Liebeszeiten - Thomas Neumeier - E-Book
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Thomas Neumeier

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Beschreibung

Ein Wochenende lang die Gattin eines wohlhabenden Gutsherren spielen – ein Job, der Schauspielerin Claudia zu gefallen weiß. Vor allem weil sich ihr Auftraggeber Adrian als ein überaus attraktiver Zeitgenosse entpuppt. Doch spürt sie auch, dass sie in seinem Landsitz von Geheimnissen umgeben ist. Die familiären Intrigen seiner Wochenendgäste bringen ihn und Claudia in höchste Gefahr.

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Kurzbeschreibung: Ein Wochenende lang die Gattin eines wohlhabenden Gutsherren spielen – ein Job, der Schauspielerin Claudia zu gefallen weiß. Vor allem weil sich ihr Auftraggeber Adrian als ein überaus attraktiver Zeitgenosse entpuppt. Doch spürt sie auch, dass sie in seinem Landsitz von Geheimnissen umgeben ist. Die familiären Intrigen seiner Wochenendgäste bringen ihn und Claudia in höchste Gefahr.

Thomas Neumeier

Liebeszeiten

Band 1 – Herbstküsse & Winterknistern

Roman

Edel Elements

Edel Elements

- ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH

© 2021 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2021 by Thomas Neumeier

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.

Covergestaltung: Designomicon, München.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-423-3

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Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

1. Kapitel

Ein monströses Schlagloch rumpelte die Limousine ordentlich durch. Claudia stieß mit ihrem Kopf an die Seitenscheibe. Genervt klopfte sie an das innere Sichtfenster des Fonds. „Sagen Sie mal, wie weit ist es denn noch?“

Ihr Fahrer ließ sich zu einem Seitenblick herab. „Sind gleich da“, antwortete er geduldig und formte unter seinem grauen Wuschelbart ein gruseliges Grinsen.

Claudia lehnte sich zurück und schaute hinaus. Kahle Bäume zogen vorbei, unaufhörlich, immerfort. Seit bestimmt zwanzig Minuten hatte sie nichts anderes mehr gesehen. Eine eigenartige Erfahrung für jemanden, der sein ganzes Leben fast ausschließlich in Städten verbracht hatte. Wiesen und Wälder kannte sie nur von Wanderurlauben und gelegentlichen Ausflügen mit ihrer Qigong-Gruppe, und bei solchen hatte dann üblicherweise die Sonne gelacht.

Hier und heute war es grau und trüb. Es ging auf den Dezember zu, und der späte Herbst hatte der Natur nur wenig Schönes gelassen. Manche Bäume, ihre Wurzeln von welkendem Laub bedeckt und vom Sonnenschein sträflich vernachlässigt, hatten Zweige und Auswüchse wie Klauen und Krallen gebildet. Zuweilen bewegten sich diese Glieder ganz deutlich, so als wollten sie nach jemandem greifen. Doch das war nur der Wind, wenn er streng und unvermittelt ins Gehölz fuhr.

Irgendwann lichtete sich der Wald, und die schmale Straße lotste das Fahrzeug an ein stattliches Herrenhaus aus dunkelrotem Backstein. Es bediente das barocke Vorbild eines Dreiflügelbaus. Claudia war beeindruckt. Die auf den Hof ausgerichtete Schaufassade schmückte eine prächtige Eingangspforte im Mittelhaus. Die zwei identischen Außenflügel stachen ein wenig hervor. Bedeckt von einem dunklen Satteldach verfügte das Anwesen über zwei Vollgeschosse und ein Souterrain, wie ihr die Fensterreihen verrieten. Inmitten dieser herbstlich düsteren Landschaft unter einem milchig weißen Himmel wirkte das Gebäude wie ein Sonnenaufgang.

Auf dem geschotterten Vorplatz hielt der Wagen an, und der riesenhafte Chauffeur machte Claudia die Tür auf. Sie kam der unausgesprochenen Aufforderung nach und stieg aus. Ein kühler Windstoß, der Nuancen von Moos und Harz mit sich trug, nahm sie in Empfang. Sie schaute sich um. Ringsherum war Wald. Eine Grundstücksumzäunung gab es nicht; ohne Nachbarn wohl nicht nötig.

„Das ist hier das einzige Haus weit und breit, oder wie?“

Der in eine Felljacke gezwängte Koloss antwortete nicht. Er furchte über den groben Schotter zum Kofferraum und nahm sich ihres Gepäcks an. Mit den beiden Reisetaschen verfuhr er so mühelos, als enthielten sie nur Watte. Ein paar Schritte neben der Karosserie stellte er sie ab und wuchtete sich dann wieder auf den Fahrersitz des Autos. Seine mächtige Gestalt schien den halben Fond auszufüllen.

„Ähm, Moment“, wandte Claudia ein. „Wo wollen Sie hin?“

„Den Wagen parken“, brummte er zur Antwort.

„Ah, okay. Soll ich hier auf Sie warten?“

„Wozu? Gehen Sie rein. Man wartet auf Sie.“

„Und mein Gepäck?“

„Ich bin Herrn Prewetts Diener, nicht Ihrer.“ Er startete den Motor und lenkte die schwarze Limousine um den linken Hausflügel herum, womit er sich Claudias Sichtfeld entzog.

Sie blieb mit ihren beiden Reisetaschen etwas ratlos im Hof zurück. Ein Blick zurück auf die marode Straße nährte noch einmal das in ihr schwelende Gefühl ungekannter Einsamkeit. Überall war Wald. Kahler, rauer Wald, durch den ein beißender Wind strich, der ihren Schal und ihr langes schwarzes Haar mit sich forttragen wollte.

Eine Stimme ließ Claudia herumfahren.

„Sie müssen Frau Reiff sein. Wie schön, dass Sie endlich da sind. Bitte treten Sie ein.“

Leichtfüßig tänzelte ein Mann aus der nun offenen Hauspforte die Stufen herab in den Hof. Er mochte Anfang dreißig sein, hatte schulterlanges schwarzes Haar und einen etwas vernachlässigten Flaum Bart um die Mund- und Kieferpartie. Anders als der Fahrer trug er maßgeschneiderte Kleidung: Einen schwarzen Anzug auf weißem Hemd, dem er keine Krawatte zumutete. „Ich helfe Ihnen mit dem Gepäck. Die Reise war hoffentlich nicht allzu beschwerlich – oder langweilig.“ Noch bevor Claudia zu Wort kam, nahm er ihre beiden Taschen hoch und trug sie die großzügigen Treppenstufen hinauf. „Na los, kommen Sie“, forderte er Claudia auf. „Es ist kalt hier draußen.“

Dieser Einladung kam Claudia mit Vergnügen nach. Nichts erschien ihr gerade verlockender als eine geheizte Stube und nachher ein Entspannungsbad.

„Wenn Sie bitte die Tür hinter sich schließen möchten“, regte der Gepäckträger an.

Die Hauspforte führte in eine imposante Eingangshalle. In die hölzern vertäfelten Wandfragmente waren Gemälde mit Jagdmotiven eingearbeitet, geschwungene Messinghalter trugen Laternen, ausladende rote Vorhänge flankierten die Fenster neben der Pforte. Der Boden bestand aus grauweißem Marmor. Es roch nach antikem Holz und etwas wie Petroleum. Mittig hing ein Lüster von der mit roten Fresken verzierten Decke, den Claudia mit ausgestreckter Hand zu erreichen glaubte, wollte sie es versuchen.

„Sind Sie Herrn Prewetts Kammerdiener?“, fragte sie den Mann, der sich nun andiente, ihr aus ihrem Mantel zu helfen.

„Fast richtig“, antwortete er hinter ihr. „Gestatten, Adrian Prewett. Ich habe Sie engagiert.“

„Oh, verzeihen Sie. Ich dachte-“

„Schon gut.“

Claudia ließ sich ihren Mantel abnehmen und reichte ihm dann förmlich die Hand. Adrian Prewett griff zu. Ein starker, fordernder Händedruck. Dabei lächelte er amüsiert, was Claudia über ihren kleinen Fauxpas hinweghalf. Ein durchaus gut aussehender Mann stand da vor ihr, diagnostizierte sie. Die graublauen Augen, der unstete Bart, das schulterlange Haar, in Harnisch und Waldläuferklamotten hätte er Viggo Mortensen in Herr der Ringe sein können.

„Ich bin Claudia Reiff“, stellte sie sich ihrem Auftraggeber vor. „Wie Sie ja bereits erraten haben.“

Prewett quittierte ihre Worte mit einem vornehmen Nicken, dann hängte er ihren Mantel an den einzigen freien Haken einer umfänglich bestückten Wandgarderobe. Claudia sah mehrere Windjacken. Ein Harnisch und eine Waldläuferkutte waren nicht dabei. Beinahe schade.

„Ich darf Sie bitten, im Gebäude Hausschuhe zu tragen“, sagte er und öffnete eine Kommode. „Hier, bedienen Sie sich. Die arme Edwina wird an diesem Wochenende genug zu tun haben. Wir wollen es ihr nicht unnötig schwer machen. Und sie ist ja auch nicht mehr die Jüngste.“

Claudia fügte sich. Alles andere wäre ein Affront gewesen. Aus der üppigen Auswahl an Pantoffeln und Pantoletten entschied sie sich für ein Paar weißer Haflinger, das sie nun gegen ihre Stiefel tauschte. Adrian Prewett musterte sie zufrieden. Nicht aufdringlich, aber aufmerksam. Was in ihm vorging, war schwer zu deuten. Er hatte ein sympathisches Lächeln, doch das wirkte auf Claudia nur bedingt echt. Die Augen waren das Fenster zur Seele, hieß es, und die lächelten nur bedingt.

