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Ein aufregender Thriller, der uns bis ins Mark trifft: Wenn Menschen dank künstlicher Intelligenz ewig leben können – werden sie es auch wollen? Wien, 2095. Eine Leiche in der Donau ist für Kommissar Landauer eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch diesmal sind es gleich zwei, und was schlimmer ist: Die beiden toten Frauen gleichen einander bis aufs letzte Haar. Wieso gibt es die Tote zweimal? Bei seinen Recherchen stößt Landauer auf einen bizarren Hightech-Todeskult: Junge Menschen, die Klone ihrer selbst ermorden, wieder und wieder. Sind diese sogenannten Deather schlichtweg verrückt? Oder hat ihr Wahnsinn Methode? Mit der Zeit verdichten sich die Hinweise, dass die Verstorbenen einem großen Geheimnis auf der Spur waren. Tom Hillenbrands faszinierender Roman führt von Wien nach London, nach Griechenland und einmal um die Welt. Auf verschiedene Weisen werden darin Menschen überall mit der existenziellsten aller Fragen konfrontiert: der nach dem Tod und dem Leben danach. Kühn und unterhaltsam: Thanatopia ist ein philosophischer, cleverer, hochspannender Thriller über das, was unser Leben ausmacht.
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Seitenzahl: 467
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tom Hillenbrand
Thriller
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Über Tom Hillenbrand
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
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Tom Hillenbrand, studierte Europapolitik, volontierte an der Holtzbrinck-Journalistenschule und war Redakteur bei SPIEGEL ONLINE. Seine Bücher erscheinen in vielen Sprache, wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
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Ein aufregender Thriller, der uns bis ins Mark trifft: Wenn Menschen dank künstlicher Intelligenz ewig leben können – werden sie es auch wollen?
Wien, 2095. Eine Leiche in der Donau ist für Kommissar Landauer eigentlich nichts Ungewöhnliches. Doch diesmal sind es gleich zwei, und was schlimmer ist: Die beiden toten Frauen gleichen einander bis aufs letzte Haar. Wieso gibt es die Tote zweimal?
Bei seinen Recherchen stößt Landauer auf einen bizarren Hightech-Todeskult: Junge Menschen, die Klone ihrer selbst ermorden, wieder und wieder. Sind diese sogenannten Deather schlichtweg verrückt? Oder hat ihr Wahnsinn Methode? Mit der Zeit verdichten sich die Hinweise, dass die Verstorbenen einem großen Geheimnis auf der Spur waren.
Tom Hillenbrands faszinierender Roman führt von Wien nach London, nach Griechenland und einmal um die Welt. Auf verschiedene Weisen werden darin Menschen überall mit der existenziellsten aller Fragen konfrontiert: der nach dem Tod und dem Leben danach. Kühn und unterhaltsam: Thanatopia ist ein philosophischer, cleverer, hochspannender Thriller über das, was unser Leben ausmacht.
Widmung
Motti
Hinweis
Prolog
Beginn
Einschub
Kapitel 1
Einschub
Kapitel 2
Einschub
Kapitel 3
Einschub
Kapitel 4
Einschub
Kapitel 5
Einschub
Kapitel 6
Einschub
Kapitel 7
Einschub
Kapitel 8
Glossar
Für die Mittwochs-Kellercrew, 2000 Hamburg 4.
Die Grenzen, die Leben und Tod scheiden, sind unbestimmt und dunkel. Wer vermag zu sagen, wo das eine endet und das andere beginnt?
Edgar A. Poe, »Die Scheintoten«
I swear that life’s against me, ’cause it’s getting in the way.
Prayers, »Gothic Summer«
Ein kleines Hologrammlexikon finden Sie am Ende des Buches
Das Meer brodelt, die Gischt kocht, aber das ist echt gar nichts im Vergleich zu dem, was in Percys Brust abgeht. Darin schäumt und rumort es so sehr, dass sein ganzer Leib zittert. Er blickt hinab zu der Schiffsschraube, die das Wasser aufwühlt. Währenddessen erläutert sein Vater ihm ungefragt das Küstenpanorama.
»… ist das Ida-Gebirge. Der Gipfel dort? Das ist der Psiloritis. Fast zweieinhalbtausend, hoch wie ein Alpengipfel.«
Percy nimmt die Ausführungen schweigend zur Kenntnis. Er interessiert sich nicht für die Geografie Kretas. Er interessiert sich überhaupt nicht für diese dämliche Insel. Zugegeben, das Meer ist okay. Aber das Essen taugt nichts, und es ist heiß. Sein Vater behauptet, griechischer Sommer sei wie indischer Frühling. Aber Percy wurde in London geboren. Sein Blut ist dicker als das seiner Vorfahren. Zwar konnte er sich an diesem glühenden Samstagmorgen hinaus aufs Meer retten. Aber die kühle Brise verschafft ihm keine Erleichterung, im Gegenteil. Er denkt an seinen Bruder, sieht immerzu dessen wutverzerrtes Gesicht.
»Percival? Hörst du mir überhaupt zu?«
»Natürlich.«
»Und was habe ich gerade gesagt?«
»Dass das ein echt hoher Berg ist, Dad.«
In den Augen seines Vaters liegt jene Mischung aus Strenge und Spott, für die Percy ihn manchmal hasst. Manchmal? Immer. Dr. Dr. Deepak Singh sagt ihm mit diesem Blick, dass er sich nicht genug anstrengt, nicht genug für einen Singh zumindest. Und dass Percys Versuche, ihn anzuflunkern, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind.
»Nein, Percival, nein. Ich sprach inzwischen über die Geologie des Archipels. Aber sei’s drum. Weißt du wenigstens, welches der höchste Berg Britanniens ist?«
Der höchste Berg Britanniens ist Ben Nevis mit 1345 Metern. Percy muss nicht einmal nachdenken. Er hat eine Eins in Geografie, ebenso wie in Mathe, Sport und Latein übrigens, schönen Dank auch.
Dennoch behält er die Antwort für sich. Stattdessen fragt er: »Gibt’s hier Weiße Haie?«
Sein Vater schüttelt den Kopf.
»Im Mittelmeer? Oh, Percival.«
So weit hergeholt ist die Frage ja nun nicht, oder? Im Atlantik gibt es welche. Warum nicht auch im Mittelmeer?
»Wir fahren jetzt ein Stück«, sagt sein Vater, während er sich von der Reling löst und auf die Tür zum Unterdeck zugeht.
»Zu der Insel?«
»Ja. Dort ankern wir. Du kannst schwimmen gehen.«
»Gehst du mit?«
»Ich werde mir die Kapelle anschauen.«
Also nein. Überrascht ist Percy nicht. Sie machen diesen Bootstrip ja nicht zum Vergnügen, zumindest was Dad angeht. Der kennt nur seine Arbeit und ist ihres Familienurlaubs bereits nach wenigen Tagen überdrüssig. Gestern beim Abendessen hat er Mutter eröffnet, er habe eine Idee, an der er arbeiten müsse – eine, »welche die Welt verändern wird«. Deshalb brauche er Urlaub vom Urlaub.
Am Ende schrien die beiden einander an, mitten im Restaurant. Die anderen Gäste guckten. Percy waren seine Eltern in jenem Moment peinlicher als je zuvor in seinem zwölfjährigen Leben. Für seinen fünf Jahre jüngeren Bruder war es noch schlimmer. Als die Fetzen flogen, tastete der kleine Galahad unter dem Tisch nach Percys Hand. Er verstand nicht, was all das bedeutete.
Percy versteht es. Seine Eltern lassen sich scheiden. Nicht sofort, aber später – ausgemachte Sache. Er weiß, wie so was läuft. Sein Freund Alan, der bereits durch ist damit, hat es ihm erklärt. Erst wird geschrien. Dann wird geschwiegen. Und dann zieht einer aus.
Wie auch immer: Dad wollte mit seiner Superidee alleine sein. Deswegen mietete er das Boot. Mutter jedoch bestand darauf, dass er zumindest eines der Kinder mitnahm – am besten Galahad. Denn der ist erstens noch nie auf einem Boot gewesen und zweitens die größere Nervensäge.
Sein Vater verschwindet unter Deck. Percy wendet sich wieder der brodelnden Gischt zu. Dahinter erstrecken sich das knallblaue Meer und die kretische Küste. Letztere ist nur noch vage auszumachen. Percy beschirmt seine Augen, sucht die Insel ab. Irgendwo müsste die Anomalie zu sehen sein, nahe Iraklion. Oder ist es dafür bereits zu hell?
Vielleicht fände er den Lichtdom, wenn er seinem Vater vorhin besser zugehört hätte. Diese Erkenntnis erbost Percy dermaßen, dass er die Suche nach der Anomalie abbricht und stattdessen zur Brücke geht.
Außer ihnen sind vier Besatzungsmitglieder an Bord. Einer hat sich als Christos vorgestellt, er scheint der Kapitän zu sein.
»Wenn du magst, zeige ich dir die Brücke«, hat er gesagt.
Percy steigt eine Leiter empor. Als Christos ihn sieht, winkt er. Percy glaubte bisher, Kapitäne hätten allesamt weiße Mützen mit goldenen Verzierungen. Christos jedoch trägt eine schmuddelige Baseballkappe, dazu ein zerschlissenes Polohemd.
