Lieferdienst - Tom Hillenbrand - E-Book

Lieferdienst E-Book

Tom Hillenbrand

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Beschreibung

Lieferdienste bringen dir alles, was du willst – und das binnen Minuten. Doch ein Geschäft machen nur Zusteller, die besonders schnell und besonders skrupellos sind. Tom Hillenbrands brillanter neuer Thriller erzählt von einer Welt, in der Kuriere bis an die Zähne bewaffnet sind – und Lieferdienste mehr Macht haben, als wir uns vorstellen können. Neu-Berlin, irgendwann in der Zukunft: Arkadis Arbeitgeber Rio ist darauf spezialisiert, Bestellungen per 3D-Drucker herzustellen und unverzüglich auszuliefern. Der Druck ist enorm: Sobald etwas geordert wird, egal ob Spielekonsole oder Zahnpasta, beginnt ein gnadenloser Wettlauf aller Lieferdienste um die schnellste Zustellung. Die Fußsoldaten dieses brutalen Wettbewerbs sind sogenannte Bringer. Auf Hoverboards sausen Arkadi und andere Kuriere durch die Stadt und versuchen, die Konkurrenz mit allen Mitteln auszustechen.  Eines Tages bittet ihn ein Kollege, einen Auftrag für ihn zu übernehmen. Kaum hat Arkadi die Lieferung übernommen, muss er mitansehen, wie sein Kollege stirbt. Der junge Kurier gerät in einen Strudel von Ereignissen, aus dem er sich kaum mehr befreien kann: Arkadi soll seltsame Sonderaufträge ausführen und seine Chefetage interessiert sich plötzlich sehr für ihn. Kann er die mysteriösen Lieferungen zustellen, bevor ihn die Marketing-Drohnen der Konkurrenz aus der Luft holen?

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Seitenzahl: 163

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Tom Hillenbrand

Lieferdienst

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Tom Hillenbrand

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Tom Hillenbrand

Tom Hillenbrand studierte Europapolitik, volontierte an der Holtzbrinck-Journalistenschule und war Redakteur bei SPIEGEL ONLINE. Seine Sachbücher und Romane – darunter die Thriller »Hologrammatica«, »Qube« und »Montecrypto« – haben sich bereits Hunderttausende Male verkauft, sind in mehrere Sprachen übersetzt, wurden vielfach ausgezeichnet und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

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Über dieses Buch

Arkadi ist Angestellter bei einem Lieferunternehmen, das darauf spezialisiert hat, Produkte über einen riesigen 3D-Drucker auszudrucken und anschließend zu liefern. Der Konkurrenzdruck in der Branche ist hoch. Jedes Mal, wenn etwas bestellt wird, egal, ob die neueste Spielekonsole oder eine einfache Tube Zahnpasta, beginnt ein knallharter Wettlauf mehrerer Lieferdienste um die schnellste Zustellung.

Eines Tages bittet ihn ein anderer Kurier, ein Paket außerhalb der hochtechnisierten Lieferkette schwarz an eine Kundin zu liefern. Kurz danach stirbt der Kollege. Weitere seltsame Dinge geschehen: Arkadi soll Sonderaufträge ausführen, beobachtet einen Schusswechsel. Menschen aus der Chefetage seines Arbeitgebers für ihn. Außerdem taucht immer wieder eine mysteriöse Frau auf, die in all diese Ereignisse verstrickt zu sein scheint. Und dann erhält Arkadi einen Auftrag, der von ganz oben zu kommen scheint - es wird die gefährlichste Lieferung seines Lebens …

Inhaltsverzeichnis

Motto

All Handos

Mobilnik

Roter Merkur

Höllenritt

Schuhrrikan

Elf

Always deliver

Curryzeit

Süper Teknoloji

Über-Lieferung

Kabelparadies

Chefbesuch

Schrippentalk

To go oder to stay

Unbekannt verflogen

Alt-Berlin

Dialog & Kommunikation

Crispmaster 5000 

Quantenborschtsch

Neue Planke

Große Haufen

Hintertürchen

Prio AAA

Letzte Lieferung

Tabelle: Rangsystem für Bringer

Alles Gute hat einen Barcode.

