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Nach dem bestialischen Mord an seiner Verlobten ist der dänische Polizeibeamte Brandur Christensen davon besessen, den Täter zur Strecke zu bringen. Durch einen befreundeten Kollegen erhält er Aktenauszüge eines nahezu identischen Falls, der sich vor wenigen Jahren in Süddeutschland zugetragen hat. Brandur reist nach Ostbayern und kommt den Umtrieben einer heidnischen Gemeinschaft auf die Spur. Tatkräftige Unterstützung bei seinen Ermittlungen erhält er von der auf Esoterik und Okkultismus spezialisierten Religionswissenschaftlerin Anja Kahrmann. Das ungleiche Duo hegt bald den Verdacht, dass der Mörder kein Mensch ist, sondern eine grauenvolle Kreatur, die den ältesten Mythen und Sagen entsprungen zu sein scheint.
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Seitenzahl: 355
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Prolog
Kapitel 1: Parallele
Kapitel 2: Katzberg
Kapitel 3: Die Pentagrammhütte
Kapitel 4: Die Klage der Nacht
Kapitel 5: Wellen und Echos
Kapitel 6: Unter schaurig Gestirn
Kapitel 7: Eriks Dämonenwolf
Kapitel 8: Druidenkodex
Kapitel 9: Der Nachtwanderer
Kapitel 10: Ein schauriger Gast
Kapitel 11: Strangers in the Night
Kapitel 12: Die Sirius-Patrouille
Kapitel 13: Nachwehen
Ein Schwarm Sattelrobben glitt durch den Nordatlantik. In Grüppchen zu sechs, sieben oder mehr Tieren schossen sie aus dem Eismeer und landeten auf einem vereisten Ausläufer an der Ostküste Grönlands. Unter klageähnlichen Unk-Lauten schlurften sie emsig landeinwärts, um den nachfolgenden Artgenossen Platz zu machen. Ihre genässten, grauschwarzen Felle glänzten in der Mittagssonne, die, von nur wenigen Wolkenfragmenten umrandet, hoch am Himmel stand und der weiten See den Anstrich eines glitzernden Edelsteins verpasste. Eines der fidelen Tiere unterschied sich kaum merklich von den anderen. Es trug ein enganliegendes Band um den kurzen Hals.
„Da! Ich kann ihn sehen! Da ist er!“
Eiserne Trittstufen mit einem Geländer zu beiden Seiten führten von der steilen Gletscherwand eines Fjords ins Wasser hinab. Wenige Meter davon entfernt ragte ein Periskop aus dem Eismeer. Am unteren Ende des Linsensystems stand eine blonde Frau, die ihre obere Gesichtshälfte in der Ummantelung der Augenlinse vergraben hatte. Ihr schmaler Mund lächelte.
„Möchten Sie auch sehen, Professor?“, fragte sie den bebrillten und deutlich älteren Mann an ihrer Seite. Er war gertenschlank, was seine ergrauten Wuschelhaare noch überproportionierter wirken ließ.
Mit einem aufgeräumten Schmunzeln schüttelte er den Kopf. „Lassen Sie nur, meine Liebe. Ich habe unseren Freund schon einige Male in natura bestaunen können.“
Die Frau lächelte noch etwas breiter und spähte weiter hinaus auf die inzwischen von Hunderten von Tieren bevölkerte Eislandschaft. „Das ist faszinierend. Sie scheinen auch an Land miteinander zu kommunizieren.“
„Selbstverständlich tun sie das.“ Der zufriedene Ausdruck des Professors dauerte fort, als er sich einer dampfenden Tasse Kaffee annahm.
Der überschaubare Raum, in dem sich die beiden aufhielten, war fensterlos und vollgestopft mit Mobiliar und Gerätschaften. Zwei Notebooks, ein Stapel Mappen, zwei Tassen und eine Kanne beanspruchten einen Schreibtisch in der Ecke. Ein blinkendes Radarsystem dominierte nebst Funkanlage und einem mit durchsichtigen Behältnissen bestücktem Regal eine der Längswände. Gegenüber stand ein kleiner Kühlschrank mit Kaffeemaschine und Zubehör. Eine schmale Metalltür zwischen den umzingelnden Instrumenten und Apparaturen war der einzige Ausgang.
„Professor, da stimmt etwas nicht“, sagte die Blonde am Panoramafernrohr.
Der Professor horchte auf und stellte seine Tasse ab. „Was meinen Sie?“
„Sie flüchten ins Wasser. Etwas scheint sie zu erschrecken.“
„Lassen Sie mich sehen!“
Die junge Frau gab den Platz an der Augenlinse frei, der Professor nahm ihn ein. Er bekam nur noch wenige Tiere zu Gesicht, bevor auch diese ins Wasser flüchteten. Zwei Exemplare jedoch blieben reglos auf der Eisscholle liegen.
„Das kann doch nicht …“ Er unterbrach sich und nahm einige Justierungen an dem Gerät vor. Das obere Ablenkprisma veränderte sein Sichtfeld zur gegenüberliegenden Seite des Fjords. Auf der Gletscherkante rückten zwei Gestalten ins Bild, Gewehre in ihren Händen. Hinter ihnen zeichneten sich zwei motorisierte Schneeschlitten ab.
„Donner noch eins, ich wusste, dass die früher oder später Ärger machen“, knirschte der Professor.
„Wovon sprechen Sie?“, fragte die junge Frau besorgt.
„Sehen Sie selbst“, raunte der Professor und gestattete ihr wieder die Sicht.
„Meine Güte. Wer sind die?“
„Amateurjäger aus der Pentagrammhütte, nehme ich an.“
Die Frau schaute ihn verständnislos an. „Pentagrammhütte?“
Der Professor nickte grimmig. „Ein alter Walfängerstützpunkt aus dem achtzehnten Jahrhundert. Während des Zweiten Weltkrieges haben ihn die Nazis zu einer Wetterstation umrüsten wollen, was ihnen aber bis Kriegsende nicht mehr gelungen ist. Der Trakt stand leer, bis ihn vor anderthalb Jahren ein spleeniger Engländer erworben hat. Seitdem ist er ein Anlaufpunkt für gelangweilte Abenteurer.“
„Ich verstehe noch immer nicht“, sagte die Frau.
„Ach, meine liebe Famke, ich verstehe Ihre Generation doch noch viel weniger“, seufzte der Professor gequält. „Ich weiß nicht, was diese Leute dort tun und was sie dazu antreibt. Es scheint eine Art Spiel zu sein. Es gibt auch eine Internetseite, auf der man sie bei ihrem Treiben beobachten kann.“
„Und warum nennt man diesen Trakt Pentagrammhütte?“
„Wegen der fünfeckigen Grundfläche“, erläuterte der Professor. „An allen fünf Seiten gibt es einen formgleichen Anbau. Es sieht daher von oben aus wie ein Stern.“
„Wie ein Pentagramm.“
„Exakt. Aber ich werde dafür sorgen, dass das aufhört. Diesen Freizeitschlächtern werde ich das Handwerk legen. Dieses Mal sind sie zu weit gegangen. Sehen Sie nach, was sie tun. Nehmen sie die getöteten Tiere mit?“
Famke spähte wieder durch das Periskop. „Ich kann niemanden mehr sehen. Vielleicht umgehen sie den Steilhang zur Eisplatte hinunter.“
„Wir holen sofort die Kadaver rein. Sie sind Beweismaterial.“
In Luftlinie gemessen mehr als zweitausend Meilen südöstlich, über Island und die Färöer-Inseln hinweg, hatte ein großes Aufgebot der dänischen Polizei einen Teil des Hafens von Esbjerg abgeriegelt. Unter einem grauen Himmel, der baldigen Regen verhieß, hielten uniformierte Beamte Schaulustige hinter Absperrbändern zurück. Eine weitere Schar, darunter Mitarbeiter des Kriminallabors in blauen Ganzkörperanzügen, hatte sich unweit entfernt in der Durchfahrt zwischen zwei Lagerhallen versammelt. Der Teerweg endete an einer Mole und war vom Unrat mehrerer umgeworfener Müllcontainer übersät. Die bleichen, fassungslosen Gesichter der Polizisten rührten von dem, was inmitten der Zerstörungswut gefunden worden war.
