.
Am anderen Ende des Parks sah ich ein Gebäude. Ich ging hinüber, um mich von dort aus weiter umzusehen.
Neben dem Gebäude entdeckte ich eine Treppe, die hinab zur Straße führte. Dort saß Elena. Ein Mädchen hatte sich an sie gelehnt und weinte.
»Elena«, sagte ich.
Die beiden sprangen auf.
Auf Elenas Gesicht sah ich noch deutlich die Wunden der letzten Nacht. Das zweite Mädchen war hübsch, zierlich, hatte langes brünettes Haar und strahlend blaue Augen. Sie schien etwas älter zu sein. Auch sie hatte jemand verprügelt. Unter ihrem rechten Auge war ein frischer Bluterguss, die Wange geschwollen und die Lippe blutig.
»Manuel …?«, sagte Elena.
»Sind wir schon beim Du?«
Sie antwortete nicht.
»Das ist Julia«, sagte sie dann.
Ich reichte dem Mädchen ein Taschentuch. Sie nahm es und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Wer hat das getan?«
»Derselbe Scheißkerl, der mich auch verprügelt hat«, antwortete Elena. »Jorge Morell, ihr Freund.«
»Jorge und sein Bruder Juan haben nach Elena gesucht«, sagte Julia. »Ich habe ihnen gesagt, dass ich nicht weiß, wo sie ist. Da ist Jorge ausgerastet. Hat mich geschlagen. Dann ist er abgehauen, Elena suchen.«
»Und du?«
»Bin von zu Hause raus. Einfach weg. Hatte Angst, dass er zurückkommt.«
»Sie hat mich angerufen. Und ich bin hierher«, sagte Elena.
»Was soll ich denn jetzt tun?« Julia wischte sich erneut die Tränen vom Gesicht.
»Kannst du nicht nach Sevilla? Zu deiner Schwester?«, fragte Elena. »Nur für ein paar Tage, wenn es sein muss.«
»Ja, aber ich kann doch nicht einfach so hier weg.«
»Elena«, sagte ich. »Würdest du mir jetzt bitte erklären, was das alles zu bedeuten hat? Warum suchen dich diese Jungs?«
»Da ist alles meine Schuld«, sagte Elena und streichelte Julia. »Ich hab angefangen, mich im Dorf umzuhören. Das wollten sie nicht.«
»Etwa wegen Sofía?« Ich holte den Zettel aus meiner Tasche.
Sie nickte. »Juan und Jorge sind Sofías Brüder. Sie und ein Cousin haben mir gestern Abend aufgelauert. Sie wollten mir eine Abreibung verpassen.«
»Abreibung? Für was?«
»Ich solle mich nicht in ihre Familienangelegenheiten einmischen, haben sie gesagt. Ich würde den Namen ihrer Familie beschmutzen. Und die Ehre ihrer toten Schwester. Die sind doch total durchgeknallt.«
»Was hast du für Fragen gestellt?«
»Na, wegen Sofía. Weil das, was die Leute hier sagen, nicht stimmt!«
»Was stimmt nicht?«
»Dass sie Selbstmord begangen hat. Man hat sie umgebracht.«
Ein Wagen bremste, unten auf der Straße. Es war ein BMW, schon etwas älter, aber gut gepflegt. Julia machte einen Laut, wich zurück. Ein junger Kerl stieg aus. Kräftig, breitbeinig, kurze Haare und wütende Augen. Anfang zwanzig, schätzte ich.
»Julia, du verdammte Schlampe!«, schrie er. »Komm sofort hierher!«
Und tatsächlich machte Julia einen Schritt vorwärts, den ich ganz schnell ausbremste.
Ich stellte mich vor das Mädchen.
»Jorge …«, flüsterte sie.
Der junge Mann kam zu uns.
»Wer bist du denn, Opa?«, sagte er.
»Setz dich mal besser in deinen Wagen und hau ab«, sagte ich zu ihm.
Er stutzte einen Moment, war wohl nicht gewohnt, dass ihm jemand so antwortete. Dann übernahm die Wut. Er schnellte vor, packte mich am Hals. Ein grober Angriff. Das machte es mir leicht. Ich hebelte seinen Arm. Die Unterseite meiner rechten Faust schlug in sein Gesicht, brach ihm die Nase. Mein linkes Bein zog ihm die Füße weg. Er knallte auf die Treppe.
Dann war ich über dem Jungen. Ich bog sein Armgelenk zurück. Mit meiner anderen Hand presste ich seinen Kehlkopf zusammen, und er röchelte.