J.G. Ballard, »Das Reich kommt«

All Handos

Als ALL HANDS MEETING über mein Visor flasht, erhebe ich mich. Ich greife nach meinem Beret, streiche die Uniform glatt. Kollege Fido hingegen fläzt sich weiterhin auf dem rattigen Sofa des Aufenthaltsraums. Dürfte daran liegen, dass er sein Visor hochgeschoben und folglich nichts mitbekommen hat. Das verstößt übrigens gegen den Kodex: Datenbrillen sind während der gesamten Arbeitszeit zu tragen, Pausen inbegriffen – Paragraf 43, Absatz 3 oder 4.

Deliverator 2nd Class Max Streit und Master Courier Sveta Lenkow hingegen sind bereits durch die Tür.

Beim Hinausgehen rufe ich: »Auf, auf, Fido!«

»Wie, was?«

»Meeting. Gesamte Belegschaft.«

»Wann denn?«

»Na jetzt, Alter.«

»Verfickt und zugenäht.«

Da hat er wohl recht. Eigentlich hätte ich gleich zwei Sonderzustellungen, danach Bereitschaft. Der Prognose des Taktikcomputers zufolge sollte es ruhig bleiben.

Aber Arschlecken.

Als wir den Kontrollraum betreten, ist es dort schon ziemlich voll. Das Gros der Anwesenden starrt auf den Kommandoscreen, der eine der Wände komplett einnimmt. Er zeigt eine Karte von Neu-Berlin. Die Dienste sind in verschiedenen Farben markiert: Knallblau für Rio (das sind wir); Goldgelb für Jīn Jiàn, Rot für Yarmarka und Grau für White-Schwartz. Kleinere Wettbewerber wie DeliveRuns oder Bonobos werden ebenfalls angezeigt. Aber die interessieren nicht.

Mir fällt auf, dass Jīn Jiàn, unser goldener Gegenspieler, den alle Jayjay nennen, eine Menge Material ins Feld wirft. Was zum Teufel geht da ab?

Inzwischen scheinen alle siebenundvierzig Expedienten der Rio-Filiale R-144 anwesend zu sein. Nur die Chefin fehlt noch.

Ich geselle mich zu Sveta und Max, frage, ob sie was wissen. Doch die beiden haben keinen Schimmer. Auf einmal zupft Fido an meinem Overall, deutet stumm auf einen Mann einige Meter weiter.

Es ist offensichtlich, dass er nicht hierhergehört. Seine Schulterklappen besitzen eine andere Farbe als unsere. Er gehört zu einer Eliteeinheit, vermutlich zum Downtown-Geschwader R-100. Diese Typen sind der Hochadel unter den Handkurieren. Normalerweise verirren sie sich nicht in die Randbezirke.

Nun sehe ich die Brustpartie seines Overalls. Die Bandschnalle des Typen ist größer als ein Frühstücksteller, bunter als ein Regenbogen. Seine Litzen und Streifen künden von einer langen und illustren Karriere. Ich müsste näher ran, um die Bedeutung aller Orden zu entziffern. Aber selbst auf diese Entfernung mache ich vier Blitzzustellungs-Abzeichen aus, einen Verwundeten-Weepey, außerdem einen Goldenen Dispatcher am Band – nein, zwei. Zwei? Wer bitte besitzt zwei GDs?

»Voll der Bringer«, flüstert Fido.

»Aber hallo. Mega-Bringer. Über-Bringer. Kennst du ihn?«

Fido schaut, als hätte ich nicht mehr alle Suspensoren am Board.

»Ähm, Airbox?«

Scheiße, er ist es wirklich. Auf den Fotos sieht er jünger aus. Der Bart ist ebenfalls neu. Grand Expeditor Peter »Pit« Jäger, Callsign Airbox, ist eine lebende Legende. Sechsmal in Folge hat Dispatcher Monthly ihn zum Mister Delivery gekürt. Er ist Mitglied der Order of Hermes. Damals, in der Rookie-Schulung, haben wir ein paar seiner Zustellungen analysiert – allesamt Paradebeispiele dafür, wie man die Konkurrenz aussticht.

