Zuckermeer - Thomas Neumeier - E-Book
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Thomas Neumeier

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Beschreibung

Endlich Semesterferien, doch Lottes heiß ersehnter Sommerurlaub steht unter einem seltsamen Stern. Sie und ihr Bruder staunen nicht schlecht, als sie das geerbte Strandhaus an der Ostsee von einer Kommune junger Künstler besetzt vorfinden. Dann sind da noch die zahlreichen Rätsel, die sich um das Haus, den Strand und ein geheimnisvolles Zuckermeer ranken. Nicht jeder Hausgast ist, was er zu sein scheint. Zwischen Partys, kunstschaffender Exzesse und Liebesfreuden erlebt Lotte einen atemberaubenden Sommer. 426 Seiten

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Thomas Neumeier

 

 

 

Zuckermeer

 

 

Young & Crunchy

Band 1

 

 

 

 

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Ashera Verlag

Ashera Verlag GbR

Alisha Bionda & Annika Dick

Hauptstr. 9

55592 Desloch

[email protected]

www.ashera-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.

Covergrafik: Fotolia

Innengrafiken: Fotolia

Coverlayout: Atelier Bonzai

Redaktion: Alisha Bionda

Lektorat & Satz: TTT

Vermittelt über die Agentur Ashera

(www.agentur-ashera.net)

 

Inhalt

Salz auf feuchten Lippen

Liebende Hausbesetzer

Der gezähmte Ork

Mondscheinpoesie

Die Gischtkönigin

Wildrosenregen

Turmgeflüster

Trommeln über dem Wasser

Zwei Löwen im Grasmeer

Beschwörerverschwörung

Der entfaltete Nachtfalter

Die Insel der Harmonie

Zärtliche Götterdämmerung

Der Mann aus dem Meer

Der Autor

Salz auf feuchten Lippen

 

Sehr geehrte Klimaanlage, du bist ein richtig fieses Miststück.

Lottes Laune näherte sich unaufhaltsam ihrem Tiefpunkt, daran konnte auch das sommerliche Bilderbuchwetter nichts ändern. Im Gegenteil. Es trug eher massiv dazu bei. Seit Stunden stach die Sonne von dem wolkenlosen Himmel, der dampfende Teer schien mit der warmen Luft zu verschwimmen und der Wagen hatte sich aufgeheizt wie ein Backofen.

„Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist blau.“

Stressgeplagt, wie Beifahrer nun mal sind, wandte Torben den Kopf. „Ist das dein Ernst? Das haben wir zuletzt als Kinder gespielt.“

„Macht es das irgendwie schlecht?“

„Nein. Nein, ich schätze nicht.“ Er seufzte. „Also, was soll’s?“ Er nahm die Sonnenbrille ab und spähte aus dem offenen Beifahrerfenster. „Hier ist eine Menge Blau. Und das Meer rieche ich auch schon, glaube ich. Vielleicht die Straßenausschilderung da vorne? Nein, zu banal. Ha! Ich hab’s! Die Schubkarre da! In dem Pflanzgarten neben dem Lieferwagen.“

„Zweimal total daneben“, entgegnete Lotte am Steuer. „Beeil dich, gleich sind wir daran vorbei.“

Torben drehte den Kopf auf ihre Seite. Spätestens jetzt musste er das prächtige Mühlengebäude mit den roten Flügeln sehen, das linksseitig die Dächer dieses malerischen Dorfes überragte.

„Die Mühle“, erklärte Torben siegessicher, und Lotte bestätigte das.

„Du bist dran.“

„Wie willst du unter deiner schwarzen Sonnenbrille Farben erkennen?“

„Das ist mein Problem, oder? Mach schon.“

„Na gut. Okay, also pass auf: Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist gelb auf Blau.“

„Die Sonne am Himmel.“

„Nein, Blödsinn. Für wie einfältig hältst du mich? Die Sonne ist nicht mal gelb.“

Bevor Lotte einen neuen Tipp abgeben konnte, meldete sich die Stimme des Navigationsgeräts: „In zweihundert Metern links abbiegen.“

Lotte blickte auf das nicht zu übersehende Hinweisschild am Straßenrand. Noch knapp vierzig Kilometer bis zum Ostseebad Prerow. Demnach blieben ihr und ihrem Bruder noch eine Weile Zeit für Ich sehe was, was du nicht siehst. Wahrscheinlich zu viel davon. Sie folgte der Empfehlung des Navis und bog ab, als es der Gegenverkehr zuließ.

„Damit hast du es verpasst“, sagte Torben. „Es war das Plakat mit der Bierwerbung. Kein Punkt für dich.“

„Na schön, ich glaube, wir spielen doch nicht weiter.“

„Schlechter Verlierer“, schob Torben ihr unter, während er die an der letzten Tankstelle erworbene Zeitschrift auf seinem Schoß ausbreitete.

„Kannst du mal das Fenster schließen?“, bat Lotte. „Es zieht mir allmählich.“

Torben tat es. Wahrscheinlich nur, weil ihn der flatternde Fahrtwind beim Lesen beeinträchtigte. „Wir müssten rechts gleich den Saaler Bodden sehen können“, verkündete er und schaute wieder auf.

„Aha, und was soll das sein?“

„Das größte der vier Küstengewässer zwischen der Halbinsel und dem Festland“, antwortete Torben. „Der südlichste Teil wird Ribnitzer See genannt, steht hier.“

„Ist ja faszinierend“, kommentierte Lotte beiläufig. Im Moment war sie nicht an umgebungsspezifischen Einzelheiten interessiert. Zum wiederholten Mal drückte sie probehalber den Knopf für die Klimaanlage, die leider kurz vor Lübeck ihren Geist aufgegeben hatte. Das Kontrolllämpchen blieb weiterhin aus, und auch die Lüftung versagte die Kühlung des Fahrzeugs. Somit würde auch der letzte Abschnitt ihrer Anreise eine Saunafahrt werden. Nun ja, darauf kam es jetzt nicht mehr an. Lotte spürte den Schweiß sowieso schon überall. Ihre Klamotten schwammen wie nach einem Tennis-Match mit Tante Konstantina, und ihre langen blonden Haare klebten an ihr wie ein vollgesogener Putzlappen.

Torben ließ das Fenster wieder herunter.

„Ich habe doch gesagt, du sollst es zulassen!“

„Aber ich gehe hier ein vor Hitze! Du hättest mich fahren lassen sollen. Mit meiner Kiste wäre das nicht passiert.“

„Ich steige nicht bei Leuten ein, die nicht Auto fahren können.“

„Jetzt bloß nicht wieder die Leier, ja?“

Torben beteuerte immerfort, sich gebessert zu haben, aber Lotte traute ihm nicht. Ihr kleiner Bruder war ein notorischer Raser. Mit zwanzig hätte er es allmählich besser wissen sollen, doch erst vor einigen Wochen hatte er sich mit seinem Wagen überschlagen. Der Vorfall hatte das Beziehungsende mit seiner Jugendfreundin Anita zur Folge gehabt. Mit ihm Schluss zu machen, war ihre erste Amtshandlung gewesen, nachdem sie im Krankenhaus nach einem dreitägigen Koma die Augen wieder aufgeschlagen hatte.