„Nun, Claudia, jetzt folgen Sie mir bitte.“

Mit wehendem Haar fuhr er herum, nahm erneut ihr Gepäck auf und strebte eine hölzerne Stiege an, die sich an die Wand schmiegte und ins Obergeschoss führte. Sie knarzte empfindlich, als er die ersten Stufen hinter sich brachte.

Oben mündete die Stiege in einen langen Korridor, der die drei Hausflügel miteinander verband. Claudia schaute sich um. Der Boden sah aus wie quer gelegte Schiffsdielen, hier und da von meterlangen Rollteppichen bedeckt. Licht spendeten Wandlaternen, die ähnlich wie in der Eingangshalle auf Messinghaltern hockten. An den fernen Korridorenden befand sich je ein Fenster, die Claudia beiderseitig den flüchtigen Eindruck eines endlosen Meeres von Baumkronen vermittelten. Die Türen und Türstöcke waren aus dunklem Holz.

„Das ist ein sehr altes Gebäude, was?“, teilte sich Claudia dem Hausherren mit, der ihre Taschen zügig in den rechtsseitigen Ostflügel trug.

„Durchaus“, antwortete er. „Es wurde im achtzehnten Jahrhundert von einem Adelsgeschlecht errichtet. Meine Familie hat es 1790 im Tausch gegen ein Stück Land jenseits der Oder in der damaligen Königlichen Republik Polen-Litauen erworben.“

„Demnach entstammen Sie einer Adelsdynastie, Herr Prewett?“

„Einer Kaufmannsdynastie, würde ich sagen. So, wir sind da.“

Adrian Prewett stellte eine der Taschen ab und öffnete die Tür in ein einladendes Schlafzimmer. Entgegen des antiken Gewands, in dem sich der Herrensitz bislang präsentiert hatte, war es sehr modern eingerichtet und hätte sich auch gut in der Luxussuite eines Hotels gemacht. Wände in mediterranem Ocker, versteckte Rundleuchten an jeder Raumseite, meeresblaue Vorhänge an den beiden Fenstern und ein heller Boden aus Kork vermittelten eine Gemütlichkeit, die Claudia in diesen alten Mauern nicht erwartet hätte und ihr wie ein – wenngleich willkommener – Stilbruch vorkam.

„Nicht jedes Zimmer ist Jahrhunderte alt“, erklärte Prewett schmunzelnd. „Ich lasse hier und dort immer wieder mal etwas renovieren. Falls die Handwerker hierher finden.“

„Nett“, kommentierte Claudia lakonisch.

Prewett durchmaß den Raum und passierte ein beinahe märchenhaft anmutendes Himmelbett mit weißen Gardinen. Zwei unaufdringliche Türgriffe beiderseits des Bettes ließen auf einen angeschlossenen Ankleideraum schließen.

„Das hier ist mein Schlafzimmer, wie Sie wahrscheinlich erahnen. Für Sie habe ich nebenan ein Bett aufstellen lassen. Ich hoffe, es sagt Ihnen zu.“

Ein weiterer Raum, der nur durch das Schlafzimmer des Hausherrn zu betreten war, konnte Claudias vormals geschürte Erwartungen nicht erfüllen, doch würde sie sich zweifelsohne damit arrangieren können. Es gab ein Bett, eine sichtlich vom Zahn der Zeit mitgenommene Kommode und einen verspiegelten Kleiderschrank. Eine ergraute Gardine umrandete das einzige Fenster, und an der Decke hing ein ausgefranster Lampenschirm aus karmesinrotem Stoff. Der Boden war aus denselben Dielen wie der im Korridor beschaffen. Weitaus weniger gemütlich als das Schlafzimmer nebenan, doch dem Zweck entsprechend vollkommen akzeptabel. Und es war ja auch nur für zwei Nächte.

„Hier können Ihre Sachen erst mal bleiben“, sagte Prewett. „Einrichten können Sie sich später. Kommen Sie nun bitte mit in mein Arbeitszimmer. Dort besprechen wir, was ich an diesem Wochenende von Ihnen erwarte.“

Adrian Prewetts Arbeitszimmer, das gleich gegenüber auf der anderen Seite des Korridors gelegen war, entpuppte sich wie sein Schlafzimmer als ein Stück Gegenwart in einem ansonsten altertümlichen Schloss. Wären da nicht dieselben weißen Sprossenfenster gewesen, Claudia hätte einen Sprung durch Raum und Zeit in ein elitäres Anwaltsbüro in Betracht gezogen. Auch ein zugeklapptes Notebook stand auf Prewetts Schreibtisch.

„Haben Sie hier Internetzugang?“

Prewett bestätigte, wollte dieses Thema jedoch offenbar nicht näher erörtern. Er nahm an seinem Arbeitstisch Platz und wies Claudia den Stuhl gegenüber.

„Zunächst sollten wir uns angewöhnen, uns mit unseren Vornamen anzusprechen“, sagte er. „Wir müssen uns duzen und sollten direkt dazu übergehen. Deine Aufgabe wird es sein, meine Gattin Susanna zu spielen, wie ich deinem Agenten bei der Auftragserteilung schon angetragen habe.“

„Verstanden.“

Adrian und Susanna. So weit, so gut. „Also, erklär mir meine Rolle. Wer bin ich? Was muss ich wissen? Über unsere Ehe, das Haus und die Umgebung, deine Familie. Deine Gäste werden mir Fragen stellen.“

„Ja, das steht zu befürchten“, räumte Adrian seufzend ein. „Aber ich halte es für angeraten, wenn du jedwede Fragen mich beantworten ließest. Um Peinlichkeiten zu umgehen, solltest du keine Zeit mit ihnen verbringen, wenn ich nicht in der Nähe bin.“

„Peinlichkeiten?“

„Meine Gäste dürfen die Täuschung nicht durchschauen.“

„Ich bin Schauspielerin, Adrian“, trug Claudia salbungsvoll vor. „Wenn du mich nur lässt, werde ich dir die perfekte Ehefrau spielen. Das kann ich aber nur, wenn ich ausreichend vorbereitet bin. Ich brauche Informationen. Einen Background. Unseren Background. Wann haben wir geheiratet? Wo haben wir geheiratet? Wann und wo haben wir uns kennengelernt? Hast du mich aufgerissen oder ich dich? Warum haben wir noch keine Kinder? Wer sind deine Schwiegereltern? Wer sind meine Schwiegereltern? Welchem Beruf gehe ich nach? Welchem Beruf gehst du nach? Solche Dinge muss ich wissen, um interagieren zu können.“

Adrian beäugte sie forschend. „Interaktion ist nicht nötig. Sogar kontraproduktiv. Ich zöge es vor, du spieltest eine unterwürfige, schüchterne Persönlichkeit. Rede nur, wenn es unbedingt sein muss.“

„Wenn du das wünschst, Adrian, werde ich das“, lenkte Claudia ein. „Nichtsdestotrotz sollte ich doch ein paar Dinge über uns wissen. Also, fang an. Wer sind wir? Wer bin ich?“

Nach einem kurzen Crashkurs über ihre vermeintlichen Familienverhältnisse verabschiedete sich Adrian von Claudia mit der Begründung, noch einiges für die Gäste vorbereiten zu müssen. Claudia kehrte in ihr Zimmer zurück und packte ihre Reisetaschen aus. Bei der Gelegenheit warf sie einen Blick auf ihr Handy. Wie erwartet gab es in dieser Einöde keinen Netzempfang.

Sie war noch dabei, ihren Kleiderschrank zu bestücken, als eine rundliche Dame in ihr Zimmer platzte und sich als Edwina und Haushälterin Herrn Prewetts vorstellte. Sie war um die siebzig, hatte das graue Haar zu einem strengen Zopf geflochten und trug ein bis zum Kragen zugeknöpftes schwarzes Kleid. Eine warmherzige Ausstrahlung ging von ihr aus, womit sie dem Kinoklischee der treusorgenden Kraft eines wohlhabenden, aber unselbstständigen Playboys zu entsprechen schien. Claudia rief sich in Erinnerung, dass sie rein gar nichts über Adrian Prewett wusste. Wohlhabend war er offensichtlich, er sah außerdem gut aus, doch das machte ihn noch nicht zu einem Playboy. Vor allem angesichts der Annahme, dass es in dieser Abgeschiedenheit nicht allzu oft zu Begegnungen mit der Damenwelt kommen dürfte.

„Sie haben noch keine Hausführung genossen?“, empörte sich Edwina ob der Unhöflichkeit des Gastgebers. „Nun, dann werden wir das unverzüglich nachholen. Lassen Sie Ihren Kram liegen, Claudia, und kommen Sie mit. Sie müssen sich hier doch auskennen, um Ihre Rolle überzeugend zu spielen.“

Dem konnte Claudia nichts entgegensetzen. Sie ließ ihre Taschen halb ausgepackt liegen und brach mit Edwina zu einer häuslichen Erkundungstour auf.

„Meine Zeit ist leider eng bemessen“, schickte Edwina voraus. „Die Herrschaften haben sich zum Abendessen angekündigt, deshalb muss es schnell gehen.“

„Sie sind auch Herrn Prewetts Köchin?“, fragte Claudia.

„Ich erledige alle Arbeiten, die in diesem Haus anfallen“, antwortete Edwina nicht frei von Stolz. „So bin ich selbstverständlich auch für das leibliche Wohl von Herrn Adrian verantwortlich. Lediglich das Abziehen der Häute, wenn er Rotwild geschossen hat, übernehmen er und Karolus. Wofür ich sehr dankbar bin.“

„Karolus … ist das der große Bärtige, der mich hergebracht hat?“

„Ganz recht. Eine treue Seele.“

Die beiden flanierten auf den Korridor hinaus.

