Liebessommer in New York - Jule McBride - E-Book

Liebessommer in New York E-Book

Jule McBride

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Beschreibung

Nächte wie Samt und Seide! Nie hat Jenna gewusst, wie schön die Leidenschaft sein kann. In den Armen des gut aussehenden Bankiers Seth Spencer erlebt sie die heißesten Stunden ihres Lebens. Doch von heute auf morgen ist das Glück zu Ende: Seth will New York verlassen - ohne Jenna …

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Seitenzahl: 186

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IMPRESSUM

Liebessommer in New York erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Ralf MarkmeierRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2000 by Harlequin Books S.A. Originaltitel: „Secret Baby Spencer“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe COLLECTION BACCARABand 218 - 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Eva Repolusk

Umschlagsmotive: Lakshmi3, Tom Merton / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733758097

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Officer Brick Bauer vom Polizeirevier Belton, der Nachbarstadt des Städtchens Tyler, stand kopfschüttelnd vor dem Fenster und sah hinaus. „Muss wohl ein Fremder sein. Niemand von hier fährt so einen Wagen“, stellte er fest, als der verbeulte goldfarbene Cadillac mit laut schepperndem Auspuff vorbeifuhr.

Er schüttelte noch immer verwundert den Kopf, als seine Frau Martha zu Hause in Tyler neugierig aufblickte und dem Wagen verblüfft hinterher sah. Sie saß mit ihren Freundinnen im Wohnzimmer des stattlichen viktorianischen Worthington House und arbeitete mit ihnen an einem Quilt.

„Guckt euch bloß diese Frisur an!“, rief sie entgeistert aus.

Die meist älteren Frauen unterbrachen ihre Handarbeit und starrten interessiert den Wagen an, der jetzt vor dem neuen Stoppschild an der Ecke hielt. Die Fahrerin hatte kinnlanges dunkelbraunes Haar mit knallroten Strähnchen. „Anscheinend hat die Dame einen extravaganten Geschmack“, sagte Lydia Perry trocken.

„Ist das ein Hochzeitskleid, das da auf dem Beifahrersitz liegt?“, fragte Martha stirnrunzelnd.

„Sieht auf jeden Fall danach aus“, schaltete sich Bea Ferguson schnell ein, bevor jemand die Rede darauf bringen konnte, ob das neue Stoppschild wirklich notwendig war. „Ich kann mir nicht helfen, aber für mich sieht es danach aus, als würde die Frau vor etwas weglaufen. Was sollte sie sonst hier in Tyler wollen?“

„Wer weiß, wer weiß“, murmelte Martha nachdenklich. „Aber wenn sie über Nacht in der Stadt bleibt, werden wir schnell erfahren, was sie hier will.“

Als der Wagen verschwunden war und die Frauen sich wieder ihrer Handarbeit zuwandten, lachte Lydia Perry. Sie hatte blitzende Augen und einen unverwüstlichen Humor. Man sah ihr ihre 87 Jahre wirklich nicht an. „Findet ihr nicht auch, dass der Wagen aussieht, als hätte sie ihn von Elvis geerbt? Ich würde lieber einen Kilometer in meinen orthopädischen Schuhen gehen, als auch nur einen Meter in diesem Wagen zu fahren.“

„Nicht jeder kann sich heutzutage ein neues Auto leisten, Lydia“, gab Martha zu bedenken. „Außerdem macht die Frau den Eindruck, als ob sie aus der Stadt kommt, und Tyler kann wirklich etwas frischen Wind vertragen, selbst wenn es nur für kurze Zeit ist.“

„Städter“, knurrte Bea missvergnügt. „Was sie wohl hier will? Was gibt es in Tyler schon groß zu sehen?“

„Sie könnte doch jemanden besuchen. Vielleicht will sie ja zu den Spencers, die waren doch ursprünglich aus New York, oder?“

„Wer könnte das vergessen“, murmelte Lydia. Einen Augenblick lang herrschte respektvolles Schweigen, während die Frauen sich an den Skandal erinnerten, der die Familie Spencer vor 23 Jahren nach Tyler begleitet hatte. Vor vielen Jahren war Elias Spencer mit seiner Frau Violet und seinem Sohn Seth aus New York nach Tyler gezogen, um hier eine Existenz zu gründen. Nur wenige Monate später hatte Violet Mann und Sohn für einen Geliebten verlassen und nie wieder von sich hören lassen.

