Life Worth Living – Wofür es sich zu leben lohnt - Miroslav Volf - E-Book

Life Worth Living – Wofür es sich zu leben lohnt E-Book

Miroslav Volf

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Beschreibung

Dieses Buch könnte dein Leben verändern

»Ein überaus lesenswertes Buch und eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich für die Themen der Glücksforschung und der Lebensqualität interessieren.« Hartmut Rosa

»Dieses Buch ist etwas Besonderes. Eine Einladung zum guten Leben, die hohe Theologie und Philosophie einfach und mit vielen Beispielen lebensnah erklärt.« Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm

Immer mehr Menschen empfinden einen tiefgreifenden Sinnverlust. Dagegen sollen Yoga- und Achtsamkeitskurse helfen, Coaching und Kurse zur Persönlichkeitsentwicklung. All das mag zwar zum kurzzeitigen Wohlbefinden beitragen – die großen Fragen des Lebens jedoch bleiben oft unbeantwortet und beschäftigen uns weiter. Was macht ein gutes Leben aus? Ist das immer automatisch ein langes, glückliches, gesundes Leben? Was gibt unserem Leben wirklich Sinn?

Die Yale-Professoren Miroslav Volf, Matthew Croasmun und Ryan McAnnaly-Linz unterrichten einen der beliebtesten Kurse der Universität: Life Worth Living. Teilnehmende beschrieben ihn als »lebensverändernd«, ihre Zufriedenheit stieg dadurch nachweislich an und sie empfanden ein größeres Gefühl von Sinnhaftigkeit im Leben. Nun erscheint das Buch zum Kurs und macht sein Wissen auch für die breite Allgemeinheit zugänglich.

Klug und zugänglich leitet dieses Buch an, sich neu mit den wesentlichen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen, vor denen wir letztlich alle irgendwann stehen. Anhand der großen religiösen und philosophischen Traditionen und mit vielen Beispielen hilft es, zu erkennen, was das sein kann: ein erfülltes Leben. Und warum es mehr als wünschenswert wäre, wenn wir neu diskutieren, was wirklich erstrebenswert ist.

»Life Worth Living ist ein unverzichtbarer Wegweiser für jeden Menschen, der sich fragt, wie sich ein gutes Leben gestalten lässt.« Laurie Santos (The Happiness Lab)

»Dieses nützliche Buch ist voll der Weisheit. [...] Die Fragen sind uralt, das Buch aber ist so aktuell wie nie zuvor.« Marilynne Robinson (Pulitzerpreisträgerin)

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Seitenzahl: 479

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Über das Buch:

Was macht ein gutes Leben aus? Ist das immer automatisch ein langes, glückliches, gesundes Leben? Was gibt unserem Leben wirklich Sinn?

Die Yale-Professoren Miroslav Volf, Matthew Croasmun und Ryan McAnnally-Linz unterrichten einen der beliebtesten Kurse der Universität: Life Worth Living. Teilnehmende beschrieben ihn als »lebensverändernd«, ihre Zufriedenheit stieg dadurch nachweislich an und sie empfanden ein größeres Gefühl von Sinnhaftigkeit im Leben. Dieses kluge Buch macht das Wissen des Kurses erstmals für alle zugänglich.

Über die Autoren:

Miroslav Volf promovierte in Tübingen und ist Gründer und Direktor des Yale Center for Faith & Culture. Er hat zudem die Henry B. Wright-Professur für Systematische Theologie an der Yale University inne.

Matthew Croasmun ist Direktor des Life-Worth-Living-Programms am Yale Center for Faith & Culture und Dozent für Geisteswissenschaften an der Yale University.

Ryan McAnnally-Linz ist stellvertretender Direktor am Yale Center for Faith & Culture, systemischer Theologe und Autor mehrerer Sachbücher.

Miroslav Volf, Matthew Croasmun, Ryan McAnnaly-Linz

LIFE WORTH LIVING

Wofür es sich zu leben lohnt

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Liebl

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Life Worth Living: A Guide to What Matters Most bei The Open Field | Penguin Life, New York.All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with Viking, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit konnte eine gendergerechte Schreibweise nicht durchgängig eingehalten werden. Bei der Verwendung entsprechender geschlechtsspezifischer Begriffe sind im Sinne der Gleichbehandlung jedoch ausdrücklich alle Geschlechter angesprochen.

Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung- und motiv: zero-media.net, München nach einem Entwurf von Jason Alejandro

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29157-0V001

www.koesel.de

Inhalt

Einführung

Teil I Eintauchen

1 Was sich zu wollen lohnt

2 Wo fangen wir an?

Teil II In die Tiefe

3 Wem sind wir Rechenschaft schuldig?

4 Wie fühlt sich ein gutes Leben an?

5 Was lohnt sich zu hoffen?

6 Wie sollen wir leben?

Teil III Am Grund

7 Der Rezepttest

8 Das wirklich große Ganze

Teil IV Grenzsituationen

9 Wenn wir es (schlussendlich) vermasseln

10 Wenn das Leben wehtut

11 … und wenn es keine Lösung gibt

12 Wenn endgültig Schluss ist

Teil V Zurück an die Oberfläche

13 Es liegt noch Arbeit vor uns

14 Alle Veränderung ist schwer

15 Wie es hält

Nachwort: Was am meisten zählt

Danksagung

Anmerkungen

An all die Studierenden des Life Worth Living Program an der Universität Yale und darüber hinaus:

Dieses Buch ist euch gewidmet. Wir hoffen, es zeigt, was wir gemeinsam gelernt haben.

An unsere Leserinnen und Leser: Dein Leben lohnt sich. Wir hoffen, dieses Buch hilft dir, den Wert unserer gemeinsamen Menschlichkeit noch mehr zu schätzen.

Einführung

Dieses Buch könnte dein Leben auf den Kopf stellen

Bevor er zum Buddha wurde, lief Siddhartha Gautamas Leben, an den üblichen Wertmaßstäben gemessen, eigentlich ganz gut. Er war ein Prinz und genoss den Luxus und die Privilegien des Königshauses. Er lebte in einem prächtigen Palast, aß nur die köstlichsten Speisen und war in feinstes Tuch gekleidet. Sein Vater liebte ihn und wollte ihm sein Königreich übergeben. Siddhartha hatte eine Prinzessin geheiratet. Die beiden erwarteten gerade ihr erstes Kind.

Reichtum, Macht und eine liebende Familie – Siddhartha hatte das alles. Jeden Tag genoss er die Früchte des guten Lebens. Bis alles in seinem Mund zu Asche wurde.

Eines Tages ritt Siddhartha im königlichen Park spazieren und entdeckte einen Greis. Der tragische Verfall des Alters berührte ihn. Am nächsten Tag erblickte er im selben Park einen Kranken. Und am Tag danach lag eine verwesenden Leiche an dem Weg, den er nahm. Das offensichtliche Leiden der menschlichen Existenz erschütterte ihn zutiefst. Am Tag, an dem sein Sohn geboren wurde, kehrte er noch einmal in den Park zurück. Dieses Mal lernte er einen Wandermönch kennen. Bei dieser Begegnung überkam ihn der innige Wunsch, auf sein königliches Dasein künftig zu verzichten.

Noch in der Nacht brach Siddhartha auf. Er ließ alles hinter sich auf der Suche nach Erleuchtung. Er verabschiedete sich weder von seiner Frau noch von seinem neugeborenen Sohn, weil er Angst hatte, dass er sonst den Mut verlieren könnte. Sein Leben war nun der Suche gewidmet. Er hatte die Wahrheit des Leidens erkannt und würde nicht innehalten, bis er einen Weg gefunden hätte, um es zu überwinden. Er fing an zu fasten und seinen Körper zu kasteien im Versuch, durch Askese die Befreiung zu erlangen. Vergebens. Also begann er, anderswo zu suchen.