Ich erinnere mich, dass Jäger einen Schriftzug auf dem Rücken trägt. Das Tattoo war im Dispatcher abgebildet. In fetter Fraktur steht da:

Get there first or to hell with it.

»Was für ein Bringer«, murmelt Fido.

»Krieg dich wieder ein.«

»Wieder einkriegen? Grand Ex Jäger hat neulich eine Counterdelivery durchgezogen, gegen sechs – sechs! – feindliche Handos. Hast du das Video nicht gesehen?«

In diesem Augenblick betritt Veronika Yamaguchi den Raum. Die beiden Sterne auf ihrem Overall weisen sie als Parcelmistress aus. Die Unterhaltungen verstummen. Alles wendet sich der Chefin zu.

»Morgen. Ich will nicht lang drum rumreden. Die GameStations kommen früher.«

Ein Raunen geht durch die Menge. Eigentlich sollte die neue Spielkonsole, auf die Neu-Berlin und der Rest der Welt sehnsüchtig warten, erst übermorgen ausgeliefert werden.

»Wie kann das sein?«, fragt jemand.

»Fehler in der Verwaltung«, antwortet Yamaguchi, »Auslieferung der Geräte nach wie vor Mittwoch, wie geplant. Aber offenbar gibt es einen Verteiler mit VIP-Kunden, die das Ding achtundvierzig Stunden früher bekommen. Nur hat’s uns keiner gesagt.«

Einige Kollegen murren. Unsere Chefin nickt verständnisvoll.

»Eine frühere Info vom HQ wäre gut gewesen. Aber hilft ja nichts. Die Maker laufen bereits. Jetzt heißt es, den Kram schnellstmöglich an den Kunden bringen.

Alle anderen Lieferungen werden per Drohne gedroppt oder zu R-124 geroutet. Bisschen Manövrierraum für uns.«

Yamaguchis Ausführungen heben die Stimmung im Raum nicht gerade. Alle wissen, dass Hunderte GameStations auszuliefern eine komplette Schicht beanspruchen wird – und noch ein paar Stunden obendrauf. Vermutlich werden es sogar Doppelschichten.

Adios früher Feierabend. Das wird heute wohl nichts mit uns.

»Die Sache ist dem HQ sehr wichtig. Jack höchstpersönlich hat Zustellboni abgesegnet. Zwanzig pro Kiste.«

Yamaguchi lächelt. Sie weiß halt, wie sie uns kriegt. An den Gesichtern erkennt man, dass sich jeder der Kollegen ausrechnet, wie viel er mit dieser Sonderschicht verdienen kann. Es dürfte ein hübscher Batzen sein.

»Also Kinder«, ruft Yamaguchi in die Menge, »was sind wir?«

»Bringer!«, kommt es zurück.

»Und was machen wir?«

»Geil abliefern!«

»Und wann?«

»Gestern!«

»Verdammt, ich kann euch nicht hören.«

»Geeestaaaan!«

Es fühlt sich gut an mitzuschreien. Wir sind nicht irgendwer. Wir sind Bringer. Expeditors. Hando-kuriya. Wir sind Rios Speerspitze.

»So gefällt mir das«, sagt Yamaguchi. »Tyler: Dispatcher vom Dienst. Kowalski: Counterdelivery-Station. Alle anderen: los, los, los!«

Mobilnik

Visor? Check. Schutzweste? Check. Glock Corrector Mk. II? Check. Boxrunner Arkadi Schneider angetreten und bereit zum Einsatz – immer her mit den Paketen.

Früher glaubte man, eines Tages werde jeder einen eigenen Maker besitzen, sich seine Bestellungen direkt zu Hause ausdrucken. Aber obwohl die Dinger in den vergangenen Jahren kleiner geworden sind, ist diese Prognose nicht eingetreten.

Ich stehe in der Maker-Halle und warte, dass der 3-D-Drucker vor mir seine Arbeit beendet. Währenddessen betrachte ich die dicke Leitung, die aus dem Maker kommt. Sie vereint sich mit weiteren Kabeln zu einem meterdicken Strang, der in der Mitte der Halle im Boden verschwindet.