„Hier im Ostflügel befinden sich Herrn Adrians meistgenutzte Räumlichkeiten“, klärte Edwina Claudia auf. „Die Gäste werden ausnahmslos im Westflügel untergebracht. Ich zeige Ihnen die vorbereiteten Zimmer, dann gehen wir nach unten.“

„Wer kommt denn eigentlich zu Besuch?“, fragte Claudia.

„Die Geschwister von Herrn Adrian“, gab Edwina zur Antwort, wobei sie vornehm die Nase rümpfte, so als behagte ihr der Geruch nicht, den sie von diesen Geschwistern zu erwarten hätte. „Und ihr … angeheiratetes Gefolge“, fügte sie schnippisch hinzu, und dieses Mal waren ihre Vorbehalte nicht zu überhören.

Eine Familiensache also. Claudia war gespannt, was da auf sie zukam. Sie durfte einen Blick in die wenig einladenden Gästezimmer und das im Gegensatz dazu überaus behagliche Badezimmer des Westflügels werfen, dann kehrte sie mit Edwina über die Stiege in die Eingangshalle zurück. Von hier führte der Flur in den Ostflügel des Parterres unter anderem an einem Trophäensaal vorbei, in dem etwa drei Dutzend präparierte Tierköpfe an den Wänden prangten. Der Flur mündete in den Speisesaal, wo die Herrschaften laut Edwina heute Abend dinieren würden. Die rustikalen Schränke an den beiden kürzeren Wandseiten, die dezente Beleuchtung, die gemusterten Teppichböden und nicht zuletzt der massiv hölzerne Tisch mit seinen stilgleich beschaffenen Stühlen entsprachen Claudias Erwartungen von einem altehrwürdigen Herrensitz in Vollendung. Sie spürte den Atem der Vergangenheit, einen Hauch von Geschichte. Die Vorstellung, wie viele vielleicht einflussreiche Persönlichkeiten in den vergangenen dreihundert Jahren hier gesessen, gespeist und diskutiert hatten, war Ehrfurcht gebietend und rang ihr eine prickelnde Gänsehaut ab.

„Wundervoll“, verlieh sie ihren Empfindungen Ausdruck.

„Vor allem viel abzustauben“, merkte Edwina geringschätzig an. „Nebenan befindet sich der Salon.“

Durch eine Flügeltür mit goldenen Glasfragmenten gelangte man in einen Raum mit einem halben Dutzend ledernen Sesseln und Couchteilen und einem langen Bücherregal. Im Kamin prasselte ein Feuer. Es roch ein wenig nach Ruß, nach abgestandenem Zigarrenrauch und der undefinierbaren Note einer Duftmischung, welche die steinerne Wasserschale auf einem Buffet neben der Tür verbreitete.

„Hier beliebt Herr Adrian zu lesen und dabei viel zu viel von seinem Lieblingsweinbrand zu trinken“, seufzte Edwina wie eine Mutter über ihr schwer erziehbares Kind. „Das Rauchen hat er sich zum Glück abgewöhnt. Seine Gäste leider nicht.“

„Ich verstehe hier etwas nicht ganz, Edwina“, warf Claudia ein. „Wenn Herrn Adrians Gäste regelmäßig hier sind, müssen sie doch durchschauen, dass er nicht seit vier Jahren mit mir verheiratet ist.“

„Oh nein, nicht doch“, winkte Edwina ab. „Herrn Adrians gewohnte Gäste sind nicht diejenigen, die er heute erwartet. Hier drin sitzt er mit seinen Jagdfreunden, den Leuten von der Stiftung, dem Forstrat Habicht oder Geschäftsfreunden, die er auf eine Partie Schach zu sich einlädt. Seine Geschwister waren zuletzt bei der Trauerfeier ihres Vaters in diesem Haus. Das ist sieben Jahre her.“

„Keine Frauen?“

„Wie bitte?“

„Sie sprachen von Jagd- und Schachfreunden“, sagte Claudia und hoffte, nun keine Frage zu stellen, die die alte Frau brüskierte. „Hat Herr Adrian denn nie Besuch von … nun … von Frauen?“

„Nein, hat er nicht“, stellte Edwina klar und fuhr herum. „Kommen Sie, die Zeit drängt und wir haben noch den unteren Westflügel und das Souterrain vor uns.“

Sie marschierte den Weg zur Eingangshalle zurück. Claudia holte zu ihr auf.

„Bitte entschuldigen Sie, wenn ich zu persönlich geworden bin“, trug sie der Haushälterin an. „Es ist nur … ich soll hier eine Rolle spielen, aber kenne die Hintergründe nicht. Das macht es schwierig für mich, überzeugend zu sein. Ich würde einfach gerne verstehen, weswegen Herr Adrian jemanden braucht, der seinen Geschwistern vorspielt, seine Frau zu sein. Und weshalb das so wichtig für ihn ist.“

„Wenn Herr Adrian Sie diesbezüglich nicht aufgeklärt hat, so hat er gewiss seine Gründe dafür“, erwiderte Edwina resolut.

„Das mag sein, aber es erschwert meine Arbeit. Und von der scheint doch eine Menge abzuhängen, oder?“

Edwina blieb abrupt stehen und taxierte Claudia mit einem unverwandt strengen Blick. „Wie kommen Sie darauf?“

Claudia zuckte wie ertappt mit ihren Schultern, als sie antwortete: „Nun, das hat Herr Adrian durchblicken lassen.“

Edwina schien kurz zu überlegen, dann nickte sie vage und ging weiter. Claudia folgte.

Da Edwina nun eisern schwieg, setzte Claudia erneut an: „Ich sehe meinen Bruder mindestens einmal im Monat, und außerdem telefonieren wir. Adrian und seine Geschwister müssen sich dagegen sehr fremd sein. Andernfalls könnten wir an diesem Wochenende kein derartiges Schauspiel inszenieren.“

„Das schätzen Sie richtig ein“, bestätigte Edwina knapp.

„Dürfte ich erfahren, warum das so ist? Solche Informationen sind sehr wichtig für mich, um mich auf meine Rolle einzustimmen.“

Das schien Edwina einzusehen. Während sie Claudia die im Parterre gelegenen Räumlichkeiten des Westflügels zeigte, erzählte sie von einem tragischen Jagdunfall, der eines der vier Prewett-Geschwister wenige Monate, bevor auch ihr Vater gestorben war, das Leben gekostet hatte.

„Es war Frau Bianca, Herrn Adrians ältere Schwester. Die beiden waren zusammen auf Wildschweinjagd. Ein gewaltiger Keiler ist über sie hergefallen. Frau Bianca ist wenig später hier in diesem Haus ihren Verletzungen erlegen.“

„Wie furchtbar.“

„Es hat die Familie zerrissen“, seufzte Edwina. „Das, was noch von ihr übrig war.“

Warum Adrian seinen Geschwistern vorgaukeln musste, verheiratet zu sein, wusste Claudia nach wie vor nicht, doch war ihr die Familie Prewett nach der tragischen Geschichte von dem Jagdunfall schon etwas greifbarer als vorher. Edwina führte sie zuletzt noch ins Souterrain hinab, wo sie und Karolus ihre Schlafräumlichkeiten hatten, sich die Küche, die Vorratsräume, die Waschküche und der Ausweideraum für das Wild befanden und darüber hinaus noch ein paar weitere Schlafräume für etwaiges Gesinde. Da Adrian Prewett neben Edwina und Karolus niemanden beschäftigte, blieben diese so unbenutzt wie das Klavier in einem zweiten Salon im Westflügel, den Claudia zuvor hatte einsehen dürfen. Laut Edwina hatte Frau Bianca zu Lebzeiten oft darauf gespielt.

„Diese Tür führt in den Garagenanbau auf der Rückseite des Hauses“, sagte Edwina und deutete auf eine morsch aussehende Holztür.

Ein leises Brummen erfüllte diesen Teil des Souterrains. Claudia horchte genauer hin. „Was ist das?“

„Der Stromgenerator“, erläuterte Edwina reserviert. „Er befindet sich am Ende des Ganges neben dem Dieseltank.“

„Aller Strom wird von einem Generator erzeugt?“

„Zumindest wann immer die Leitung gestört ist. Was leider recht häufig vorkommt.“

„Verstehe. Wo ist denn hier die nächste Tankstelle?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete Edwina hoheitsvoll. „Um diese Dinge kümmert sich Karolus. Er macht auch sämtliche Besorgungen.“

Claudia scheute sich, danach zu fragen, doch es klang ein wenig so, als säße Edwina das ganze Jahr über in diesem alten Kasten fest. Claudia an ihrer Stelle würde wahrscheinlich verrückt werden.

„Was sollte ich über die Umgebung wissen?“

„Wie meinen?“

„Na, über die Umgebung. Was sollte ich über die wissen? Was ist hinter den Wäldern? Wie heißt die nächste Ortschaft? Wie weit reichen Adrians Ländereien?“

Edwina musterte Claudia misstrauisch. Erst nach einigem Zögern antwortete sie: „Herrn Adrians Ländereien reichen sehr weit. Und was sich hinter den Wäldern befindet, sollten Sie besser wissen als ich.“

Schon wieder eine Andeutung, wonach Edwinas Welt sich wohl auf dieses Gebäude konzentrierte.