„Es ist wirklich schlimm, was Violet ihrem Sohn damit angetan hat. Seth muss damals vierzehn gewesen sein. Heute ist er natürlich längst erwachsen, aber ihr könnt sicher sein, dass er nie wieder einer Frau vertrauen wird.“

„Geschweige denn heiraten“, stimmte Martha seufzend zu.

Mittlerweile hatte der Cadillac bereits das Polizeirevier von Tyler hinter sich gelassen. Cooper Night Hawk blickte ihm missmutig nach.

„Ich wette zehn zu eins, dass der Wagen nicht mehr verkehrssicher ist“, murmelte er angewidert. Aber zumindest saß eine Frau am Steuer, also konnte es sich nicht um den bewaffneten Räuber handeln, nach dem gerade gefahndet wurde. Cooper konnte zwar das Kennzeichen nicht entziffern, aber der Wagen stammte garantiert von dem Billigautoverleih am nahe gelegenen Flughafen. Wer auch immer die Frau sein mochte, sie war wohl mit dem Flugzeug nach Wisconsin gekommen.

Draußen wurde es langsam dunkel. Am grauen Oktoberhimmel zeigten sich die ersten Vorboten eines strengen Winters. Ein beißender Wind fegte über den Platz. Als der Wagen an einer Straßenlaterne vorbeifuhr, konnte Cooper die feinen Gesichtszüge der Fahrerin erkennen.

Mit ihren großen mandelförmigen Augen, der geraden Nase und den hohen Wangenknochen sah sie ausgesprochen attraktiv aus. Das kinnlange Haar betonte ihre gleichmäßige Gesichtsform. Die Frau war eine Schönheit.

Was jemand wie sie wohl hier zu tun hatte? Tyler konnte man kaum als Metropole bezeichnen. Egal – die Frau machte keinesfalls den Eindruck, als würde sie eine Gefahr für die Kleinstadt sein, und so wandte Cooper sich wieder dem Papierstapel auf seinem Schreibtisch zu, während der Cadillac in Richtung Frisiersalon rollte, wo zum ersten Mal etwas Licht auf die Identität der mysteriösen Fremden fiel.

Molly Blake, die Besitzerin einer kleinen Pension in Tyler, steckte neugierig den Kopf aus der Trockenhaube, als Marge, die Friseurin, eine Bemerkung über die außergewöhnliche Frisur der Fahrerin machte. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das muss die Künstlerin sein … diese Bekannte von Seth Spencer, die das Logo für meine Frühstückspension entwerfen sollte. Aber sie hat gesagt, sie würde frühestens morgen hier sein.“

„Außerdem scheint sie ein Brautkleid auf dem Beifahrersitz zu haben“, mischte sich Tisha, die Besitzerin des Salons, ein. „Diese Künstlerin Jenna Robinson wird wohl kaum zum Heiraten nach Tyler kommen.“

Molly überlegte. „Kann ich mir auch nicht vorstellen. Andererseits habe ich mich schon gefragt, warum sie den weiten Weg aus New York auf sich nimmt, nur um mir ein Logo zu entwerfen.“

Molly hatte sich anfangs gewundert, als sie einen Anruf von Jenna erhielt, die sich als alte Bekannte von Seth Spencer vorgestellt hatte. Doch nachdem sie über Jennas Angebot nachgedacht hatte, war sie sicher, dass es nur vorteilhaft für sie sein konnte. Sicher würden ihre Chancen auf einen Kredit für ihre geplante Frühstückspension steigen, wenn eine alte Freundin des Bankdirektors das Logo entwarf.