Wenn man so will, ist diese Leitung der Grund dafür, dass es meinen Job überhaupt gibt.

Eine Maschine wie der Epson-Minolta 400-i vor mir benötigt eine Menge Rohstoffe, um all die Unterhosen, Kurzhanteln, GameStations oder was auch immer herzustellen. Die dafür benötigten Atome gehen durch diese Matterpipe.

Ich schaue auf das Display des Makers. Noch anderthalb Minuten, dann ist meine GameStation fertig. Ich überprüfe auf dem Visor die Zustelldetails: Katya Weill, Scholzstraße 14a. Das liegt etwas südlich. Die Filialen von White und Yarmarka sind weit weg, aber eine von Jayjay ist nah dran. Könnte knapp werden.

Noch dreißig Sekunden bis zur Fertigstellung.

Um Produkte daheim zu makern, bräuchte man eine eigene Matterpipe. Aber Molekülleitungen lassen sich nicht so einfach verlegen wie Wasserrohre. Folglich gibt es keine flächendeckende Infrastruktur. Ist ein bisschen wie anno dazumal, als man die letzten Meter ins Netz nicht per Glasfaser, sondern mit kupfernem Telefondraht zurücklegen musste.

Aber Gott sei Dank gibt es ja uns. Wir Handos überbrücken die letzte Meile. Der Maker macht’s, der Bringer bringt’s.

Der 400-i fiept, der Verschluss entriegelt sich. Schon habe ich die Klappe geöffnet und die Kiste herausgeholt. Sie ist noch ganz warm und riecht ein bisschen nach verbranntem Haar. Herrlich. Ich liebe den Geruch von frischem Toner am Morgen.

Ich verstaue die Box in meiner Kiepe und steige auf die Planke. Sobald meine Füße das Hoverboard berühren, sackt es leicht durch und beginnt dann aufzusteigen. Wenige Sekunden später schwebe ich durch die Hangarluke in der Decke.

Jemand schießt an mir vorbei. Es ist Airbox. Hilft er uns allen Ernstes bei der Auslieferung? Es scheint fast so. Zumindest hat er eine Kiepe auf dem Rücken.

Während er mich überholt, schaut Grand Expeditor Pit Jäger zu mir herüber. Unsere Blicke treffen sich. Er nickt mir zu. Mein Herz bleibt fast stehen. Leute wie Airbox oder Prince Parcel waren es, die mich zu diesem Job gebracht haben.

Ich salutiere. Airbox lächelt. Dann ist er fort. Ich beschleunige ebenfalls, kann aber nicht mithalten. Sein Board ist zu schnell. Top-Handos bekommen nicht nur mehr Gehalt, sondern auch bessere Ausrüstung.

Und selbst wenn ich mithalten könnte: Ich muss in die entgegengesetzte Richtung. Heute bleibt keine Zeit, dieser lebenden Legende bei der Arbeit zuzuschauen, leider.

Das Visor informiert mich, dass die Ankunftszeit an der Lieferadresse mit 10:12:33 berechnet wurde. Darunter stehen weitere Ziffern. Es sind die geschätzten Zeiten, zu denen die Handos von Jayjay und Yarmarka bei Katya Weill ankommen werden. Ich habe definitiv einen Vorsprung.

Ich jage die Chaussee des Zwölften Januar entlang, weit über den Bikes und Rikscha-SUVs, die sich dort stauen. Ab und an zischt eine Delivery-Drohne an mir vorbei. Als ich die ebenfalls völlig verstopfte Robert-Habeck-Ausfallstraße passiere, ist der Rückstand der Konkurrenz weiter angewachsen. Yeah, das wird ein Spaziergang.

Als ich die Abbiegung zur Scholzstraße bereits sehen kann, bekomme ich ein Update.

NEW ADDRESS 

RECALCULATING 

»Was zum …«

Trotz der Nachricht halte ich zunächst Kurs. Was soll ich auch sonst tun? Die neue Adresse ist noch nicht eingebucht, Big Rio scheint mal wieder zu hängen.