„Jetzt! Schau nach rechts!“, rief Torben. „Da hinten! Das Küstengewässer. Wie ich gesagt habe. Der Ribnitzer See im Saaler Bodden. Gleich fahren wir auf die Halbinsel, dann sind wir am Meer. Jedenfalls so gut wie.“

Die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst an der mecklenburgischen Küste maß eine Gesamtlänge von etwa fünfundvierzig Kilometern. Bis zu ihrem Ziel waren es noch mehr als zwei Drittel davon, wie Lotte dem Navi entnahm. Wenigstens war die Gegend schön anzusehen, wo das Auto schon ein erdrückender Schmelztiegel geworden war. Malerische Fischerhäuser, eingebettet in sattgrüne Orgien von Blumenbeeten, Ligusterhecken und Obstbäumen zeichneten das sommerliche Landschaftsbild. Kurz nach Dierhagen tat sich am rechten Fahrbahnrand endlich das Meer auf, wenngleich es nur das Küstengewässer zwischen dem Festland und der Halbinsel war. Linksseitig, zur offenen See hin, versperrten Ferienanlagen und Parks die Sicht.

Lotte folgte dem empfohlenen Straßenverlauf noch einige Kilometer, dann entschloss sie sich spontan, auf einen parallel verlaufenden Weg entlang der Ferienhäuser zu wechseln.

„Warum biegst du ab?“, fragte Torben.

„Ich will endlich das Meer sehen!“, antwortete Lotte gereizt. „Auf ein paar Minuten länger kommt es jetzt auch nicht mehr an! Ich will das Meer sehen. Nur für einen Augenblick.“

„Neuberechnung erfolgt“, trug das Navi zur Diskussion bei.

Als nur noch die Dünen des Sandstrandes sowie vereinzelte Gräser und Bäume die Straße vom Wasser trennten, fuhr Lotte langsamer. Im prallen Sonnenlicht glitzerte die Ostsee so saphirblau wie auf den Postkarten, die ihnen Oma ab und an geschickt hatte. An dem ockerweißen Sandstrand zeichneten sich zwischen bunten Sonnenschirmen zahllose Körper ab, im strandnahen Wasser weitere. Draußen ergänzten weiße Segelboote das Bild. Unverwandt heftig erwachte eine Sehnsucht in Lotte. Sie wollte aussteigen und sich dem Treiben anschließen. Aber sie beherrschte sich.

„Mann, ist das geil hier“, staunte auch Torben. „Warum hat sie uns nie eingeladen? Ich meine, ein Haus am Strand, das lockt doch den trägsten Stinkstiefel an. Denk dir nur mal, wie wir hier mit Freunden hätten abfeiern können! Nun ja, das können wir ja immer noch. Hör mal, wenn wir genug Platz haben, würde ich gern einige Leute einladen. Ich habe Facebook-Freunde in der Gegend.“

An der vom Meer abgekehrten Straßenseite reihten sich in ausladende Gärten eingebettete Ferienhäuser aneinander. Die meisten waren Fachwerkhäuser mit dunklen Holzstreben und weißen Fensterrahmen, gekrönt von hohen Dachgeschossen mit eingelassenen Gauben. Ein solches Kaliber erwartete Torben vermutlich auch von dem geerbten Haus.

„Jetzt mal langsam“, gebot Lotte. „Es gibt sicher einen Grund, warum Oma uns nie eingeladen hat.“

„Klar, sie hat halt keinen Wert auf unsere Gesellschaft gelegt.“

„Wahrscheinlich ist es nur eine klitzekleine Hütte“, versuchte Lotte seine Erwartungen zu bremsen. „Wir stellen uns immer ein Ferienhaus vor, aber vielleicht ist das viel zu hoch gegriffen. Vermutlich ist es nur ein Häuschen. Eine Hütte. Sie hat garantiert nicht in so einem Bunker, wie denen hier, gewohnt.“

Torben beäugte sie skeptisch von der Seite. „Na herzlichen Dank. Ich habe jetzt die grandiose Horrorvorstellung, wie du und ich uns ihr altes Bett teilen müssen. In Laken, die immer noch nach ihr riechen.“

Lotte lenkte den Wagen auf die Straße zurück und fuhr schneller. Noch eine gute halbe Stunde, dann wären sie endlich am Ziel. Auspacken, einrichten und ihr Erbe besichtigen genoss längst keine Priorität mehr. Lotte wollte sich ins Meer stürzen. Das war im Augenblick ihr einziger Antrieb. Bei Wustrow war die Landzunge so schmal und spärlich bewachsen, dass man es auf beiden Seiten sehen konnte. Salzige Seeluft wehte durch den Wagen. Am liebsten hätte sie einfach angehalten und der Versuchung nachgegeben.

„Falls das Haus wirklich so klein ist“, grübelte Torben vor sich hin, „wo sollen wir dann Issi unterbringen? Sie wird wahrscheinlich in ein paar Tagen nachkommen.“

Es war später Nachmittag, als das Navigationsgerät sie nach einem Stück Wald von einer schmalen geteerten Straße auf einen unbeschilderten Pfad lotste. Büsche und Felsen am Wegesrand machten ihn sehr unübersichtlich. Seewinde hatten ihn mit feinen Sandkörnchen gepudert. Neben einer ungepflegten Hecke verkündete das Navi ihre Ankunft am Ziel. Lotte ließ den Wagen ausrollen und blickte sich ratlos um. Der Wall aus Hainbuche gleich zu ihrer Rechten überragte das Auto um mindestens das Doppelte und war nicht zu überschauen. Auf der anderen Wegseite war hinter dotterfarbenen Felsformationen und im Wind winkenden Wogen von Dünengras der Strand zu erahnen. Doch es gab weder Häuser noch Fahrzeuge. Und auch keine Menschen.

„Hier sind wir wohl kaum richtig!“, maulte Torben. „Wann hast du das Navi denn zuletzt upgedatet?“

„Es ist nagelneu.“

„Hey, schau mal da!“ Torben deutete voraus, wo etwas Blaues aus der Hecke stach. „Ist das ein Briefkasten?“

Es war tatsächlich einer. Eine türkisblaue US-Mailbox auf einem hölzernen Stützpfeiler. Die himmelwärts zeigende rote Schwenkfahne signalisierte, dass der Briefträger etwas hinterlassen hatte. Lotte fuhr näher heran und hielt vor einem schmalen Durchlass. Es gab kein Gartentürchen, doch durch die etwa einen Meter breite Schneise in der verwilderten Hecke blinkte ein Stück Fachwerkhaus hervor, weiß und dunkel gemustert.

„Ha! Wir sind da! Das muss es sein!“, jubelte Torben und riss die Wagentür auf. Schon war er draußen und schlüpfte durch den Wall.

Lotte verharrte noch, atmete tief durch und drehte beinahe feierlich den Zündschlüssel. Das Motorengeräusch erstarb. Die plötzliche Stille war eine ungeheuere Wohltat. Nach einer erschöpfenden wie schweißtreibenden Fahrt durfte sich nun endlich Entspannung einstellen. Sie waren am Ziel.

„Hey, wo bleibst du denn?“, rief Torben von irgendwo her.

„Komme schon“, raunte Lotte der Windschutzscheibe zu und stieg aus. Eine warme, salzige Brise blies ihr ins Haar und benetzte ihre Haut mit Sand. Es tat gut und weckte Erinnerungen an ihr Schulabschlussjahr, als sie mit drei Freundinnen die westfriesischen Inseln bereist hatte. Am Himmel zogen Möwen ihre Kreise.