„Na schön“, lenkte Claudia ein. „Und das Grundstück? Gibt es einen Pflanzgarten? Oder eine Gartenlaube?“

„Meine Pflichten in diesem Haus erlauben mir keinen Freiraum für einen Pflanzgarten“, erwiderte Edwina eine deutliche Spur angesäuert. „Es gibt auch keine Gartenlaube. Am rückwärtigen Waldrand finden Sie einige Gräber. Auch die der alten Herrschaften Prewett, die ich noch gekannt habe.“

„Dort sind dann wohl schon viele Prewetts begraben.“

„In der Tat“, sagte Edwina und wies Claudia die Stiege nach oben. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten, ich muss mich um das Essen kümmern.“

„Natürlich. Vielen Dank für die Führung.“

Claudia stieg nach oben, wobei sie über das flaue Gefühl schmunzelte, das sie gerade heimsuchte. Manche Leute hatten Obstbäume oder einen hübschen Teich im Garten, die Prewetts hatten ihre Familiengräber.

Zurück in der Eingangshalle trat Claudia an eins der Fenster, welche die Eingangspforte flankierten, und erspähte einen moosgrünen Geländewagen auf dem Vorplatz. An der offenen Ladefläche stand hoch wie ein Berg Karolus und prüfte mit seinen schaufelgroßen Händen die Schneide einer mächtigen Holzfälleraxt. Er legte sie neben einen Spaten auf die Ladefläche. Adrian trat zu ihm und drückte ihm etwas in die Hände, das in ein rotes Stück Stoff eingewickelt war. Es maß etwa die Länge der Axt. Karolus platzierte es neben sie, wobei Adrian eindringlich auf ihn einredete. Adrian war alles andere als klein gewachsen, doch Karolus reichte er gerade so bis zur Brust. Was er ihm mitzuteilen hatte, hörte Claudia nicht. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und richtete sich weiter ein.

Claudia testete gerade die Weichheit ihrer Matratze, als sie im Schlafzimmer nebenan Schritte vernahm. Sie setzte sich auf, und im nächsten Moment erschien Adrian im Türrahmen.

„Bitte sieh mir nach, dass ich vorhin so kurz angebunden war“, sprach er. „Der bevorstehende Besuch bereitet mir ein paar Komplikationen. Um nicht zu sagen Kopfschmerzen, wie du dir vielleicht denken kannst. Nun habe ich ein wenig mehr Zeit, mich um deine Belange zu kümmern. Ich hoffe, du fühlst dich wohl in meinem Haus.“

„Bislang habe ich nichts daran auszusetzen“, antwortete Claudia. „Edwina ist sehr nett.“

„O ja, die gute Seele dieses Gemäuers“, sagte Adrian schmunzelnd. „Ich wüsste nicht, was ich ohne sie täte.“

„Wie lange ist sie schon in deinen Diensten?“

„Seit ich ein kleiner Junge war. Ich könnte mir dieses Haus nicht ohne sie vorstellen.“

Claudia musterte ihn. Einerseits wirkte er wie ein gewandter Mann von Welt, andererseits wie ein erwachsenes Kind, das noch immer auf seine Amme angewiesen war.

„Fühlst du dich bereit, deine Rolle anzunehmen, Claudia?“, fragte er.

Claudia nickte. „Ein paar Informationen mehr wären mir für einen überzeugenden Auftritt dienlich, aber wenn ich nicht mehr erfahren soll, dann kann ich das hinnehmen.“

„Das ist erfreulich“, konstatierte Adrian und machte eine Geste, ihm zu folgen. „Komm. Ich erkläre dir die Sitzordnung an der Tafel und erzähle dir von meinen Gästen. Ich nehme an, es gereicht uns beiden zum Vorteil, wenn ich dich von jetzt an mit Susanna anspreche. Gewöhne ich mir Claudia an, könnte ich nach ein paar Gläsern Brandy einen peinlichen Fehler begehen.“

Claudia stand auf und leistete seiner Aufforderung Folge. „Dann lass den Brandy doch weg.“

Er kräuselte die Lippen. „Nicht die schlechteste Idee.“

Unten im Speisesaal setzte sich Adrian an die Stirnseite des antiken Tisches. „Dir gebührt der Platz zu meiner Rechten, hier.“ Er bedachte den leeren Stuhl mit einer weichen Geste.

Claudia nahm ihren Platz ein.

„Dir gegenüber wird meine bezaubernde Schwester Emilia dinieren“, fuhr er fort und nickte dem Stuhl der noch nicht anwesenden Schwester so förmlich wie gönnerhaft zu. „Wie ich sie kenne, wirst du von ihr die eine oder andere Stichelei über dich ergehen lassen müssen. Gehe nicht darauf ein. Überlasse die Antworten mir.“

„Wie es dir beliebt, o mein Gemahl“, entgegnete Claudia mokant.

Adrian begegnete der Spitze mit einem gewogenen Nicken. „Neben Emilia sitzt ihr Angetrauter Rupert. Er ist Musikproduzent und zuweilen ein ziemlich selbstgefälliger Aufschneider. Von ihm hast du ein paar nichtssagende Komplimente zu erwarten, vielleicht sogar ein Angebot, deine Stimme als neues Gesangswunder zu vermarkten. Nimm seine Komplimente mit einem Lächeln an, aber lass dich auf keine Diskussion ein. Man unterschätzt ihn leicht, aber er verfügt durch seinen Beruf über eine Menge Menschenkenntnis und ist wahrscheinlich derjenige, der unseren Bluff am ehesten zu durchschauen vermag.“

„Okay, verstanden.“

Als würde sie die Rollenverteilung eines Drehbuchs studieren, sortierte Claudia die Informationen in geistige Schubladen, die jetzt nur noch darauf warteten, mit den jeweiligen Gesichtern versehen zu werden. Emilia, die bezaubernde Schwester, und Rupert, der nicht zu unterschätzende Musikproduzent.

„Neben dir wird mein kleiner Bruder Gunther Platz nehmen“, führte Adrian seinen Vortrag fort. „Von ihm hast du wenig zu befürchten. Er hat mit Abstand den besten Charakter in unserer Familie. Er ist Autor von Gruselnovellen. Wie es scheint, kann er davon leben. Liegt vielleicht daran, dass er vor zwei Jahren seine Verlegerin geheiratet hat. Ich kenne diese Frau noch nicht und kann somit auch nicht abschätzen, was von ihr zu erwarten ist. Sie ist ein Unsicherheitsfaktor, doch ich denke, er ist kontrollierbar. Wie siehst du das, liebe Susanna?“

„Genau wie du, Adrian.“

„Fabelhaft.“ Er grinste, doch das verflüchtigte sich schnell wieder. „Zu meinem Bedauern werden wir uns noch auf einen weiteren Gast einstellen müssen: Farin Welf, den Gatten meiner verblichenen Schwester Bianca. Gehe ich recht in der Annahme, dass dir Edwina von ihrem Unfall erzählt hat?“

Claudia bestätigte durch ein zaghaftes Nicken.

„Gut. Dann wird dir notfalls eine Antwort auf der Zunge liegen, sollten sich die Gespräche in gefährliche Richtungen entwickeln.“

„Ich verstehe nicht ganz“, wandte Claudia ein. „Was meinst du mit gefährlichen Richtungen? Das ist doch nur ein Familientreffen, oder?“

„Nur ein Familientreffen“, entgegnete Adrian spöttisch. „O ja, in der Tat, das ist es. Doch vermutlich das gefährlichste Familientreffen, das es je in diesen Mauern gegeben hat.“

„Soll mir das jetzt Angst einjagen?“

„Nein, nur Respekt“, sagte Adrian und taxierte sie eindringlich. „Vermeide bitte Improvisationen. So sagt man doch in deinem Jargon, nicht wahr? Vermeide unüberlegte Vorstöße, von denen du nicht absehen kannst, wohin sie führen. Vermeide es generell zu sprechen, wenn es nicht unbedingt sein muss.“

„Okay, ich werde mich an den Rat halten.“

„Darauf muss ich bestehen, Susanna.“

Er hatte wundervolle, tiefgründige Augen, doch etwas darin beunruhigte Claudia gerade. In der Dunkelheit dahinter flackerte es. Vielleicht ein alter Schmerz, vielleicht eine nie gestillte Sehnsucht, vielleicht die Einsamkeit, die er hier draußen in dieser Einöde Tag für Tag durchlebte. Adrian Prewett war ein attraktiver Mann. Jedoch einer mit Geheimnissen, von denen Claudia nicht recht wusste, ob sie sie durchschauen wollte.

„Erwarten wir noch andere Gäste?“, lenkte sie das Augenmerk in geschäftliche Gefilde zurück.

„Nein“, antwortete Adrian. „Das heißt, doch. Sollte Farin auftauchen – und damit müssen wir rechnen –, hat er wahrscheinlich einen Diener bei sich. Der wird allerdings nicht mit uns speisen.“

„Er speist mit Karolus und Edwina im Keller, wie?“

„Im Souterrain, so ist es.“

„Ganz den englischen Sitten entsprechend“, konstatierte Claudia. „Die Dienerschaft speist im Keller und nimmt am Tisch die Platzordnung ihrer jeweiligen Herren ein. Ich habe da mal einen guten Film gesehen. Magst du eigentlich Filme, Adrian?“

„Nein, ich habe nicht einmal einen Fernseher.“

„Oh, wie schade.“

„Ich erachte es als einen Segen. Wo wir schon beim Thema sind, muss ich dich fragen, inwieweit die Gefahr besteht, dass meine Gäste dich erkennen könnten. Ich habe freilich um eine unbekannte Schauspielerin gebeten, nichtsdestotrotz drängt sich diese Frage auf.“

Unbekannte Schauspielerin. In der Tat war sie das noch, sah Claudia der Realität ins Auge, doch es schmerzte jedes Mal, darauf hingewiesen zu werden. Die böse Dreißig war nicht mehr allzu fern. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, um als die junge Wilde, als die sie sich nach wie vor sah, von sich reden zu machen.