Einige Jahre, nachdem Siddhartha sein Heim verlassen hatte, saß er bewegungslos unter einem Feigenbaum. Sieben Wochen lang meditierte er, bis er schließlich die Einsicht erlangte, die er gesucht hatte: Das Leid wurzelt im Verlangen. Wer sich vom Begehren lösen kann, wird auch frei vom Leid sein. Den Rest seines Lebens widmete er dem Bemühen, anderen diese Einsicht zu vermitteln. Er machte jedem, der dazu bereit war, das Geschenk der Erleuchtung. Fast 2500 Jahre später prägen seine Lehren das Leben von Millionen Buddhisten und zahllosen anderen Menschen, die seine Lebensweise zu der ihren gemacht haben.

Bevor er zum ersten Papst wurde, war Simon ein einfacher Mann. Er lebte in einem kleinen Haus in einer Kleinstadt, gelegen an einem kleinen See in einem kleinen Bezirk am Rande eines großen Reiches. Er hatte eine Frau aus dieser Stadt geheiratet und wohnte nicht weit von seinen Schwiegereltern. Wie viele seiner Nachbarn bestritt er seinen Lebensunterhalt mit der Fischerei. Viele Nächte brachte er mit seinem Bruder Andreas draußen auf dem See zu und fing Fische mit seinem Netz. Am siebten Tag der Woche ruhte er, wie das Gesetz Gottes es verlangte, und er ging zum Beten in die Synagoge der Stadt.

Ein gutes Handwerk, eine Familie, eine Gemeinschaft. Kein mondänes Leben, aber ein respektables, erfüllt von ganz normaler Güte. Bis drei Worte dieses Leben auf den Kopf stellten.

»Folge mir nach.« Jesus, der neue Lehrer aus Nazareth, stand am Seeufer und rief Simon und Andreas. Normalerweise würde man so jemanden für verrückt halten. Wer geht schon auf zwei Männer zu, die mitten in der Arbeit stecken, und fordert sie auf, alles stehen und liegen zu lassen, um mit ihm zu kommen? Aber Jesu Wort hatte eine erstaunlich charismatische Wirkung. Es hatte sich längst in der Stadt herumgesprochen, dass seine Predigten wahr klangen, von seinen Worten eine faszinierende Kraft ausging und dass erstaunliche Dinge passierten, wenn er zugegen war.

Aus einem ihm unerfindlichen Grund folgte Simon ihm tatsächlich. Drei Jahre lang hörte er ihm zu und versuchte zu verstehen. Von Ehrfurcht ergriffen, sah er Wunder um Wunder geschehen. Und er lernte, diesen Mann nicht mehr »Lehrer« zu nennen, sondern »Herr«. Dieser Herr wiederum gab ihm einen neuen Namen: Petrus, was so viel heißt wie »Fels«. Aber Petrus gelang es bei vielen Gelegenheiten nicht, seinem Namen gerecht zu werden. Er verstand vieles falsch, war übereifrig und verlor im entscheidenden Augenblick die Nerven: Als die Behörden Jesus verhafteten, leugnete Petrus, ihn zu kennen. Hilflos sah er zu, wie die kaiserlichen Soldaten seinen Herrn kreuzigten. Damit war alles vorüber, seine anhängliche Nachfolge hatte ihm nichts eingebracht. Bis er am dritten Tag nach seinem Tod plötzlich seinem Herrn gegenüberstand. Der von den Toten auferstanden war.

Von diesem Augenblick an widmete Petrus sein ganzes Leben der Nachfolge Jesu und der Verbreitung seiner Botschaft. Jahrelang führte er die stetig anwachsende Gemeinschaft derer, die ihm nachfolgten. Die meisten Fischer sahen in ihrem Leben höchstens einmal Jerusalem, was eine Pilgerreise von gut hundertfünfzig Kilometer darstellte. Die Mission des Petrus aber führte ihn nach Syrien, nach Griechenland und schließlich in die Hauptstadt des Reiches: Rom. Am Ende führte sie ihn in den Tod. Die christliche Tradition berichtet, Petrus sei dort gekreuzigt worden. Und er habe den Wunsch geäußert, kopfüber gekreuzigt zu werden, denn er sei nicht würdig, genauso zu sterben wie sein Herr.