„Was für ein Mensch ist zu so etwas fähig“, murmelte ein hochgewachsener Blonder in Zivil, wankte verstört aus der vermüllten Zone und übergab sich geräuschvoll.
„Er wird gleich da sein“, flüsterte ein herangeeilter Uniformierter einem kleinen Mann mit Halbglatze zu.
Der Mann um die Fünfzig mit leicht ergrautem Oberlippenbart und gleichfarbigem Haarkranz atmete schwer durch ein Taschentuch. „Danke, ich werde ihn abfangen.“ Er setzte sich eilig in Bewegung.
Im Bereich der Absperrungen fuhr ein Wagen vor. Ein drahtiger Mann Mitte dreißig und dunkelhaarig sprang in Jeans und Weste heraus, schob sich durch die neugierige Menge von Schiffern und Hafenarbeitern und hielt einem der wachenden Polizisten seinen Dienstausweis unter die Nase. „Lassen Sie mich durch“, verlangte er brüsk.
Der Uniformierte nickte und ließ ihn gewähren.
Der Mann eilte weiter. Der Ältere mit der Halbglatze kam ihm entgegen.
„Brandur! Jetzt mal langsam!“
„Jorgensen hat mich angerufen“, erwiderte der Neuhinzugekommene. „Er hat etwas von einer verstümmelten Leiche gebrabbelt. Und ich soll sofort kommen. Was ist denn los?“
Der Ältere versperrte ihm in den Weg und hob beide Hände an.
„Bleib stehen, Brandur“, gebot er. „Lass es mich dir erklären.“
„Oliver, was ist hier los?“, erwiderte Brandur und versuchte, an seinem Kollegen vorbeizukommen.
Der aber hielt ihn unerbittlich fest. „Brandur, bitte bleib jetzt stehen!“
Verwirrt riss sich Brandur von ihm los und starrte ihn an. „Oliver, sag mir, was das soll!“
„Brandur, es … es tut mir leid.“
Von einer grauenhaften Vorahnung erfasst, spielte sich Blässe in Brandurs Miene. Er taumelte einen Schritt rückwärts. „Wer ist es?“, kam wispernd über seine Lippen.
„Es ist Emma“, sagte der andere. „Es tut mir so … hey, warte!“
Brandur marschierte zielstrebig weiter. Oliver holte ihn schon nach wenigen Schritten ein.
„Brandur, so warte doch.“
„Lass mich in Ruhe!“, brüllte Brandur, schlug Olivers Hand zornig beiseite und setzte seinen Weg fort.
„Bitte, du musst dich darauf vorbereiten“, beschwor ihn Oliver und stellte sich ihm erneut in den Weg. „Brandur! Der Anblick ist … nun … du musst dich darauf vorbereiten. Jetzt versteh doch.“
Brandurs Gesicht war wie in Stein gemeißelt. „Was willst du mir sagen, Oliver?“
„Sie wurde … nun … regelrecht zerfetzt“, erklärte der Ältere nach Worten suchend. „Es ist entsetzlich. Es fehlen ganze Körperpartien.“
Brandur schluckte mit bebenden Lippen. „Woher willst du dann wissen, dass sie es ist?“
„Wir haben ihren Ausweis gefun-“
„Das muss nichts bedeuten“, unterbrach ihn Brandur und eilte weiter.
Oliver hielt ihn abermals fest.
„Brandur!“ Er klang zunehmend flehentlich. „Wir haben auch einen Teil des Kopfes gefunden. Das Gesicht ist intakt. Ich habe sie identifizieren können.“
Brandur stieß den Freund von sich und lief weiter. Als er kurz darauf in der Durchfahrt ankam und die Kollegen beiseitetraten, brach er zusammen.
Die Oktobersonne war noch nicht über Esbjerg aufgegangen, als Brandur Christensen bei einer Tasse schwarzem Kaffee in einem Schnell-Restaurant saß und leere Blicke in eine Zeitung warf. Er war der einzige Gast zu dieser frühen Stunde. Eine Bedienstete, eine wohlbeleibte Blondine von etwa fünfzig Jahren, stand hinter der langen Verkaufstheke und bestückte die Glasvitrine mit süßem Backwerk. Dicke Regentropfen schlugen gegen die deckenhohen Fensterscheiben an der Westseite des Gebäudes. Brandur schaute nicht auf, als die gläserne Eingangstür aufschwang und eine durchnässte Gestalt eintrat. Der Mann nahm Hut und Mantel ab und hing beides an die Gästegarderobe neben der Tür.
„Kaffee, Schätzchen?“, rief ihn die Bedienstete an.
Oliver Holsten nickte. „Schwarz wie Ruß um Mitternacht.“
Ohne Hast hielt er auf Brandurs Tisch zu und setzte sich ihm gegenüber. Die Blicke der beiden Männer fanden zueinander. Oliver Holsten formte ein aufgesetztes Lächeln und knöpfte sich ohne Eile die Weste auf. „Elendes Wetter, was?“
„Nicht außergewöhnlich zu der Jahreszeit, oder?“, entgegnete Brandur, ohne eine Miene zu verziehen. „Soll das Smalltalk werden?“
„Wie geht es dir, Brandur?“
„Ich bin das blühende Leben.“
„Was man dir rundum ansieht.“ Oliver seufzte und schaute zu der Bediensteten auf, die ihm soeben den Kaffee servierte.
„Darf es sonst noch was sein, Hübscher?“
Oliver verneinte. „Danke, nein, so früh habe ich noch keinen Hunger. Aber vielleicht möchte mein Freund, das blühende Leben, etwas.“
Brandur lehnte mit einem Kopfschütteln ab.
Die Frau füllte seine Kaffeetasse auf und zog sich zurück.
Unter Brandurs abschätzigem Blick nahm Oliver einen Schluck aus seiner dampfenden Tasse.
„Ah, tut das gut“, teilte der sich zufrieden mit. „Am Geschmack des Kaffees erkennt man die Qualität eines Restaurants. Findest du nicht auch?“
„Was willst du, Oliver?“, fragte Brandur.