„Deine Geschwister verfügen demnach also über Fernsehen“, schlussfolgerte sie.

„Ich fürchte schon“, gab er aalglatt zur Antwort. „Also?“

Es nagte an ihrem Stolz, diese Frage ehrlich zu beantworten, doch das war sie ihrem Auftraggeber schuldig.

„Ich habe in noch keiner großen Produktion mitgewirkt“, gestand sie ein. „Meine Auftritte beschränken sich auf Gastrollen in Serien und kleine Nebenrollen in wenig beachteten Spielfilmen.“

„Werbespots?“ Claudia verneinte. „Dann sehe ich gute Chancen, dass wir unsere Aufgabe meistern.“

„Verzeih, aber warum ist das eigentlich so wichtig?“, fragte Claudia. „Was hat es deine Geschwister zu kümmern, ob und mit wem du verheiratet bist?“

Adrian nahm einen Atemzug und beäugte sie abschätzig, so als müsse er erst verifizieren, inwieweit Claudias Funktion es wert war, in solche Dinge einbezogen zu werden.

„Du scheinst eine reizende Person zu sein, Claudia Reiff“, meinte Adrian und schaute ihr tief in die Augen. „Doch es gibt Dinge, die du besser nicht weißt. Zu deinem eigenen und zu meinem Schutz. Oder sagen wir: in unser beider Interesse.“

„Das scheint mir schon wieder ein Versuch, mich einzuschüchtern“, entgegnete Claudia. „Das kannst du dir sparen, Adrian. Deine Familienverhältnisse interessieren mich nur wegen dieses Jobs. Ich möchte möglichst viel wissen, um meiner Rolle gerecht zu werden. Persönlich liegt mir rein gar nichts daran. Deine Familiengeheimnisse, dein Verhältnis zu deinen Geschwistern, all das interessiert mich herzlich wenig. Ich möchte nur einen glaubwürdigen Job abliefern.“

„Laut deinem Agenten kannst du das auch so.“

„Ich denke, dass ich das kann, ja.“

„Hervorragend, dann ist alles Nötige gesagt.“ Adrian klatschte zufrieden in die Hände und erhob sich von der Tafel. „Wenn du noch Fragen hast, konsultiere mich. Ich bin in meinem Arbeitszimmer.“

„O ja, ich habe noch Fragen“, sagte Claudia und stand ebenfalls auf. „Die Wichtigste zuerst: Was soll ich heute Abend tragen? Ich habe Kleider mit unterschiedlichen Attributen mitgebracht. Festlich, elegant, aufreizend, schlicht …“

„Ich hatte vor, dir ein Kleid bereitzustellen“, entgegnete Adrian. „Aber wenn du passende Garderobe bei dir hast, bestens. Es sollte ein knöchellanges Kleid sein. Ohne Dekolleté.“

„Auch so eins habe ich.“

„Dann trage es.“ Adrian nahm bereits Schritt auf, den Speisesaal zu verlassen.

„Ich würde gerne ein Bad nehmen und mich zurechtmachen“, rief ihm Claudia hinterher. „Welches Badezimmer darf ich benutzen?“

„Welches immer du willst“, erwiderte Adrian und vollführte mit ausladenden Armen eine schwungvolle Hundertachtziggraddrehung. „Du bist hier zu Hause, Susanna. Verinnerliche das und handle entsprechend. Tue, was immer dir beliebt. Vor meiner Frau habe ich nichts zu verbergen.“

Von wegen, dachte Claudia und schaute dem davonstolzierenden Hausherrn nach.

Claudia entschied sich für das prachtvolle Badezimmer im Obergeschoss des Westflügels. Es war mindestens dreimal so groß wie ihr umfunktioniertes Schlafzimmer und mit seinen sonnengelben und in Waldesgrün übergehenden Fliesen überaus einladend und freundlich gestaltet. Ein großes Waschbecken, ein WC, eine gläsern ummantelte Dusche, in der vier Personen gleichzeitig Platz fänden, eine Längswanne und noch ein Marmorbecken, das wohl ein Whirlpool war, machten den Raum aus. Auf einer gefliesten Ablage neben der Dusche stellte Claudia ihr Schminketui sowie den Beutel mit den Schuhen und der frischen Unterwäsche ab.

Der Marmorpool lockte verführerisch, doch Claudia drehte den Knauf an der kleineren Wanne. An der gegenüberliegenden Wandseite prägte das Bildnis eines prächtigen Hirschs die Fliesen. Aufdringlich, aber sehr gefällig, wie Claudia befand. Wie es aussah, stand ihr ein mit Einschränkungen gemütliches und definitiv komfortables Wochenende bevor. Sie hatte schon sehr viel schlechtere Jobs gehabt.

Die getragenen Klamotten verschwanden in einer mitgeführten Tasche. Von einer Auswahl an Badeölen gab Claudia einen Spritzer Rosmarin ins Wasser, dann stieg sie zu und übergab sich der wohligen Wärme des duftenden Bades. Durch das einzige Fenster des Raumes sah sie, dass sich der gräuliche Himmel zu verfinstern begann. Kein Grund zur Eile. Adrian hatte ihr nicht mitgeteilt, wann die Gäste ankommen würden. Augenscheinlich wusste er es selbst nicht genau. Und da sie seine Gattin und damit gleichbedeutend die Hausherrin verkörperte, hatte ihr auch niemand Vorhaltungen zu machen, sollte sie noch unpässlich sein, wenn sie eintrafen.

Sie verbrachte etwa zwanzig Minuten in der Wanne, während derer es draußen betulich dunkler wurde. Der Abend zog herauf und sollte die erwarteten Gäste bald ins Haus wehen. Es war Zeit, sich auf die Begegnung vorzubereiten.

Als Claudia in den Korridor hinaustrat, vernahm sie Stimmen aus der Eingangshalle. Die ersten Gäste waren anscheinend eingetroffen. Sie stieg die Treppe hinunter und sah Adrian, wie er an der Pforte einen ebenfalls schwarz gekleideten Mann umarmte.

„Es tut unsagbar gut, dich wiederzusehen, Gunther“, sagte er und klopfte dem anderen auf den Rücken.

„Ich freue mich auch, Adrian“, bekundete der.

Daneben stand etwas teilnahmslos eine Frau von etwa vierzig Jahren mit schulterlangen dunklen Haaren. Sie trug gewöhnliche Alltagsklamotten, wie Claudia sie in ihrer Freizeit ebenfalls gerne anzog: eine weit geschnittene Jeans, eine Bluse und eine Lederjacke, die ihr gerade von Karolus, der nun wie Adrian in einem eleganten schwarzen Anzug steckte, abgenommen wurde.

Die so ungezwungene Aufmachung der Frau war Claudia sympathisch, gleichwohl irritierte sie sie. Claudia hatte sich in ihr bestes Kleid geschnürt und ihre Haare hochgesteckt, um den Erwartungen einer vornehmen Gesellschaft gerecht zu werden. Nun stand hier jemand, dem man samstagmorgens auch in einem beliebigen Discounter über den Weg laufen könnte.

„Ah ja, nun kann ich euch endlich miteinander bekannt machen“, sagte Adrian und löste sich aus der Umarmung des jüngeren Mannes. „Susanna, komm her und lerne meinen kleinen Bruder kennen.“

Auch die anderen, inklusive Karolus, schauten zu Claudia auf, die sich alle Mühe gab, mit einem deutlichen, aber nicht überfrachteten Lächeln die letzten Stufen hinab zu schweben.

„Wie schön“, tat sie sich den Versammelten mit einem schüchternen Anstrich kund. „Adrian hat mir schon viel von dir erzählt, Gunther. Ich freue mich.“

„Du freust dich? Dann muss Adrian aber einiges ausgespart haben“, witzelte Gunther, ein bartloser Endzwanziger mit kurzen schwarzen Haaren.

Claudia glitt zu ihm hin, und Gunther küsste galant ihre Hand.

„Es ist mir ein Vergnügen, Susanna, endlich der Frau gegenüberzustehen, die meinen Bruder so glücklich macht“, verlautete er einnehmend, während er sie aus kleinen grauen Augen anschaute. „Du bist eine Bereicherung für unsere Familie.“

„Was für ein reizender Schmeichler dein Bruder doch ist, Adrian“, entgegnete Claudia mit einem für Adrian hoffentlich akzeptablen Maß an Entzückung.

„Ja, das war er schon immer, unser Jüngster“, ergänzte Adrian gnädig und legte noch einmal einen Arm um seinen Bruder.

„Jetzt lasst mich euch meine Aglaia vorstellen“, sagte er, befreite sich von Adrian und fuhr zu seiner bislang wenig beachteten Begleitung herum. „Aglaia, das ist mein Bruder Adrian.“

„Ist mir nicht entgangen“, sagte die Angesprochene und begab sich hinzu.

„Freut mich“, sagte Adrian lakonisch, schüttelte ihre Hand, versagte ihr aber einen Handkuss.

Auch Claudia schüttelte Aglaias Hand und tauschte einen flüchtigen Blick mit ihr. Sie glaubte in ihrer Miene zu lesen, dass sie nicht unbedingt gern hier war. Nun ja, sie war Literatin und Gunthers Verlegerin, wie Claudia sich erinnerte. Diese seltsam hoheitsvolle Welt hier war wahrscheinlich nicht die ihrige – genauso wenig wie Claudias.