„Jetzt komm schon!“, rief Torben ungeduldig. „Und bring den Schlüssel mit!“

An der Heckenschneise nahm ein brüchiger Pflasterpfad seinen Anfang und mündete an einer himmelblauen Haustür. Sie sah frisch gestrichen aus, was aber nicht darüber hinwegtäuschte, dass Wind und Wetter sie im Laufe von Jahrzehnten ziemlich geschunden hatten. Das dazugehörige Haus war kleiner als die prachtvollen Feriendomizile entlang der Landzunge und dennoch größer, als Lotte erwartet hatte. Grob geschätzt hatte es bestimmt die Grundfläche eines durchschnittlichen Klassenzimmers, und unter einem hohen, spitzen Ziegeldach gab es noch ein komplettes Vollgeschoss. Die Fensterrahmen waren sattgrün gestrichen und schufen mit sonnengelben Blumenkästen und der leuchtend blauen Haustür einen warmen Kontrast zu den weißen Mauern und den dunklen Holzstreben.

„Gar nicht übel, was?“, meinte Torben anerkennend. „Sie hätte uns ruhig mal einladen können. An Platz hätte es ihr nicht gefehlt.“

Von irgendwoher wehte Musik zu ihnen herüber. Unaufgeregtes Geklampfe auf einer Akustikgitarre. Lotte schaute sich um. Es gab noch ein Nachbarhaus, dessen identisch aussehendes Dachgeschoss über die Hainbuchenhecke ragte. Wahrscheinlich kam die Musik von dort. „Es sieht alles so gepflegt aus.“ Sie registrierte den frisch gemähten Rasen.

„Stimmt. Umso besser. Wir sind ja nicht zum Schuften da.“

„Oma ist schon seit neun Wochen tot. Wahrscheinlich kümmert sich der Nachbar um das Grundstück.“

„Wo hast du denn jetzt den Schlüssel?“, drängte Torben.

Lotte fischte ihn aus ihrer Tasche und Torben schnappte ihn ihr aus der Hand. Bevor er den Schlüssel ins Schloss führen konnte, schwang die Tür jedoch von selbst auf. Im Rahmen erschien ein mittelgroßer Kerl in zerknitterten Boxershorts und offenem Hemd und stierte sie aus müden, graugrünen Augen an. Er hatte halblange kastanienfarbene Haare, die zerfranst und fettig auf seine Schultern fielen, und war bemerkenswert schlecht rasiert. Er mochte geringfügig älter als Lotte und ihr Bruder sein. In der einen Hand hielt er einen losen Bogen Papier, mit der anderen wischte er wie in Zeitlupe eine störende Haarsträhne aus seinem Blickfeld. „Wer seid ihr denn?“, krächzte er mit trockener Stimme.

Lotte fehlten vor Überraschung die Worte.

Torben sprang ein. „Wer wir sind? Wer bist du?“, fuhr er den Fremden an. „Sind wir hier etwa falsch? Wie ist denn die Adresse?“

Wahrscheinlich ist das Nachbarhaus das richtige, schloss Lotte stumm.

Der Fremde musterte sie eindringlich und sein Blick blieb an ihrem Gesicht kleben. Seiner ungepflegten Erscheinung zum Trotz sah er gut aus, fand sie. Unter seinen Bartstoppeln und dem stoischen Ausdruck verbargen sich weiche Gesichtszüge. Aber von ihm ging eine fast greifbare Lethargie aus. Sie schlug Wellen wie die See und machte aus einem verwegenen Alternativen einen trägen Langweiler. „Ihr seid wohl die Enkel“, konstatierte er. „Tja, dann macht’s euch mal bequem.“

Damit ließ er die beiden stehen und trottete über den Rasen die Hauswand entlang.

Lotte wechselte einen Blick mit ihrem Bruder. Das hier war vollkommen absurd.

„He! Jetzt warte mal!“ Torben eilte dem Kerl hinterher. „Was soll das? Wer bist du und was machst du hier? Das ist doch unser Haus? Oder nicht?“

Mit Torben im Genick verflüchtigte sich der Fremde um die Hausecke.

„Wahrscheinlich“, hörte Lotte ihn brummen.

Sie lief den beiden nach und sah, wie Torben mit ihm um den Papierbogen rang.

„Lass das los! Lass das los, du Lackaffe! Lass los!“

„Erst wenn du mir erklärst, was hier abgeht!“, blaffte Torben zurück. „Was hast du da?“

„Torben, bitte lass ihn! Wir können das sicher irgendwie aufklären.“ Lotte war von der langen Fahrt vollkommen geschlaucht und alles andere als auf Streit aus. Sie wollte jetzt ihre Ruhe, ihre schweißverklebten Klamotten loswerden und sich endlich ins Meer stürzen. Von den zahlreichen Fragen, die ihr auf der Zunge brannten, wusste sie keine auszuformulieren.

Der Fremde entriss Torben seine Papiere und ging auf eine Hängematte zu, die zwischen der Hauswand und einem heckenhohen Apfelbaum gespannt war. Die Äpfel waren noch grün und unreif. Unter einer knallgelben Markise standen zwei Motorroller, ein Rasenmäher und eine dunkelhölzerne Sitzgarnitur.

„Was macht ihr denn schon wieder für einen Krach?“, rief plötzlich jemand von oben.

Lotte sah hinauf. Eins der großen Gaubenfenster war geöffnet worden und eine langhaarige Blondine schaute auf sie herab. Das schmale, blasse Gesicht eines Kerls mit dunkler Pilzfrisur schob sich neben sie.

„Das sind die Enkel“, raunte der Typ mit den Papieren, bevor er sich mit wenig Elan in die Hängematte schwang.

Die Blondine oben blühte wiederum förmlich auf. „Ihr seid Luises Enkel? Großartig!“ Sie strahlte wie die Sonne. „Toll, dass ihr endlich da seid! Wir haben uns schon auf euch gefreut! Passt auf, wir spielen die beiden Stücke noch zu Ende, dann kommen wir runter und lernen euch kennen. Bis gleich!“

Die Blonde und der blasse Pilzkopf verschwanden wieder, das Fenster wurde geschlossen. Lotte verstand die Welt nicht mehr. Auch Torben schien gerade um Worte verlegen, was sehr selten vorkam. Kurz darauf setzte wieder Gitarrengeklampfe ein und jemand, vermutlich die Blondine, begann zu singen.

Von der Vorderseite des Hauses wurden Gekicher und Geschnatter laut, dann kamen zwei weitere Leute um die Ecke. Zwei junge Frauen. Eine korpulente Rothaarige mit abstehenden Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und eine Schlanke mit so kurzen Kopfhaarstoppeln, dass überall die Haut durchschimmerte. Beide waren barfuß und hatten bunte Handtücher um die Leiber geschlungen.

„Wenn die Karre draußen euch gehört, seid ihr wohl die Enkel, oder?“, meinte die Rothaarige und kam mit aufdringlich ausgestreckter Hand auf Lotte zu. „Die Autonummer verrät euch. Wir haben uns schon gefragt, wann ihr kommt. Tja, schön, dass ihr es endlich geschafft habt, hey.“

Die Hand anzunehmen und förmlich zu schütteln war eine reine Reflexhandlung von Lotte. „Entschuldigt mal, aber was geht denn hier eigentlich vor?“, fragte sie nicht halb so scharf, wie sie beabsichtigt hatte.