Dass sich die Anschrift ändert, ist kein gutes Zeichen. In der Regel bedeutet es, dass Rios taktische Algorithmen die geplante Lieferung verloren geben, weil jemand anderes mit hoher Wahrscheinlichkeit eher da sein wird.

Als Frau Weill ihre GameStation-Bestellung ausschrieb, griffen vermutlich alle großen Lieferdienste zu, vielleicht auch einige der kleineren. In ihren Makern druckte jeder davon eine GameStation aus, schickte einen Bringer los.

Informationen über erfolgte Maker-Fabrikationen landen in einer dezentralen, öffentlichen Echtzeitdatenbank. Dadurch kann der Hersteller der GameStation sehen, wer seine Spielkonsole ausgedruckt hat, und eine Lizenzgebühr berechnen.

Auch die Zentralcomputer der Lieferdienste überwachen diese Datenbank. Deshalb wissen sie, welche Konkurrenten ebenfalls im Geschäft sind.

NEW ADDRESS 

HOLGER KARETNIKOW

MOBILE CUSTOMER

Mir entfährt ein Fluch. Wird wohl einer dieser Tage. Da hat mir das System doch allen Ernstes einen Mobilnik aufs Auge gedrückt.

So nennt man Leute, die in ihren Autos hausen. Wohnraum ist in Neu-Berlin – Beezwee, wie wir Einheimischen sagen – derart teuer, dass viele notgedrungen den Autopiloten ihres Fahrzeugs einschalten und auf ewig über die Ringstraßen gondeln.

Am liebsten sind diese Mobilniks dort, wo Stau ist. Dann dürfen sie nämlich die vorgeschriebene Mindestgeschwindigkeit von hundertzwanzig Stundenkilometern unterschreiten. Was sie bei dem Schneckentempo noch an Strom verbrauchen, holen sie problemlos über ihre Solardächer wieder rein.

Staus ziehen Mobilniks magisch an. Sie machen das Verkehrschaos noch schlimmer, als es ohnehin schon ist.

Mein Kunde befindet sich auf dem Äußeren Ring, Ebene vier. Kleiner Trost: Das ist die oberste Plattform, der Delivery-Korridor liegt direkt darüber. Ich werde meine Fracht also problemlos droppen können.

Ich passiere die Mittlere Ringstraße. Am Horizont sehe ich bereits die Äußere. Dazwischen liegen Ausfallstraßen, Bürotürme und Wohnblöcke der Sozial-Integrativen-Logis-Organisation, kurz SILO.

Selbst ohne Visor-Datenanalyse sieht man, dass einiges los ist. Kein Wunder: Montagmorgens bestellen die Leute all das Zeug nach, das ihnen am Wochenende ausgegangen ist – dann liegt es bei ihrer Rückkehr von der Arbeit bereits im Boxdrop.

Ich muss an meinen Dad denken. Gestern Abend fiel ihm auf, dass seine Zahnpasta alle war. Statt sich eine drucken und liefern zu lassen wie jeder normale Mensch, bestand er darauf, bis Montagmorgen zu warten und sie dann bei Spaldi zu kaufen, einem altmodischen Supermarkt in der Nähe unseres SILOs.

»Wieso lässt du es nicht herfliegen, Dad? Ich kriege Mitarbeiterrabatt.«

Er schaute mich an wie ein Kind, dem man zum hundertsten Mal erklärt, dass es sich vor dem Essen die Hände waschen soll.

»Weil es Verschwendung ist.«

»Wieso Verschwendung?«

»Wie viele, Arkadi?«

»Hm. Zahnpasta ist ein einfacher Artikel, da machen alle mit. Ich würde sagen ein Dutzend?«

»Elf also.«

»Elf was?«

»Elf Tuben, die umsonst hergestellt werden. Nein, nicht umsonst – vergeblich.«

Der Kunde muss nur jene Tube bezahlen, die ihm als erste zugestellt wird. Der Rest sind Autoretouren. Bei einem maßgeschneiderten Jackett mag das ein Problem sein, bei Zahnpasta eher nicht. Die werden die Lieferdienste schon irgendwie los.