„Nun denn, bitte“, sagte Adrian und gestikulierte. „Begeben wir uns doch in den Salon, bis die anderen eintreffen. Hast du mit Rupert telefoniert, Gunther?“

„Nein, wir haben uns ewig nicht mehr gesprochen.“

Abermals den Arm um die Schultern seines kleinen Bruders führte Adrian die Anwesenden am Trophäenzimmer vorbei in den Speisesaal und hielt auf den Salon zu. Die eindrucksvolle Tafel war inzwischen inklusive zweier fünfgabeliger Kerzenständer für sieben Personen gedeckt, wofür weniger als die Hälfte der Tischfläche beansprucht werden musste. Claudia zählte in Gedanken durch: Sie und Adrian, Aglaia und Gunther, die noch ausstehende Schwester der Prewetts mit ihrem Angetrauten, und dann noch der Witwer der verstorbenen Schwester. Sieben Tischgäste. Sympathisch überschaubar und damit auch berechen- und kontrollierbar. Claudia erwartete keine nennenswerten Probleme, ihrer Rolle gerecht zu werden.

Im Salon ließ Adrian sich in einen Sessel nahe des Kamins fallen. „Darf ich euch einen Drink anbieten?“

Karolus hatte ein Panel im Bücherregal geöffnet, in dem sich eine beleuchtete Minibar zu erkennen gab. Routiniert goss er seinem Herrn einen Bodendecker Weinbrand in einen Schwenker und reichte ihn ihm. Von der Gepflogenheit, erst die Gäste zu bewirten, hielt Adrian anscheinend nicht viel.

Auch Gunther ließ sich einschenken, Aglaia verzichtete, genau wie Claudia. Sie vertrug Alkohol nicht sonderlich gut, und wenn sie arbeiten musste, mied sie ihn grundsätzlich.

„Erzähl mal, wie verkaufen sich deine Pockethefte, Gunther?“, lud Adrian leutselig ein. „Man nennt das doch so, oder? Pockethefte?“

„Ich kann mich nicht beklagen“, gab Gunther nach einem Schluck aus seinem Glas zur Antwort. „Meine Reihe wird weiterlaufen. Mehr kann ich nicht erwarten. Meine Verlegerin kann dazu sicher mehr sagen, wenn sie möchte.“ Er schaute sich nach Aglaia um.

„Dein Bruder verkauft sich sehr gut, Adrian“, erklärte sie erhaben und trat einen Schritt näher. „Die Absätze sind außerordentlich hoch. Er hat sich einen treuen Leserkreis erarbeitet.“

„Tatsächlich?“, entgegnete Adrian mit vorgeschützter Neugier. „Seltsam. Ich bin im Web bislang auf noch keine Gunther-Prewett-Bücher gestoßen. Woran liegt das?“

„Ich schreibe unter einem Pseudonym“, klärte Gunther ihn auf. „Schau mal nach Lyndon Fry, da wirst du fündig werden.“

„Lyndon Fry“, wiederholte Adrian vor sich hin nickend – Claudia war gewiss, dass ihm das nicht wirklich neu war. „War denn Gunther Fabian Prewett nicht gut genug?“

„Es ist in der Sparte des Gewerbes üblich, unter Pseudonym zu schreiben“, meinte Aglaia.

„Worum geht es in deinen Büchern?“, warf Claudia ein. „Sind die auch was für mich?“

„Wenn du Horrorgeschichten magst, dann vielleicht schon“, antwortete Gunther. „Ich schreibe über Monster aller Arten und Formen, die über Menschen herfallen.“

„Oh, ich fürchte, das ist nicht mein Geschmack“, gab Claudia bemüht kleinlaut zurück, als schauderte ihr bereits bei der Vorstellung solcher Lektüren.

„Wir haben in diesen Wäldern unsere eigenen Monster, nicht wahr, Liebling?“, meinte Adrian.

Claudia nickte stumm und flüchtig.

„Das heißt wohl, die Wildschweine sind gerade wieder recht zahlreich und umtriebig, wie?“, folgerte Gunther.

„Ist das denn schlimm?“, fragte Aglaia.

„Sie sind eine wahre Plage“, betonte Adrian. „Zerstören die Rinden gesunder Bäume und reißen Jungpflanzen. Zu meinem größten Verdruss machen sie auch vor den Gräbern nicht Halt. Erst letzte Nacht waren sie wieder da.“

„Sie schänden die Familiengräber?“, hakte Gunther nach.

„Du kannst sie dir morgen ja mal ansehen. Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, sie wieder in Ordnung zu bringen. Inzwischen haben wir es hier aber auch mit Wölfen zu tun.“

„Wölfe?“, hinterfragte Aglaia ungläubig.

Adrian bestätigte. „Die Menschen haben vergessen, dass es gute Gründe gab, die Wölfe in Mitteleuropa auszurotten. Nach und nach kehren sie nun zurück, ziehen von Rumänien zu uns herauf und vermehren sich. Weiter südlich ist vor etwa einem halben Jahr eine junge Familie angefallen worden. Zum Glück ist ein Jäger dazugekommen. Es war schrecklich. Einem kleinen Mädchen wurde das halbe Bein abgebissen. Nicht wahr, Liebling?“

„J-ja, das war furchtbar.“ Claudia war sich nicht völlig sicher, warum sie gerade gestottert hatte. Entweder um Adrians Erwartungen an ihre Rolle gerecht zu werden oder weil sie diese Geschichte tatsächlich aufwühlte. Entsprach sie Tatsachen oder flunkerte Adrian seinen Gästen nur etwas vor?

Sie wusste, dass es Bestrebungen gab, die Wolfspopulation nach Mitteleuropa zurückzubringen, doch war das schon so weit fortgeschritten? Waren die Wölfe da draußen vor der Tür? Ein Schaudern überkam sie, als sie sich einmal mehr vergegenwärtigte, dass die nächste Stadt allzu fern war.

„Karolus hat vor zwei Wochen auf dem Kamm einen tollwütigen Rüden geschossen“, fuhr Adrian an Gunther gewandt fort. „Sein Fell liegt unten, falls du es sehen willst.“

Karolus, die Minibar bewachend, formte ein grimmiges Lächeln unter seinem grauen Bart und senkte unmerklich sein Haupt wie ein Theaterschauspieler, der nach einer gelungenen Vorstellung Applaus entgegennimmt.

Ein kaum hörbares, melodiöses Glockenspiel erklang vom Flur durch den Speisesaal in den Salon.

„Ah, weiterer Besuch“, vermerkte Adrian genüsslich in seinem Sessel. „Karolus, übernimm das bitte.“

Der Mann setzte sich in Bewegung und stampfte durch den Speisesaal.

Kurz darauf gesellten sich zwei weitere Gäste zu der Runde. Den Anfang machte eine Frau in einem altertümlichen und ebenso prächtigen silberschwarzen Ballkleid, das Claudia vor Neid erblassen ließ. Doch auch darüber hinaus bot diese Frau eine eindrucksvolle Erscheinung. Ihr nussbraunes Haar rund um ihre blasierten Züge war kunstvoll zu Lockenform gestylt. Eine protzige silberne Kette zierte ein dezentes Dekolleté.

„Emilia. Wie schön“, verlautete Adrian, stellte seinen Schwenker ab und erhob sich ohne Hast aus seinem Sessel, um sie willkommen zu heißen.

Das also war Emilia, die Schwester der beiden Prewett-Brüder, jünger als Adrian, aber älter als Gunther. Ihr folgte ein schmaler, hochgewachsener Mann auf dem Fuß, der bestimmt zwanzig Jahre älter war als sie. In seinem maßgeschneiderten schwarzen Anzug, mit dem elitären Bürstenschnitt seines lichter werdenden grauen Haares und einen Gehstock schwingend, wirkte er mehr wie das Klischee eines englischen Aristokraten als der Musikproduzent, der er laut Adrian war. In gemessenem Abstand kehrte auch Karolus zurück.

Adrian küsste seine Schwester auf die Wange, herzte sie aber weitaus weniger als zuvor seinen Bruder. Gunther schloss sich der Prozedur an, während Adrian Ruperts Hand schüttelte und ihm dabei freundschaftlich die Schulter klopfte. „Ich hoffe, ihr beide hattet eine angenehme Reise.“

„Es ist jedes Mal eine Herausforderung, hierher zu finden, verehrter Schwager, doch ich komme mit Freuden in dein Haus“, erwiderte Rupert mit einem vornehmen Lächeln und tätschelte Adrian mit seiner Gehstockhand ebenfalls die Schulter. „Ich habe eine neue Büchse erstanden und hoffe, sie morgen ausprobieren zu können. Sie liegt im Kofferraum, doch ich würde sie ungern draußen in der Kälte lassen.“

„Karolus wird sie holen und bis morgen im Waffenschrank verwahren“, entgegnete Adrian und nickte seinem Diener zu, der sich prompt auf den Weg machte, den Befehl auszuführen.

„Du wirst auf deine Kosten kommen, Rupert, da bin ich mir gewiss. Was darf ich euch anbieten? Emilia, einen Aperitif vielleicht?“

„Bitte“, gab Emilia zurück und fixierte Claudia. „Doch solltest du uns zunächst einmal mit den fremden Gesichtern in unserer Mitte bekannt machen, finde ich.“

„Natürlich, wo bleiben nur meine Manieren“, erwiderte Adrian aufgeräumt und trat demonstrativ an Claudias Seite. „Liebe Familie, liebe Freunde, das ist Susanna, meine Gattin.“

Claudia hatte keinen Zweifel daran, dass Adrian diesen Fauxpas beabsichtigt provoziert hatte, um den Moment künstlich aufzublähen.

„Wie wunderbar“, sagte Rupert und trat näher. „Gestatten, Rupert Sauerland, Adrians Schwager.“ Er küsste Claudia galant wie zuvor Gunther mit einer Verbeugung die Hand. „So sehr hat Adrian in seinen Briefen von dir geschwärmt, dass ich darauf brannte, dich endlich kennenzulernen.“

„Er muss schrecklich übertrieben haben“, entgegnete Claudia und gab sich peinlich berührt.