An der Tür zur Brücke steht der Name des Schiffs, Ἀριάδνη. Einige der Buchstaben kennt Percy aus dem Matheunterricht. Er betritt die kleine Kabine.
»Willkommen auf der Brücke«, sagt Christos.
Percy sagt Hallo, schaut sich um. Die Brücke ist nicht sehr groß. Zwei am Boden festgenietete Drehstühle, ein paar Bildschirme und natürlich ein Steuerrad – mehr ist da nicht. Christos deutet auf den freien Drehstuhl, holt aus einem Cooler unter der Instrumententafel eine Halbliterdose Cola hervor.
Percy darf keine Cola trinken. Koffein ist schlecht für Kinder und besonders schlecht für ihn. Es jazzt ihn zu sehr hoch. Da bist du wie ein Junkie auf Spark, sagt Mutter.
Percy nimmt einen großen Schluck. Die Cola ist eiskalt, herrlich. Christos erklärt ihm, wie alles funktioniert. Seine Ausführungen sind uninteressant – weniger uninteressant als Dads Geografievortrag, aber dennoch zum Gähnen. Selbst schuld: Christos hatte ihn gefragt, ob er sich für Technik interessiere. Und da hätte Percy Nein sagen können. Aber er wollte nicht unhöflich sein. Also lässt er die Details über Elektroturbinen, Navigationscomputer und Echolote an sich abperlen und schaut hinaus aufs Meer. Was Galahad wohl gerade tut? Spielt er am Strand?
Er sieht Galahad am sich entfernenden Ufer stehen, den lodernden Blick auf Percy gerichtet. Er brüllt: »Ich hasse dich! Ich hasse dich, Percy! Ich hasse dich!«
Warum hatte er Galahad die Schiffstour eigentlich derart missgönnt? Seinen Bruder hätte Käpt’n Christos’ Gelaber vermutlich interessiert, ja, er wäre richtiggehend beeindruckt gewesen von dem ganzen Bootsbrimborium.
Vielleicht weil Galahad ihm reingerieben hatte, dass er Bootfahren dürfe und Percy nicht. Dass er Papas Liebling sei und niemand sonst. Diese Provokation konnte natürlich nicht unbeantwortet bleiben. Ungeschriebenes Gesetz: Wenn dir dein kleiner Bruder dumm kommt, musst du ihm eins mitgeben, und zwar mit Schmackes. Sonst kommt der noch auf Gedanken.
Natürlich hat er ihm keine gewischt. So krude geht ein Percy Singh nicht vor. Stattdessen wies er Galahad beim Frühstücksbuffet auf die granatenmäßigen Schokomuffins hin – und auf die ententeichgroße Joghurtschüssel, in die man diese werfen konnte, also theoretisch.
»Traust du dich aber nicht.«
»Wohl.«
»Wetten nicht?«
»Wohl!«
»Niemals, kleiner Schisser«, hat er geflüstert. Und dann: »Gal, Gal, Gal.«
Galahad hasst es, so genannt zu werden. Es klingt nach Mädchen. Schon flogen die Muffins. Wie Meteoriten schlugen sie in den Joghurtsee ein. Die Pampe spritzte über das ganze Buffet, saute ein halbes Dutzend Frühstücker ein. Oh, es war glorreich – ein Geniestreich.
Muffin-Boy verlor daraufhin seinen Platz auf dem Boot, musste an Land bleiben. Aber natürlich dämmerte Galahad nach ein paar Minuten des Tobens und Heulens, wer ihm die Ersatzbank eingebrockt hatte.
»Ich hasse dich! Ich hasse dich, Percy! Ich hasse dich!«
Nun tut das Percy alles wahnsinnig leid. Er würde die Sache gerne geradebiegen. Aber daraus wird nichts. Dieses Boot hat abgelegt, im wahrsten Sinne des Wortes.
Er nimmt einen großen Schluck Cola, schaut durch die speckigen Scheiben der Brücke. Die Küste ist beinahe verschwunden. Sein Blick fällt auf die spiegelverkehrte griechische Schrift auf der Glasscheibe.
»Was heißt das?«
»Ariadne. Der Name des Schiffs.«
»Ist das nicht irgendeine Göttin oder so was?«, fragt er.
Christos schaut überrascht. Hat er ihm nicht zugetraut, dass er so was weiß. Aber Percy kennt den ganzen Sagenkram. Er weiß, wer Odysseus und Zeus sind und so weiter. Sie haben das alles in Latein gemacht. Ist interessant dieses Götterzeug, also zumindest interessanter als Mathe oder Chemie. Percy kann Naturwissenschaften, aber sie flashen ihn nicht. So ist es mit vielem. Alles fällt ihm leicht, allzu leicht.
»Fast richtig. Sie war die Tochter von König Minos von Knossos. Hat geholfen, den Minotaurus zu besiegen.«
»Und wie?«
»Sie hat dem Helden Theseus ein Wollknäuel gegeben. Damit er wieder aus dem Labyrinth rausfindet.«
Was ihn an dieser Geschichte aufhorchen lässt, ist nicht die Sache mit dem Stiermenschen, sondern das Wort ›Knossos‹.
»Knossos? Also da, wo die Anomalie ist?«
»Ja, das ist der Palast von König Minos. Kann man besichtigen. Also, man konnte. Jetzt ist natürlich alles abgesperrt.«
Die Knossos-Anomalie – Percy hat nicht gewusst, dass sie neben irgendwelchen berühmten Ruinen liegt. Hat das irgendetwas zu bedeuten? Er dreht sich um, schaut zum Heckfenster hinaus.
»Kann man sie von hier aus sehen?«, fragt er.
Christos stellt sich neben ihn, geht ein Stück in die Knie, sodass seine ausgestreckte Hand auf Höhe von Percys Kopf ist. Er deutet Richtung Küste. Aber dort ist nichts. Oder doch?
Man könnte es für ein Luftflimmern halten oder für spätmorgendlichen Dunst. Doch nun, da Percy weiß, wo er hinschauen muss, sieht er ihn: den Lichtdom.
Natürlich hat er ihn schon hundertmal gesehen. Als das Ding Anfang des Jahres auftauchte, war es auf allen Kanälen. Bei Nacht ist es unübersehbar. Dann wirkt es, als hätte jemand Hunderte Scheinwerfer gen Himmel gerichtet. Die Lichtsäulen besitzen verschiedene Farben, rot, orange, grün, gelb, blau. Einige leuchten sehr hell. Andere wirken fahl. Alle scheinen irgendwo hoch über der Insel zu verblassen.
In der gleißenden Sommersonne hingegen ist das Farbenspiel kaum auszumachen. Statt einzelner Säulen sieht man lediglich eine leichte Verfärbung des Himmels.
Christos setzt sich wieder auf seinen Drehstuhl, greift nach dem Steuerrad.
»Wo fahren wir eigentlich hin?«, fragt Percy.
»Zu den Dionysaden.«
Schon wieder ein Gott. Die Griechen haben es wohl damit. Aber sonst ist hier ja auch nichts. Obwohl, das stimmt nicht, nicht mehr. Der Lichtdom ist das unglaublichste Naturphänomen aller Zeiten – wenn es denn eines ist.
»Dionysos? Der Gott des Weins?«
»Genau. Bist ja ganz schön belesen für dein Alter.«
»Hm. Während der Downtime habe ich viel gelesen.«
Letztes Jahr war das Datagrid mehrere Monate lang komplett offline, wegen dieses UNO-Klimacomputers. Irgendwer hatte den gehackt. Oder der Computer war selbst der Hacker gewesen, oder er hatte aufgrund eines Defekts einen Virus im Datagrid verbreitet. Percy ist sich da nicht ganz sicher.
Auf jeden Fall waren sie monatelang ohne Gridzugang. Sie konnten nicht zocken, keine Filme schauen, nicht einmal chatten. In dieser Zeit, die inzwischen alle als Downtime bezeichnen, hat Percy Dutzende Bücher gelesen. Die meisten waren wahnsinnig uninteressant. Aber die Alternative bestand darin, mit Galahad eine weitere Runde Snakes & Ladders zu spielen – dann doch lieber drei Kapitel ›Moby Dick‹.
»Die Inseln sind unbewohnt«, sagt Christos, »aber es gibt dort schöne Buchten. Zu einer davon fahren wir.«
»Und es gibt dort eine Kirche, richtig?«
»Eine Kirche?«
»Mein Vater hat davon gesprochen.«
»Ach so, Agios Antonios. Eher ein Schrein. Weißt du, was das ist?«
»Klar. Was heißt Agios?«
»Heilig. Also, Sankt Antonius.«
»Antonius von Padua?«
Jetzt ist Christos vollends baff. Baff, dass Percy mit seinen nicht einmal dreizehn Jahren weiß, wer das ist. Baff, dass so ein Paki sich mit christlichen Heiligen auskennt.
Das mit dem Paki hat der Kapitän zwar nicht gesagt, aber bestimmt gedacht. Dabei ist Percy Brite und besitzt einen urenglischen Vornamen. Seine Vorfahren sind zudem keine Pakistaner oder Inder, sondern Bangladeshis.
Aber so sind die Leute eben.