Ich erklärte es ihm. Aber Dad schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas von »Endstufe des Kapitalismus«. Ob er jemals in diesem Jahrhundert ankommt? Ich habe da ehrlich gesagt nicht mehr viel Hoffnung.

Ich nähere mich der Äußeren Ringstraße. Aus der Ferne wirkt sie gigantisch. Vier Ebenen, jede hat zehn Spuren. Die oberste befindet sich in gut achtzig Metern Höhe.

Das Visor hat einen Punkt markiert, der sich langsam gen Nordwesten bewegt – das Auto des Mobilniks. Mein Board hält darauf zu. Das Ziel ist noch einige Kilometer entfernt, aber dank der Visor-Vergrößerung kann ich alles gut erkennen. Es handelt sich um einen betagten Daito-Minivan, auf dessen Dach sich diverse Aufbauten befinden: Schlafkabine, Satellitenschüssel, Boxdrop.

Während ich auf den Daito zuhalte, stieben in einiger Entfernung gleißende Punkte auseinander, ziehen Rauchfäden hinter sich her.

Ich drehe den Kopf, damit das Visor die Explosion erfasst und analysiert. Theoretisch könnte es ein Feuerwerkskörper gewesen sein. Aber wahrscheinlicher sind …

WARNING 

COUNTERDELIVERY MEASURES 

Da hat jemand die Zustellung eines Konkurrenten unterbunden. So was passiert, wenn man wertvolle Waren per Drohne liefern lässt statt per Hando. Steht ein Wettbewerber ebenfalls kurz vor Lieferabschluss, zappt er die konkurrierende Kurierdrohne kurzerhand aus dem Himmel.

Ich frage mich, ob da wohl gerade eine GameStation in Flammen aufgegangen ist. Aber wer wäre so dämlich, die per Drohne auszuliefern? Die Kleinkrämer von Yarmarka vielleicht – man hört, dass die nicht genug Personal haben. Wundert mich kein bisschen.

Als ich den Mobilnik wieder ins Visor nehme, hat sich der Stau offenbar aufgelöst. Entsprechend schießt der Minivan nun mit den vorgeschriebenen hundertzwanzig Sachen den Ring entlang. Ich beschleunige, darauf hoffend, dass der Verkehr wieder zäher wird. Zwar schafft meine Planke locker hundertfünfzig, aber lange machen die Akkus das nicht mit. Falls ich zwischendurch in der Filiale aufladen muss, kostet mich das wertvolle Lieferzeit.

Während ich die Ringstraße entlangjage, winken mir einige Kinder zu, die auf dem Seitenstreifen spielen. Nur der liebe Gott weiß, wie sie da hochgekommen sind. Ich salutiere zackig. Kids lieben Bringer. Sie schauen zu uns auf. Wenn man ein Kind fragt, was es später werden will, lautet die Antwort häufig: Hando.

Es mag daran liegen, dass wir Rund-um-die-Uhr-Weihnachtsmänner sind, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Was auch immer du dir wünschst, der Bringer bringt’s. Und sicher hat es auch etwas mit unseren Boards zu tun. Handos sind die Einzigen, die Hoverboards besitzen.

Die Geschichte dahinter ist legendär. Vor vielen Jahren spottete irgendein bekannter Talk-Moderator, die Zukunft sei eine einzige Enttäuschung: »Wir wollten Marskolonien und Hoverboards. Bekommen haben wir soziale Netzwerke und Bluetooth-Dildos.«

Schuld daran seien Leute wie Rio-Gründer Jack Holstein. Die hätten ihre Kohle und ihren Grips nicht für die guten, wahren und schönen Ziele eingesetzt, sondern wollten stattdessen nur schnödes Geld verdienen.

Jack war von dieser Kritik angeblich derart angepisst, dass er umgehend immense Summen in Marsmissionen und Hoverboard-Entwicklung investierte.

Die fünfzigtausend Marskolonisten da oben sind längst verhungert, aber das zweite Projekt trug Früchte: Inzwischen haben wir Hoverboards. Doch weil Jack ein Genie und ein Hund ist, hat er die Bretter der Allgemeinheit vorenthalten. Nur uns Bringern hat er welche gegeben.