Ich flüsterte in sein Ohr: »Wenn du dich noch einmal in die Nähe der beiden Mädchen wagst, dann finde ich dich. Und ich bringe dich um.«
Ich schlug ihm gegen den Kehlkopf. Das würde ihn über einige Minuten beschäftigt halten. Vor allem die Schwierigkeit, zu atmen.
»Los, zum Auto!«, fuhr ich die Mädchen an.
Sie zuckten zusammen und folgten mir ohne ein Wort. Ich führte sie zu meinem Wagen. Sie setzten sich auf die Rückbank. Sie sagten nichts. Ich fuhr los.
Zu Hause angekommen richtete ich Julia das Bad im Obergeschoss her. Sie wirkte erschöpft. Eine Dusche würde helfen.
Ich reichte ihr eines meiner T-Shirts und eine Jogginghose.
»Wahrscheinlich zu groß, aber für den Moment sollte es reichen. Wenigstens riecht es gut und ist frisch gewaschen«, sagte ich.
»Danke.«
Ich goss ihr ein Glas Wasser ein und gab ihr ein Paracetamol gegen die Schmerzen. Während sie trank, schaute sie mich an.
»Sie sind sehr nett!«, sagte sie.
Ich hob die Schultern und öffnete die Dusche. »Hier, warmes Wasser, Duschgel, und da drüben sind Handtücher. Danach ruh dich etwas aus.«
Sie wirkte unschlüssig.
»Keine Sorge. Ich bin unten. Mit Elena. Du kannst beruhigt duschen. Niemand ist hier. Und es schaut auch keiner zu.«
Sie lächelte.
Ich verließ das Bad und schloss die Tür hinter mir.
Ich ging hinab in die Küche. Mama und Ángela hatten mir Arroz al Horno dagelassen, gebackenen Reis mit Gemüse, Fleisch und Gewürzen. Wir hatten mehr als genug für drei.
Ich stellte den Reis in den Ofen und bereitete einen Salat zu: Eisberg, Blattsalat, Rucola und Tomaten. Dazu Ziegenkäse und einige Oliven. Etwas Salz und reichlich Olivenöl.
Ich griff nach einer Flasche Rotwein. El Miracle, ein einfacher Wein aus der Region von Valencia, der zu jedem Anlass passte. Für heute Abend war das ausreichend.
Dann schaute ich in den Kühlschrank und bemerkte, dass ein Bier fehlte. Ich holte den Arroz al Horno aus dem Ofen und trug ihn hinaus auf die Terrasse.
Dort saß Elena, das fehlende Bier in der Hand, und schaute hinaus auf das Meer.
»Hast du heute schon etwas gegessen?«
»Nein.«
»Hier … Arroz al Horno. Hat meine Mutter gemacht. Etwas Besseres wirst du kaum finden!«
Ich stellte die Schüssel vor sie auf den Tisch. Es duftete nach Gewürzen.
Ich hielt Elena die Flasche Wein hin. Sie schüttelte den Kopf und hob das Bier in ihrer Hand.
Ich nickte. Und reichte ihr das Brot.
Dann ging ich wieder hinein und holte den Salat, etwas Käse, Jamón Ibérico und Oliven. Damit setzte mich zu Elena an den Tisch.
»Wissen deine Eltern, wo du bist?«
Sie zuckte mit den Schultern. Ihre Augen wirkten müde.
»Ich weiß nicht, wo sie sind. In der Krise hat mein Vater alles verloren. Sich mit Hypotheken übernommen und so Zeugs. Eines Morgens waren sie einfach weg.«
»Und deine Familie? Gibt es irgendjemanden?«
»Nur eine Tante. Manchmal schlafe ich bei ihr. Aber sie hat einen kranken Sohn, ich kann da nicht bleiben. Eigentlich bin ich im Heim Nuestra Virgen drüben in Tossador.«
»Wir müssen da anrufen.«
Sie lachte. Es klang bitter, viel zu erwachsen für ihr Alter.