»Hab ich in der Sonntagsschule gelernt. Schutzpatron Portugals. Man betet zu ihm, wenn man was wiederfinden will, das verloren gegangen ist.«
»Das wusste ich nicht. Aber wieso gehst du in die Sonntagsschule?«
»Obwohl ich aussehe wie ein Hindu?«
»So meinte ich das nicht. Heute geht doch kaum noch wer in die Sonntagsschule.«
»Mein Vater ist Hardcore-Katholik.«
Er selbst hat nicht viel für den Mist übrig. Aber die Singhs gehören zu einer kleinen katholischen Minderheit, sind vor mehreren Generationen nach Europa ausgewandert, weil sie in Bangladesh übelst diskriminiert wurden. Das zumindest hat ihm sein Vater erzählt.
»Und du?«, fragt Percy.
»Ich was?«
»Bist du auch Katholik?«
»Griechen sind orthodox«, erwidert Christos, »ich aber nicht.«
»Sondern?«
»Gar nichts. Ich meine, ich glaube nicht, dass irgendwer alle Antworten hat.«
Nach fünf Jahren Sonntagsschule weiß Percy, dass das nicht stimmt. Die jesuitischen Priester, die ihn unterrichten, haben auf alles eine Antwort. Mag sein, dass die Antwort Bullshit ist. Aber parat haben die Monsignores immer eine.
Percy trinkt den letzten Schluck Cola. Das Blut rauscht in seinen Ohren. Er würde jetzt gerne eine Runde schwimmen gehen, etwas von der Energie loswerden.
»Ich meine«, fährt Christos fort, »der Lichtdom – wie willst du das mit der Bibel erklären?«
Der Lichtdom tauchte im Januar 2049 auf. Er besteht aus über tausend Säulen, die in den Himmel ragen. Senkrecht, so scheint es, aber tatsächlich mit einer leichten Neigung, die dazu führt, dass sie sich irgendwo in der Stratosphäre – oder ist es die Mesosphäre? – treffen. Die Lichtkegel, und das ist der wirklich krasse Teil, sind undurchdringlich. Wenn man versucht, hindurchzugehen oder zu fliegen, knallt man gegen eine Wand.
Erklär das mal, Hochwürden.
Wobei Monsignore Morris von der Sonntagsschule vermutlich einfach antworten würde: »Es ist ein Wunder Gottes.«
Das ist eine lahme Scheißantwort, die überhaupt nichts erklärt. Aber die Wissenschaftler wissen ja auch nichts. Aliens? Dimensionstor? Oder hat es vielleicht irgendwas mit diesem durchgeschmorten Klimacomputer zu tun? Vermutlich nicht, denn der war längst abgeschaltet, als es passierte.
»Was glaubst du denn, was es ist?«, fragt Percy.
»Keine Ahnung. Irgendein schiefgegangenes Experiment? Vielleicht ist im Inneren irgendwas.«
»Aber man kommt nicht rein. Und es kommt nichts raus.«
Christos schüttelt kaum merklich den Kopf, sagt: »Die Wand aus Licht ist undurchdringlich, das stimmt. Aber nur in eine Richtung.«
»Du meinst, es kommt doch was raus? Habe ich noch nie was von gehört.«
»Die Leute, die in der Nähe wohnen, Olivenbauern, Schäfer. Die sagen, sie sehen nachts in der Nähe manchmal Lichter.«
»Echt? Was für Lichter?«
»Manche behaupten, es seien die Bewohner der Anomalie, die auf Erkundungstour gehen. Man munkelt außerdem, dass die Kegel nicht fix sind.«
Die Lichtkegel – laut offizieller Zählung nach sind es exakt eintausendsechshundertachtzehn – scheinen wie Säulen im Inselboden zu stecken.
»Du meinst, dass sie sich bewegen? Aber das müsste man doch sehen.«
»Überall auf der Insel, ja. Und sogar weiter weg. Bestimmt wird der Dom nonstop observiert. Damit meine ich, dass …«
»Ich weiß, was observieren heißt«, sagt Percy.
Er fragt sich, ob der Kapitän ihm da gerade Seemannsgarn auftischt. Es klingt ein wenig danach. In Christos’ Gesicht kann er nichts erkennen. Was bedeutet, dass der es entweder ernst meint oder aber ein guter Lügner ist.
»Kann ich noch eine Cola?«
Christos nickt, schaut in den Cooler. Doch es gibt nur noch Bier und Wasser. Er sagt Percy, dass unten in der Kombüse bestimmt noch welche seien und er Nikolaos, den Smutje, fragen solle.
»Okay. Vielen Dank fürs Erklären.«
»Gern geschehen. Komm hoch, falls dir langweilig ist. Ansonsten sind wir in etwa einer Stunde da.«
Percy begibt sich unter Deck. Beim Schiffskoch bekommt er eine weitere Coke sowie einen Schokoriegel. Den Proviant in der Hand sieht er sich ein wenig um. Man könnte auf diesem Boot sogar übernachten, es gibt zwei Kabinen mit Betten, außerdem ein Bad.
Seinen Vater vermutet Percy hinter der Tür mit der Aufschrift »Salon«. Wenn er ihn stört, kriegt er zweifelsohne Ärger. Also lässt er die Finger von der Klinke.
Percy geht wieder an Deck. Zunächst vertreibt er sich die Zeit damit, den Schokoriegel an die Möwen zu verfüttern. Danach läuft er, die Cola in der Hand, an der Schiffswand entlang. Dort, wo er den Salon vermutet, hält er an. Etwas oberhalb des Bodens sind Bullaugen eingelassen. Percy legt sich flach auf den Bauch, robbt an eines heran. Vorsichtig lugt er hindurch.
Er blickt in einen Raum, eine Mischung aus Arbeitszimmer und Bar. Sein Vater sitzt an der Theke, hat Papiere vor sich ausgebreitet.
Percy hat Angst, dass Vater ihn sieht. Der Alte hat einen Riecher für so etwas. Wenn er Percy erwischt, gibt es Mordsärger – Gridverbot oder noch schlimmer. Aber Dad nachzuspionieren, ist das Spannendste, was man hier draußen machen kann.
Sein Vater erhebt sich. Rasch zieht Percy den Kopf zurück, für den Fall, dass der Alte nach oben schaut. Erst nach ein paar Sekunden traut er sich, wieder durch das Bullauge zu spähen.
Vater Singh steht vor dem Arbeitstisch, auf dem ein metallener Koffer liegt. Er öffnet ihn. Im Inneren befindet sich eine Schaumstoffpolsterung. In deren Mitte steckt ein kleiner roter Würfel. Dad nimmt ihn heraus.
Es könnte sich um einen Computer handeln – eine von diesen neuartigen Maschinen, bei denen die Ausgabe über einen Holoprojektor erfolgt. Percy hat mal eine Doku darüber gesehen. So was ist ziemlicher Hightech, aber sein Vater ist schließlich Wissenschaftler.
Der rote Würfel wandert in einen kleinen Rucksack, zusammen mit einem Projektor, verschiedenen Kabeln und einem altmodischen Notizbuch. Percy hat seinen Vater noch nie Papier benutzen sehen. Er notiert sich sonst alles auf dem Tablet.
Die Schiffssirene ertönt. Percy macht sich fast in die Hosen. Sein Vater fährt herum. Hoffentlich hat er ihn nicht gesehen. Percy sitzt neben dem Bullauge auf dem Deck, Rücken und Kopf gegen die metallene Schiffswand gepresst, und wartet darauf, die stampfenden Schritte seines Vaters zu hören.
Aber nichts passiert. Also steht er auf, stellt sich an die Reling. Sie halten auf eine Insel zu. Es muss eine dieser Dionysaden sein. Die Insel ist ein größerer Felsbrocken, mehr nicht. Bäume gibt es keine, nur struppige Büsche, außerdem ein Gebäude, das in der grellen Sonne schneeweiß leuchtet. So wie es aussieht, halten sie auf eine Bucht links davon zu.
Percy hört ein Schott zuschlagen. Rasch wirft er die beinahe leere Coladose über Bord. Als Vater neben ihn tritt, ist sie bereits in den Fluten versunken.
»Bereit fürs Schwimmen, Percy?«
»Ja, Dad.«
Sein Vater klopft ihm auf die Schulter.
»Zieh dir Flossen an. Und bleib bitte in der Bucht.«
Er ärgert sich, dass Dad nun auch noch den Bademeister spielt. Percy schwimmt die hundert Meter Freistil in 1:10, seine Zeiten auf der Langstrecke sind ebenfalls verdammt gut. Wenn es einen gibt, der hier draußen bestimmt nicht absäuft, ist es Percy Singh. Wozu also das Geglucke?
Kurz darauf liegen sie etwa zweihundert Meter vor der Insel vor Anker. Wie Dad ungefragt erklärt hat, lautet ihr Name Dragonara, und sie ist eine von insgesamt vier Dionysaden. Während Percy sich mit Flossen und Schnorchel ausstaffiert, lässt sein Vater sich mit dem Beiboot bereits rüber zum Strand bringen.
Percy trinkt eine weitere Cola, der freigiebige Smutje hat sie ihm quasi aufgedrängt. Er fragt sich, was sein Vater da drüben wohl vorhat. Angeblich will er sich den Schrein von Saint Anthony anschauen, dem Schutzheiligen aller zerstreuten Geister. Aber das ist eine Lüge. Der Alte führt etwas im Schilde. Warum sonst sollte er die abgelegene Insel mit einem Hochleistungscomputer im Gepäck besuchen?