„Mich vergewissern, wie es dir geht“, antwortete Oliver. „Ist eine Weile her, dass wir nach Dienstschluss zusammen ein Bier getrunken haben. Es fehlt mir.“
„Es geht mir gut.“
Oliver gab sich erfreut. „Wie wundervoll. Aber bitte überzeuge mich. Wie verdienst du deinen Lebensunterhalt? Hilfst du anderen Leuten beim Kreuzworträtseln?“
„Hab noch Erspartes.“
„Verstehe. Tja, das ist gut für dich. Und wann kommst du zurück, mein Freund?“
„Ich komme nicht zurück, Oliver.“
Oliver Holsten lächelte verhalten und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. „Wie stellst du dir dein zukünftiges Leben denn vor? Ich weiß ziemlich genau, was du in den letzten fünfzehn Jahren verdient hast. Dein Erspartes kann nicht ewig reichen.“
Brandurs Miene blieb ausdruckslos. „Ich bin für alles offen. Das Leben ist voller Überraschungen. Tja, das können wir wohl beide bestätigen, nicht wahr? Es wird sich schon etwas ergeben.“
Oliver nickte stumm vor sich hin, als bewertete er das Gesagte zum Positiven, dann fiel sein Blick auf die Zeitung. „Steht etwas Interessantes drin?“
„Die amerikanische Wirtschaft scheint sich allmählich zu erholen“, sagte Brandur. „Ein günstiger Zeitpunkt, um an der Börse einzusteigen, meinen die Vermögensberater.“
Oliver lächelte ein weiteres Mal, als hätte er einen Scherz vernommen, Brandur erwiderte es auch dieses Mal nicht.
„Du bist ein guter Polizist“, meinte Oliver nach ein paar schweigsamen Momenten. „Du könntest viel tun. Welchen Sinn findest du darin, dein Leben vorbeiziehen zu lassen? Nichts anderes tust du nämlich. Du lässt es an dir vorbeiziehen. Verdammt, komm endlich zurück, Brandur!“
„Also hältst du mich inzwischen nicht mehr zu befangen, um Polizeidienst zu verrichten?“
„Es ist jetzt schon sechs Monate her. Schließ mit der Sache ab und mach wieder deinen Job.“
„Ich soll damit abschließen? Wie bitte?“
„Du sollst da weiter machen, wo du vor sechs Monaten aufgehört hast.“
„Ich sehe keinen Sinn darin, wieder bei euch mitzumachen.“
„Warum nicht?“
Brandur taxierte sein Gegenüber sezierend. „Ihr habt es in sechs Monaten nicht geschafft, Emmas Tod auch nur ansatzweise aufzuklären. Was soll ich bei euch?“
Olivers Blick glitt ab. Die Worte hatten ihn getroffen. „Es gibt noch andere Arbeit, die auf dich wartet“, entgegnete er nachsichtig.
„Aber keine andere interessiert mich!“, brach es so heftig aus Brandur heraus, dass sogar die Bedienstete hinter ihrer Theke aufsah. Er fasste sich schnell wieder. „Wie kannst du erwarten, dass ich weitermache wie vorher, obwohl sich noch immer niemand erklären kann, was geschehen ist? Wie kannst du erwarten, dass ich die zerstückelte Leiche der Frau, die ich heiraten wollte, vergesse und fleißig Polizeidienst verrichte, während dieses Ungeheuer noch frei herumläuft?“
Oliver Holsten atmete tief durch. „Mir ist klar, dass das schwer für dich sein muss.“
„Du warst schon immer ein bewundernswerter Menschenkenner“, gab Brandur bissig zurück.
„Tja, ich habe ja fast geahnt, dass du so reagieren würdest“, stöhnte Oliver theatralisch und nahm einen braunen Umschlag aus der Innentasche seiner Weste.
„Ich gebe dir das ehrlich gesagt nur ungern.“ Er hielt in seiner Bewegung inne. „Aber vielleicht hilft es dir, wieder zu dir zu finden. Ich hätte dich gern zurück.“
Mit diesen Worten platzierte er den Umschlag auf der aufgeschlagenen Zeitung.
„Was ist das?“, fragte Brandur.
„Ich habe einen alten Freund in Den Haag konsultiert“, antwortete Oliver. „Wir kamen ins Gespräch über … diese Sache. Er hat mir daraufhin diese Aktenauszüge beschafft. Es ist nichts Detailliertes, nur ein paar Vermerke für die Statistik, aber die sagen eine ganze Menge aus. Wirf in einer ruhigen Minute einen Blick darauf. Vor zwei Jahren hat es in Deutschland einen ganz ähnlichen Fall wie Emmas gegeben. In Ostbayern, um genau zu sein.“
Brandur nahm den Umschlag und wog ihn in seiner Hand.
„Den Haag?“, hinterfragte er. „Soll das heißen, Europol befasst sich damit?“
Oliver verneinte kopfschüttelnd. „Emma ist weiterhin eine rein dänische Angelegenheit. Der Mörder in Bayern wurde nämlich überführt und sitzt seitdem in einer Irrenanstalt. Es gibt keine Verbindung. Nur die Todesart scheint mir erschreckend ähnlich.“
„Warum gibst du mir das?“, fragte Brandur mit Blick auf den Freund.
„Weil ich hoffe, dass du damit über kurz oder lang Frieden finden wirst.“ Oliver stand auf. „Mach daraus, was du willst. Tue, was immer du tun musst. Und wenn dir die Zeit reif erscheint, dann weißt du, wo du mich findest. Ich halte dir deinen Job so lange frei, wie ich kann. Als Gegenleistung darfst du meinen Kaffee bezahlen. Verflucht, ich bestehe sogar darauf.“
Oliver Holsten begab sich zur Tür, nahm Hut und Mantel auf und verschwand in den Regen hinaus.
Brandur Christensen verbrachte diesen verregnet trüben Oktobertag in seiner Wohnung und studierte die Vermerke der bayerischen Polizei über die bestialische Tötung einer jungen Frau namens Anna-Maria Reickenbach. Was von ihr übrig war, wurde am 2. November vor zwei Jahren in einem einsamen Waldstück gefunden. Die Parallelen zum Tod von Emma Soerensen waren bezeichnend. Kein Mensch konnte einen Körper derart zurichten, und genau wie bei Emma waren Innereien wie Herz, Nieren, Leber und Lunge unauffindbar gewesen.
Der Mann, den die bayerische Polizei verhaftet hatte, und der zu einem voraussichtlich lebenslangen Aufenthalt in die geschlossene Abteilung des Bezirksklinikums Regensburg eingewiesen worden war, hieß Holger Rönndorf. Er hatte eine Hundefarm besessen, auf der er Jagdhunde züchtete und ausbildete. Laut den Ermittlungen der zuständigen Kommissare war er vernarrt in sie und hatte sie abgerichtet, auf seine Weisung hin zu töten. Sie waren es, die Anna-Maria Reickenbach derart zugerichtet hatten. Ein nachvollziehbares Motiv, weshalb Rönndorf es auf die junge Frau abgesehen hatte, fand sich nicht. Rönndorf aber hatte die Tat bei seiner Festnahme gestanden. Seine Hunde waren daraufhin eingeschläfert worden. Ob sie die fehlenden Körperteile des Opfers gefressen hatten oder ob Rönndorf anderweitige Verwendung für sie gehabt hatte, ging aus den vorliegenden Unterlagen nicht hervor.
Schon am nächsten Tag reiste Brandur in München an. Ein feiner Nieselregen empfing ihn, der auch noch fiel, während ihn ein Taxi vom Franz-Josef-Strauß-Flughafen über dicht befahrene Stadtautobahnen dem Münchner Stadtzentrum näherbrachte. Nass, grau und trüb präsentierte sich die Metropole an diesem Herbstvormittag, mit überfüllten Straßen und dampfenden Häuserschluchten. Das Fahrzeug stoppte, wie von Brandur gewünscht, in der Maillingerstraße vor dem mächtigen Bauwerk des bayerischen Landeskriminalamtes. Brandur bezahlte den Fahrer, entnahm dem Kofferraum seine einzige Reisetasche und hielt auf das breite Eingangsportal des Gebäudes zu. An einem Empfangsschalter zeigte er seinen Ausweis vor.