Die Rothaarige ignorierte sie und wandte sich stattdessen an den Kerl in der Hängematte. „Mensch, Christoph, sag bloß, du hast dich endlich aufgerafft! Echt toll, ich bin beeindruckt.“ Sie hatte eine kindlich knarzige Reibeisenstimme, wodurch sie ihre Ähnlichkeit mit Pippi Langstrumpf noch einmal bestätigte.

„Jaaaaa. Lasst mich in Ruhe“, murrte der Angesprochene, ohne den Blick von seinen beschmierten Blättern zu nehmen.

Die Schlanke mit den Stoppelhaaren trat vor Torben hin und kniff ihm kühn in die Wange. Sie war nur ein wenig kleiner als er. „Was da für ein hübsches Bürschchen zu uns kommen wird, hat uns unsere Luise nicht gesagt. Nicht, dass mir das was ausmachen würde. Habt ihr Bier dabei?“

Torben wehrte ihre Hand ab, schien aber wie Lotte zu perplex, um etwas Sinnvolles zu erwidern. Der Stoppelhaarigen schien das zu gefallen. Ihre Lippen kräuselten sich amüsiert, dann ließ sie ihn mit einem verspielten Augenzwinkern stehen und widmete sich dem Hängemattentyp. „Freut mich, dass du es endlich geschafft hast. Wir sind stolz auf dich, Christoph.“

Was hat er denn geschafft?, fragte sich Lotte. Sich von der Couch in die Hängematte zu begeben?

In ihrem Kopf begann es endgültig zu schwirren, als zwei weitere Leute um die Ecke bogen. Dieses Mal waren es junge Kerle: ein weißblonder Pummeliger und ein Schlanker mit feuchter, schwarzer Kurzhaarfrisur. Beide hatten ihre Handtücher über den Schultern hängen. Badehosen trugen sie nicht.

„Luises Enkel sind da“, verkündete ihnen die Rothaarige.

„War mir klar, als ich das Auto gesehen hab“, meinte der Pummelige und hielt mit einem breiten Grinsen auf Lotte zu. „Wie schön, dass ihr endlich zu uns gefunden habt! Wir haben lange auf euch gewartet! Marcel Vielleben ist mein oft benutzter Name“, stellte er sich geschäftig beim Händedruck vor. „Und das ist mein Kumpel Severin. Severin Altmeier. Nicht halb so alt, wie sein Name vermuten lässt.“

„Ist mir eine Freude“, sagte der andere und grüßte mit einem dezenten Kopfnicken.

Ein gut aussehender Kerl, befand Lotte in Ermangelung einer nützlicheren Denkrichtung, die ihr ihr Kopf gerade standhaft verweigerte. Hohe Wangen, weiche Züge, sanft dreinblickende dunkelbraune Augen. Ein ziemlicher Blickfang – erst recht ohne Klamotten. Marcel war das auch. Er war kernigerer Natur. Ein harter Kinnschwung, eine breite Nase und anscheinend auch ein größeres Geltungsbedürfnis.

„Nun, ihr beiden seht das Haus zum ersten Mal, oder?“, fragte er launig und gestikulierte, als müsse er Lotte auf das Haus hinweisen, damit sie es bemerkte. „Ihr werdet feststellen, es ist in bestem Zustand. Luise hat nur sagen müssen, was zu tun war, und wir haben es besorgt. Die Markise war Severins Idee.“ Er schob Lotte an den Hüften ein Stück näher, damit sie die Markise auch nicht übersah.

„Wir haben eine Alternative zum Esszimmer gebraucht“, fügte der Schwarzhaarige, Severin, hinzu. „Luise hat viel Wert auf gemeinsame Mahlzeiten gelegt, und der Tisch in der Küche hat selten für alle gereicht. Habt ihr euch drinnen schon umgesehen? Wenn nicht, ich führe dich gern herum.“

Lotte fühlte sich von den beiden Nackten schon beinahe bedrängt, als sich Severin ohne eine Antwort abzuwarten abkehrte und Torben mit einem flüchtigen Handschlag begrüßte. Der aufdringliche Marcel wiederum überrollte sie mit weiteren Ausführungen.

„Zwischen dem Apfelbaum und der Hecke steht ab Herbst unser Treibhaus. Da bauen wir Feldsalat und Radieschen an. Siehst du die umgegrabene Fläche? Wir haben es auch mit Knoblauch probiert, aber das gibt der Boden leider nicht her. Im Herbst wollen wir es in einer anderen Ecke noch einmal versuchen, deiner Oma zu Ehren, aber ich wette, das schlägt fehl. Haben du oder dein Bruder ein Händchen fürs Gärtnern? Luise war ja verdammt gut darin. Ihre Tomaten letztes Jahr waren ein Gedicht. In knapp zwei Monaten werden wir die ersten ernten können. Habt ihr die Stauden an der Rückseite schon gesehen?“

„Ich will jetzt endlich wissen, wer ihr seid!“, donnerte Torben, wofür Lotte überaus dankbar war. Nicht, dass sie auf eine Konfrontation aus war, doch irgendjemand musste hier für Klarheit sorgen – und Marcel und seinen Redeschwall bremsen. Der fuhr wie aufs Stichwort herum, um nun Torben zu überfallen. Im ersten Moment fürchtete Lotte schon, er würde ihn in die Arme schließen, was ihrem leicht reizbaren kleinen Bruder bestimmt nicht gefallen hätte. Doch Marcel begnügte sich mit einem kumpelhaften Schulterschlag.

„Ach ja, du bist Torben, was? Luise hat uns eine Menge Fotos von euch gezeigt“, erklärte er. „Da wart ihr noch kleine, süße Scheißerchen. Die Fotos haben ihr viel bedeutet. Stimmt doch, oder, Christoph?“

Der Angesprochene ließ nicht mehr als ein Grunzen aus dem Hintergrund hören. Was in aller Welt war das hier für ein Haufen? Lotte überlegte, ob ihnen hier irgendwer einen Streich spielte. Isabella zum Beispiel. Womöglich war ihre Cousine schon angereist und inszenierte dieses Schmierentheater für sie. Zuzutrauen wäre es ihr.

„Ihr hättet ruhig früher schon mal vorbeikommen können“, fuhr Marcel aufgeräumt fort. „Luise hätte sich gefreut. Und wir natürlich auch. Jeder Impuls bereichert das Leben, und jeder Input bedeutet Inspiration. Wo habt ihr beiden bloß so lange gesteckt? Besseres Wetter abgewartet? Jetzt habt ihr es jedenfalls gut erwischt.“

Der Kerl stand anscheinend gern im Mittelpunkt und genoss es, wenn alle an seinen Lippen hingen. Lotte war angehende Bankfachwirtin und kannte solche Typen aus ihrem Studiengang. Dort trugen die Jungs allerdings meistens schicke Anzüge und nicht nur ein Handtuch über den Schultern. Severin gab sich zurückhaltender und flüsterte gerade der noch namenlosen Stoppelhaarigen etwas ins Ohr. Lotte hatte Mühe, ihre Blicke nicht zu den Penissen der beiden Jungs zu lenken.