Bevor Ida B. Wells zur Heldin der Anti-Lynch-Bewegung und zur Ikone der Befreiung der Schwarzen und der Frauen wurde, war sie eine junge Frau, die sich unter schwierigen Umständen eine Existenz aufbaute. Sie kam in Mississippi als Sklavin zur Welt und wurde von der Emancipation Proclamation (Abschaffung der Sklaverei durch die Regierung Abraham Lincolns) befreit. Mit sechzehn verlor sie ihre Eltern und ihren jüngeren Bruder an die Gelbfieberepidemie. Um sich und ihre überlebenden Geschwister über Wasser zu halten, nahm sie eine Stelle als Lehrerin an. Als sie um die zwanzig war, hatte sie so viel gespart, dass sie eine Ein-Drittel-Beteiligung an einer neu gegründeten Zeitschrift erwarb: Free Speech. Damit begann ihre Karriere als Journalistin. Es sah so aus, als würde alles gut werden. Bis ein schreckliches, aber vorhersehbares Unrecht Idas ganzes Leben über den Haufen warf.

Am 9. März 1892 wurden Thomas Moss, Calvin McDowell und William »Henry« Stewart vor den Stadtgrenzen von Memphis von einem Lynchmob hingerichtet. Für Wells war dies eine höchstpersönliche Angelegenheit, denn sie war die Patin von Moss’ Tochter Maurine.

Dieses Erlebnis lehrte Wells, dass sie einer Lüge aufgesessen war: »Wie viele andere Menschen, die über die Lynchjustiz im Süden gehört hatten, hatte ich geglaubt, dass das Lynchen zwar gegen das Gesetz war und der herrschenden Ordnung widersprach. Doch ich dachte, dass diese Praxis in der Wut über schreckliche Vergewaltigungen wurzele, dass diese brutalen Menschen in jedem Fall den Tod verdient hatten und der Mob recht hatte, ihnen das Leben zu nehmen.«1 Wells aber kannte Moss und McDowell und Stewart. Sie »hatten kein Verbrechen gegen weiße Frauen begangen«. Und so fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Die Lynchjustiz war »nur ein Vorwand, um Schwarze loszuwerden, die Reichtum und Besitz ansammelten. So konnte man die Schwarze Bevölkerung weiterhin in Angst und Schrecken halten.« Zu ihrer Zeit sprachen nur wenige Menschen diese Wahrheit so unverblümt aus.

Als Wells auch noch wagte, das zu drucken, tat sich ein »Komitee führender Bürger« zusammen (d. h. ein Mob weißer Bürgerwehrleute), verwüstete die Büros von Free Speech und hinterließ eine Drohung: »Jeder, der versuchen sollte, dieses Blatt erneut zu publizieren, wird zum Tode verurteilt.«2 Wells verlor ihre Zeitung, aber sie blieb ihrer Berufung treu: Sie sagte die Wahrheit über die Lynchjustiz im Süden der USA, auch wenn die Welt sie mitunter nicht hören wollte.

Sie recherchierte sorgfältig über alle Lynchmorde in den Vereinigten Staaten und veröffentlichte die Ergebnisse in Flugschriften, die weite Verbreitung fanden. Sie hielt Vorträge im Norden der USA und in Großbritannien. Sie war maßgeblich beteiligt an der Gründung der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). Aber sie setzte sich auch unermüdlich für Frauenrechte ein und half, den Alpha Suffrage Club zu gründen sowie die National Association of Colored Women’s Clubs (NACWC). 2020 verlieh man ihr posthum den Pulitzerpreis für Special Awards and Citations. Millionen Menschen haben von ihrer unermüdlichen Arbeit und ihrer unbedingten Hingabe an die Wahrheit profitiert.

Die große Frage

Siddharta Gautama: der privilegierte Prinz, der zum bewunderten Gründer einer der großen spirituellen Traditionen der Welt wurde. Simon Petrus: der fehlbare Nachfolger Jesu, der zum Fels wurde, auf dem die christliche Kirche erbaut wurde. Ida B. Wells: die unbeugsame Lehrerin, die für Schwarze Menschen und Frauen zur Ikone der Wahrheit wurde. Drei sehr unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Leben. Was ihre Geschichten vereint, ist eine Erfahrung, welche ihr Leben in seiner bisherigen Form infrage stellte. Was normal und selbstverständlich gewesen war, wurde plötzlich fragwürdig. Etwas – vielleicht alles – musste sich ändern.