„Wäre es möglich, einen der beiden Hauptkommissare Brandstetter oder Gellmann zu sprechen?“
Brandur sprach einwandfreies Deutsch. Die rothaarige junge Frau hinter der Plexiglasscheibe verlangte, den Ausweis genauer einzusehen. Er schob ihn durch den dafür vorgesehenen Schlitz.
„Zu wem wollen Sie?“
„Willibald Brandstetter oder Richard Gellmann.“
„Bitte nehmen Sie doch Platz, ich überprüfe das“, sprach die Kollegin jenseits der Glasscheibe und verwies auf eine wenig einladende Sitzbank. Brandur zögerte, doch er entsprach dem Rat. Wie sich herausstellte, war es ein gut gemeinter, denn es verging eine knappe Stunde, bis sich jemand für den hier befugnislosen dänischen Polizisten Zeit nahm. Brandur wurde in ein zweckmäßiges Büro geladen, wo ihn ein drahtiger Herr mit lichter werdenden schwarzen Haaren und einem auffallend stechenden Blick hinter einem Schreibtisch erwartete. Er streckte ihm die Hand entgegen. Brandur nahm sie an.
„Franz Schintl“, stellte sich der Bayer vor. „Nehmen Sie Platz, Herr … Christensen.“
Brandur setzte sich in den zugewiesenen Stuhl Schintl gegenüber und schaute sich flüchtig um. Ein unaufgeräumter Schreibtisch, ein überquellender Papierkorb, mit Fotos und Papier zugekleisterte Wände. Polizeibüros sahen überall auf der Welt gleich aus.
„Man hat mir zugetragen, Sie suchen nach zwei Kollegen“, eröffnete Hauptkommissar Schintl das Gespräch. „Bin ich da richtig informiert worden?“
„Sind Sie“, bestätigte Brandur. „Es handelt sich um die Hauptkommissare Gellmann und Brandstetter. Ich begnüge mich auch mit nur einem von den beiden.“
„Was wollen Sie denn von ihnen?“
„Sie haben vor zwei Jahren in einem außergewöhnlichen Tötungsdelikt ermittelt. Ein ähnliches Verbrechen hat sich vor sechs Monaten in Esbjerg ereignet. Möglicherweise könnten Ihre Kollegen zur Aufklärung beitragen.“
Schintl gab sich erstaunt. „Man hat mir nicht gesagt, dass Sie in offiziellem Auftrag hier sind.“
„Das bin ich nicht“, antwortete Brandur knapp. „Ich hoffe, es wird sich dennoch eine Möglichkeit finden, mich mit den beiden auszutauschen.“
Hauptkommissar Schintl ließ ein paar Momente verstreichen, bevor er antwortete. „Leider wird das nicht möglich sein. Wissen Sie, der Kollege Brandstetter hatte vor einem Jahr einen schweren Autounfall. Dabei hat er ein Bein verloren und ist pensioniert worden. Soweit ich weiß, lebt er mit seiner Frau heute auf Hawaii.“
„Und der Kollege Gellmann?“ entgegnete Brandur.
„Der ist tot“, sagte Schintl und atmete bedeutungsschwer. „Es geht um den Reickenbach-Fall, nicht wahr? Die unmenschlich entstellte junge Frau, die in den Oberpfälzer Wäldern nahe der Grenze gefunden worden ist. Ich erinnere mich gut daran. Brandstetter und Gellmann haben diesen Fall bearbeitet.“
„Genau darum geht es.“
„Es gibt einen ähnlichen Fall in Esbjerg?“
Brandur nickte.
Schintl atmete zügig durch. „Wie, glauben Sie, hätten Brandstetter oder Gellmann Ihnen behilflich sein können?“
„Mir sind ein paar Unterlagen zugespielt worden“, sagte Brandur. „Leider werden mir daraus einige wichtige Details nicht schlüssig. Ich bin hier, weil ich persönliche Eindrücke und Einschätzungen sammeln möchte. Ich nehme an, es gibt hier eine Akte über diesen Fall.“
„Die gibt es freilich“, bestätigte Schintl. „Aber es wäre gegen die Vorschriften, Sie Einsicht nehmen zu lassen, solange kein offizieller Kooperationsauftrag vorliegt.“
Franz Schintl erhob sich und umrundete seinen Schreibtisch. „Bitte gedulden Sie sich einen Augenblick.“
Nach etwa zehn Minuten kehrte er mit einer dunkelbraunen Registraturtasche zurück. Mit einer Lesebrille auf der Nase schlug er die Mappe vor sich auf.
„Was ist das?“, fragte Brandur.
„Der Reickenbach-Fall, was sonst?“, antwortete Schintl und sah wieder auf. „Wenn wir uns schon darüber austauschen, will ich möglichst umfassend im Bilde sein. Ach, da fällt mir ein, ich habe Ihnen noch gar keinen Kaffee angeboten. Trinken Sie Kaffee, Herr Christensen?“
„Sehr gern.“
„Ich auch. Tja, ich werde uns welchen machen müssen. Es ist nicht davon auszugehen, dass eine ausreichende Menge für zwei Tassen bereitsteht, und ich trinke aus Prinzip keinen aus dem Automaten. Es kann also ein wenig dauern, bis ich wiederkomme. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, so lange zu warten?“
„Das ist kein Problem“, antwortete Brandur.
Nachdem Schintl den Raum erneut verlassen hatte, nahm Brandur sich die Akte vor. Er hatte den Wink des bayerischen Kollegen verstanden und entsprach ihm ohne Umschweife. Als Franz Schintl eine halbe Stunde später mit Kaffee zurückkehrte, lag die braune Mappe wieder an demselben Platz, an dem er sie zurückgelassen hatte. Er überreichte Brandur eine Tasse, der sie dankend entgegennahm.
„Das war eine schreckliche Sache damals“, konstatierte Schintl, während er sich setzte. „In ihrer brutalen Grausamkeit absolut einzigartig. Dass Hunde Menschen anfallen, ist keine Besonderheit, aber dass sie jemanden derart zurichten, ist … unfassbar. An Brandstetter und Gellmann ist die Geschichte nicht spurlos vorübergegangen. Sie hat sie verfolgt.“
„Holger Rönndorfs Hunde sind nach seiner Festnahme ausnahmslos eingeschläfert worden?“
„Ja, ich glaube, so steht es hier“, meinte Schintl und blätterte flüchtig in den Papieren vor sich.
„Konnte denn nicht festgestellt werden, welche Hunde sie im Einzelnen angefallen hatten? Ich meine, kann es denn wirklich die gesamte Zucht gewesen sein, die sich auf das arme Mädchen gestürzt hat?“
„Es war nicht viel von ihr übrig, mit dem die Rechtsmediziner arbeiten konnten. Eine eindeutige Identifizierung der Tiere konnte, soweit mir bekannt ist, nicht erfolgen. Nach dem Grad der Verstümmelung zu urteilen, ist aber sehr wahrscheinlich, dass sich mehrere Tiere an dem Opfer vergangen haben.“
„Wurden die Mägen der Tiere nicht geöffnet, um das zu überprüfen?“
„Ich fürchte, ich kann Ihnen dazu keine weiteren Auskünfte geben, Herr Christensen.“
Brandur nickte einsichtig. „Natürlich. Sie haben mir bereits geholfen. Haben Sie vielen Dank. Sagen Sie mir noch eines, Herr Schintl. Wann und woran ist Richard Gellmann gestorben?“
„Er hat sich mit seiner Dienstwaffe erschossen. Etwa ein halbes Jahr danach.“
Mit einem Mietwagen befuhr Brandur die Bundesautobahn A9 nordwärts und wechselte am Autobahndreieck Holledau auf die A93. Der Regen hielt bis kurz vor Regensburg an, dann klarte das graue Wolkendach allmählich auf. Mit deutlich herbstlichen Einschlägen in Gestalt von rot und braun gefärbtem Laub und kahl werdenden Sträucherlandschaften taten sich die Ausläufer des Naturparks Bayerischer Wald auf. Unförmige Graupelwolken blieben am Himmel zurück, während aus den tiefen Wäldern trüb und schwer ein fahler Dunst emporstieg. Es war kurz nach 14:00 Uhr, als Brandur auf dem Parkplatz vor dem Komplex des Bezirksklinikums Regensburg anhielt.