»Im Heim interessiert sich niemand für mich. Ob ich da bin oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle. Ich kann kommen und gehen, wie es mir gefällt.«
»Einfach so?«
»Du weißt doch selbst, wie das läuft. Du bist doch Polizist?«
»Nicht mehr.«
»Na egal. Im Heim interessiert es niemanden, wo wir uns herumtreiben. Sind wir weg – umso besser. Weniger Arbeit.«
»Tja, ich hatte gehofft, das hätte sich etwas gebessert.«
»Nein. Niemand fragt danach. Jedenfalls nicht, solange wir nicht von der Polizei zurückgebracht werden.«
»Hm …«
»Manchmal bleibe ich tagelang weg, und die merken das nicht einmal. Die meiste Zeit bin ich draußen.«
»Wo draußen?«
»Unterwegs. Mit Freunden. Irgendwas machen. Nur nicht im Heim abhängen. Sobald ich achtzehn bin, sehen die mich da nie wieder.«
»Und warum bist du ausgerechnet zu mir gekommen? Du kennst mich doch gar nicht.«
»Doch, natürlich kenne ich dich. Du bist doch überall im Internet. Du bist der Typ, der die Altea Hills Connection hat auffliegen lassen.«
»Ja, und?«
»Hier kennt dich jeder!«
»Trotzdem legen sich verprügelte Mädchen normalerweise nicht in meinen Hauseingang. Was sollte das?«
»Ich war schon vorher hier.«
»Was?«
»Ich war schon ein paarmal hier!«
»Warum?«
»Hab dich gesucht. Einmal warst du nicht da. Und die anderen Male hattest du Besuch. Deine Nachbarin sieht nett aus. Wie ist sie denn so?«
»Das geht dich nichts an. Komm auf den Punkt. Zuerst verprügelt man dich, und dann du kommst einfach hierher zu mir. Warum?«
Sie stocherte im Essen herum.
»Sofía?«
»Sie hat sich nicht umgebracht!«, sagte sie und starrte weiter in ihr Essen, um mich nicht ansehen zu müssen.
Ich sagte nichts, ließ ihr etwas Zeit. Ich wollte nicht in den Schmerz hinein fragen, den ich ihr jetzt ansah.
Sie begann zu essen. Trotzig. Stolz. Elena konnte Schmerz fühlen, aber musste ihm nicht nachgeben. Das imponierte mir.
Es ging eine Weile so, bis sie sich gefasst hatte.
Dann hob sie ihr Kinn und schaute mich an.
Tränen lagen auf ihren Wangen.
»Jemand hat meine beste Freundin umgebracht. Und ich werde ihn finden.«
»Wirst du?«
»Ja, und darum war ich bei dir.«
»Du musst damit zur Polizei gehen. Ich bin seit Jahren nicht mehr im Dienst.«
»Zur Polizei? Ist das dein Ernst? Die hängen doch alle mit drin. Vergiss es. Und außerdem du bist der beste Ermittler, den Spanien hat!«, sagte sie.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Es steht überall im Internet. Wirst du mir nun helfen oder nicht?« Elena funkelte mich an. »Ansonsten sparen wir uns das hier doch besser, oder? Und ich gehe gleich wieder. Einfacher für uns beide!«
Ich lehnte mich zurück und betrachtete sie.
So hübsch sie auch war, so sehr lag ein Ausdruck von Schmerz und Verlorenheit in ihren Gesichtszügen.
»Sie war meine Freundin, verdammt«, sagte sie.
Ich griff nach meinem Glas Wein und nahm einen tiefen Schluck. Und dann noch einen.
»Wie kommst du darauf, dass es kein Selbstmord war?«, fragte ich.
»Weil es keinen Sinn macht. Sie war glücklich. Sie hatte Pläne. Sie wollte hier raus.«
»Wo raus?«
»Na, raus aus diesem Kaff. Weg von ihrer Familie. Weg von ihren bescheuerten Brüdern. Du hast doch selbst gesehen, wie sie sind.«
Ich nickte.
»Sie wollte etwas aus ihrem Leben machen«, sagte Elena.
»Ging sie zur Schule?«
»Ja. Sie hatte jetzt wieder gute Noten. Und einen Praktikumsplatz. Danach wollte sie weg. Studieren.«
»Und vorher? Was war da los?«
»Na ja. Wir haben es etwas übertrieben.«
»Und was genau?«
»Na, Feiern halt. Jungs. Kiffen. Das ganze Zeugs halt. Was man so macht. Aber wir haben irgendwann begriffen, dass das scheiße ist. Dass das nichts bringt.«
»Und dann?«
»Wir haben uns versprochen, es anders zu machen. Nicht so wie die ganzen Kifferkinder da draußen, die nichts gebacken bekommen und dann noch mit dreißig bei ihren Eltern wohnen. Wir haben uns geschworen, dass uns das nicht passiert. Dass wir da rauskommen.«
»Du, Sofía und Julia?«
»Nee, Julia war schon immer gut in der Schule. Um die muss sich niemand Sorgen machen. Die bekommt immer alles auf die Reihe. Die ist klüger als wir alle zusammen.«
»Und du? Gute Noten?«
Sie stocherte in ihrem Essen herum. »Es wird besser. Ich muss da raus. Aus dem Heim. Da läuft nur Scheiße.«
Ich nickte. »Wahrscheinlich.«
»Sobald ich achtzehn bin, gehe ich hier weg. Ich suche mir eine Wohnung, mache Bachillerato. Und dann studieren. Ich bin nicht so dumm, wie du vielleicht denkst!«
»Red keinen Unsinn. Ich denke ganz sicher nicht, dass du dumm bist.«
»Kann ich noch eines haben?« Sie hielt mir die leere Bierflasche hin.