Trotzdem erschien es Molly merkwürdig, dass eine Künstlerin aus New York nicht nur anbot, zu ihr nach Tyler, Wisconsin, zu kommen, sondern auch noch bereit war, ihre Reisekosten selbst zu tragen und für einen Hungerlohn zu arbeiten. Doch dann hatte Jenna Molly das Versprechen abgenommen, Seth Spencer nichts von ihrem Besuch zu sagen – es sollte eine Überraschung werden. Nicht zuletzt deshalb passte das Brautkleid überhaupt nicht in Mollys Bild von Jenna.

Nein, die Frau mit dem seltsamen Wagen, der extravaganten Frisur und dem voluminösen Brautkleid konnte auf keinen Fall Jenna sein.

Seth Spencer sah nachdenklich aus dem Fenster seines Büros in der Savings & Loan Bank, und wieder einmal hatte er das Gefühl, an Halluzinationen zu leiden.

Seit er nach Tyler zurückgekehrt war, glaubte er Jenna beinahe an jeder Straßenecke zu sehen – vor Marge’s Diner, in der Buchhandlung, beim Zahnarzt … Natürlich war es nie wirklich Jenna. Dass er ihr nichts bedeutete, war ihm bewusst geworden, als er ihre Wohnung in New York vor sechs Wochen verlassen hatte, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort des Bedauerns geäußert hatte.

Seth blickte über Molly Blakes Kreditantrag und die aktuelle Ausgabe des Tyler Daily hinweg zur Tür, die in den mit rotem Teppich ausgelegten Schalterbereich führte. Vielleicht sollte er wenigstens in die Halle gehen, um sich den Wagen genauer anzusehen …

Nein, die Frau in dem goldfarbenen Cadillac konnte nicht Jenna sein.

Seth schluckte schwer und unterdrückte seine Gefühle. Dann korrigierte er den ohnehin makellosen Sitz seines Krawattenknotens. Selbst wenn sie es wäre – sie musste zu ihm kommen, nicht er zu ihr. Er war noch nie einer Frau nachgelaufen, und das würde er auch ganz sicher nicht bei Jenna tun.

Plötzlich musste er an das Haus denken, das er sich in der Nähe seines Elternhauses in der Maple Street gekauft hatte. Was für eine lächerliche Idee das doch gewesen war! Es war allein Jennas Schuld, dass er sich in den vergangenen Wochen so unglücklich gefühlt hatte.

Zu spät hatte er begriffen, dass das Letzte, was er brauchte, ein Haus in unmittelbarer Nähe seines Elternhauses war. „Zu viel Geschichte“, murmelte er. Die wenigen Möbel, die er aus New York mitgebracht hatte, füllten kaum das Wohnzimmer, und wenn Seth durch das leere Haus ging, hallten seine Schritte auf dem Parkettboden und riefen die Gefühle wach, die er verspürt hatte, als seine Mutter seinen Vater und ihn damals verlassen hatte.

Seth knurrte ärgerlich. Er hätte wissen müssen, dass Jenna nicht bei ihm bleiben würde, dass sie ihn verlassen würde, genau wie es seine Mutter damals getan hatte. Und was noch schlimmer war: Während er in New York gelebt hatte, hatte er jahrelang keinen Gedanken an seine Mutter verschwendet. Aber seit er nach Tyler zurückgekehrt war, kamen Gefühle in ihm hoch, von denen er glaubte, dass er sie längst überwunden hatte.

Nicht zuletzt deshalb musste er aufhören, davon zu träumen, dass Jenna in der Stadt war. Genau wie vor vielen Jahren seine Mutter hatte auch Jenna ihm nur allzu deutlich gezeigt, dass er ihr vollkommen gleichgültig war.