„Ja, das habe ich mir auch gedacht“, sagte Rupert. „Aber nun sehe ich dich leibhaftig vor mir und muss einräumen, dass er befremdlich untertrieben hat. Ich bin entzückt.“

„Ein Charmeur, wie er im Buche steht“, bemerkte Adrian. „Siehst du? Ich habe dich vor ihm gewarnt, Liebling.“

Claudia lag etwas auf der Zunge, doch sie verkniff es sich. Adrian wollte seinen Gästen schließlich eine zurückhaltende, devote Gattin präsentieren.

Die Begegnung mit Emilia fiel deutlich kühler aus. Es gab nur einen kurzen Grußwechsel. Es hätte nicht offensichtlicher sein können, dass hier trotz aller oberflächlich freundschaftlichen und familiären Bekundungen einiges in der Luft lag. Womöglich würde es ein ganz interessanter Abend werden.

Wenig später begab sich die Gesellschaft in den Speisesaal und nahm die prognostizierte Sitzordnung an der Tafel ein. Der Platz von Farin Welf, der sich offensichtlich verspätete, blieb vorerst leer.

„Der kann von mir aus bleiben, wo der Pfeffer wächst“, teilte sich Emilia mit. „Weshalb hast du ihn überhaupt eingeladen, Adrian? Er gehört nicht zur Familie. Hat er nie.“

„Jetzt sei doch nicht so, Schatz“, redete Rupert tadelnd von der Seite auf sie ein und legte zärtlich eine Hand auf die ihrige. „Er ist doch ein ganz patenter Kerl.“

„Er ist ein schleimiger Schnorrer, nichts weiter“, stellte Emilia klar und entzog ihre Hand der fürsorglichen Geste ihres Gatten. „Also, warum hast du ihn eingeladen, Adrian? Er hat hier nichts mehr zu suchen.“

„Oh, ich habe ihn gar nicht eingeladen“, entgegnete Adrian. „Aber ich gehe davon aus, dass er trotzdem kommen wird. Er scheint immer sehr genau zu wissen, was in dieser Gegend vor sich geht.“

Emilia verengte ihre Augen. „Was soll das denn heißen?“

„Nun, hin und wieder schickt er mir Grüße. Auf seine Art. Ich habe vorsichtshalber ein Zimmer für ihn herrichten lassen.“

Gläser und Sprudelwasser standen bereit, weitere Wünsche nahm Karolus von den Gästen entgegen. Emilia und Rupert ließen sich Champagner gefallen, Gunther und Aglaia baten um ein Glas Rotwein. Claudia begnügte sich – wie zu ihrem Erstaunen auch Adrian – mit Wasser.

Sie saßen nicht lange, dann wurde das Abendessen serviert. Edwina, der sie den ansprechend mit Gemüse garnierten Festschmaus verdankten, trat nicht in Erscheinung. Sämtliche Speisegänge und Getränke wurden von Karolus aufgetragen, wofür er sich einen Rollwagen nutzbar machte. Er schob gerade den Nachtisch herein, als erneut das Glockenspiel der Eingangspforte erklang.

„Na also“, seufzte Adrian theatralisch. „Da kommt er. Karolus, lass ihn bitte rein.“

Karolus machte sich auf den Weg, doch anstelle des erwarteten Gastes kehrte er allein zurück, beugte sich zu Adrian hinab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Claudia hörte die Worte nicht, doch sie versetzten Adrian offensichtlich ins Staunen.

„Entschuldigt mich“, sagte er und stand auf. „Das muss ich selbst erledigen. Es ist gar nicht Farin.“

„Wer dann?“, erfragte Gunther.

„Forstrat Habicht.“

„Habicht?“, wiederholte Rupert und wirkte mit seinen hochgezogenen Brauen erfreut. „Der alte Gauner. Bitte ihn doch rein, Adrian. Er kann Farins Portion haben.“

„Das hier ist ein Familienessen, kein Stammtisch“, erinnerte ihn seine Gattin missbilligend.

Adrian verließ den Tisch für nicht mehr als eine Minute, dann kam er wieder zurück.

„Was wollte er denn so spät noch hier?“, fragte Gunther.

„Och, er ist ein sehr umsichtiger Zeitgenosse, wie ihr wisst“, antwortete Adrian, während er sich wieder setzte. „Er hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ein toter Keiler die Zufahrtsstraße versperrt, den er vor morgen früh nicht wegschaffen kann. Autos könnten also ihre Mühen haben, heute Nacht noch von hier fortzukommen.“

„Meinetwegen hättest du ihn ruhig hereinbitten können“, sagte Gunther mit einem distanzierten Blick auf seine Schwester.

„Er hatte keine Zeit“, erwiderte Adrian und winkte Karolus, nun den Nachtisch aufzutragen.

Claudia musterte ihren Auftraggeber. Wahrscheinlich hatte dieser arme Forstrat sogar darauf gehofft, sich hier eine Weile aufwärmen zu können, und durfte nur deshalb nicht rein, weil er den Bluff um ihr Eheleben durchschauen würde.

2. Kapitel

Zu Weinbrand, Wodka oder Martini genossen die Tischgäste unterschiedliche Dessertspezialitäten. Es war kaum anzunehmen, dass Edwina all das in so wenigen Stunden gezaubert hatte. Vermutlich war es bereits vorbereitet gewesen.

„Also, woher kommst du, Susanna?“, fragte Rupert und schaute sie erwartungsvoll an, während er sich ausgiebig an den mit Orangenlikör flambierten Crêpes bediente. „Erzähle uns von dir. Wer bist du?“

Nun also würden die Fragen auf Claudia einbrechen, auf die Adrian sie mehr schlecht als recht vorbereitet hatte. Sie tischte Rupert und den anderen ihre kurze Alibigeschichte auf, die sie mit Adrian abgesprochen hatte und die nicht viele Schlüsse auf ihre Persönlichkeit zuließ, genau wie es Adrian genehm war. Er wollte seinen Geschwistern und Anverwandten eine Gattin präsentieren, doch greifbar sollte sie ihnen nicht werden. Aus welchen Gründen auch immer.

„Und du, Aglaia?“, fuhr Rupert fort. „Der Beruf einer Verlegerin muss sehr vielseitig sein. Aber wohl auch sehr schwer. Selbstgefällige Autoren, eigenwillige Lektoren, Schund, den man nur publizieren muss, weil er gekauft wird. Ich könnte mir vorstellen, dass dein Alltag dem meinen gar nicht so unähnlich ist. Ich produziere Musik, musst du wissen. Was für dich die widerspenstigen Autoren sind, sind für mich die Musiker, die ich unter Vertrag habe. Eine zunehmend miese Branche, wie ich einräumen will. Ich muss entsetzlich viel Schund produzieren, um im Geschäft zu bleiben. Musikalischen Abfall von arroganten Zeitgenossen, die sich nach einer halbwegs erfolgreichen Single für Stars halten.“ Er machte eine abfällige Handbewegung. „An manchen Tagen wünschte ich mir, ich könnte es mir leisten, sie mit einem Fußtritt aus dem nächsten Fenster zu befördern. Nun, wem erzähle ich das. Du weißt sicher, wovon ich rede.“

„Diese Gefühle sind mir in der Tat nicht fremd“, antwortete Aglaia, wobei Claudia sie erstmals ein wenig lächeln sah. „Die Branche entwickelt sich anders, als mir lieb ist. Leider muss man mit der Zeit und den Geschmäckern der Leser gehen, nur leider auf Kosten literarischer Qualität.“

„Verloren, wer der Mode unterworfen“, trug Rupert maliziös vor und prostete Aglaia mit einem leidvollen Lächeln zu.

„So schlecht können deine Geschäfte nicht gehen“, sagte Gunther, „wenn ich mir die Klunker an meiner Schwester so ansehe.“

„Ich bin ein Profi auf meinem Gebiet, wie du wissen solltest, Gunther“, konterte Rupert, ohne mit der Wimper zu zucken. „Hast du deine Berufung erst gefunden, kommt der Erfolg von ganz allein. Ach ja, wo wir beim Thema sind, ich habe neulich eins deiner Taschenhefte gekauft und gelesen. Den Titel habe ich vergessen, aber es hat mich gut unterhalten. Es ging um ein Haus an einem Moor, in dem es spukte. Und dann gab es da noch so ein grässliches Vieh in den Sümpfen.“

Es folgte weitgehend belangloser Austausch von Alltagsangelegenheiten und Anekdoten, die mal zum Schmunzeln, mal zum gespielten Staunen anregten. Claudia brachte sich nur gelegentlich ein und war sich sicher, ihrer Rolle weitgehend nach Adrians Wunsch Leben einzuhauchen. Und tatsächlich, während Rupert eine Sensationsgeschichte aus seinem Produzentenleben zum Besten gab, fand Adrians Hand die ihre und drückte sie zärtlich. Sie tauschte einen intensiven Blick mit ihrem Auftraggeber, in dem sie seine Zufriedenheit las. Doch da war noch mehr. Eine bemerkenswerte Ruhe war in seine Augen eingekehrt, die ihnen vor ein paar Stunden noch nicht zu eigen gewesen waren. Vielleicht lag es an der Wirkung des Weinbrands. Oder war es eine reale Empfindung, die ihm gerade inneren Frieden schenkte?