Ich antwortete nicht.
Sie verstand mich auch ohne Worte.
»Okay, okay … schon gut. Aber ich meine es wirklich ernst mit der Schule. Und mit dem Was-aus-meinem-Leben-Machen und so. Ich werde hier nicht enden wie die anderen. Kellnern, putzen und dann den Guiris den Hintern küssen. Ich werde jemand sein. Geld haben, reisen, das werde ich, egal, was du auch jetzt von mir denkst.«
»Ich bin mir sicher, dass du deinen Weg machen wirst, also reg dich ab. Aber was ist denn nun genau mit Sofía? Wieso bist du dir sicher, dass es kein Selbstmord war?«
»Weil es keiner war. Ich weiß es einfach.«
»Beweise?«
Sie verzog den Mund. Ihre Hand verkrampfte sich um die Gabel. Eine Antwort hatte sie nicht.
»Elena, das wird nicht ausreichen, um die Polizei zu überzeugen, neue Ermittlungen aufzunehmen. Da braucht es ein bisschen mehr als dein ›Ich weiß es einfach‹.«
»Sie hat niemals davon gesprochen, sterben zu wollen oder so was. Als ich sie das letzte Mal gesehen hab, war sie völlig okay. Und dann liegt sie den nächsten Morgen plötzlich tot am Strand?«
»Kann es sein, dass sie dir etwas verheimlicht hat? Depressionen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, auf keinen Fall. Unmöglich. Wir waren wirklich gute Freundinnen. Ich hätte etwas gemerkt.«
»Und die ganze Kifferei?«
»Mensch, wir waren auf Feierei und Jungs aus. Deswegen schwimmt man doch nicht gleich mit einer Überdosis Schlaftabletten aufs Meer raus?«
Ich überlegte.
»Du musst mir helfen, bitte«, sagte sie. »Die lügen doch alle. Wirklich, die lügen alle.«
»Wer lügt?«
»Na, die Polizei, Anwälte, Politiker, einfach alle. Du kennst das doch. Das ist doch hier in Spanien nichts Neues.«
»Dass es einige Leute in unserem Land nicht immer so genau nehmen, bedeutet nicht, dass deine Freundin ermordet wurde.«
»Ach ja? Dann hör mal zu: Ich wollte mit denen reden. Mit der Polizei. Sie haben mich einfach weggeschickt. Sagten mir, der Fall sei längst abgeschlossen. Nichts zu machen.«
»Was hattest du denn erwartet? Nach drei Wochen? Und dann ohne Beweise?«
»Ich solle mich um meine Angelegenheiten kümmern, haben sie gesagt. Dann haben sie mich einfach vor die Tür gesetzt. Diese Arschlöcher.«
Sie war wütend.
»Du findest in jedem Ort faule und unfreundliche Polizisten. Das sagt mir nicht, dass die Polizei hier etwas zu verbergen hat oder korrupt ist. Du hast keinerlei Beweise für deine Behauptungen. Das ist zu wenig.«
»Das ist mir egal. Ich will wissen, was wirklich passiert ist. Und ich will wissen: Warum vertuschen die den Mord an Sofía?«
»Immer langsam. Vertuschung hat gewisse Regeln. Und korrupten Polizisten geht es immer um Geld oder um politische Verbindungen. Deine Freundin hatte weder das eine noch das andere. Also, welchen Sinn macht das? Und bei der Polizei, die ich kenne, würde niemand ein totes Mädchen einfach so unter den Teppich kehren.«
»Dann kennst du deine Scheißpolizei aber schlecht. Oder zumindest die von Baixa. Die haben alle etwas zu verbergen, das sage ich dir.«
»Warum sollten sie? Sofía war ein siebzehnjähriges Schulmädchen, keine Politikerin oder Industrielle. Wer in der Polizei hier vor Ort hätte ein Interesse daran, einen Mord an einem einfachen Schulmädchen zu vertuschen? Welchen Sinn ergibt das?«
»Woher soll ich das wissen? Wäre doch nicht das erste Mal, dass man einem siebzehnjährigen Mädchen etwas angetan hätte, oder? Es gibt genug dreckige alte Männer mit viel Geld, die sich so was nicht entgehen lassen.«
Da hatte sie leider recht.