„Eure Ankunft müssen wir natürlich feiern“, proklamierte Marcel nun wieder in Lottes Richtung. „Den Grill hätten wir sowieso angeschmissen. Kaufen wir halt ein paar Steaks mehr. Die Holzkohle ist fast alle, fällt mir ein. Wie sieht es aus, können wir euren Wagen benutzen?“

„Nein!“, erwiderten Lotte und Torben im Chor, und Torben legte nach: „Hier wird gar nichts gegrillt! Packt eure Sachen und verschwindet aus unserem Haus!“

Nun stimmten die anderen einen Chor an, einen Chor aus lang gezogenen Uuuhs und Ooohs. Dazu klampften von oben wie zur dramatischen Untermalung die Gitarren. Aus der Fassung ließ sich keiner bringen. Marcel, geduldig und gönnerhaft lächelnd, unternahm einen erneuten Versuch, Torben kumpelhaft die Schulter zu klatschen.

Dieses Mal aber schlug Torben seine Hand beiseite. „Lass mich in Ruhe und fang zu packen an!“, schnauzte er dem nackten Dicken ins Gesicht.

Die Stoppelhaarige meldete sich zu Wort. „Hört, hört, der ungehörig laute Mann hier möchte uns rauswerfen. Ich frage mich, wie er das anstellen will“, flötete sie Torben maliziös zu. „Was meint ihr, wird er uns einen nach dem anderen mit einem Fußtritt vor die Tür befördern? Ist er derart stark und mutig?“

„Uuuuuuh“, machten die anderen spöttisch.

„Wir rufen die Bullen, ganz einfach“, blaffte Torben zurück.

„Hervorragende Idee. Lasst euch am besten zu Hauptmeister Kunze durchstellen. Der schaut öfter bei uns vorbei, um beim Malen zu entspannen, weißt du? Und wenn Annika in der Gischtkönigin singt, sitzt er meistens in der ersten Reihe. Rede mit ihm! Er kommt bestimmt gern vorbei. Hat eure Oma sehr gemocht. Mehr als ihr beide, offensichtlich. Sonst wärt ihr schon früher vorbeigekommen und hättet nicht abgewartet, bis sie abtritt und euch das Haus vererbt.“

Das hatte gesessen, wie Lotte auch anhand Torbens kurzer Verlegenheit feststellte. Ihr Bruder war jedoch schnell wieder bei der Sache. „Wie habt ihr sie reingelegt?“, fuhr er die Stoppelhaarige an. „War sie senil? Oder habt ihr sie bedroht? Erpresst? Ihr habt das Haus besetzt und sie um ihre Rente betrogen, was?“

„Wir! Haben! Sie! Nicht! Betrogen!“, tönte eine aufgebrachte Stimme durch den Garten. Der Hängemattentyp stand plötzlich auf beiden Beinen und erfasste Torben mit lodernden Augen, als wolle er ihn rösten.

Torben wich vor Respekt sogar einen Schritt rückwärts und taumelte gegen Marcel.

Über Lotte wurde wieder das Fenster aufgestoßen. „Könntet ihr vielleicht bitte noch ein paar Minuten eure Klappen halten?“, schalt die Blondine. „Oder streitet euch woanders weiter! Das nervt und bringt uns ständig raus!“

Hinter ihr zupfte jemand weiter Gitarrensaiten.

Lotte wurde es zu viel. „Ich muss hier weg.“ Es war nur ein Hauchen, das ihre Kehle verlassen hatte, doch alle schienen es gehört zu haben. Sie kehrte der Bande den Rücken zu.

„Hey! Warte mal!“, rief Torben. „Jetzt sag doch auch mal was! Die haben unser Haus besetzt!“

Das sehe ich selbst, lag Lotte auf der Zunge. „Wie komme ich am einfachsten zum Strand?“, fragte sie stattdessen.

„Den Weg noch fünfzig Meter weiter, dann zweigt ein Pfad ab“, erklärte Pippi Langstrumpf.

„Danke.“

Als Lotte im Kofferraum nach Handtuch und Bikini kramte, kam Torben hinzu. „Wo willst du denn jetzt hin?“

„Habe ich doch gesagt. Ins Meer“, antwortete Lotte. „Fang mit denen keinen Streit an, während ich weg bin, okay?“

„Keinen Streit? Den haben wir längst! Die haben sich in unserem Haus festgesetzt!“

„Ist mir aufgefallen.“

„Warum sagst du dann nichts? Wir können uns das nicht gefallen lassen! Das Haus gehört uns!“

„Ich habe jetzt keinen Nerv, Arschtritte zu verteilen. Ich will endlich aus diesen Klamotten raus und ins Meer. Kommst du mit?“

„Scheiße, nein!“, erwiderte Torben. „Am Ende sperren die uns noch aus! Und klauen unseren Wagen!“

„Das glaube ich nicht.“

„Ich schon! Die müssen Oma irgendwie reingelegt haben. Ich meine, das ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn, oder?“

„Sehr komisch ist das alles, ja.“

„Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“

„Torben, ich bin erschöpft und will mich jetzt einfach nur erfrischen.“

„Na, cool! Super! Dann mach nur.“ Er hob theatralisch beide Hände und trat einen Schritt zurück. „Erfrische dich. Während ich um unser Haus kämpfe.“

„Tust du nicht!“, erwiderte Lotte schärfer. „Wir klären das später, okay? Und zwar mit Worten, nicht mit Fäusten.“

„Dafür kann ich nicht garantieren.“ Torben fuhr herum und enterte erneut ihr Erbgrundstück.

Lotte stöhnte resigniert. Sie wusste, dass sie ihn nicht aufhalten konnte, und unternahm erst gar keinen Versuch. Sie fand den sandigen Pfad zwischen den Felsen, den die Rothaarige erwähnt hatte, und erblickte nach einer lang gezogenen S-Kurve endlich das offene Meer. Ruhig und rhythmisch schickte es Wellen ans Ufer und glänzte in der spätnachmittäglichen Sonne, die Lotte halbseitig blendete. Weit draußen punkteten kleine Segel den Horizont. Dies hier war kein offizieller Badestrand und wäre als solcher mit seinen zahlreichen Felsen zwischen dem Sand wohl auch nicht geeignet gewesen.

Mit ihrem spärlichen Badegepäck machte sich Lotte auf den Weg zum Wasser, wo sie die lange Reise endlich von sich abwaschen wollte. So weit ihre Augen reichten, verlief die Küste gerade und formte weder Buchten noch Zungen. Etwa fünfhundert Meter südwärts tat sich hinter einem sandbraunen Felsenturm ein Heer aus Sonnenschirmen auf. Aus den rückwärtigen Baumreihen stachen einige Häuser hervor. Nach Norden hin gab es nur vereinzelte Sonnenschirme und keine Häuser mehr. Irgendwo dort begann das Naturschutzgebiet.

Als die ausrollenden Wellen schon fast an ihren Turnschuhen leckten, ließ Lotte ihre Sachen fallen. Zwanzig Meter den Strand hinauf stieg ein Pärchen aus dem Wasser. Nackt – was Lotte anhand von Marcel und Severin schon erwartet hatte. Auch sie schwamm und sonnte sich lieber ohne Kleidung. Sie ließ den Bikini bei dem Handtuch und ihren verschwitzten Klamotten und stürzte sich in die Ostsee.

Die so lang ersehnte Erfrischung elektrisierte sie geradezu. Elan und Tatkraft kehrten zurück. Nicht so viel, dass sie nachher die Hausbesetzer mit Arschtritten davonjagen würde, aber genug, um sich wieder wohlzufühlen. Lotte tauchte kraftvoll unter den flachen Wellen hindurch und schmeckte genüsslich das Salz auf ihren Lippen. Als sie aus dem Wasser schoss, wurde sie von einer Welle überrollt, doch das war einkalkuliert. Sie machte sich lang und ließ sich von der nächsten ein Stück weit zum Strand zurücktragen. So fühlt sich Freiheit an, dachte sie bei sich und freute sich auf die vor ihr liegende freie Zeit bis zum Herbstsemester.