„Holger Rönndorf?“, wurde sein Gesuch verwundert hinterfragt.
Sein Gegenüber war ein wohlbeleibter Mann von Mitte fünfzig mit scharfkantigen Gesichtszügen, gekrönt von einem spärlichen Rest schwarzen Haares um die glänzende Glatze. Er trug keinen Arztkittel, sondern ein kariertes Hemd, das sich an seinem Bauchvorsatz gefährlich spannte. In einem überschaubaren Büro hockte er hinter einem eindrucksvollen Schreibtisch in einem schwarzen Ledersessel, hatte seine fleischigen Finger auf dem Tisch ineinander verschränkt und musterte seinen Besucher neugierig. „Was wollen Sie denn von Herrn Rönndorf?“
„Falls es möglich ist, ein Gespräch mit ihm führen“, entgegnete Brandur.
Der Mann, der sich ihm bislang nicht namentlich vorgestellt hatte, formte ein verunglücktes Schmunzeln. „Da muss ich Sie enttäuschen. Holger Rönndorf ist Patient unserer geschlossenen Abteilung. Höchste Sicherheitsstufe. Ein Besuch wäre allenfalls mit einer gerichtlichen Anordnung möglich. Doch selbst dann würden Sie Ihre Mühen haben, mit Herrn Rönndorf ins Gespräch zu kommen. Wir halten ihn sediert. Andernfalls wäre er eine nicht zu unterschätzende Gefahr für sich selbst und für andere.“
„Wie darf ich das verstehen?“
„Tobsuchtsanfälle. Er hat unsere Pfleger mehrfach tätlich angegriffen. Es gab ein paar Versuche, das Sedativum abzusetzen, doch bei solchen Gelegenheiten hat der Patient schon zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen.“
„Wie denn?“
„Einmal hat er seinen Kopf mit Anlauf gegen eine Wand gerammt. Beim zweiten Mal wollte er sich mit einem Stück Keramik die Kehle aufschneiden.“
„Sind Sie sein behandelnder Arzt?“
Der Mann lächelte maliziös, beantwortete die Frage jedoch nicht. „Wenn Sie mich fragen, sollte man den Kerl ausführen lassen, was er sich antun will“, sagte er. „Er ist ein hoffnungsloser Fall. Es wäre eine Gnade, ihn sterben zu lassen.“
„Sie sind überhaupt kein Arzt, nicht wahr?“, stellte Brandur nüchtern fest.
„Das habe ich auch nicht behauptet“, wurde ihm geantwortet. „Wenn Sie an einer fachlichen Meinung interessiert sind, wenden Sie sich an Dr. Eberhart. Er hat sich eine Weile intensiv mit Rönndorf beschäftigt.“
„Wo finde ich ihn?“
„Im Moment auf den Kanaren. Macht Urlaub. Er wird in zwei Wochen wieder da sein.“
„Verstehe.“
Der Mann musterte Brandur unverhohlen. „Entschuldigen Sie meine Neugier, aber sind Sie vielleicht ein Verwandter von dieser jungen Frau, die von Rönndorfs Hunden zerfleischt worden ist?“
Brandur verneinte. „Ich interessiere mich aus beruflichen Gründen für Holger Rönndorf.“
„Ach ja, als Polizist der dänischen Staatspolizei. Klingt interessant. Wie kommen Sie dazu?“
„Zur Polizei?“ „Zu Rönndorf.“
Brandur ignorierte die Frage. „Können Sie mir sagen, was bei ihm diagnostiziert wurde? Was für eine Psychose bringt einen Mann dazu, seine Hunde auf die Menschenjagd abzurichten?“
„Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen, Herr Christensen. Der Kerl ist einfach wahnsinnig. Er hat seine vierbeinigen Freunde wohl so sehr geliebt, dass er ihnen einen kleinen gönnen wollte.“
„Er hat damit ihr aller Todesurteil unterschrieben.“
„Das war ihm vermutlich nicht bewusst. Das gnädige Los der Irren.“
„Kann ich ihn sehen?“
„Na, meinetwegen“, seufzte Brandurs Gegenüber, streckte die fleischigen Finger lang und drückte einen Knopf auf seiner Telefonanlage.
„Ich lasse Sie zu seinem Appartement bringen“, fügte er augenzwinkernd hinzu.
„Eine letzte Frage“, sagte Brandur.
„Bitte“, lud der Namenlose ein und gestikulierte aufgeschlossen.
„Sie haben gefragt, ob ich mit dem toten Mädchen verwandt bin. Warum nicht, ob ich mit Rönndorf verwandt bin?“
„Holger Rönndorf hat keine lebenden Verwandten. Einzelkind. Eltern beide tot. Nicht einmal Cousins.“
„Wissen Sie von allen Insassen dieser Einrichtung die Familienverhältnisse aus dem Stegreif?“
Eine Antwort erhielt Brandur darauf nicht, nur ein weiteres maliziöses Lächeln.
Wenig später wurde Brandur von einem stämmigen Pflegebediensteten durch die sterilen Gänge der Anstalt geführt. Weiße Stahltüren reihten sich ringsum.
„Hier haben wir ihn“, verkündete der Kahlköpfige und deutete auf eine von ihnen. „Ich darf Ihnen nicht öffnen, aber wenn Sie Glück haben, können Sie ihn durch die Sichtluke sehen. Andernfalls bringe ich Sie zum Kameraraum. Die Quartiere unserer schwersten Fälle werden videoüberwacht.“
„Danke“, sagte Brandur und trat näher.
Er schob die Schutzklappe zur Seite und spähte hinein. In einem mit weißem Polster ausgekleideten Raum kauerte Holger Rönndorf reglos an der Wand, die Beine zum Körper hin angezogen. Sein abgemagerter Leib steckte in einer weißen Sicherheitsjacke. Blasse Augen in einem eingefallenen Gesicht starrten ins Leere.
„Kann er mich sehen, wenn ich mich bemerkbar mache?“, fragte Brandur den Pfleger.
Der Mann verneinte. „Das Glas ist nur von dieser Seite aus durchsichtig. Er würde auch ihr Klopfen nicht hören. Und würde er doch, würde er wahrscheinlich nicht begreifen, was er da hört. Er steht unter starken Medikamenten.“
„Sind Sie mal von ihm angegriffen worden?“
Der Mann verneinte. „Aber es gab Angriffe auf das Personal.“
Brandur lugte wieder in die Zelle.
„Das ist der Alltag in einer Einrichtung wie dieser“, fügte der Pfleger hinzu.