Zwar haben die Wettbewerbsbehörden Rio dazu verdonnert, die Boardpatente an die anderen Lieferdienste zu lizenzieren, Waffengleichheit und so weiter. Das Resultat ist dennoch, dass Jack mit seinem Kniff den Job des Hando zum coolsten der Welt gemacht hat. Nicht nur für mich sind es Bretter, die die Welt bedeuten.

Als ich noch einen halben Kilometer von dem Mobilnik entfernt bin, steigt vor mir Rauch auf – ein Unfall. Man soll sich nicht über das Elend anderer freuen, aber in diesem Fall kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Rasch kommt der Verkehr auf der obersten Ebene zum Erliegen. Ich drossele das Board. Als ich noch etwa zwanzig Meter von dem Mobilnik entfernt bin, pinge ich den Boxdrop auf seinem Dach.

Die Schleuse öffnet sich. In Filmen fliegen wir Bringer immer mit Karacho an den Boxdrops vorbei und werfen unsere Fracht zielgenau in die Öffnung. In Wahrheit tun wir das nie – zu groß die Gefahr, dass etwas danebengeht.

Vor ein paar Jahren hatte unsere Forschungsabteilung Paket-Prototypen mit eingebauten Korrekturdüsen entwickelt. Die Boxen sollten nach Abwurf quasi von selbst ins Ziel segeln. Einige ungewollte Detonationen später beerdigte man das Projekt allerdings.

Ich passe meine Geschwindigkeit der des Mobilniks an, schalte den Autopiloten zu. Als Nächstes drücke ich einen Knopf an der Seite meiner Kiepe, um deren Deckel zu öffnen.

Mit dem Paket in der Hand schwebe ich direkt über dem Boxdrop.

Roter Merkur

Fast hätte ich vergessen, einen Sweep zu machen. Was ist heute bloß los mit mir? Wenn mein Ausbilder mich sähe, schlüge er die Hände über dem Kopf zusammen. Erst sweepen, dann droppen.

Ich lasse den Blick schweifen, damit das Visor Kuriere der Konkurrenz und elektronische Counterdelivery-Maßnahmen identifizieren kann. Mithilfe des Additional Rear Scope Emulators (ARSE) schaue ich, wie es hinter mir aussieht. Laut ARSE-Cam ist die Luft rein. Also platziere ich die GameStation in dem Boxdrop.

DELIVERY COMPLETE 

Ich lasse die Äußere Ringstraße hinter mir. Während ich Kurs auf meine Filiale nehme, schaue ich in den Firmenchat. Offenbar kommen wir mit den GameStations einigermaßen voran.

NEW ADDRESS 

RECALCULATING 

Mein Gott. Was ist heute bloß los? Ich habe doch gar nichts mehr in der Kiepe. Soll ich jetzt etwa zu einer anderen Filiale, in der es einen Paketrückstau gibt?

Zunächst denke ich, das System sei wieder mal abgeraucht, denn die neue Anschrift sagt mir nichts. Es handelt sich nicht um eine Rio-Filiale, sondern um eine normale Adresse – ein Wohnhaus in Reinickenburg.

SUPPORT MISSION 

Offenbar sind irgendwem die Boardsuspensoren durchgeschmort oder sein Akku ist leer. Das wird meiner auch bald sein, wenn ich nicht irgendwo lade.

Ich ignoriere die sich anbahnende Energiekrise und nehme Kurs auf die neue Adresse. Während ich die Iggy-Pop-Allee entlangfliege, schaue ich mir den Auftrag genauer an. Er ist ein bisschen dünn formuliert oder, wie mein fremdwortverliebter Dad es ausdrücken würde, lakonisch.

Der Lieferschein listet die Adresse auf, ferner das zu liefernde Produkt – keine GameStation, sondern eine Mikrowelle. Und dann steht da noch, dass die Sendung persönlich zuzustellen ist.

Was hingegen fehlt, ist das Callsign des Kuriers, dem ich unter die Arme greifen soll. Support mission,