Während Seth seinen düsteren Gedanken nachhing, ruhte sein Blick noch immer auf dem goldfarbenen Cadillac, der vor dem Blumengeschäft auf der anderen Straßenseite gehalten hatte. Die Frau war ausgestiegen. Von hier aus sah sie wirklich wie Jenna aus.

Einen Augenblick lang gab er sich der Vorstellung hin, dass sie es war und dass das einstöckige Ziegelgebäude der Savings & Loan Bank, das nun ihm gehörte, sie beeindruckte. Seth Spencer, Direktor, stand auf dem Namensschild aus Messing an seiner Bürotür.

Nicht, dass es irgendeinen Eindruck auf die wirkliche Jenna machen würde. Unwillkürlich tauchten vor seinem geistigen Auge Bilder ihrer New Yorker Wohnung auf. Kissen mit Quasten, hohe Bücherregale, das große, hohe Bett, in dem sie sich so oft so nahe gewesen waren. Seth erinnerte sich an jedes Detail, denn schließlich hatte er während der vergangenen anderthalb Jahre so oft dort übernachtet, dass er sich in ihrer Wohnung wie zu Hause fühlte.

Jenna hatte sich nackt im Bett geräkelt, als er ihr erzählt hatte, dass er seinen Job bei Goldman Sachs kündigen und nach Tyler zurückkehren würde, um die Bank seines Vaters zu übernehmen.

„Schön“, war alles, was Jenna dazu zu sagen hatte.

„Schön“, murmelte Seth nun. Sie hatte weder ein Wort über die Zukunft ihrer Beziehung verloren, noch eine Miene verzogen, und er musste endlich beginnen, dieser Tatsache ins Auge zu sehen.

Genau wie er es getan hatte, als ihm sein Vater vor 23 Jahren zu Thanksgiving am Küchentisch berichtete, dass seine Mutter die Stadt mit einem Unbekannten verlassen hatte. Noch am gleichen Tag war Seth klar geworden, dass sie nie wieder zurückkommen würde, und er beschloss, nicht vergeblich auf einen Brief oder einen Anruf zu warten, sich nicht mit falschen Hoffnungen zu quälen …

Nein, wenn eine Frau erst gegangen war, war es das Beste, keinen Gedanken mehr an sie zu verschwenden.

Dennoch wäre es Seth lieber gewesen, wenn die Frau mit dem goldfarbenen Cadillac Jenna nicht so täuschend ähnlich gesehen hätte. Es fiel ihm verdammt schwer, Jenna mit ihrer hinreißenden Figur, ihrem wilden Haar und ihrer auffallenden Garderobe zu vergessen. Sie war wie ein bunter Vogel gewesen, der um Seth herumflatterte, während er still wie eine Statue stand, um sie nicht zu erschrecken.

Trotz aller Gegensätze hatten sie gut zusammengepasst. Zumindest körperlich. Bei dem Gedanken daran fühlte Seth ein Ziehen in der Leistengegend. Unwillig knirschte er mit den Zähnen.

Schon als er zum ersten Mal zufällig die Galerie im New Yorker Stadtteil Soho betreten hatte, in der Jenna arbeitete, hatte er sich mit ihr verabredet. Und bereits am Ende des ersten Abends waren sie gemeinsam im Bett gelandet.

Am zweiten Abend waren sie nicht mehr ausgegangen, sondern hatten sich chinesisches Essen nach Hause bestellt und abwechselnd das Essen und einander genossen. Und am dritten Abend hatten sie ganz aufgehört, sich durch Essen ablenken zu lassen …

Es war nur Sex gewesen – wundervoller Sex, aber nichts Ernstes.

Manchmal waren Wochen und Monate zwischen ihren Verabredungen verstrichen, als wollten beide sich ihre gefühlsmäßige Unabhängigkeit beweisen.

Doch nun, als die unbekannte Frau draußen auf der Straße zurück in ihren Cadillac stieg, gestand Seth sich endlich ein, wie sehr er an Jenna hing. Er vermisste sie wahnsinnig.