„Wie haben Sie den Patienten erlebt?“, fragte Brandur. „Vor der dauerhaften Sedierung? Hat er gesprochen?“
„Sollten Sie solche Fragen nicht besser seinem Arzt stellen?“
„Der hält sich gerade auf den Kanaren auf, hat man mir gesagt. Und auch wenn dem nicht so wäre, würde mich Ihr Eindruck interessieren.“
„Ich kann Ihnen da nicht viel sagen. Er ist nur einer von vielen Patienten. Ich habe ihm keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Vielleicht sollten Sie mal mit dieser Schriftstellerin reden.“
Brandur sah auf. „Eine Schriftstellerin?“
„Ich weiß ihren Namen nicht“, entgegnete der Pfleger schulterzuckend. „Aber ich habe gehört, die hätte damals zu der Überführung dieses Kerls beigetragen. Sie hat ihn kurz nach seiner Einlieferung besucht.“
„Hat sie mit ihm gesprochen?“
„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie hier war.“
Noch einmal wandte sich Brandur der Sichtluke zu. Holger Rönndorf saß unverändert an der gepolsterten Wand. Sein Körper mochte noch funktionieren, sein Blut noch pulsieren, doch Leben steckte nicht mehr in ihm.
Eine halbe Stunde später saß Brandur in einem Café und recherchierte einen Namen. Auf den Namen Anja Kahrmann war er bereits bei der Durchsicht der Fallakten im Münchner LKA gestoßen. Anja Kahrmann hatte den ermittelnden Kommissaren seinerzeit als Beraterin zur Seite gestanden. Dass sie dem Verurteilten nach dessen Einlieferung in Regensburg einen Besuch abgestattet hatte, machte sie noch interessanter. Brandur fand ein paar Artikel über sie. Sie galt als Kapazität für esoterische Religionswissenschaften. Ihr Zutun an dem Fall legte die Vermutung nahe, dass man von einem okkulten Tatmotiv oder Hintergrund ausging. Die Fallakte der Polizei hatte sich über diesen Aspekt jedoch ausgeschwiegen.
Nachdem Brandur in einem Online-Branchenbuch die gesuchte Telefonnummer gefunden hatte, beglich er seine Rechnung und zückte am Wagen sein Handy.
„Verlag Niebheuer & Tomlyn, mein Name ist Gunnar Kasparek“, meldete sich eine freundliche Stimme.
„Guten Tag, mein Name ist Brandur Christensen von der dänischen Polizei“, entgegnete Brandur. „Ich hoffe, Sie können mir helfen.“
Der Mann am anderen Ende schwieg ein paar Augenblicke lang. „Verzeihung, habe ich Sie richtig verstanden? Dänische Polizei?“
„Haben Sie. Ich möchte Sie bitten, für mich Kontakt zu einer Ihrer Autorinnen herzustellen. Ihr Name ist Anja Kahrmann.“
„Was wollen Sie von ihr?“
„Sie war vor zwei Jahren an der Aufklärung eines Verbrechens beteiligt. Ich möchte ihr dazu ein paar Fragen stellen.“
Der Mann am anderen Ende der Verbindung zögerte. „Sie klingen gar nicht dänisch.“
„Soll ich Ihnen ein Gedicht aufsagen? Hören Sie, ich habe nicht vor, Ihnen Ihre Autorin abspenstig zu machen. Und mir ist klar, dass Sie Ihre Autoren schützen. Richten Sie ihr bitte aus, dass ich mich mit ihr über Holger Rönndorf unterhalten möchte. Sie kann mich dann kontaktieren, wenn sie will. Ich gebe Ihnen meine Nummer. Wenn Sie sie an Frau Kahrmann weiterleiten könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Es ist wirklich wichtig.“
Brandur quartierte sich in einem örtlichen Gasthaus ein, wo er auch sein Abendessen zu sich nahm. Anja Kahrmann hatte sich bisher nicht gemeldet, und ob sie es tun würde, war so fraglich wie die Bereitschaft des Verlagsangestellten Kasparek, sie über sein Gesuch überhaupt zu informieren. Womöglich hielt er Brandur für den Vertreter eines konkurrierenden Verlagshauses, dem er ungern einen Dialog mit seiner Autorin verschaffen wollte.
Gegen einundzwanzig Uhr jedoch kündigte Brandurs Handy mit Chopins Prélude Nr. 15 den Anruf eines unbekannten Teilnehmers an. Brandur stellte den Zimmerfernseher leiser und drückte die Empfangstaste.
„Hier Brandur Christensen.“
„Sie sind der dänische Polizist?“, erklang eine weibliche Stimme am anderen Ende der Verbindung.
„Ganz recht. Und Sie sind?“
„Anja Kahrmann.“
„Oh, wie schön. Vielen Dank, dass Sie mich anrufen.“
Brandur nahm auf seinem Bett Platz.
„Was wollen Sie von mir?“, fragte Anja Kahrmann. Ein überaus misstrauischer Tonfall schwang dabei mit.
„Ich möchte ein paar ungeklärten Fragen im Fall Holger Rönndorf auf den Grund gehen.“
„Wieso kommen Sie da ausgerechnet zu mir?“, entgegnete die Autorin.
„Sie haben der Polizei geholfen. Leider lassen die Akten viel Raum für Spekulationen, und die beiden Kommissare sind nicht verfügbar.“
„Nicht verfügbar? Was ist denn aus Brandstetter geworden?“
„Er hatte einen Unfall und ist vorzeitig pensioniert worden. Heute lebt er mit seiner Frau auf Hawaii. So hat man mir jedenfalls gesagt. Hauptkommissar Gellmann hat vor anderthalb Jahren Selbstmord begangen, wie Sie vielleicht wissen. Nun wende ich mich an Sie.“
„Rönndorf ist überführt und verurteilt worden“, konstatierte Anja Kahrmann nüchtern. „Reicht Ihnen das nicht?“
„Ehrlich gesagt, nein.“
„Wieso nicht?“
Brandur richtete sich gerade und atmete tief durch. „Im Hafen von Esbjerg hat sich ein ähnliches Verbrechen ereignet. Das war vor sechs Monaten.“
Anja Kahrmann schwieg einige Augenblicke lang. „Haben Sie jemanden verhaftet?“
„Nein“, antwortete Brandur. „Die Spuren an den … Überresten waren widersprüchlich und verliefen sich im Nirgendwo. Es gibt nicht einmal Verdächtige für die Tat. Wir stehen vor einem Rätsel.“
„Stehen keine verrückten Hundehalter zur Verfügung?“ Der Sarkasmus war auch über die Fernverbindung nicht zu überhören.
„Niemand“, antwortete Brandur.
„Wiesen die Leichenteile Bisswunden von Hunden auf?“
Brandur kniff die Augen zu. Die Hand mit dem Handy an der Ohrmuschel begann unmerklich zu zittern. „Es war … nicht genug übrig, um das zweifelsfrei festzustellen“, erklärte er heiser. „Die Kriminaltechniker fanden Haare am Tatort, die aber zu keiner bekannten Hunderasse passen wollten.“
„Und auch zu keinem Menschen?“
„Nein. Die Ergebnisse ergaben keinen Sinn.“
„Was wollen Sie nun von mir?“
Brandur räusperte sich, bevor er antwortete. „Wie schon gesagt, die Kommissare Gellmann und Brandstetter sind tot beziehungsweise außer Landes. Ich hatte gehofft, durch Sie diesem Fall näherzukommen.“
„Leider habe ich schon den beiden Kommissaren nicht helfen können. Ich fürchte, Sie vergeuden Ihre Zeit.“
„Ich bin bereit, das zu riskieren. Könnten wir uns treffen, Frau Kahrmann?“
„Wo finde ich Sie denn?“
„In einer Herberge in Regensburg.“
„Was versprechen Sie sich von einem Treffen? Glauben Sie, hier Antworten für Ihren Mord in Dänemark zu finden?“
„Es ist alles, was mir bleibt.“
Anja Kahrmann schwieg abermals ein paar Momente lang.