Als sie Sand zwischen ihren Zehen spürte, kehrten auch ihre Gedanken auf den Boden der Tatsachen zurück. Da hatten sich Fremde in Omas Haus eingenistet. Wenn Isabella ihnen keinen Streich spielte, waren diese Typen echt, und das bedeutete Komplikationen. Torben hatte schon recht. Irgendwas ging da nicht mit rechten Dingen zu. Oma hätte ihren Enkeln doch nicht ihr Haus vererbt, wenn sie irgendwelche Spinner darin wohnen lassen wollte. Lotte erinnerte sich vage, dass es in England irgendein altes Gesetz gab, das Hausbesetzern Besitzansprüche zugestand, wenn die Besetzung nur lange genug aufrechterhalten wurde. Ob es so etwas auch in Deutschland gab, wusste sie nicht, aber vielleicht war das der Plan dieser Typen.

Sie tauchte noch einmal unter, um sich mental für die Konfrontation mit ihnen zu wappnen. Als sie kurz darauf aus den Wellen stieg, bemerkte sie eine Gestalt in kurzer schwarzer Hose und weißem Hemd, die bei den Felsen stand, wo der Pfad zum Haus zurück seinen Anfang nahm. Sicher war sich Lotte nicht, aber das konnte der Hängemattentyp sein. Christoph. Schnüffelte er ihr nach? Lotte überlief ein Schauer. Von all den Typen war er der merkwürdigste, soweit sie das bisher ermessen konnte. Während sie sich abtrocknete, verzog er sich ohne Hast den felsigen Schlangenpfad hinauf.

 

Liebende Hausbesetzer

 

Entgegen Torbens Befürchtungen war ihr Wagen nicht geklaut worden, wie Lotte feststellte. Allerdings stand eine Blondine in einem luftigen Blümchenkleid an der Beifahrerseite und glotzte neugierig durch die Seitenscheibe.

Lotte ging näher heran. Sie trug nun ihren Bikini, das Handtuch um die Hüften und ihre verschwitzten Klamotten in einem Knäuel in beiden Händen. „Soll ich entriegeln? Von innen schnüffelt es sich bestimmt leichter.“

Die Blonde fuhr herum. Nicht unvermutet war es die Sängerin aus dem Dachgeschoss. Ein unaufdringliches Lächeln zierte ihr Gesicht. Eine Schönheit, ohne Zweifel. „Schnüffeln ist nicht meine Absicht. Ich kann dir mit dem Gepäck helfen.“

„Ich weiß noch nicht, ob wir hier einziehen“, entgegnete Lotte reserviert. „Wo ist mein Bruder?“

„Palavert hinten mit den Jungs. Warum solltet ihr nicht einziehen? Es ist euer Haus.“

„Aber ihr haltet es besetzt.“

„Wenn wir zusammenrücken, geht es schon.“

„Und wenn wir euch raushaben wollen?“

„Das wäre schade.“

Lotte seufzte und legte ihren Klamottenhaufen vorsichtig auf der brennend heißen Kühlerhaube ab.

„Bring sie in die Waschküche“, riet ihr die Blondine. „Am Montag ist Waschtag.“

„Und wo ist die Waschküche?“

„Ach so, du warst ja noch nicht im Haus. Also los, komm, ich führe dich herum. Ich bin übrigens Annika.“

„Lotte.“

„Klar, weiß ich. Eure Oma hat von euch erzählt.“

Lotte erinnerte sich an etwas, das sie vorhin im Garten in Verbindung mit dem Namen Annika vernommen hatte. „Weshalb bist du die Gischtkönigin?“, fragte sie.

Annika grinste. „Ich bin nicht die Gischtkönigin, ich singe dort nur manchmal. Und Patrick spielt Gitarre. Die Gischtkönigin ist eine Musikkneipe in Prerow.“

Lotte nahm ihren Klamottenhaufen wieder auf und schlüpfte hinter Annika durch die Heckenschneise. Ums Hauseck hörte sie angeregte Wortfetzen der Jungs.

„Die lassen wir mal lieber unter sich“, meinte Annika und hielt auf die offene Haustür zu.

„Was für Musik macht ihr denn?“, fragte Lotte. „So Hippie-Zeug aus den Sechzigern und Siebzigern?“

„Oh nein, nicht doch.“ Annika winkte ab. „Das ist mir viel zu altbacken. Die Musik an sich ist zum Teil ja durchaus gut, aber die Texte und Botschaften sind einfach überholt. Was damals revolutionär und richtig war, ist heute rückständig und nicht weiter spektakulär. Wir spielen Songs zeitgenössischer Liedermacher und natürlich eigene Stücke. Patrick schreibt fast Tag und Nacht. Das meiste verwirft er wieder, selbstkritisch, wie er ist. Manchmal muss ich ihn dafür ohrfeigen, weil er auch wirklich gute Sachen fallen lässt.“

Annika auf den Fersen betrat Lotte einen lichtlosen Mittelflur mit je zwei Türen rechts und links und einer Holzstiege am entfernten Ende, die nach oben führte. Die warme Luft war stickig, es roch nach altem Holz.

„Die Waschküche ist hinten links.“ Annika öffnete die letzte Tür vor der Stiege und gestikulierte Lotte hinein. Diese Waschküche war auch ein Badezimmer, wie sie feststellte, und kein kleines. Es gab eine rechteckige Badewanne, eine Dusche mit einem gelb geblümten Vorhang, eine Toilette und ein großes Waschbecken. Die grellgrünen Wand- und Bodenfliesen wirkten überladen und kitschig, genauso wie die bonbonfarbenen Gardinen an den beiden Fenstern. Draußen lag der schattige Garten. Lotte erspähte eine leere Wäschespinne.

„Schmeiß deine Sachen einfach dazu“, sagte Annika. „Bald kommen sie in die Maschine.“

An der rückwärtigen Wand stand eine monströs große Waschmaschine, wie Lotte noch keine zuvor gesehen hatte. Daneben lag ein bunter, ungeordneter Haufen unterschiedlichster Kleidungsstücke. An einer Wäscheleine entlang der Wand hingen Handtücher, auf einem Schemel in der Ecke stand eine Großpackung Waschpulver, darunter befanden sich weitere Flaschen und Päckchen. Putzzeug verwahrte vermutlich der schmale Holzschrank in der anderen Ecke. Daneben gab es noch eine unscheinbare Tür.

„Da drin ist die Heizung. Und der Warmwasserboiler. Das Öl reicht noch locker für den kommenden Winter.“

„Wie lange wohnt ihr hier schon?“, fragte Lotte. Hatte sie sich im Meer noch klar und gestärkt gefühlt, fühlte sie sich jetzt wieder überfordert von dieser grotesken Situation.

„Schon seit Jahren“, antwortete Annika. „Aber nicht permanent. Nur, solange es uns guttut. Wenn es die inspirativen Säfte verlangen, verziehen wir uns.“

„Die inspirativen Säfte.“

„Genau die. Na los, wirf deine Sachen hin. Dann zeige ich dir den Rest des Hauses.“

Neben der Waschküche befand sich die Speiseküche mit einem wuchtigen Esstisch und acht uneinheitlichen Stühlen drum herum. Der Tisch war sauber, nicht aber die Küchenablage und der Herd. Leere Gläser und benutztes Geschirr waren liegen geblieben. Von ihren Kommilitonen war Lotte allerdings Schlimmeres gewöhnt.