Vielleicht hätte er ein Gespräch über ihre Beziehung beginnen sollen, bevor er New York verlassen hatte, aber Jenna wusste doch ganz genau, dass das nicht seine Art war. Seth versuchte die Panik zu ignorieren, die plötzlich in ihm hochstieg. Wieso nur konnte er sich nicht dagegen wehren? Er war es gewohnt, mit riesigen Summen an der Börse zu jonglieren, und nachdem er jetzt seine eigene Bank leitete, war sein Risiko noch deutlich gestiegen.

Aber finanzielle Entscheidungen basierten auf nüchternen Zahlen, nicht auf Gefühlen. Und hier ging es um eine Frau. Seth musste sich eingestehen, nicht besonders viel über Frauen zu wissen.

Bankgeschäfte, ja, davon verstand er etwas. Er hatte eine exzellente Ausbildung genossen und danach jahrelang gearbeitet, um Erfahrungen zu sammeln, die er zur erfolgreichen Leitung der Savings & Loan Bank benötigte. Sein ganzes Leben war darauf ausgerichtet gewesen, eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.

Niemals hätte er sich vorstellen können, dass er bereits sechs Wochen, nachdem er sein Ziel erreicht hatte, Tyler am liebsten den Rücken gekehrt hätte und zurück nach New York gegangen wäre. Zu Jenna. Zu Jenna, die sich noch nicht einmal für ihn interessierte.

Langsam fuhr der Cadillac an.

Sein Herzschlag setzte für einen Augenblick aus.

Nein, es konnte auf keinen Fall Jenna sein. Sie stammte aus einer Kleinstadt in North Carolina, und sie hasste Kleinstädte. Solange sie in New York lebte, hatte sie niemals zurückgeblickt. Jenna würde nicht freiwillig einen Ort aufsuchen, in dem es kein Café, kein Kino mit ausländischen Filmen und keine Kunstgalerien gab.

Der Wagen verschwand hinter einer Kurve.

Seth starrte weiter aus dem Fenster. Er war fest davon überzeugt, dass eine Frau, wenn sie gegangen war, nie mehr zurückkehrte.

„Wo zum Teufel ist diese Pension Kelsey?“, schimpfte Jenna ärgerlich. Sie steuerte den Wagen mit der linken Hand und hielt in der rechten die Wegbeschreibung, die ihr Molly Blake am Telefon gegeben hatte. Doch wenn sie ehrlich war, galt ihr Ärger weniger der mangelhaften Wegbeschreibung als vielmehr sich selbst. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, vor der Savings & Loan Bank anzuhalten? Hatte sie das wirklich nötig?

Es gab nur einen Grund, aus dem sie nach Tyler gekommen war: um Seth darüber zu informieren, dass sie nächste Woche heiraten würde. Andererseits – wer konnte ihr einen Vorwurf daraus machen, dass sie diese Neuigkeit so schnell wie möglich loswerden wollte? Anderthalb Jahre hatte sie in der Beziehung unter seiner unverbindlichen Art gelitten. Jetzt gab es endlich jemanden, der ihr seine Liebe gestanden hatte und der mit ihr das Baby großziehen wollte, das in ihr heranwuchs.

Das Baby von Seth.

Jenna schob den Gedanken beiseite. Wahrscheinlich sollte sie sich erst ausruhen, duschen und umziehen, bevor sie Seth die Neuigkeit verkündete. Sie fühlte sich verschwitzt und schmutzig von der langen Reise. Außerdem hatte sie schon am Flughafen gemerkt, dass sie mit Netzstrümpfen, Minirock und knappem Oberteil für diese Kleinstadt etwas zu schrill angezogen war. Andererseits hatte sie kaum etwas Passenderes im Gepäck. „Egal, diese Stadt kann etwas Abwechslung gebrauchen“, sprach sie sich selbst Mut zu.