Er ist nun bereit für sein Abenteuer. Einer der Matrosen mustert ihn skeptisch.
»Einmal zum Strand und wieder zurück«, sagt Percy.
»Kannst du denn so gut schwimmen, junger Mann?«, fragt der Matrose.
»Sevenoaks Leistungskader«, sagt Percy. Bevor der Mann etwas erwidern kann, ist er bereits mit einem Kopfsprung in den Fluten verschwunden. Dank der Flossen nähert er sich zügig dem Strand. Auf halber Strecke trifft er das zurückfahrende Beiboot. Christos winkt ihm von der Pinne aus zu. Percy winkt zurück.
Über dem kieseligen Strand ragt steil der Fels auf. Er schwimmt auf einen steinernen Anleger zu. Eine Treppe führt aus dem Wasser hinauf.
Percy legt sich auf die warmen Steine, gönnt sich zwei, drei Minuten. Danach steigt er die in den Fels geschlagenen Stufen empor. Er vermutet, dass sie zu dem Schrein oben auf dem Plateau führen.
Die Insel ist wirklich sehr klein. Das sieht er, als er oben ankommt. Das Plateau besteht aus Sand und Geröll, dazwischen ein paar Büsche, aber weder Menschen noch Tiere. Umso augenfälliger ist das Gebäude in rund vierhundert Metern Entfernung. Eigentlich ist es recht klein, kaum größer als ihr heimischer Gartenschuppen. Doch weil es das einzige von Menschenhand erbaute Objekt ist, wirkt es riesig und zieht Percys Blick magisch an.
Die Kapelle des Heiligen Antonius ist weiß getüncht und gleißt in der Sonne. Giebel und Kanten sind in jenem knalligen Blau gestrichen, in dem auch die Stühle der Tavernen lackiert sind.
Er hält Ausschau nach seinem Vater. Der ist nirgends zu sehen. Percy macht sich auf den Weg. Die Flossen hat er auf dem Anleger gelassen, barfuß läuft er einen Trampelpfad entlang. Als er der Kapelle näher kommt, realisiert Percy, dass er die Größe des Gebäudes falsch eingeschätzt hat. Es scheint, dass ein Teil davon unterhalb der Erde liegt. Vermutlich hat man den oder die Räume in den Fels geschlagen. Vielleicht gibt es sogar unterirdische Gänge. Ist diese Insel durchlöchert wie ein Käse, gibt es unter ihm Verliese und Katakomben? Die Vorstellung ist auf jeden Fall aufregend.
Noch immer sieht Percy keine Anzeichen, dass sein Vater hier ist. Aber wo sollte er sonst sein?
Die Tür der Kapelle ist geschlossen. Percy schleicht um das Gebäude herum. Es besitzt hohe Fenster mit bunten Scheiben, durch die man vermutlich nicht allzu viel sieht. Zudem hat er Sorge, dass die Sonne ihn verrät. Sie scheint auf die Fenster, und sobald er vor eines tritt, wird man im Inneren seinen Schatten vor der Scheibe sehen.
Theoretisch könnte er einfach eintreten. Könnte behaupten, er habe sich die Kirche auch gerne anschauen wollen. Aber Percy bezweifelt, dass er damit durchkommt. Denn obwohl sein zerstreuter Vater manches nicht mitkriegt, wittert er Lügen zehn Meilen gegen den Wind.
Außerdem ist es so ja viel cooler. Es ist ein Spiel. Dessen Ziel ist es, nicht gesehen zu werden. Percy geht runter auf alle viere und läuft im Bärengang unter den Buntglasfenstern hindurch. Er versucht, ganz leise zu sein. Es ist still hier draußen. Das einzige Geräusch stammt von dem Wind, der unablässig über die Insel pfeift.
Als er die Rückseite der Kapelle erreicht, hält er den Atem an. Dort befindet sich in der Mitte der Wand ein hölzerner Fensterladen. Er ist geschlossen, hat jedoch einen Spalt in der Mitte. Dahinter ist keine Scheibe. Wäre er nicht so vorsichtig gewesen, hätte man ihn drinnen bestimmt gehört.
Percy atmet flach, obwohl ihm das Herz in der Brust hämmert. Die dritte Dose hätte vielleicht nicht sein müssen. Er kommt mit dem Kopf ganz nahe an den Fensterladen, lauscht. Da ist ein Rascheln, wie von Stoff, gefolgt von einem Klacken. Wenn er raten müsste, würde Percy denken, dass sein Vater die mitgebrachten Gerätschaften zusammensetzt. Aber wozu? Will er Fotos von der Kirche machen? Dazu bräuchte er nicht so viel Zeug.
Und dann beginnt Dad zu sprechen. Percy hat Mühe, ihn zu verstehen, sein Vater spricht mit leiser Stimme. Außerdem ist es kein Englisch, sondern Bengalisch. Das sprechen sie daheim, aber nur, wenn sie unter sich sind. In der Öffentlichkeit spricht Dad ausschließlich Englisch, mit einem geschliffenen Oxford-Akzent.
Percy konzentriert sich auf die Stimme seines Vaters. Er versteht die Worte ›Name‹ und ›Erde‹, mehr nicht. Wenn er Dads Lippen sähe, wäre es einfacher. Er schließt die Augen. Ein weiterer Satz rauscht fast vollständig an ihm vorbei, nur das Wort ›Brot‹ bleibt hängen.
Es quietscht, so als ob ein Stuhl über den Boden gezogen wird. Percy schleicht weiter um das Gebäude herum, auf die der Sonne abgewandte Seite. Die Fenster liegen im Schatten, also riskiert er einen Blick.
Die Kapelle besteht aus einem einzigen Raum. Er liegt tiefer als der Boden, auf dem Percy steht. Es gibt einen kleinen Altar, davor ein Dutzend hölzerner Stühle. Durch die Fenster der gegenüberliegenden Seite fallen Bündel farbigen Lichts durch die Fenster. Percy fühlt sich an die Säulen des Lichtdoms erinnert.
Mitten im Raum steht sein Vater. Der Inhalt seines Rucksacks ist auf dem Boden verteilt. Zwischen den Stühlen und dem Altar steht ein kleiner Tisch mit einer Vertiefung darin – ein Taufbecken. Das Quietschen rührte vermutlich daher, dass sein Vater es in die Mitte des Raums geschoben hat.
Dad hält Ausschau nach etwas, das er über die Vertiefung legen kann. Nach einigem Hin und Her entscheidet er sich für eine gerahmte Ikone. Er nimmt sie von der Wand und legt sie, Konterfei nach unten, auf das Taufbecken.
Auf die provisorische Tischplatte kommen ein kleiner Holoprojektor und eine Powerbank. Als Letztes platziert Dad den roten Würfel. Die Art und Weise, wie sein Vater ihn hält, verrät Percy, dass es sich dabei um etwas Besonderes handelt.
Deepak Singh verkabelt alles. Der Holoprojektor startet, das Logo des Herstellers erscheint. Darunter steht »NO SIGNAL«.
Vater tritt einen Schritt zurück. In den Händen hält er Notizbuch und Stift. Er nimmt eine Haltung ein, die Percy nur allzu gut kennt. Es ist die von Deepak Singh, dem Dozenten. Aber hier draußen ist niemand, dem sein Vater etwas erklären könnte, abgesehen von Jesus Christus vielleicht.
Den gibt es in Wahrheit gar nicht, aber das weiß sein Vater nicht. Dad beginnt zu sprechen. Percy sieht lediglich seinen Hinterkopf, verstehen tut er nichts. Deshalb schleicht er zurück zu der Öffnung.
Dad redet lauter und klarer als zuvor. Trotzdem hat Percy weiterhin Probleme, ihn zu verstehen. Wie er allmählich realisiert, spricht sein Vater gar kein Bengalisch, sondern Chittagonisch, eine Sprache, die er und Mutter mitunter benutzen, wenn sie nicht wollen, dass irgendjemand sie versteht. Einige Worte sind identisch mit denen des Bengalischen, viele jedoch nicht.
Percy kann kein Chittagonisch. Aber nun, da er zumindest weiß, womit er es zu tun hat, vermag er weitere Wörter herauszuhören. Es scheint der gleiche Text zu sein wie vorhin. Erde, Name und Brot kommen vor, außerdem Himmel und Böse.
Auf einmal kapiert er, was der Alte da herunterbetet. Nicht, weil er die Worte versteht, sondern weil ihm der Rhythmus geläufig ist. Er hat diesen Text selbst Hunderte Male gesprochen, wenn auch in einer anderen Sprache.
Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name.
Sein Vater betet das Paternoster, auf Chittagonisch.
Percy weiß, dass irgendetwas nicht stimmt. Es fällt ihm schwer, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Seine Hände zittern, sein Magen krampft. Außerdem muss er dringend pissen, verdammte Cola.
»Shubò beinna, Deepak«, sagt eine Stimme. Guten Tag, Deepak.
Es folgt ein Gespräch, von dem Percy so gut wie nichts versteht. Er schleicht zurück zum Fenster. Sein Vater sitzt auf einem der Stühle. Über dem Taufbecken schwebt ein holografischer Text. Es scheint sich um Formeln zu handeln. Sein Vater macht sich Notizen wie ein Streber in der ersten Reihe.