„Eure Oma war eine großartige Köchin“, sagte Annika. „Ich habe eine Menge von ihr gelernt, werde ihr aber nie das Wasser reichen können. Kannst du kochen, Lotte?“

„Spiegeleier, Back-Camembert und Fertigpizzas bekomme ich glänzend hin.“

Annika grummelte gequält. „Irgendwie schon eine Schande, dass unsere Generation das Kochen verlernt, oder? Wir verlassen uns auf diesen abgepackten Mist aus der Tiefkühltruhe. Dabei ist Kochen die vielleicht größte Kunst von allen. Wir nehmen uns für alles Mögliche Zeit, aber nicht fürs Kochen und Genießen.“

Lotte schwieg, weil sie auf so eine Diskussion jetzt keine Lust hatte. Im Grunde hatte sie zu gar nichts Lust. Dieser Urlaub hatte einen miserablen Anfang genommen und ihre Laune war im Keller.

Der Raum gegenüber war ein Wohnzimmer, das zu einem Schlafareal umfunktioniert worden war. Die Couch war ausgezogen, damit zwei Leute darauf übernachten konnten. Zerknüllte Kopfkissen und Decken ließen keine Zweifel daran aufkommen, dass das auch geschah. Auf den hölzernen Bodendielen lagen noch zwei weitere bestückte Matratzen. Um den nötigen Platz zu schaffen, hatte man den Beistelltisch und einen Sessel aufeinandergestapelt und in eine Ecke verbannt. Hinter den gläsernen Ziertüren des Wohnzimmerschrankes erspähte Lotte Klamotten, Shampoo und Getränkeflaschen, die Anrichte mit dem Fernseher war mit Papieren zugekleistert, auf dem Stück Boden davor stand ein aufgeklappter Laptop.

„Es ist schon ein bisschen eng, aber wir sind immer zurechtgekommen“, erläuterte Annika. „Letzten Sommer hat Marcel drei Schauspieler herbeigezogen und sie vorübergehend bei uns einquartiert. Da war es dann wirklich eng, sage ich dir. Wir mussten uns schon überlegen, im Garten ein Zelt aufzuschlagen.“

„Schauspieler?“ Lotte verstand immer weniger. Willkürliche Szenen von Staraufläufen bei irgendwelchen Filmfestivals geisterten durch ihren Kopf.

„Mit denen hat er in Prerow seinen ersten Film verwirklicht“, bestätigte Annika. „Leider will ihn bislang kein Sender haben.“

Eins der Fenster war gekippt und Lotte hörte ihren Bruder, der mit den anderen draußen aggressiv diskutierte.

„Marcel macht also Filme?“

„Klar, er ist Regisseur. Hat die Filmhochschule in Potsdam besucht. Aber nicht sehr lange, dann hat er abgebrochen.“

„Also … du und Patrick, ihr seid Musiker. Und Marcel macht Filme und bringt Schauspieler mit. Seid ihr hier so eine Art Künstlerkommune?“

„Ja, könnte man so sagen.“

„Aber wieso hier? Wieso unter dem Dach unserer Oma?“

„Weil es toll hier ist“, antwortete Annika schulterzuckend. „Und weil eure Oma es so gewollt hat. Wir haben uns wohl bei ihr gefühlt. Und sie hat sich über uns gefreut.“

Lotte musterte sie und fragte sich, wie viel von all dem sie glauben konnte. „Was machen denn die anderen?“, fragte sie. „Sind das auch Künstler?“

„O ja doch“, behauptete Annika. „Severin und Wanda malen. Ziemlich gut sogar, wenn du mich fragst. Christoph schreibt. Gedichte und Novellen und so. Und Ursula spielt Dudelsack in einer Mittelaltercombo. Sie macht aber auch als Schauspielerin eine gute Figur. Letztes Jahr hat sie in Marcels Film mitgewirkt. Er dreht bald wieder einen, und Ursula wird dabei sein.“

Lotte sondierte ihre Möglichkeiten. Sie und Torben waren in der Unterzahl. Mit roher Gewalt würden sie diese Bande nicht loswerden. Es blieb nur die Polizei. Doch denen klarzumachen, wem dieses Haus gehörte, wäre nicht so einfach. Womöglich hatte das Grundbuchamt die neuen Eigentumsverhältnisse noch gar nicht nachgetragen. Fürs Erste war Geduld gefragt.

Das Zimmer nebenan war Lagerraum und Maleratelier zugleich. Schwarz-Weiß-Kritzeleien auf großen Papieren kleisterten den Boden zu, beschmierte Leinwände hingen an den Wänden oder warteten auf Staffeleien, verkleckerte Farbtuben lagen willkürlich auf Klapptischen herum und verschandelten die Fenstersimse. In einer gelben Plastikwanne voll dunkel gefärbtem Wasser hinter der Tür lagen mindestens ein Dutzend Pinsel. Unscheinbar und fast unsichtbar in all dem Chaos waren die Getränkekisten an der hinteren Wandseite, die gestapelten Packungen Klopapier, ein Staubsauger und ein Regal, in dem die Kommune Nudeln, Reis, Zucker, Zahnbürsten, Zigaretten und anderen Alltagskram lagerte.

„Ein bisschen unaufgeräumt hier“, gab Annika zu.

„Ein klein bisschen“, merkte Lotte bissig an.

Durch eins der Fenster sah sie Torben, Marcel und Severin an dem Tisch unter der Markise sitzen. Marcel redete wild gestikulierend auf Torben ein, der so finster dreinschaute, als hätte man ihm gerade den Führerschein genommen.

Annika winkte Lotte zu einer der Staffeleien. „Na komm. Wanda und Severin haben sicher nichts dagegen, wenn du dir ein paar Bilder ansiehst.“

„Danke, kein Interesse.“ Lotte kehrte dem Chaos den Rücken. Draußen im Flur stand sie vor der Holzstiege. Sie schaute hinauf. Wie viele unangenehme Überraschungen würden da oben wohl noch folgen? Wie aufs Stichwort setzte Gitarrengeklampfe ein. Verursacher war wahrscheinlich der blasse Pilzkopf, Patrick. Er fabrizierte einen ruhigen, rhythmischen Klangteppich. Lottes Empfindungen hätten nicht gegensätzlicher sein können. In ihrem Inneren tobte eine Kakofonie. Am liebsten hätte sie einfach losgeschrien. Aber damit würde sie diese Typen wohl kaum aus dem Haus vertreiben.

„Das ist Irish Rain von Leaves’ Eyes“, erklärte Annika hinter ihr. „Den Song spielen wir bei fast jedem Auftritt. Kennst du ihn?“

Lotte schüttelte den Kopf, und versuchte gefasst zu bleiben. Annikas leichtfüßige Offenheit und ihre anhaltend gute Laune machten es ihr nicht einfacher.

Annika stieg die Stufen hinauf. „Komm, Patrick hat nichts dagegen, wenn wir kurz reinschauen.“

Oben gab es ein zweites, kleineres Badezimmer, was schon mal ein guter Anfang war. Das nächste Zimmer, in das Lotte sah, war das, aus dem die Gitarrenklänge kamen. Der Pilzkopf hockte in der Raummitte auf einem Schemel und zupfte vor sich hin. Er schaute auf, als Lotte hineinspähte, schien sie aber nur bedingt wahrzunehmen. Für etwas so Banales wie einen Gruß unterbrach er sein Spiel nicht.