Diesen Erfahrungen lag eine schwer in Worte zu fassende Frage zugrunde. Und es gibt unzählige Begriffe, in die man sie kleiden kann: Was ist am wichtigsten? Was ist ein gutes Leben? Wie sieht ein lohnendes Leben aus? Welches Leben ist unserer Menschlichkeit würdig? Was ist das wahre Leben? Was ist richtig und wahr und gut?

Keine dieser Formulierungen erfasst sie ganz. Letztlich entzieht sie sich einer umfassenden Definition. Aber das macht sie nicht weniger real oder wichtig. So schwierig zu fassen sie sein mag: Es ist doch die entscheidende Frage unseres Lebens. Dabei geht es um Werte, Würde, Gut und Böse, Sinn, Bedeutung, letztendliche Ziele, Schönheit, Wahrheit, Gerechtigkeit. Darum, was wir einander schulden, was die Welt ist und wer wir sind und wie wir leben. Es geht um den Erfolg unseres Lebens oder sein Scheitern.

Wie auch immer diese Frage sich uns stellt, sobald sie sich erhebt, droht sie (oder verspricht sie?), alles umzukrempeln. Nach seinem Verzicht war für Siddhartha nichts mehr so wie vorher, ebenso wenig wie für Simon, nachdem er berufen worden war, oder für Wells, die nach dem Mord an ihren Freunden ihre Berufung fand. Aus dem einen Blickwinkel heraus betrachtet, war ihr Leben zerstört. Ihre neue Perspektive aber sagte, dass ihr Leben nur in eine neue Richtung gelenkt worden war. Es stimmt schon, sie gaben eine Menge auf. (In Wells Fall war der Verlust ein doppelter. Zu ihrem Verlust kam noch der, den der Lynchmob ihr bereitete.) Doch was diese drei Menschen gewannen, war qualitativ viel wichtiger: Transformation, eine radikale Neuorientierung, was die Welt und ihren Platz darin anging; und eine neue Kraft, die sie antrieb. Tatsächlich war dieses Neue ihnen wichtiger als ihr Leben.

In diesem Buch geht es um eben diese entscheidende Frage.

Wir werden sie topografisch erforschen, Orientierungspunkte finden und einige Grenzen ziehen. Und wir werden dir Strategien mit auf den Weg geben, wie du dich mit dieser so wichtigen (und kaum fassbaren) Frage auseinandersetzen kannst. So hast du, wann immer sich diese Frage dir stellt, Ohren, um sie zu hören, und die notwendigen Hilfsmittel, um darauf sinnvoll zu antworten. Betrachte dieses Buch einfach als Atlas und als Werkzeugkasten.

Zugegebenermaßen ist die Lektüre dieses Buches wohl nicht gleichzusetzen mit einer erschütternden Lebenserfahrung. Freunde durch Anhänger rassistischer Ideologien zu verlieren, einen Lehrer kennenzulernen, der die Wahrheit und Macht Gottes verkörpert, die plötzliche Erkenntnis des Leidens in der Welt – diese Art von Systemschock kann weder geplant noch vorhergesagt oder von einem Buch simuliert werden.

Die eigentliche Frage aber ist unvorhersehbar. Stehen Wahrheit und Wert auf dem Spiel, kann selbst ein Buch einschneidende Veränderungen bewirken. Frederick Douglass (1818–1895) las The Columbian Orator, als er noch ein versklavter Jugendlicher war.3 Und er fand darin nicht nur eine kluge Einführung in die Rhetorik, sondern auch eine bahnbrechende Vision von Freiheit und Menschenrechten. Die Frage kann sich stellen, wenn wir am allerwenigsten damit rechnen. Sie lauert manchmal in den scheinbar alltäglichsten Momenten unseres Lebens, stets bereit, alles auf den Kopf zu stellen und uns überraschend neue Wege beschreiten zu lassen.