Zu ihrer eigenen Verwunderung war es Claudia, die den Blickkontakt schließlich unterbrach. Sie kannte diesen Mann nicht. So verführerisch es war, sich auf ein Abenteuer mit ihm einzulassen – könnte er ihr mit seinen Verbindungen doch vielleicht auch beruflich auf die Sprünge helfen –, etwas an den Umständen dieses Auftrags machte sie vorsichtig und zwang sie auf Distanz. Sie glaubte, gute Arbeit zu leisten, doch verstand sie bestenfalls die Hälfte dessen, was hier gerade passierte. Darüber hinaus wäre es unprofessionell. Adrian war ihr Auftraggeber. Wenngleich eine echte Affäre ihrer falschen Ehe wohl kaum abträglich wäre.

„… das müsst ihr euch mal vorstellen, das hat der Kerl wirklich vor versammelter Runde gesagt“, polterte Rupert ausgelassen und beendete damit eine Anekdote, die auch Gunther und Aglaia zum Lachen brachte.

Adrian stimmte nicht ein. Stattdessen visierte er Aglaia an. „Wie viele Kinder hast du noch gleich aus erster Ehe, Aglaia? Zwei Jungen, nicht?“

„Drei“, korrigierte ihn Aglaia. „Der Jüngste ist zehn, der Älteste zwanzig.“

„Wow, Gunther, mit dem kannst du ja nachts um die Häuser ziehen.“

„Er studiert und ist nur selten bei uns“, klärte Gunther ihn auf. „Ein ehrgeiziger junger Mann. Du würdest ihn mögen.“

„Das mag wohl sein“, entgegnete Adrian, klang aber nicht recht überzeugt. Erneut nahm er sich Aglaia vor. „Ich vermute mal, du willst keine weiteren Kinder, meine Liebe?“

„War das eine Frage oder eine Mitteilung?“, konterte Aglaia. „Als mein Schwager steht dir beides zu, doch wäre mir lieb, du würdest dich präzisieren. Kurzum: Deine Annahme ist weder richtig noch falsch. Gunther und ich planen keine Empfängnis, aber sollte sie mich ereilen, werden wir sie freudig annehmen.“

Eine umfassende und durchaus schlagfertige Antwort, die Claudia imponierte. Aglaia, obgleich von beiden Geschwistern ihres Gatten offensichtlich nicht sonderlich geschätzt, wusste sich gegenüber dem Hausherrn zu behaupten. Und mit ihrer Weigerung, sich der äußerlichen Etikette der hiesigen Gesellschaft anzupassen, stellte sie auch klar, dass sie eine Anbiederung nicht nötig hatte.

„Nun, die weibliche Fruchtbarkeit nimmt mit den Jahren ja auch nicht zu“, meinte Adrian nüchtern und nippte an seinem Schwenker. „Wie alt bist du, wenn die Frage gestattet ist? Fünfundvierzig?“

„Zweiundvierzig“, antwortete Aglaia.

„Adrian, bitte lass das“, wandte Gunther nachsichtig ein. „Wir sind glücklich, und nur das zählt.“

„Da hat er recht“, sprach Claudia aus, von der unverhohlenen Unverschämtheit Adrians gegenüber seiner Schwägerin enttäuscht und dieses Mal auch tatsächlich peinlich berührt. „Das ist doch kein Thema für diesen schönen Abend“, ergänzte sie unterwürfig der Tischplatte zugewandt und hoffte, ihren Auftraggeber damit nicht verärgert zu haben. Doch selbst wenn sie es getan hatte, feuern konnte er sie nicht mehr. Der Vorhang hatte sich geöffnet, das Stück seinen Lauf genommen. Die Besetzung der Paraderolle war nicht mehr zu korrigieren.

„Warum habt ihr denn eigentlich noch keine Kinder?“, stellte nun Gunther die Frage, auf die Adrian Claudia nicht vorbereitet hatte. Vermutlich bewusst. Das unterband von vorneherein, dass sie darauf eine Antwort gab.

„Oh, wir haben es nicht eilig damit“, antwortete Adrian und lehnte sich aufgeräumt zurück. „Wenn es passiert, passiert es. Nicht wahr, Aglaia?“

Seine Schwägerin prostete ihm daraufhin zurückhaltend, aber unmissverständlich mit ihrem Glas zu.

Touché, schoss es Claudia durch den Kopf.

Eine fremde, feste Stimme zerriss den Raum. „Wie ich sehe, habt ihr schon ohne mich angefangen.“

Sämtliche Köpfe wandten sich ruckartig der Tür zum Flur zu, wo ein unbekannter Mann am Rahmen lehnte. Von einem Augenblick zum nächsten wirkte Adrian hellwach und voll konzentriert. Der andere Mann lächelte gemessen, löste sich dann vom Türstock und trat zwei Schritte in den Raum.

„Natürlich werfe ich euch eure Ungeduld nicht vor“, sprach er weitaus sanfter und versöhnlicher als zuvor. „Ich habe mich außerordentlich verspätet. Woran ein Keiler nicht ganz schuldlos ist, der mitten auf der Straße liegt. Aber nun bin ich ja hier. Hier, im Kreise meiner lieben Anverwandten. Ist der freie Platz dort neben Rupert etwa für mich gedeckt?“

„Ist er“, bemerkte Adrian, rückte seinen Stuhl zurück und erhob sich, ohne den Neuankömmling aus den Augen zu lassen. „Sei uns willkommen, Farin. Wir fürchteten schon, du kämst nicht.“

Er trat vor ihn hin und klopfte ihm die beiden Schultern, was respektvoll erwidert wurde. Respektvoll, aber nicht herzlich.

„Ich habe es sogar inständig gehofft“, tat sich Emilia kund.

„Ach, Schatz, nun sei doch nicht so“, tadelte Rupert düpiert.

„Bitte, nimm Platz“, lud Adrian ein. „Karolus, sieh nach, was noch zu essen da ist.“

„Danke, deine Gastfreundschaft ist vorbildlich, Schwager.“

Mit grimmiger Miene machte sich Karolus davon, während der Neuankömmling an der Tafel Platz nahm. Das also war Farin Welf, der mit der ältesten Prewett-Schwester Bianca verheiratet gewesen war. Er sah sehr gut aus. Schwarze Locken umrandeten ein aufgewecktes, jungenhaftes Gesicht mit funkelnden blauen Augen, die neugierig in die Runde der Anwesenden schauten.

„Du bist fett geworden, Rupert“, vermerkte er, was der schmale Rupert mit schallendem Gelächter quittierte.

„Ha ha … schön, dass du in unsere Mitte gefunden hast“, donnerte er und prostete in seine Richtung. „Na los, schenk dir ein. Es ist viel zu lange her, dass wir in solcher Runde gesessen haben. Lasst uns auf den Anlass trinken.“

Was ist hier eigentlich der Anlass?, spukte in Claudias Kopf herum. Sie behielt die Frage natürlich für sich.

„Ich freue mich auch, Rupert“, beteuerte Farin Welf und langte nach der Weinbrandflasche.

„Na klar freust du dich“, brachte sich Emilia weitaus weniger euphorisch ein. „Alle freuen sich hier, nicht wahr?“

„Ach, jetzt hör doch auf, Liebling“, wurde sie von ihrem Gatten gescholten. „Verdirb uns bitte nicht die Laune an diesem schönen Abend.“

„Reizend wie immer, unsere Emilia, wie ich sehe“, begegnete Welf der ungeschönten Offenheit seiner Schwägerin. „Und hübscher denn je. Du musst sehr glücklich sein, Rupert.“

Adrian hatte eine Weile abgewartet, erst jetzt nahm er zögerlich wieder seinen Platz an der Stirnseite der Tafel ein.

„Zunächst einmal, Farin“, sprach er, „würde mich doch sehr interessieren, wie du ins Haus gelangt bist, ohne die Glocke zu läuten.“

„Guter Punkt“, wurde er von Rupert unterstützt. „Du hast uns ganz schön erschreckt, mein Junge.“

Farin Welf kippte ein Glas auf ex, stellte es ab und legte einen mächtigen Schlüssel daneben.

„Der Schlüssel für die Garagentür“, erklärte er. „Ganz entsetzt habe ich feststellen müssen, dass du das alte Schloss noch immer nicht ausgetauscht hast, Adrian. So bin ich ins Haus gelangt. Verzeih mir bitte den theatralischen Auftritt. Ich konnte nicht widerstehen.“

„Wo steht dein Wagen?“

„Ich habe ihn neben der Garage geparkt. Ach ja, bei der Gelegenheit sollte ich erwähnen, dass mein Diener gerade dabei ist, mein Gepäck ins Haus zu schaffen. Das solltest du Karolus vielleicht mitteilen, nicht dass er den armen Fausto noch als Einbrecher erschlägt.“

Genau in dem Moment kam Karolus in den Speisesaal marschiert. Mit der rechten Hand hielt er einen in einen weißen Smoking gekleideten Mann am Kragen, einen Kleinwüchsigen mit kurzen dunklen Haaren und ostslawischen Zügen. Mit finsterer Miene und verschränkten Armen musste er zulassen, dass Karolus ihn wie einen Einrichtungsgegenstand vor die versammelte Gesellschaft schleppte.

„Er war unten“, knurrte Karolus knapp und stellte den kleinen Mann auf den Dielen ab.

„Ah, ihr habt euch schon kennengelernt“, posaunte Welf und erhob sich. „Liebe Freunde, dieser muskelstarke Mann ist mein Diener Fausto“, erklärte er mit ausladender Gestik. „Ein sprachgewandter wie zuverlässiger Gefährte und Bruder im Geiste an meiner Seite. Du solltest dich bei Gelegenheit unbedingt beim Schach mit ihm messen, Adrian. Er wird dir die Haut abziehen. Ich habe ihm aufgetragen, meine Sachen ins rote Zimmer zu verfrachten. Ich nehme an, dieses Zimmer hast du für mich vorgesehen, Schwager?“

Adrian bestätigte.