Von den Formeln versteht Percy in etwa so viel wie von dem Chittagonisch – vielleicht sogar noch weniger. Als Nächstes erscheinen Baupläne. Danach kommen Bilder. Sie zeigen eine zerklüftete, verschneite Landschaft. Man sieht ein paar Pinguine. Ist das eine Insel? Es folgen weitere Formeln, Chemie diesmal, kein Mathe.
Eine ganze Weile geht das so. Ein wiederkehrendes Element sind Skizzen, die idealisierte Nordmanntannen oder Fichten zeigen.
Sein Vater, das hat er inzwischen verstanden, unterhält sich per Holocall mit irgendjemand – auf Chittagonisch, auf einer einsamen Insel, nachdem er zuvor das Vaterunser gebetet hat. Und irgendwie geht es um Weihnachtsbäume. Selbst für Dad ist das arg verrückt.
Sein Earpiece vibriert. An dem Ruck, der zeitgleich durch den Körper seines Vaters geht, erkennt Percy, dass dieser ebenfalls eine Nachricht erhalten hat. Sie stammt vermutlich von Mum.
Sein Vater klappt das Notizbuch zu, erhebt sich. Vielleicht war die Nachricht gar nicht von Mum, sondern vom Schiff. Hatte Christos nicht gesagt, sie würden um fünfzehn Uhr ablegen?
Kann es wirklich schon so spät sein? Percy hat jegliches Zeitgefühl verloren. Außerdem ist er klatschnass vor Schweiß. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie sengend heiß es ist. Er setzt sich in Bewegung. Sobald er ein Stück von der Kapelle entfernt ist, beginnt er zu rennen.
Er wusste, dass es ein bisschen Ärger gäbe, sollte sein Vater ihn erwischen. Nun jedoch spürt er, dass es mit ein bisschen nicht getan sein wird. Was hat er da gerade gesehen? Er weiß es nicht.
Da war verdammt viel Technik im Einsatz. Und mit wem hat Dad gesprochen? Warum wirkte er dabei so unterwürfig? Das passt gar nicht zu ihm. Percy ist sich sicher, dass in dieser kleinen Kirche am Arsch der Welt gerade etwas passiert ist, das niemand sehen sollte. Monsignore Morris würde sagen: etwas Sündhaftes.
Vielleicht war es sogar eine Todsünde. Percy kann nicht genau sagen, warum er das glaubt. Aber er glaubt es. Er weiß es. Sein Vater hat sich gerade schwer versündigt, unter den strengen Blicken des Heilands und des Heiligen Antonius.
Percy rennt, als wäre der Teufel hinter ihm her. Wenn sein Vater die Tür der Kapelle öffnet, bevor er die Treppe runter ist, ist alles aus.
Percy fliegt die Stufen hinab.
»Zeit«, keucht er.
Das Earpiece informiert ihn darüber, dass es vierzehn Uhr achtundfünfzig ist. Er streift die Flossen über, setzt die Schwimmbrille auf. Auf dem Anleger stehend, wirft er einen Blick zurück. Noch ist Vater nirgends zu sehen. Aber er könnte jeden Moment oben auf dem Kliff auftauchen.
Er nimmt Anlauf, springt. Neulich haben sie im Schwimmkader Bahnentauchen geübt. Percy schaffte es fast bis ans andere Ende des Beckens. Hier draußen kann man keine Kacheln zählen, aber als er auftaucht, fühlt es sich an, als hätte er einen neuen persönlichen Rekord aufgestellt. Er holt tief Luft, taucht erneut ab. Als er etwas später in einen normalen Kraulschlag übergeht, befindet er sich bereits weit von dem Anleger entfernt.
Er erreicht die Yacht. Eines der Besatzungsmitglieder reicht Percy ein Handtuch, fragt ihn, ob er eine Cola möchte – bloß nicht. Er lässt sich ein Wasser geben.
Als Vater einige Minuten darauf das Hinterdeck betritt, ist Percy bereits angezogen. Die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen, sucht er in Dads Gesicht nach Anzeichen dafür, dass er aufgeflogen ist. Aber der Alte lächelt, keine Falte verunziert seine Stirn. Vielmehr scheint er außerordentlich guter Laune zu sein.
»Wie war dein Schwimmausflug?«
»Spitze, Dad. Ich habe ganz tolle Fische gesehen.«
Dad legt eine Hand auf Percys Schulter, deutet mit der anderen hinaus aufs Meer, auf die Insel, auf das Boot.
»Was für ein herrlicher Tag!«
Was für ein seltsamer Satz. Natürlich hat sein Vater recht, in gewisser Weise. Aber Dad ist niemand, der Gefühle zeigt. Als Percy vergangenes Jahr den besten Notenschnitt seines Jahrgangs hatte und voller Stolz heimkam, um das Zeugnis vorzuzeigen, lächelte sein Vater nicht einmal. Ein kälterer Fisch als Dr. Dr. Deepak Singh ist schwer zu finden.
Doch nun ist er kaum wiederzuerkennen. Dad tritt an die Reling. Percy beäugt ihn noch argwöhnischer als zuvor. Der Alte strahlt ja förmlich. Sein Gesichtsausdruck offenbart jene Zufriedenheit, die Dad nur dann hat, wenn er über seine potenziell weltverändernden Erfindungen redet – oder vielleicht wenn er aus der Messe kommt, noch ganz beseelt von der Kommunion.
Percy ahnt: Was auch immer sein Vater empfangen hat, dort oben in der Kapelle des Heiligen Antonius – das Altarssakrament war es sicherlich nicht.
Dad verschwindet unter Deck. Das Boot hat inzwischen Kurs aufs Festland genommen. Sie werden etwa drei Stunden zurück brauchen. Wenn sie im Hafen von Rethymno einlaufen, wird es schon dunkel sein.
Percy setzt sich in einen der Deckchairs und surft ein wenig. Das Datagrid ist noch nicht wieder das, was es früher war. Aber einiges funktioniert schon wieder.
Dem Earpiece sagt Percy, es solle nach Infos zu seltsamen Erscheinungen in der Nähe der Anomalie suchen, nach einzelnen Strahlen, die ihren Winkel verändern. Aber dazu gibt es nichts.
Percy muss an einen Satz aus dem Philosophieunterricht denken: ›Epimenides der Kreter sagt: Alle Kreter sind Lügner.‹ Entweder war das, was Christos ihm erzählt hat, tatsächlich Seemannsgarn. Oder die Sache ist bisher lediglich ein paar Einheimischen bekannt.
Als Nächstes bittet er das Earpiece, ihm das Vaterunser auf Chittagonisch herauszusuchen, ebenfalls ohne Erfolg. Verdammte Technik – seit der Sache mit dem Klimacomputer sind alle Rechner fürchterlich begriffsstutzig. Dad hat gesagt, es liege daran, dass die UNO neue, weltweite Regeln eingeführt habe, um weitere Zwischenfälle zu verhindern. Die neuen Gesetze legten fest, wie selbstständig ein Rechner denken dürfte.
Percy hat nicht ganz verstanden, was das Problem ist. Man hatte Æther, diese defekte Künstliche Intelligenz, doch abgeschaltet und das Netz gleich mit. Mag sein, dass die KI zu schlau war. Aber der Assistent in seinem Earpiece war ja nie auch nur ansatzweise so clever. Und nun ist er so dumm wie ein Schaf. Er kriegt es kaum noch hin, Percy die korrekten Fußballergebnisse rauszusuchen
Folglich muss er selbst ran. Nach einer Weile findet er eine Audiodatei und hört sich das chittagonische Vaterunser an. Kein Zweifel, dies sind die Worte, die sein Vater in der Kapelle gesprochen hat.
Er blickt hinaus aufs Meer. Die Sonne steht nur noch eine Handbreit über dem Horizont. Percy hält Ausschau nach dem Lichtdom, aber in der orangefarbenen Dämmerung ist dieser kaum besser auszumachen als zur Mittagszeit.
Allein sitzt er in seinem Deckchair. Das Schiff wirkt völlig verlassen. Christo ist vermutlich auf der Brücke. Die anderen Besatzungsmitglieder sind verschwunden, wahrscheinlich bereiten sie das Abendessen vor, das gegen sieben auf dem Oberdeck serviert werden soll. Es wird gegrillten Fisch geben, den die Männer während des Ankerns geangelt haben.
Percy mag keinen Fisch.
Er fühlt sich ein wenig schläfrig. Als er gerade wegzudösen beginnt, meldet sich das Earpiece und erinnert ihn daran, dass er noch eine ausstehende Nachricht hat.
»Von Christo?«, fragt er.
Das Earpiece erklärt ihm, die Nachricht stamme von: Padua, Antonius.
Percy weiß nicht, was er tun soll. Am liebsten möchte er zu seinem Vater rennen und ihn fragen, was all das zu bedeuten hat. Aber das geht nicht. Er konnte sich dem Alten noch nie anvertrauen und in dieser Sache schon gar nicht. Seine Mutter? Die ist fast noch schlimmer. Der Einzige in der Familie, dem er vertraut, ist Galahad. Aber der ist zu klein.
Percys Hände zittern. Was soll er bloß tun?