»Und du glaubst, die Polizei von Baixa würde so etwas decken?«
Sie lachte. Etwas zu bitter. »Vielleicht stecken sie ja alle mit drin? Vielleicht hält jemand die Hand auf? Vielleicht war jemand dabei, den sie kennen? Vielleicht sogar einer von ihnen? Was weiß ich? Verrückte gibt es hier genug. Und Leute, die wegschauen, noch viel mehr.«
»Das ist alles sehr vage, Elena.«
»Wie wäre es dann damit: Wusstest du, dass der Leichenbestatter die Todesursache offiziell vor der Presse bekannt gegeben hat – und nicht die Polizei?«
»Was?«
»Ich bin keine Expertin für Polizeiarbeit, aber ich bin auch nicht doof. So was sollte doch eigentlich Sache der Polizei sein, oder? Stattdessen hat sich der örtliche Leichenbestatter einfach hingestellt und den Reportern von der Lokalpresse erklärt, dass der Fall ein Selbstmord gewesen sei. Einfach so. Von den Polizisten der Stadt war dabei weit und breit niemand zu sehen. Erklär mir das mal!«, sagte sie.
Das war tatsächlich ungewöhnlich.
Ich nickte. »Das dürfte so nicht sein. Da hast du recht!«
»In Baixa ist nicht immer alles ganz sauber, das sage ich dir. Da gibt es genügend Dreck hinter den anständigen Fassaden: Drogen, Diebstahl, Schmuggel, Banden. Politiker, die die Hand aufhalten. Von den Puffs und den Nutten auf den Landwegen und was da so alles in den Fincas auf den Campos abgeht, will ich gar nicht erst anfangen. Die Stadt sieht fein und sauber aus. Das ist sie aber nicht. Hier gibt es genug zu verbergen.«
»Und Sofía hatte mit alldem zu tun?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber sie liegt eines Morgens ohne Vorwarnung tot am Strand vom Baixa. Reicht das nicht?«
»Hm.«
»Sofía ging nicht anschaffen. Und sie hat auch keine alten reichen Männer gevögelt. Falls du das jetzt denkst. Sie war ein ganz normales, gutes Mädchen. Und vielleicht hat das schon gereicht, hier in Baixa. Wundern würde es mich jedenfalls nicht.«
Ich musterte sie. Elena hielt meinem Blick stand, ihre Augen aufrichtig und ehrlich. Das reichte mir.
»Also gut, ich werde nachfragen«, sagte ich. »Ich habe noch einige Kontakte in der Polizei rund um Altea. Die kann ich ansprechen. Und dann sehen wir weiter.«
»Danke«, sagte sie. Dann widmete sie sich wieder ihrem Essen, um mich nicht anschauen zu müssen. Sie weinte. Und ich ließ sie.
Ich erhob mich und ging in die Küche, stellte meinen Teller in die Spüle.
Julia stand in der Tür. Sie trug nun mein T-Shirt und die Jogginghose. Alles etwas zu weit. Aber sie hatte sich offensichtlich damit arrangiert.
»Es riecht gut hier …«, sagte sie.
»Das Essen steht auf der Terrasse. Ich bringe dir einen Teller.«
»Danke.« Sie lächelte.
Ich öffnete den Kühlschrank, nahm ein Bier.
»Achtzehn?«, fragte ich.
Sie nickte.
Ich warf ihr das Bier zu, und sie ging damit auf die Terrasse. Ich nahm einen Teller aus dem Schrank und folgte ihr.
Ich richtete Julia das Gästezimmer her. Wir hatten zusammen gegessen, Julia, Elena und ich. Die Unterhaltung mit den Mädchen war angenehm gewesen. Wir lachten viel, plauderten über das Essen. Die beiden stritten sich über Fußball und erzählten mir Peinlichkeiten aus der Schule. Über Sofía sprachen wir nicht. Irgendwann war es dunkel, und die Mädchen wurden müde.
Ich legte Julia eine Decke über das Bett. Für den Fall, dass es in der Nacht etwas kühler werden würde.
»Danke«, sagte sie, legte ihre Hand auf meinen Arm.
»Kein Problem.«
»Gute Nacht, Manuel.«
Ich nickte, ließ sie allein und schloss die Tür hinter mir.