„Nun gut“, lenkte sie zuletzt ein. „Dann schlage ich vor, wir treffen uns am Ort des Geschehens. Ich könnte morgen Nachmittag in Katzberg sein.“
„Das wäre großartig. Wo genau wollen wir uns treffen?“
„Es gibt einen Gasthof im Ort, die Krone.“
„Verstanden. Vielen Dank. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie sich Zeit dafür nehmen.“
„Freuen Sie sich nicht zu früh.“
Anja Kahrmann beendete die Verbindung.
Am nächsten Vormittag machte sich Brandur mit seinem Mietwagen auf den Weg tiefer in die herbstlich gefärbten Flure des Naturparks Bayerischer Wald. Er steuerte seinen Wagen zunächst großzügig ausgebaute Landstraßen entlang, passierte hügelreiche Weideflächen sowie größere und kleinere Ortschaften. Nichts hier war landschaftlich mit seiner Heimat vergleichbar. Im Norden verliefen die Straßen flach und gerade, hier wanden sie sich zuweilen um turmhohe Waldkegel und flohen durch weite Täler. Nahe der Kreisstadt Cham, lotste ihn sein Navigationsgerät auf weitaus weniger ausgebaute und zuweilen mangelhaft geteerte Straßen meist in östliche Richtung der Landesgrenze entgegen. Das allgegenwärtige Laub wurde vom Fahrtwind des Wagens manchmal meterhoch hinter ihm aufgewirbelt. An sonnenzugänglichen Abschnitten glänzte der Asphalt vom nächtlichen Nieselregen, der sich in Hunderten von kleineren Pfützen angesammelt hatte. Später wurde die Straße trockener. Falls es hier vergangene Nacht geregnet hatte, dann nur sehr wenig.
Katzberg, entlegen und von tiefen Wäldern umschlossen, war ein Nest von allenfalls fünfundzwanzig Wohnhäusern und Höfen, einer anschaulichen Kapelle und einem Friedhof am westlichen Ortsende. Anhand der vielen Grabsteine mochte man vermuten, die gesamte Umgebung läge hier begraben. Entlang der hüfthohen Friedhofsmauer beugten sich hohe Tannen im rauen Wind, der das beweidete Areal um Katzberg umspielte. Aufgescheuchtes Laub tanzte in der menschenleeren Dorfstraße, die Wetterhähne auf den Dachgiebeln blickten westwärts.
Als Brandur vor dem Gasthaus Krone in der Ortsmitte aus seinem Wagen stieg, begann es zu nieseln. Sein länger gewordenes Haar wehte im Wind, als er sich der dunkelhölzernen Gasthofpforte näherte. Es war Mittagszeit, doch es sah nicht so aus, als ob die Gaststube belebt wäre. Kein Licht brannte hinter den milchigen Fensterscheiben, auch war die Leuchtschrift über dem Eingang nicht eingeschaltet. Brandur drückte die Klinke der robusten Holztür, woraufhin sie nach innen nachgab. Fünf Schritte durch ein kleines Foyer mit einem Zigarettenautomaten und einem Schirmständer fand er sich vor einer sauberen Wirtstheke. Ein paar unbenutzte Gläser standen kopfüber auf einem ausgebreiteten Geschirrtuch neben den beiden Spülbecken. Der Abtropfbereich unter der Zapfanlage sah trocken aus.
„Hallo?“, fragte Brandur in den leeren Raum.
Beidseitig der Schanktheke reihte sich eine überschaubare Anzahl unbenutzter Tische. Weder Tischdecken noch Gestecke zierten die kirschholzbraunen Garnituren.
„Hallo?“, wiederholte sich Brandur. „Ist hier jemand?“
Während er einige stille Momente lang abwartete, begann es draußen heftiger zu regnen. Von Osten her klatschten dicke Tropfen gegen die Fensterscheiben.
Kurz darauf schlurfte ein älterer Herr aus einem Nebenraum. Ein rotes Sofa rückte ins Blickfeld, bevor die Tür ohne Zutun wieder zuglitt.
„Wer sind Sie denn?“, krächzte der Mann, während er wachsam näherkam. Messerscharfe graue Augen, die so wenig lachten wie der faltige Mund, musterten Brandur von oben bis unten. Der Wirt war sicher weit über siebzig Jahre alt, trug einen nachtblauen Fleecepullover, eine ebenso dunkle Freizeithose und ausgeleierte Pantoffeln. Das ergraute Haar auf seinem zerfurchten Haupt war stoppelkurz rasiert.
„Mein Name ist Brandur Christensen“, stellte Brandur sich höflich vor, während der alte Mann ohne Eile seinen Platz hinter der Theke einnahm. „Ich würde hier gerne ein paar Nächte lang unterkommen, wenn das möglich wäre.“
„Was verschlägt Sie denn hierher?“
„Ich treffe mich mit jemandem.“
„Mit jemandem von hier?“ Die stechenden Augen des Mannes blickten schier in Brandur hinein.
„Warum wollen Sie das wissen?“
Ein vages Lächeln huschte dem Wirt über die Lippen. „Zu uns kommen nicht sehr viele Leute. Und noch weniger wollen über Nacht bleiben. Unser Dorf hier ist nicht gerade ein Kurort.“
„Wenn es nicht so heftig regnet, könnte ich es mir sehr beschaulich vorstellen.“
„Soso, können Sie“, ließ der Wirt folgen und stierte seinen Gast unbeirrt mit Raubvogelaugen an. „Wie lange wollen Sie denn bleiben?“
„Ein paar Tage. Haben Sie ein Zimmer frei?“
„Ich habe drei Gästezimmer. Sie stehen leer. Sie können sich eines aussuchen.“
„Ich werde mich mit dem zufriedengeben, das Sie mir zuteilen.“
„Sie fragen gar nicht, wie viel es kostet?“
„Ich bin sicher, der Preis wird angemessen sein.“
„Wie Sie meinen. Haben Sie Gepäck?“
„Nicht viel. Ich hole es besser rein, bevor der Regen noch stärker wird.“
Unter den analytischen Blicken des Wirtes hastete Brandur durch den Regen zu seinem Wagen hinaus und holte seine Reisetasche aus dem Kofferraum. Zurück im Gasthaus komplimentierte ihn der alte Mann in den Bereich hinter der Schankstube, wo neben den sanitären Einrichtungen eine knarzende Holzstiege ins obere Stockwerk hinaufführte.
„Wie darf ich Sie ansprechen?“, fragte Brandur beim Aufstieg.
„Hannes“, antwortete der Wirt.