Nach einer Weile spielt er die Nachricht ab. Vielleicht gibt es ja eine Erklärung für all das.
Die Nachricht ist lang. Schweigend hört Percy der Stimme am anderen Ende zu. Da es eine Aufnahme ist, kann er keine Fragen stellen. Aber das ist auch nicht nötig. Auf einmal ist ihm alles völlig klar.
Percival Singh erhebt sich, streift sein Hemd ab. Ohne zu zögern springt er über die Reling und taucht ein in das azurblaue Meer.
Geh, wirklich eine Wasserleiche? Es sah ganz so aus. Wenzel mochte keine Wasserleichen, wirklich nicht. Franzi hätte wohl gefrotzelt, dass einer, dem Leichen derart zuwider waren, vielleicht nicht unbedingt Hauptkommissar hätte werden sollen. Aber Wenzel Landauer hatte nichts gegen Leichen, also nicht per se. Er war ja Wiener. Nur die wässrigen, die machten ihm immer etwas zu schaffen.
Man wusste ja, wie schon eine halbe Stunde Badewanne die Leute zurichtete – Visage wie eine Mehlspeis hattest du danach, Finger wie erkaltete Sacherwürstel. Wenn du noch deutlich länger badetest, tja, unerfreulich.
Wenzel stand auf der Deichkrone und blickte hinab auf die Neue Donau. Eine Pontonbrücke führte hinüber auf die Donauinsel, an deren Ufer er im morgendlichen Dunst seine Kollegen ausmachen konnte. Einige von ihnen hantierten mit langen Stangen, stocherten im eisigen Wasser.
Wenzel schlug seinen Mantelkragen hoch, setzte sich in Bewegung. Die Sonne stand noch tief, Raureif verzierte die Bäume und die Walulisobrücke. Schnee lag aber keiner. Die ganz Alten meckerten, das bisserl Frost und Griesel sei kein echter Wiener Winter mehr. Für Nachgeborene wie Wenzel fühlte es sich trotzdem eisig an.
Er überquerte die Brücke und ging zur Uferböschung. Man hatte die Tote bereits herausgefischt, und er beugte sich vor, um sie besser in Augenschein nehmen zu können. Aufs Knie ging er nicht, denn dabei hätte er sich die Anzughose eingesaut. Außerdem war er zu fett. Kam er nach seinem Kniefall nicht mehr hoch, hatten die Kollegen wieder was zu tratschen.
Die Tote sah nicht übel aus, also für eine Wasserleiche. Sie war nicht aufgequollen, nur entsetzlich blass. Wenzel schätzte sie auf Mitte zwanzig. Die Tote trug eine verwaschene Jeans, ein billiges T-Shirt, keine Schuhe. Letztere kamen ihnen immer abhanden, dasselbe galt für Kopfbedeckungen oder Jacken. In der Lobau, Wiens grüner Oase, floss die Donau relativ gemächlich dahin. Doch je nachdem, wo sie baden gegangen war, war die Tote an Stellen vorbeigekommen, an denen es heftiger zuging. Und da konnte dir die Strömung glatt die Socken ausziehen.
Woran das Mädchen gestorben war, ließ sich auf den ersten Blick nicht sagen – keine Einschusslöcher, kein eingeschlagener Schädel. Selbstmord?
Im Winter in die Donau zu gehen, war entsetzlich. Andererseits, was wolltest du sonst tun? Es war ja letztlich eine Frage der Optionen. Früher hatten sich viele von der Floridsdorfer Überführung auf die Autobahn gestürzt. Aber heutzutage erkannten die Selbstfahrer das Fallobst bereits, bevor es auf dem Asphalt aufschlug – ihr Autopilot leitete binnen Sekundenbruchteilen ein Ausweichmanöver ein. Da lagst du dann also auf der Schnellstraße, Haxen gebrochen, Wirbelsäule verdreht. Und der Achtzehntonner, der dein Charon hätte sein sollen, machte einen eleganten Schlenker um dich herum.
Gwion Bach, der neue Chefforensiker, stapfte unterhalb der steilen Böschung in Anglerhosen durch die Neue Donau, auf der Suche nach Gottweißwas. Wenzel winkte ihm zu. Bach kam herübergestakst.
»Fragen?«, fragte Bach.
»Schon«, erwiderte Wenzel.
»Es werden bald noch mehr sein.«
Wenzel überhörte die Bemerkung. Für jemanden, der quasi frisch von der Uni kam, erschien sie ihm reichlich altklug.
»Zunächst die Basics, bitte«, sagte er.
Bach nickte und begann, die Böschung hochzuklettern. Oben angekommen, lehnte er sich keuchend an eine kahle Schwarzpappel am Ufer, sagte: »Sie ist seit zehn, zwölf Stunden im Wasser.«
»Ertrunken? Oder schon vorher tot?«
Anstatt zu antworten, zog Bach mit seinen behandschuhten Fingern den Kiefer der Toten auseinander. Ihre Zunge war so schwarz wie des Teufels Füße.
»Vergiftet?«
»Kein Zweifel.«
»Hatte sie Papiere? Sonst was in der Datenbank?«
Bachs Mundwinkel zuckten. Hatte er auch etwas gegen Wasserleichen? Dann hätte er seinen Beruf noch mehr verfehlt als Wenzel.
»Nichts. Namen haben wir noch nicht.«
»Aber?«
»Ich kann dazu erst was sagen, wenn ich sie im Labor habe.«
Der Unterton verriet Wenzel, dass der junge Forensiker durchaus schon etwas hätte sagen können, sich aber zunächst rückversichern wollte. Früher wäre ihm derlei enorm gegen den Strich gegangen, und er hätte Bach die Information an Ort und Stelle abgepresst. Inzwischen war Wenzel jedoch altersweise geworden oder vielleicht auch einfach müde. Wozu der ganze Heckmeck? Tote hatten es nicht eilig und Beamte schon gar nicht.
Der Fundort nahe der Donauinsel befand sich in der Nähe eines Areals, in dem sich im Sommer die Nackerten tummelten. Außer Wenzels eigenen Leuten, der Sektorpolizei, waren noch die Dorfbullen von der Mira vor Ort. Auf dem asphaltierten Weg am Nordufer standen unweit der Brücke ein paar Gaffer, schauten herüber. Sehen konnten sie allerdings nichts. Der Tatort war umgehend herausholografiert worden, auf Sicherheitsebene natürlich. Mit handelsüblichen Strippergoggles kam man da nicht durch. Die Schaulustigen sahen folglich das Donauinselufer, minus Leiche, minus Polizisten, minus forensischer Markierungen. Trotzdem harrten sie aus. Vielleicht hofften sie, es werde mehr zu gaffen geben, wenn man die Leiche über die Brücke zum Parkplatz trug. Doch auch daraus würde nichts werden. Wenzel hatte der Gvardiya Mira aufgetragen, alles abzuriegeln.
»Ansonsten fertig, Gwion?«
»Ja, fast.«
»Gut. Ich fahre jetzt. Wir sehen uns gleich.«
Wenzel überquerte erneut die Brücke und den Deich, lief zum Parkplatz. Keuchend wuchtete er dort seinen schweren Leib in den Fond des Dienstmoduls, legte umständlich den Gurt an. Ein paar Kilo mussten runter, besser ein paar mehr. Vielleicht sollte er doch den Rat seines Töchterchens beherzigen und sie ins Hyperkukolni-Fitnessstudio begleiten. Nicola zufolge war das auch etwas für Unsportliche. Wenzel korrigierte sich. Nicht Nicola, sondern Polly, sie hieß jetzt Polly. Mit achtzehn wechselten sie alle die Namen, so war das heutzutage.
Das Modul setzte sich in Bewegung. Wenzel rieb sich seine eisigen Hände. Er träumte von einem dampfenden Einspänner in seinem Lieblingscafé, aber ein Blick auf den vor ihm schwebenden Kalender sagte dem Kommissar, dass es eher Automatenbrühe werden würde. Es war der siebte Dezember 2095, ein Donnerstag, sein verdammter Schurfix-Tag: Treffen mit den Kollegen aus dem Wiener Morddezernat, danach die wöchentliche Schalte mit SePo-Ermittlern aus den Sektoren Alpe-Adria und Balkanien. Als krönender Abschluss folgte am Nachmittag eine mehrstündige Holokonfi mit der Ochrana Soyuza, dem EURUS-Unionsschutz. Den Kollegen Denninger, einen großen Witzbold vor dem Herrn, hatte die wöchentliche Schalte mit der Geheimpolizei zu folgendem Vers inspiriert: »Und am Donnerstag kommt immer – die Gestapo, was ist schlimmer.« Das war ein wenig daneben, aber leider nicht völlig.
Und nun musste er sich auch noch um die Wasserleiche kümmern. Wenzel sah sein Mittagessen in Gefahr.
Neben der Praterbrücke schwebte ein gigantisches grünes »K«, das Logo von Kusotschek. Wenzel beschloss, sich dort gegen die Bedrohung eines Mittags ohne Mahlzeit zu wappnen. Er befahl dem Modul, sich in die Drive-in-Schlange einzufädeln, bestellte einige Sachen – eine Gulaschsuppe, ein paar Semmeln, außerdem zwei gefüllte Kipferl.