Zudem ärgerte sie sich, dass sie hier unvermittelt daran erinnert wurde, wieso sie ihre Heimatstadt Bear Creek in North Carolina an ihrem 18. Geburtstag fluchtartig verlassen hatte. Bei dem Gedanken an ihre Eltern, die die Existenz ihrer Tochter kaum zur Kenntnis genommen hatten, krampften sich Jennas Hände um das Lenkrad.

Wahrscheinlich hatte sie ihr Herz deshalb so an Seth gehängt und selbst die geringste Zuwendung gierig wie ein trockener Schwamm aufgesogen.

Doch seitdem hatte sich viel geändert: Sie wurde geliebt. Es gab einen Mann, der sich so liebevoll um sie kümmerte, wie sie es verdient hatte. Sie dachte an New York zurück, an die kleine Galerie in Soho, die ihren Freunden Sue Ellis und Dom Milano gehörte.

Noch immer fiel es Jenna schwer zu glauben, dass Dom ihr wirklich seine Liebe gestanden und einen Heiratsantrag gemacht hatte. Sie hatte Sue und Dom schon in ihrer ersten Woche in New York kennengelernt. Im Laufe der 16 Jahre, die sie mittlerweile dort verbracht hatte, waren die beiden ihre Familie geworden.

Jenna konnte es kaum erwarten, Dom wieder zu sehen. Sie würden heiraten, sobald sie nach New York zurückgekehrt war.

Dom war ein ganz besonderer Mann. Er hatte darauf bestanden, erst nach ihrer Rückkehr aus Tyler mit ihr zu schlafen – erst wenn Seth wusste, dass sie einen anderen Mann heiraten würde. Jenna lächelte schwach. Wer hätte gedacht, dass Dom eine derart romantische Ader entwickeln würde? In all den Jahren ihrer Freundschaft hatte sie ihn nie so kennengelernt.

Zudem war er wirklich sexy. Obwohl er groß und schlank war, konnte er seine italienische Herkunft nicht verleugnen. Er hatte glattes schwarzes Haar und tiefdunkle Augen, und nach 16 Jahren Zusammenarbeit war Jenna sicher, dass es keinen besseren Partner als ihn geben konnte. Dom war immer gut aufgelegt, zuvorkommend und charmant. Er erriet Jennas Wünsche und Bedürfnisse, noch bevor sie sie selbst kannte. Was sie dagegen mit Seth verband, war nichts als Sex.

Sie runzelte die Stirn. Seit Sue geschieden war, hatte Jenna immer das Gefühl gehabt, dass Sue und Dom einmal ein Paar werden würden. Jenna hatte eigentlich nicht besonders viel Zeit mit Dom verbracht, und wenn, dann hatten sie meist Strategien besprochen, wie sie ihre Beziehung zu Seth stärken könnte. Nachdem Seth nach Tyler gegangen war, hatte Dom zufällig ein Telefonat mit ihrem Gynäkologen mitgehört und ihr einen Tag später einen Heiratsantrag gemacht.

Er hatte ihr seine Liebe gestanden und wollte ihr alles bieten, was sie sich insgeheim wünschte – eine Ehe und einen Namen für ihr Baby. Doch Dom hatte eine Bedingung gestellt: Vor der Hochzeit sollte sie nach Tyler fliegen und Seth von ihrer Schwangerschaft erzählen. Nur um sicherzustellen, dass es später keinen Ärger geben würde. Aber die Sorge war in Jennas Augen völlig unbegründet. Sie war überzeugt, dass Seth für die saubere Lösung, die sie ihm anbieten konnte, dankbar sein würde.