„Kann ich hier zu Mittag essen, Hannes?“
„Meine Frau kocht nur abends. Aber ich kann Ihnen eine Brotzeit zusammenrichten.“
„Das wäre wunderbar.“
Brandurs Zimmer war gerade groß genug für ein massives Bett, ein kiefernes Nachtkästchen und einen gleichfarbigen Kleiderschrank. Ein Spiegel, eine leise tickende Wanduhr und ein handgroßes Kruzifix komplettierten die Einrichtung. Die Wände waren von blassem Gelb, ähnlich wie das Bettzeug. Die einzige Zimmerlampe an der Decke ließ sich tadellos durch einen Schalter neben der Tür und einen zweiten neben dem Bett ein- und ausschalten. Sattgrüne Vorhänge umrandeten ein kleines Kreuzstockfenster, durch das man trotz des heftigen Regenfalls die Umrisse der Ortskapelle neben dem Friedhof erkennen konnte.
„Das Badezimmer finden Sie am Ende des Flurs“, erklärte Hannes. „Es ist nicht abgeschlossen, der Schlüssel steckt innen.“
„Vielen Dank. Bevor ich es vergesse, es wird heute Nachmittag noch ein weiterer Gast eintreffen. Ich darf annehmen, Sie werden auch ihr ein Zimmer zur Verfügung stellen.“
„Selbstverständlich“, entgegnete der Wirt und schlurfte hinaus. „Nehmen Sie das nur an.“
Nach seinem Mittagsmahl, bestehend aus zwei geräucherten Bratwürsten, einer Ladung Meerrettich, Tomaten, sauren Gurken, einem Korb voll Schwarzbrot und einem Krug Bier, machte sich Brandur daran, den Ort zu erkunden. Der Regen hatte nachgelassen, der dunkle Wolkenteppich war strahlendem Sonnenschein gewichen. Katzberg war leicht zu überblicken, so würde es ihm von keinem Ortsende entgehen, wenn ein Wagen ins Dorf einfuhr.
Brandur spazierte die genässte Straße entlang, musterte die Gärten hinter den Grundstückszäunen und bekam erste Einwohner zu Gesicht. Ein Kramerladen war neben dem Wirtshaus die einzige geschäftstätige Institution des Dorfes.
„Gehört Ihnen das Auto mit der Münchener Nummer vor der Krone?“, rief eine schrille Stimme.
Brandur schaute sich um und entdeckte eine wohlbeleibte Frau in einem Schrebergarten. In ihrer Gartenarbeiterkluft kam sie näher gewatschelt, ein zierlich süßes Lächeln im Gesicht.
Brandur trat näher und bestätigte ihre Vermutung.
„Sie klingen gar nicht oberbayerisch. Na ja, das tut in München kaum noch jemand.“
„Ich bin tatsächlich kein Münchner“, sagte Brandur. „Ich komme von weiter nördlich.“
„Ja, das habe ich mir schon gedacht. Darf man fragen, was Sie zu uns führt?“
„Es ist eine schöne Gegend. Ich werde wahrscheinlich ausgiebig wandern.“
„Wandern?“ Nun wirkte sie misstrauisch. „Dann bleiben Sie aber besser auf den Wanderwegen. Die Forstleute haben es nicht gern, wenn man in der Wildnis herumstreunt.“
„Ich werde mir größte Mühe geben, keinen Schaden anzurichten“, versicherte Brandur.
„Mhm … ja“, überlegte die Freizeitgärtnerin. „Sind Sie etwa einer von diesen UFO-Verrückten?“
„Wie bitte?“
„Na ja, Sie wissen schon. Diese UFO-Närrischen. Sind Sie einer von denen?“
„Keineswegs“, antwortete Brandur irritiert. „Ich habe nicht gewusst, dass solche Leute hierherkommen.“
„Na, oft kommt es ja zum Glück nicht vor.“ Die Dame winkte verächtlich ab. „Ich frage halt. Wenn sich Fremde in unserer Gegend aufhalten, sind das meist so Spinner, die an UFOs und an kleine grüne Männchen glauben. Die meinen, die Raumschiffe würden in unseren Wäldern landen. Total verrückt.“
„Ich kann Ihnen versichern, dass ich hier keine fliegenden Untertassen suche“, beteuerte Brandur, lächelte freundlich und ging weiter. „Einen schönen Tag noch.“
Die Hobbygärtnerin schaute ihm noch hinterher, bevor sie sich wieder dem schweren, nassen Laub auf ihren Beeten annahm.
Als Brandur schon wieder auf dem Rückweg zur Krone war, sah er einen schwarzen Audi das Ortsschild Katzbergs passieren. Der Wagen verlangsamte, als der überschaubare Schotterparkplatz des Gasthauses nur noch ein paar Autolängen entfernt war. Aus dem Wagen stieg eine mittelgroße Frau mit wallendem blassrotem Haar, das ihr knapp über die Schultern fiel. Gekleidet war sie in einen schwarzen Mantel. Brandur war bei seiner Internetrecherche auf ein strenges Foto von ihr gestoßen. Das war unzweifelhaft Anja Kahrmann, die Esoterik-Autorin, mit der er hier ein Treffen vereinbart hatte. Er beschleunigte seinen Schritt und war bei ihr, als sie eine Reisetasche aus dem Kofferraum hievte.
„Lassen Sie mich helfen“, bot er sich an. „Wir haben telefoniert. Ich bin Brandur Christensen. Sie müssen Frau Kahrmann sein.“
Graugrüne Augen beäugten ihn forschend, dann stellte Anja Kahrmann ihr Gepäck ab und reichte ihm flüchtig die Hand.
„Sind Sie schon lange hier?“
„Seit heute Vormittag. Recht beschaulich hier. Hatten Sie eine gute Fahrt?“
„Ich hatte schon schlechtere“, antwortete Anja Kahrmann und schickte sich an, ihre Reisetasche wieder aufnehmen.
Brandur kam ihr zuvor und nahm die Last an sich. „Lassen Sie mich das machen.“
Die Autorin akzeptierte duldsam und nahm eine weitere prall gefüllte Tasche aus ihrem Kofferraum.
„Danke noch einmal, dass Sie sich die Zeit hierfür nehmen“, sagte Brandur. „Ich weiß das wirklich zu schätzen.“
„Das ist keineswegs uneigennützig. Ich schreibe ein Buch, in dem ich dieses Ereignis verarbeite.“
An Brandur vorbei hielt sie auf die offenstehende Eingangspforte zu.
„Ich habe den Wirt schon von Ihrer Ankunft unterrichtet“, sagte Brandur und folgte. „Ein Zimmer steht für Sie bereit.“
„Sehr aufmerksam“, entgegnete Anja Kahrmann knapp und ohne sich zu ihm umzudrehen.
Dem Wirt kam es unverkennbar eigenartig vor, dass an einem einzigen Tag nun sogar zwei Gäste angereist waren, die in seinem Gasthaus übernachten wollten. Wahrscheinlich würde es nicht lange dauern, bis Gerede über sie die Runde machte.
„Ich will mich ein wenig frisch machen und mich von der langen Autofahrt erholen“, stellte Anja Kahrmann Brandur vor ihrer Zimmertür in Aussicht. „Danach können wir anfangen.“
„Okay“, entgegnete Brandur. „Wollen wir uns zu einer ersten Besprechung in der Gaststube treffen?“
Anja Kahrmann verneinte. „Treffen Sie mich am Parkplatz. Wir haben ein Stück weit zu fahren. Sagen wir in zwei Stunden?“
„Einverstanden.“
Dann schloss sie die Tür, und Brandur wandte sich ab. Er zeigte keinerlei Überraschung, als er unweit entfernt das Knarren einer Holzdiele vernahm. Wirt oder Wirtin waren wohl neugierig, zu erfahren, wer ihre Gäste waren und was sie hier wollten. Brandur lächelte und zog sich in sein eigenes Zimmer zurück.