Letztere verspeiste Wenzel noch während der Fahrt und las dabei in der frisch angelegten Akte der Toten. Unbekannte Person, weiblich, kaukasisch, gefunden von einem Spaziergänger mit Hund. Was täte die Polizei bloß ohne die?
Ansonsten hatte niemand etwas gesehen. Schleifspuren am Ufer gab es keine. Es schien folglich wahrscheinlich, dass man die Tote weiter flussaufwärts ins Wasser geworfen hatte.
Wenzel tippte auf ein Foto, vollführte mit den Händen eine Bewegung. Das Bild verwandelte sich in ein dreidimensionales Holo der Frau. Er fand, dass sie osteuropäisch wirkte – hohe Wangenknochen, feines hellbraunes Haar. Unwahrscheinlich war das nicht. Zwar schien halb Westeuropa auf dem Weg nach Sibirien zu sein, aber im Gegenzug kamen auch einige Ostler nach Wien, Paris oder London. In diesen entvölkerten Städten gab es reichlich Platz, die Mieten waren günstig.
An der Unionsbrücke querte sein Ventura die Donau, nahm Kurs auf das Hauptquartier der Sektorpolizei. Kurz darauf stieg Wenzel aus. Die Tüte von Kusotschek in der Rechten ging er zur Pathologie, die in einem Nebengebäude lag. Bach und die unbekannte Tote warteten dort bereits auf ihn. Anscheinend hatte der Forensiker noch nicht mit der Obduktion begonnen. Wollte er, dass der Kommissar dem Spektakel beiwohnte? Darauf konnte Wenzel gerne verzichten.
»Du hättest nicht warten müssen, Gwion.«
Bach fuhr sich mit der Hand durch die schulterlangen, dunklen Haare. Er war ein ganz schöner Schönling. Hatte er wohl einen Schlag bei den Frauen? Oder nahmen sie Reißaus, wenn sie seinen Beruf erfuhren?
»Wir haben hier ein Problem«, sagte Bach.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Ich habe sie durch die Datenbank gejagt, zwecks Identifikation.«
»Und?«
Bach winkte Wenzel zu sich. Vor ihnen erschienen zwei Fotos. Das eine war unten am Fluss aufgenommen worden. Auch das andere Foto zeigte eine Tote. Sie glich der Lobau-Leiche aufs Haar.
»Zweimal die Gleiche? Wo ist das?«
»Ein Stück hinter Bratislava. Schon der nächste Sektor, deshalb nicht auf meinem Tisch gelandet. Sie wurde verscharrt, aber ein Spaziergänger hat sie gefunden, vor zwei Tagen. Name unbekannt, trotz biometrischem Abgleich.«
An der Polizeihochschule hatte man ihnen seinerzeit erzählt, in Zukunft werde es praktisch keine Morde mehr geben – zu viele Kameras, zu viele digitale Spuren, zu viele DNA-Sniffer. Heute jedoch wusste Wenzel: Das war Schmarrn gewesen. Coldrush und Spaceboom machten es den Leuten leicht, an neue Identitäten zu gelangen, in Srednekolymsk oder auf Heskel IV. Alternativ kauftest du dir einfach den Pass irgendeiner unterbevölkerten C-Föderative. Dazu ein bisserl plastische Chirurgie, und schwups warst du weg.
»Reden wir«, erwiderte Wenzel, »von Miss Lobau oder Miss Bratislava?«
»Von beiden. Sie besitzen dieselbe DNA.«
»Zwillinge?«, fragte Wenzel, obwohl er die Antwort bereits ahnte.
»Ein Gefäß. Oder auch zwei.«
Er betrachtete die Tote auf dem Tisch.
»Original und Klon? Aber wer ist wer?«
»Kann ich noch nicht sagen.«
Weil das mit den Gefäßen immer mehr um sich griff, hatten EURUS und auch die meisten anderen Föderativen Kennzeichnungspflichten eingeführt. Das Tragen eines holografischen Brassards war für Klone Pflicht, ebenso eine physische Markierung auf der linken Fußsohle.
Bevor Wenzel fragen konnte, sagte Bach: »Auf den Sohlen nichts, bei keiner von beiden.«
Der Pathologe ging zu einem Rollwägelchen, auf dem allerlei chirurgische Instrumente bereitlagen. Er nahm das eine oder andere in die Hand, so als inspizierte er die Auslage eines Geschäfts.
»Kann sein«, sagte Bach, »dass der oder die Klone in einer Föderative mit laxeren Standards produziert wurden. BHARATA oder Cali-Hegemonie.«
»In Kalifornien muss man seine Gefäße nicht markern?«
»Nein. Höchstrichterliches Urteil, verstößt gegen den ersten Verfassungszusatz.«
»Dem Rest der Welt sagen zu müssen, dass du ein fakebody bist, verletzt die Meinungsfreiheit?«
Bach zuckte mit den Achseln, so als wollte er sagen: Kalifornier halt.
»Miss Bratislava war ein Quant. Miss Lobau – schauen wir mal.«
Bach hatte inzwischen etwas Hübsches gefunden. Es war ein Laserskalpell. Damit begann er, einen Hautlappen von der Stirn der Toten zu lösen. Danach entfernte er die darunterliegende Muskulatur. Schädelknochen kam zum Vorschein.
Mit dem Skalpell deutete Bach auf eine Linie, die von der Mitte der Stirn Richtung Schädeldach verlief.
»Wenn sie nicht zufällig mal einen Hirntumor hatte, war sie ebenfalls ein Quant. Ich schaue nachher zur Sicherheit noch rein. Oder soll ich gleich …«
»Nicht nötig, Gwion.«
Wenzel sah sich erneut die Fotos an. Zwei tote Frauen, bei beiden war das organische Gehirn entfernt und durch einen kleinen Computer ersetzt worden. Hatte die eine ihren Verstand in den Körper der anderen hochgeladen? Aber warum sollte jemand einen Klon verwenden, der exakt so aussah wie er selbst?
Soweit Wenzel wusste, war der Sinn dieser ganzen Upload-Geschichte ja gerade, dass du jemand anderes sein konntest. Mausige Mädchen wurden zu Aphrodite, schmalbrüstige Bürschchen zu Herkules – oder ebenfalls zu Aphrodite, je nach Pläsier. Oder vielleicht wolltest du als Aphrodite auch gerade eine graue Maus werden, um endlich einmal all die geifernden Idioten los zu sein.
»Okay. Auf jeden Fall seltsam. Und wie findet man jetzt raus, ob es Klone sind, mangels Markierungen?«
»Der Körper eines Gefäßes ist gezüchtet, er wächst schneller heran als der eines echten Menschen – viel schneller. Es gibt bestimmte Histone, die …«, Bach bemerkte Wenzels Gesichtsausdruck, brach ab.
»Sagen wir einfach, es gibt Marker, an denen man das sieht. Ich weiß es nachher.«
»Okay. Mach’s fertig und schick alles an Tish. Bist du denn sicher, dass es nur ein doppeltes Lottchen ist? Und nicht vielleicht ein dreifaches?«
»In der Datenbank waren keine weiteren. Aber vielleicht handelt es sich um Konfektionsware, auch das sollte man überprüfen.«
»Gefäße von der Stange? So was gibt’s?«
»Inzwischen schon. Es gibt diese Kloneriekette, Hibitai. Da kannst du so was leihen.«
»Gottgütiger. Okay, das wäre es fürs Erste. Schick uns den Bericht, ja? Firma dankt.«
Wenzel ging hinüber in die Mordkommission, um mit seiner Assistentin zu sprechen. Tish Turquois hatte früher für das EURUS-Militär gearbeitet, Feindaufklärung bei einer Spezialeinheit von Reco, zwei Touren in Mato Grosso. Sie war seit knapp einem Jahr hier und noch verdammt jung. Manchmal hatte Wenzel allerdings den Eindruck, dass dies auf fast alle Mitarbeiter der Wiener SePo zutraf. Er war der Dienstälteste, ging auf die fünfundsiebzig zu. Heutzutage kein Alter mehr, ein Mann in den besten Jahren – behauptete zumindest Dr. List, sein Hausarzt. Neulich hatte der Doc ihm allen Ernstes so eine Quant-Transformation vorgeschlagen, damit Wenzel mithilfe von body holidays seinen übergewichtigen Stammkörper ein wenig schonen konnte. Aber er wusste, dass er sich nicht darauf einlassen würde. Es war zu spät dafür, viel zu spät.
Inspektorin Erster Klasse Tish Turquois hatte die Transformation hingegen bereits hinter sich. Die Etikette gebot, Leute nicht danach zu fragen, ob sie hohl waren. Aber Turquois hatte es ihm ganz freimütig erzählt. Zu ihrem nur noch mit einem e-Cephalon gefüllten Quant-Schädel war sie aufgrund ihrer Militärkarriere gekommen. Wenn man sich bei der Unionsarmee verdingte, bekam man die Gehirn-Exzision nämlich gratis. Wie Wenzel aus Turquois’ Erzählungen wusste, hatte sie während ihrer Einsätze etliche Gefäße verschlissen.
Er fand seine Assistentin in einem jener neumodischen Whiterooms, die man mit seiner präferierten Holotextur bespielen konnte. In Tish Turquois’ Fall war es scandinavian retro, helles Holz und zu viel Farbe.