Elena lag im Wohnzimmer. Auf der Couch. Wie letzte Nacht. Der Fernseher lief. Wahrscheinlich war sie einfach davor eingeschlafen. Wieder schnarchte sie leise.
Ich hob sie vorsichtig auf, und sie schlang ihre Arme um mich. So trug ich sie hinauf in mein Schlafzimmer. Dort legte ich sie behutsam aufs Bett, deckte sie zu. Sie brabbelte irgendetwas im Halbschlaf. Ich löschte das Licht und ging zurück nach unten ins Wohnzimmer.
Mir blieb nur die Couch. Das war in Ordnung. Ich schlief oft dort ein. Also störte es mich auch nicht besonders, hier die Nacht zu verbringen. Ich legte mich hin und starrte auf das Fernsehprogramm, ohne ihm zu folgen. Eine Weile lang dachte ich darüber nach, was mir Elena gesagt hatte. Irgendwann schlief ich ein.
Julia weckte mich nachts. Sie trug nur mein T-Shirt. Ich sah ihre Beine im Licht des Fernsehers, der immer noch lief.
Sie setzte sich an meine Seite, zu mir auf das Sofa.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte sie.
Ich konnte und wollte schlafen. Aber ich sagte nichts.
Sie schaute hinüber zum Fernseher. Eine Strähne ihres Haars legte sich über ihren Nacken.
»Warum hast du das getan?«, fragte sie.
»Was?«
»Du hast uns geholfen. Einfach so. Du kennst uns doch gar nicht.«
Sie drehte sich zu mir um. Die Wunden in ihrem Gesicht gaben mir einen Stich.
»Zu helfen ist doch normal. Nichts Besonderes«, sagte ich.
»Für mich schon.« Sie legte sich neben mich. »Für mich hat das noch nie jemand getan.«
»Was?«
»Niemand setzt sich für mich ein.«
»Dann wird es vielleicht mal Zeit.«
Sie legte ihre Hand auf meinen Bauch. »Kann ich etwas hierbleiben?«, flüsterte sie.
»Oben im Bett bist du besser aufgehoben«, sagte ich.
»Aber ich kann nicht schlafen.«
Ich griff neben mich. Dort lag von gestern Nacht noch die Schachtel mit Valium.
Ich drückte sie ihr in die Hand. »Da, nimm das und du schläfst. Garantiert.«
Julia verzog das Gesicht, nahm die Schachtel an sich und verschwand ohne ein weiteres Wort nach oben.
Ich schlief wieder ein.
Es war Morgen. Ich öffnete die Augen. Elena stand vor mir.
»Ich mache Frühstück«, sagte sie.
Ich setzte mich auf, benommen vom Schlaf, schaute umher und gähnte.
»Julia ist nicht da«, sagte Elena. »Sie ist auf dem Weg zu ihrer Schwester nach Sevilla. Ich soll dich grüßen.«
»Ah, okay«, gähnte ich.
»Das soll ich dir geben«, sagte Elena und hielt mir einen Zettel hin.
Ich nahm ihn an mich, öffnete ihn. »Gracias.« Und ein Herz.
Elena ließ mich nicht aus den Augen.
»Alles okay?«, fragte sie.
»Natürlich. Warum denn auch nicht?«, sagte ich.
Sie musterte mich.
»Kaffee?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Natürlich. Ist schon warm. Aber bitte zuerst duschen!« Sie ging zurück in die Küche.
Um den missmutigen Gedanken zu vertreiben, dass Elena wie meine großen Schwestern klang, rappelte ich mich auf und ging ins Badezimmer.
Dort stellte ich mich unter das warme Wasser der Dusche. Der Duft von Kaffee, frischem Brot und Tortilla erreichte mich. Ich duschte so schnell wie möglich, zog mich an und verließ das Bad.
Elena hatte eine Tortilla mit Auberginen und Käse zubereitet. Wir aßen auf der Terrasse. Das Meer schimmerte blau.
Elena hielt mir den Rotwein hin. Für einen Moment überlegte ich, ob ich damit ein gutes Vorbild war, doch dann hob ich das Glas an und nickte ihr zu. Sie goss mir ein. Ein Javi Revert Simeta 2017. Ein eleganter Kontrast zum Käse in der Tortilla. Sie hatte gut gewählt. Wir aßen und plauderten. Sie erzählte mir einige Dinge, die sie am Morgen in den Nachrichten gesehen hatte und über die sie sich wunderte. Elena war eine aufgeweckte Persönlichkeit. Klug und kritisch im Denken. Das gefiel mir. Heute wirkte sie entspannter. Die Wunden in ihrem Gesicht sahen etwas besser aus. Doch sie erinnerten mich daran, warum dieses Mädchen bei mir war. Ich würde mich darum kümmern müssen. Um die Wunden und den eigentlichen Grund, warum sie hier vor mir saß.