Jenna seufzte hörbar. „Wie konnte ich mich bloß in einer so winzigen Stadt verirren?“, murmelte sie ärgerlich. „Wo ist diese Pension?“ Sie betrachtete die Häuserfront auf der linken Seite der Hauptstraße, ohne etwas zu sehen, das ihren Vorstellungen von einer Pension entsprach, bis ihr schließlich einfiel, dass sie nicht auf der Suche nach einem Vier-Sterne-Hotel war. Keine Morgenzeitung, kein Zimmerservice … „Ah“, sagte sie plötzlich laut. „Das muss es sein! Die Adresse stimmt.“

Zum Glück gab es einen großen Parkplatz. Jenna war seit Jahren nicht mehr Auto gefahren, und selbst wenn – dieser riesige, seltsame Cadillac war kein normaler Wagen. Aber es war das billigste Auto gewesen, den ihr der Billigautoverleih am Flughafen angeboten hatte.

Als Jenna zur Haustür ging, wünschte sie plötzlich, dass sie sich nicht auf die Arbeit für Molly Blakes Frühstückspension eingelassen hätte. Vor einem Monat hatte Seth ihr Mollys Nummer gegeben. Natürlich war er davon ausgegangen, dass Jenna die Arbeit per Post und Fax von New York aus erledigen würde.

Und genau das hätte sie auch tun sollen. Dann könnte sie Seth jetzt, wie sie Dom versprochen hatte, die Neuigkeit erzählen, auf dem Absatz kehrtmachen und den nächsten Flug nach New York nehmen.

Während sie darauf wartete, dass jemand auf ihr Klingeln die Tür öffnete, drehte sie den Ring an ihrem Finger hin und her. Hoffentlich hatten Sue und Dom den Zettel an der Vitrine gefunden, auf dem sie ihnen mitteilte, dass sie ihn sich ausgeliehen hatte. Irgendwie hatte sie durch den Ring der geplanten Heirat mit Dom etwas Glaubwürdigkeit verleihen wollen. Seth brauchte ja nicht zu wissen, dass der Stein nur ein Zirkonia und kein echter Diamant war.

„Hallo“, sagte sie, als ihr jemand die Tür öffnete. „Sie müssen Johnny Kelsey sein.“

„Genau.“ Der Mann war um die 60 Jahre alt und hatte graues Haar. Jenna war erleichtert, dass er sich nicht an ihren Netzstrumpfhosen und ihrem Minirock zu stoßen schien.

Johnny Kelsey machte eine einladende Handbewegung und ließ Jenna eintreten. Das Haus war hell und sauber. Rund um den großen Esstisch in der geräumigen Wohnküche saßen vier Personen, die ihr Johnny Kelsey sofort vorstellte: „Das ist meine Frau Ann, unser Sohn Patrick, seine Frau Pam und ihr Sohn Jeremy. Und die junge Dame da drüben, das ist Caroline Benning. Sie arbeitet in Marge’s Diner, dem besten Restaurant der Stadt. Also werden Sie ihr bestimmt noch öfter begegnen. Sie wohnt in dem Zimmer neben Ihnen.“

„Hallo“, sagte Jenna. Ihr Blick war an Caroline hängen geblieben. Sie musste Anfang zwanzig sein, groß, schlank, mit strahlenden grünen Augen – eine typische amerikanische Provinzschönheit.

Bevor sie die anderen Anwesenden betrachten konnte, lenkte Johnny Kelsey sie ab: „Haben Sie kein Gepäck, Miss Robinson?“

Jenna musste lachen: „Wirke ich auf Sie wie eine Frau, die ohne Gepäck reist? Aber nennen Sie mich doch bitte Jenna.“

Er musterte sie von oben bis unten, ihre lackierten Fingernägel, das Hennatattoo an ihrem Hals und ihre Ohrläppchen, an denen lange Anhänger baumelten. Dann lachte er: „Ich könnte mir vorstellen, dass Sie mehr als einen Koffer mitgebracht haben.“

2. KAPITEL

Seth starrte durch das Fenster seines Büros auf die Straße hinaus, wo Jenna gerade seitlich einparkte. Vielmehr versuchte sie seitlich einzuparken.