Das Design stand in Kontrast zu ihrem eigenen, extrem nüchternen Auftreten: grauer Hosenanzug, flache Ballerinas, praktischer Kurzhaarschnitt. Wäre Turquois weniger durchtrainiert gewesen, hätte man sie glatt für eine graue Aktenmaus halten können, eine Sachbearbeiterin der Staatsanwaltschaft vielleicht.
»Morgen, Chef.«
»Servus, Tish. Es gibt Arbeit.«
»Die Lobau-Sache?«
»Ja. Gefäße ohne Signatur«, sagte er.
»Greift immer mehr um sich, hört man. Früher hatten so was höchstens die Geheimdienste oder vielleicht UNANPAI. Aber inzwischen …«
»Ja?«
»Ich hab was drüber gelesen, im ›Journal of Criminology‹. Ist ein Straftatbestand, der statistisch gesehen durch die Decke geht.«
»Und wozu braucht man diese unregistrierten Klone?«
»Alles von Raub bis Einbruch.«
Das kam Wenzel unwahrscheinlich vor. Er wusste nicht genau, wie viel so eine Quant-Transformation nebst drei, vier Gefäßen kostete, aber sicher eine Million. Wer sich das leisten konnte, musste keine Bank ausrauben. Turquois sah die Zweifel in seinem Gesicht.
»Wir reden hier nicht von irgendwelchen Strauchdieben, sondern von Profis. In New York haben sie letztes Jahr versucht, einen Van Gogh zu klauen. Der Dieb kam nicht mehr aus dem Gebäude, weil das Haussystem alle Türen verriegelt hatte. Bevor man ihn festnehmen konnte, hat er sich erschossen.«
»Toter Klon, kaputter Cogit-Compi, keine Spuren?«
»Exakt. Dann gibt es noch ganz raffinierte Trickbetrüger, die …«
»Und was ist mit jemand, dem langweilig ist?«
»Wie meinst du das, Chef?«
»Ich meine Leute, die vor Geld stinken und sich diese Gefäße für wer weiß was machen lassen.«
»Kinky-Zeug?«
»Beispielsweise.«
»Hieße dann, dass wir jemand suchen, der sehr flüssig ist. Upper crust. Weiß Bach schon, ob es sich ganz sicher um Klone handelt? Oder ist einer der Stammkörper?«
»Er muss dazu noch eine Analyse machen.«
»Verstehe. Wenn beides Klone sind, ist es vielleicht gar nicht mehr unser Ding, oder?«
Turquois spielte darauf an, dass die Zerstörung eines Gefäßes nur Sachbeschädigung war – möglicherweise. Die Juristen waren sich in dieser Frage nicht ganz einig. Er würde mit Staatsanwältin Sanderberg darüber sprechen müssen.
»Irgendwas sagt mir, dass eine davon echt war.«
»Wie kommst du drauf, Chef?«
»Bauchgefühl.«
Turquois verkniff sich ein Grinsen. Vielleicht, weil er mit seinen hundertdreißig Kilo eine Menge Bauchgefühl besaß – oder vielleicht, weil sie kriminalistische Intuition für altmodisch hielt.
»Ich suche mal Videofeeds raus«, sagte sie.
»Welche?«
»Zwei, elf, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig und zweiundzwanzig.«
Sie zählte alle Wiener Bezirke auf, die am Fluss lagen.
»Gute Idee – vielleicht ist ihr Gesicht irgendwo drauf. Sind aber eine Menge Aufnahmen, oder?«
»Schon. Bessere Idee?«
»Überhaupt keine.«
Vor Wenzel erschien eine Meldung, die ihn an das in wenigen Minuten beginnende Meeting erinnerte.
»Ich muss – wir reden später.«
»Okay, Chef.«
Zwei Stunden saß er in einer nervtötenden Holokonferenz. Nicht nur starb er vor Langeweile, sondern auch vor Hunger. Als es endlich vorbei war, eilte er zu dem Würstelstand gegenüber des Präsidiums.
Kurz darauf betrat er, zwei Pappschalen haltend, erneut Turquois’ Büro. Im ganzen Raum schwebten Fotos und Videoschnipsel, Ermittlungsakten und Datenbankabfragen. Als Turquois ihn hereinkommen sah, wischte sie die Einträge vor sich rasch fort, so als hätte er sie beim Betrachten anzüglicher Filmchen erwischt.
»Irgendwas, das ich nicht sehen darf?«
»Nein, nein. Ich wollte nur Platz schaffen dafür«, sie deutete auf die Pappschalen.
»Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Herrgott, was für eine Sisyphusarbeit.«
Wenzel setzte sich, schob ihr eine der Schalen hin.
»Und?«
»Leider kein Video, auf dem jemand einen toten Klon in die Donau wirft.«
»Wenn es denn einer ist.«
»Ist es. Bach hat sich vor zehn Minuten gemeldet. Laut der epigenetischen Analyse handelt es sich bei beiden Frauen um Gefäße.«
»So viel zum Bauchgefühl. Und jetzt?«
Sie rieb sich die Augen.
»Ich habe den Suchradius erweitert. Und ich glaube, das hier könnte sie sein.«
Turquois griff nach einem der freischwebenden Videos, vergrößerte es. Zu sehen war eine Frau, die aus einem schwarzen Auto stieg. Sie mochte Mitte zwanzig sein. Von ihrem Gesicht sah man leider nicht viel. Es lag an ihrem seltsamen Outfit: Die Frau trug ein eng anliegendes, ärmelloses Latextop mit einer Art überdimensioniertem Rollkragen, der nicht nur den Hals, sondern auch Mund, Nase und Wangen bedeckte. Lediglich Augenpartie und Stirn ließ er frei.
»Das Top ist leider echt, nicht holografisch. Aber ich habe die Augenpartie abgeglichen. Übereinstimmung liegt bei fünfundneunzig Prozent.«
»Wo wurde das aufgenommen?«
»In einem Parkhaus. Liegt in der Nähe eines Nachtclubs namens ›Zum Schönen Tod‹.«
»Das ist ein guter Anhaltspunkt.«
Turquois biss von ihrer Wurst ab, lächelte triumphierend.
»Den wir vermutlich nicht brauchen werden.«
»Warum nicht? Das Parkhaus?«
»Genau. Kennzeichenscan. Ich habe die Logs überprüft. Es gibt nur ein Fahrzeug in diesem Farbton, das passt – ein alter Daimler Superior, zugelassen auf eine gewisse Lefay Maudite.«
»Im Sinne von ›die verfluchte Fee‹?«
»Yep. Die Sache hat nur einen Haken.«
»Und zwar?«
Ein weiteres Bild erschien. Es zeigte eine grobknochige Blondine mit Kartoffelnase.
»Das hier ist die echte Maudite – nicht besonders feenhaft, was?«
»Aber war die auch mit in dem Auto? Oder war der Klon auf den Videos diese Maudite, nur in einem anderen Körper, in einem Gefäß?«
»Das lässt sich nicht sicher sagen, Chef.«
Wenzel schob sich das letzte Stück Wurst in den Mund.
»Okay«, sagte er kauend, »ich denke, wir machen einen Hausbesuch bei der Fee. Verständige das Modul. Wir treffen uns draußen, aber erst in fünfzehn Minuten. Vorher brauche ich mehr Wurst.«
Sahana stand der Sinn nach Fish & Chips. Es war ewig her, dass sie welches gegessen hatte. Wann war sie das letzte Mal in London gewesen? Vor dreißig Jahren? Sie blickte hinaus. Das Flughafenshuttle verlief zwar unterirdisch, in die Fenster war aber ein Ausblick hineinholografiert, der einen glauben ließ, man säße in der Hochbahn.
Sie passierten gerade ein immenses Gebäude auf der Isle of Dogs, eine Kreuzung aus Wolkenkratzer und Normannenschloss. Über dem höchsten Turm schwebten ineinanderverschachtelte Oktagone – das Logo des Supernationals 8cell. Weiter westlich stand zwischen Hochhäusern ein Mann mit blaugoldener, spitz zulaufender Filzmütze und asiatischen Gesichtszügen. Er maß bestimmt zweihundert Meter und schien Sahana zuzuwinken. Über ihm stand in schimmernden Lettern: »QAZAQ. Föderative des Glücks«.
Sie wandte sich ab. Nie würde Sahana verstehen, warum Westler derart invasive Werbung in ihrer Hologrammatica zuließen. In der BHARATA-Föderative war derlei verboten.
Sie kramte in ihrem Rucksack. Hoffentlich hatte sie Strippergoggles eingepackt. Zahir hatte es ihr eingeschärft: Lauf nicht ohne Minusbrille durch London. Du kriegst einen Holoburnout.
Sie schien die Brille zu Hause vergessen zu haben. Das war ärgerlich, andererseits konnte man an der Victoria-Station bestimmt eine kaufen. Ob es dort auch gutes Fish & Chips gab? Vermutlich nicht, besser sie suchte sich in irgendeiner Seitenstraße einen authentischen chip shop. Außerdem wollte sie in den St. James’s Park. Dort war Sahana zuletzt in den Fünfzigern gewesen, während eines mehrmonatigen Forschungsaufenthalts am Commonwealth College.
Aber eins nach dem anderen – zunächst die Keynote, Professor Kapoor. Danach war sicherlich Zeit für nostalgische Streifzüge.