Ich stand auf. In der Küche holte ich alles Notwendige aus dem Medizinschank.
Als ich damit auf der Terrasse auftauchte, verzog Elena das Gesicht. »Muss das sein?«
»Allerdings«, sagte ich und setzte mich auf den Stuhl neben sie.
Ich betrachtete ihr Gesicht. Die Schwellung an ihrer Oberlippe war verschwunden. Einige Pflaster konnte ich bereits abnehmen. Das Hämatom unter ihrem Auge ließ nach. Das Mädchen hatte gute Abwehrkräfte, das musste ich ihr lassen.
»Was genau ist an dem Abend passiert, als du zu mir gekommen bist?«, fragte ich sie.
»Jorge, den kennst du ja schon, und sein Bruder Juan und ihr idiotischer Cousin Adrián haben mir aufgelauert. Die zwei hielten mich fest, und Jorge schlug auf mich ein. Da steht er drauf, wie du vielleicht schon bemerkt hast.«
Allerdings. Und ich hoffte, dass ihn sein Kehlkopf noch einige Tage lang schmerzlich beschäftigen würde.
»Und das alles wegen deinen Fragen im Dorf? Wegen Sofía?«
Sie nickte. »Die Morells sind etwas altmodisch. Lassen kaum jemanden von außen an sich heran. Alles ist nur für die Familie und so.«
»Und dann? Wie bist du hierhergekommen?«
»Nach ein paar Schlägen habe ich Jorge erwischt. Mit einem Tritt in die Eier. Die beiden anderen haben mich vor Schreck losgelassen. Ich hab sofort auf die eingeschlagen. Dann bin ich gerannt. Ich bin schneller als sie.«
Ich lächelte. Das konnte ich mir vorstellen. Elena wirkte energetisch, athletisch, stark. Sie war keines der Mädchen, die sich leicht unterkriegen ließen.
Ich nahm die Flasche mit dem Jod. »Stillhalten!«
»Aua, Scheiße, pass doch auf«, sagte Elena und zuckte, als das Jod eine ihrer Wunden berührte.
»Und dann bist du zu mir?«
»Ja.«
»Und wie genau? Baixa ist nicht gerade einen Fußmarsch entfernt für ein verprügeltes Mädchen, oder?«
»Eine Vespa.«
»Du hast eine Vespa?«
Ich wunderte mich. Dass ein Heimkind eine eigene Vespa hatte, konnte ich mir nur schwer vorstellen.
»Hm … Na ja …«
»Du hast eine gestohlen?«
»Was sollte ich denn machen? Mir ging es wirklich schlecht.«
Ich schaute sie an. Sie hatte Grübchen um den Mund, wenn sie sich aufregte oder lächelte. Ihre Augen blitzten. Den Blick senkte sie nicht.
»Wieso weißt du, wie man ein Motorrad stiehlt?«, fragte ich.
Sie zuckte mit den Achseln. »Lernt man halt!«
Um sie an das Gebot »Du sollst nicht stehlen« zu erinnern, träufelte ich noch etwas mehr Jod auf eine ihrer Wunden.
Sie fluchte. Ihre Augen ließen nicht von mir ab.
»Und diese Familie? Die Morells? Was machen die?«, fragte ich.
»Die haben eine Firma. Nichts Großes. Halt so An- und Verkauf von Autos. Reparaturen. Halb Schrottplatz, halb Autohandel. Irgendwas in der Art. In Baixa. Am Stadtrand.«
»Wie viele sind es? Schwestern, Brüder, Eltern?«
Elena überlegte kurz. »Neun. Also neun Geschwister insgesamt, einschließlich Sofía. Sie war die Jüngste. Die arbeiten alle zusammen in der Firma der Familie. Nur eine der Schwestern nicht. Sie hat mit ihrem Mann einen kleinen Elektroladen im Dorf. Auch so An- und Verkauf.«
»Eine der Schwestern? Wie viele Schwestern hatte Sofía?«
»Sofía hatte zwei Schwestern. Und sechs Brüder.«
»Und die Eltern?«
»Die Mutter ist tot. Und der Vater alt und krank. Verlässt kaum noch das Haus.«
»Und die Firma, dieser Autohandel, gehört der Familie?«
Elena nickte. »Antonio leitet ihn. Er ist der Älteste von ihnen. Zusammen mit seiner Schwester Vera. Sie ist die älteste der Schwestern.«
»Wie alt sind die beiden?« Ich säuberte ihr eine der Wunden, und sie drehte den Kopf weg. Ich drehte ihn wieder zu mir.