„Am besten stören wir ihn nicht weiter“, riet Annika.

Lotte ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Auf dem weißen Teppich lagen Notenblätter aus, unter der Dachschräge außerhalb der Gaube lehnten zwischen Mikrofonständern zwei schwarze Gitarrenkoffer an der Wand. Der klobige Kasten mit vielfarbigen Tasten und Knöpfen war wohl ein altes Mischpult. Rundherum hatte sich eine Menge Kabelsalat angesammelt. Weitere Instrumente scharten sich in einer entlegenen Ecke. Lotte identifizierte Trommeln, einen Dudelsack, eine Schalmei und eine Klarinette. Auch ein Bett gab es, das zu ihrem Erstaunen sogar sorgfältig gemacht war. Ob der danebenstehende Kleiderschrank tatsächlich als solcher benutzt wurde, blieb offen.

„Der Raum hat eine brauchbare Akustik, deshalb proben wir hier meistens“, erklärte Annika. „Trotzdem ist er eigentlich zu klein dafür.“

Dann sucht euch halt was anderes, wollte Lotte schon herausschmettern, sie behielt es aber für sich.

Der nächste Raum war Omas Schlafzimmer und Lotte fand es geradezu pietätlos, dass sich die Bande auch hier festgesetzt hatte. Christoph lümmelte in einem Sessel und hatte ein Notebook auf seinem Bauch stehen. Dem pink bezogenen, ungemachten Doppelbett nach zu schließen, schlief hier drin auch jemand. Und wahrscheinlich nicht nur das.

„Oh, entschuldige“, sagte Annika. „Wir wollten nicht stören. Ich dachte, du wärst noch draußen bei den anderen.“

„Keine Chance“, entgegnete Christoph affektiert und schenkte Lotte einen gelangweilten Blick. „Ihr Bruder ist ein entsetzlicher Störfaktor.“

Nun platzte Lotte der Kragen. „Ein entsetzlicher Störfaktor?“, fauchte sie den Kerl an und wurde lauter. „Er ist es nicht, der ein Haus besetzt, in dem er nichts zu suchen hat! Er ist es nicht, der sich im Schlafzimmer einer toten Frau ausbreitet! Ihr seid das! Ihr seid hier der Störfaktor! Und deshalb haut ihr jetzt ab! Raus mit euch! Raus! Raus aus diesem Haus! Verpisst euch!“

Sie hatte mit ihrem Ausbruch genug Eindruck gemacht, um den lethargischen Kerl auf seine Füße zu holen. Nun wirkte er nicht mehr träge, sondern verlegen. Im Zimmer gegenüber hatte auch das Gitarrenspiel aufgehört.

Lotte machte weiter, denn jetzt war sie in Fahrt: „Wage es nicht noch einmal, mich oder meinen Bruder als Störfaktor zu bezeichnen! Das hier ist unser Haus! Unser Haus! In dem ihr nichts zu suchen habt! Verschwindet! Packt euren Scheißkrempel zusammen und verschwindet!“

Der Kerl starrte sie glasig und ausdruckslos an. Lotte erwartete eine Retourkutsche oder wenigstens eine Rechtfertigung, aber eine solche kam nicht. Christoph nahm sein Notebook auf und stürmte an Annika und ihr vorbei aus dem Zimmer.

„Das hättest du nicht tun sollen“, sagte Annika leise.

„Ach, und warum nicht?“, fuhr Lotte sie an. „Hab ich etwas Falsches gesagt? Das ist unser Haus!“

„Ja, mag sein“, gab Annika zu. „Aber Christoph ist sehr sensibel. Er steckt so was schlecht weg.“

„Das ist mir gerade so was von egal“, raunzte Lotte und stampfte ebenfalls aus dem Zimmer in den Flur zurück.

Annika folgte, Christoph polterte die Holzstiege hinunter. Lotte wollte ihm noch etwas hinterherschleudern, aber dann ließ sie es dabei bewenden. Der Kerl wirkte schon fertig genug.

„Er ist in ein tiefes Loch gestürzt und kommt erst jetzt langsam wieder daraus hervor“, sagte Annika strenger als zuvor. „Mach es ihm bitte nicht schwerer, als es schon ist. Weißt du, ich finde es ziemlich schwach, wie du und dein Bruder euch hier aufführt.“

Lotte verspürte den drängenden Wunsch, sie an ihrem Kleidchen zu packen und ordentlich durchzuschütteln. „Wie wir uns hier aufführen? Ihr haltet unser Haus besetzt! Ihr habt euch Omas Sachen unter den Nagel gerissen und bringt sogar die Frechheit auf, in ihrem Bett zu schlafen!“

„Tut mal nicht so, als hätte euch eure Oma irgendwas bedeutet“, schoss Annika unterkühlt zurück. „Ihr seid einzig und allein wegen des Hauses hier. Eure Oma war euch in all den Jahren vollkommen egal. Uns nicht! Wir waren ihre Freunde. Ihre Familie! Und Christoph …“ Annika unterbrach sich, und Lotte hatte das unangenehme Gefühl, dass sie gerade tief in sie hineinblickte. „Christoph hat sie geliebt. Aufrichtig – wie man nur irgendjemanden lieben kann.“

Lotte brauchte eine Weile um das Gesagte zu begreifen. „Was?“, entfuhr es ihr dann fassungslos.

„Du hast mich schon verstanden“, erwiderte Annika. „Was meinst du, warum er seit Wochen kaum ihr Schlafzimmer verlässt? Christoph hat Luise geliebt. Und tut es noch.“

Lotte fehlten die Worte, und aus Gründen, die sie selbst nicht verstand, fühlte sie sich plötzlich schlecht und schäbig. Durfte sie das glauben? Christoph und ihre Oma sollten ein Liebespaar gewesen sein? Oder war das nur ein mieser Trick, um … ja, um was eigentlich?

„Du solltest ein wenig sanfter zu ihm sein“, fuhr Annika fort. „Wenn ihr darauf besteht, wird er das Zimmer bestimmt freigeben.“

„Wir können darauf bestehen, dass ihr das gesamte Haus freigebt.“

„Könnt ihr, aber dann werdet ihr auf Widerstand stoßen. Wir gehen hier seit Jahren ein und aus. Damit ist das Gewohnheitsrecht auf unserer Seite.“

Lotte wusste, dass es ein Gewohnheitsrecht gab, aber nicht, was es bedeutete, darum schwieg sie dazu.

Jemand trampelte die Stiege herauf. Es war Severin und Lotte stellte dankbar fest, dass er inzwischen eine Hose anhatte.

„Was war denn das für ein Geschrei gerade?“, fragte er.

„Nichts weiter“, erklärte Annika ruhig. „Lotte musste nur ein wenig Dampf ablassen. Die lange Fahrt, die Hitze …“

Severin nickte wissend und verständnisvoll. „Habe ich mir schon gedacht. Ich finde es toll, dass ihr endlich hier seid. Vielleicht könnt ihr die Leere füllen, die Luise hinterlassen hat.“

„Ich habe nicht den Eindruck, dass hier Platz für uns ist“, erwiderte Lotte schroff. „Von wegen Leere.“

„Quatsch!

---ENDE DER LESEPROBE---