»Na ja, die sind halt schon älter. So wie du.«
»Danke, sehr nett«, sagte ich und übertrieb es etwas mit dem Jod. Elena sog die Luft zwischen den Zähnen ein, aber rührte sich diesmal nicht.
»Und der Rest der Brüder?«
»Halt so Schlägertypen. Arbeiten alle dort in der Firma der Familie. Pablo und Mario, die sind so Ende dreißig. Sind die Mechaniker. Und die machen mir mehr Sorgen als Jorge.«
»Wieso?«
»Ich glaub, die fackeln nicht lange. Die beiden jüngeren Brüder, Jorge und Juan, das sind nur Großmäuler. Okay, wenn du nicht aufpasst, dann hauen sie dir eine rein, das schon. Aber Pablo und Mario sind anders. Krasser. Mit denen will ich keinen Ärger.«
»Also, der Älteste ist Antonio. Dann die beiden Mechaniker Pablo und Mario. Und die beiden Möchtegerngangster Jorge und Juan. Das sind dann fünf. Fehlt noch einer«, sagte ich.
»Álvaro. Der Jüngste. Der ist in Ordnung. Der ist nicht so ein Arschloch wie die anderen. Der Einzige, dem Sofía und ich vertrauen konnten. Kein Macho oder so.«
»Und die eine Schwester? Sie arbeitet nicht in der Firma? Warum?« Ich entfernte ein Pflaster.
»Clara? Keine Ahnung. Die hat halt früh geheiratet. Ihr Mann hatte schon immer diesen Laden im Dorf. Also lebt sie dort.«
»Und die andere Schwester, Vera, die älteste, die leitet die Firma?«
»Ja, zusammen mit Antonio. Er ist der Chef. Und Vera macht die Buchhaltung und alles, was so anfällt. Ich mag sie nicht. Sie ist eine falsche Schlange.«
»Okay, aber was könnte das alles mit Sofía zu tun haben? Wenn es Mord war, muss es einen Grund dafür geben.«
Ich strich Elena das Haar aus dem Gesicht, um eine Wunde besser sehen zu können.
»Tu mir nicht weh, ja?«, sagte sie.
Ich wusste nicht genau, was sie meinte. Ihr Blick war jetzt anders. Verletzlich. Mehr als den Kopf zu schütteln fiel mir nicht ein.
Dann deutete sie auf die Flasche Jod. »Etwas weniger ist auch okay.«
Ich fing mich wieder. »Natürlich«, sagte ich und fuhr fort, ihre Wunden zu versorgen.
»Und du hast Angst vor den Brüdern? Vor den beiden älteren?«
»Nicht direkt. Aber die sind halt alle auch nicht ganz sauber, weißt du, was ich meine?«
»Nein«, sagte ich, weil ich noch mehr von ihr hören wollte.
»Na ja, ich glaube, allein von der Firma kann die Familie nicht leben. Die paar Autos, die die verkaufen. Ein paar Reparaturen. Also machen die bestimmt noch so Sachen nebenbei. Da bin ich mir sicher.«
»Was heißt das?« Ich lehnte mich zurück und stellte die Flasche Jod auf den Tisch.
»Na, die verkaufen auch schon mal so Zeugs, das sicherlich nicht nur von ihnen ist.«
»Was meinst du?«
»Die haben immer so Kisten hinten in der Werkstatt. Die sind voll mit Elektrowaren, Klamotten, Zigaretten, Alkohol, allem Möglichen.«
»Hehlerware?«
»Glaub schon. Und wo die Autos immer alle herkommen, weiß ich auch nicht so genau. Da ist bestimmt mal das ein oder andere dabei, das nicht ganz legal ist.«
Ich nickte.
Die Morells waren ganz sicher nicht die einzige Familie im Land, die versuchte, auf diese Weise besser über die Runden zu kommen.
»Wie viel weißt du davon?«
»Auch nicht mehr, als man so mitbekommt. Man erzählt halt so. Im Dorf. Im Grunde weiß jeder Bescheid. Und macht doch eigentlich auch jeder so, oder nicht? Ist halt so.«
»Drogen?«, fragte ich.
»Nein. Auf keinen Fall! Antonio würde das nie zulassen. Der hasst Drogen. Einmal hat er Jorge dabei erwischt, wie er etwas verticken wollte. Da hat er den windelweich geprügelt.«