Vielleicht hört sich das alles jetzt recht beunruhigend an. Abschreckend sogar. Vielleicht spürst du da so ein kleines Unwohlsein in der Magengegend. Das ist in Ordnung. Sogar gut. Wenn es sich so anfühlt, als würde es deine Kräfte übersteigen, dann heißt das, dass du verstehst, was auf dem Spiel steht. Das Gute daran ist: Du bist nicht allein.

Freunde finden

Der christliche Philosoph und Romancier C. S. Lewis (1898–1963) unterscheidet im Übrigen zwischen bloßen Kameraden und echten Freunden. Mit Kameraden teilen wir gemeinsame Aktivitäten, ob diese nun religiöser, beruflicher, gelehrter oder freizeitlicher Natur sind.4 Das ist alles wunderbar, aber es ist keine Freundschaft, wie Lewis sie versteht. Freundschaft setzt mehr voraus: eine gemeinsame Frage. »Wer uns zustimmt, dass irgendeine von andern wenig beachtete Frage höchst bedeutsam ist, kann unser Freund sein«, schreibt er. Und weiter: »In deren Beantwortung braucht er uns nicht zuzustimmen.«5

Diese Frage übersteigt unsere individuellen Fähigkeiten, damit umzugehen. Wir brauchen Freunde, die ihr zusammen mit uns nachgehen. Daher möchte ich dir ein Angebot machen: Lass uns während der Lektüre dieses Buches Freunde sein. Die Frage ist uns wichtig. Sie liegt uns am Herzen. Und wir laden dich ein, das Gleiche zu tun. Dabei müssen wir uns nicht über die Antwort einig werden.

Eine der schönsten Seiten der Freundschaft ist, dass unsere Freunde uns häufig anderen Menschen vorstellen – die ihre Freunde sind, aber mit der Zeit auch zu unseren werden.

Wir drei halten seit 2014 gemeinsam ein Seminar an der Universität Yale. Es heißt: Life Worth Living (Wofür es sich zu leben lohnt). Im Laufe der Zeit haben mehr als ein Dutzend Kollegen mitgemacht und Hunderte von Studierenden haben daran teilgenommen. Wir bilden Kleingruppen von höchstens 15 Studierenden, die sich am runden Tisch zusammensetzen und mit der Frage beschäftigen. Und wir lesen gemeinsam Texte von einer Handvoll Menschen aus den großen religiösen und philosophischen Traditionen, um für das Gespräch Akzente zu setzen. Ähnliche Diskussionen haben wir mit Menschen geführt, die in der Mitte oder am Ende ihrer beruflichen Laufbahn stehen. Und mit Häftlingen in einem staatlichen Gefängnis. Dabei behandeln wir die Life-Worth-Living-Diskussionen als ein langes Gespräch unter Freunden, mit ein wenig Hilfe von außergewöhnlich verständnisvollen Freunden aus der Vergangenheit.

Genau das werden wir auf den folgenden Seiten machen. Wann immer sich die Gelegenheit bietet, holen wir Menschen aus aller Welt und allen Zeiten hinzu, die sich der großen Frage gewidmet haben. Wir lassen sie reden und passen auf, was sie uns sagen können über das, was sich wirklich lohnt und warum.

Wir werden vom Buddha hören und von anderen wichtigen Persönlichkeiten religiöser und philosophischer Traditionen (Abraham, Konfuzius, Jesus und so weiter). Aber auch von weniger bekannten Menschen, die einer dieser Traditionen folgten, und von manchen unserer Zeitgenossen. Dieses Buch ist sozusagen ein Tisch im Seminarraum, der die Beschränkungen von Raum und Zeit überwindet. Irgendwie haben wir das Glück, mit all diesen Überfliegern zu studieren. Wir sagen unseren Studierenden in Yale immer: Je mehr ihr euch aufs Zuhören konzentrieren könnt, desto mehr werdet ihr davon haben.

Doch bevor wir nun weitermachen, wollen wir eine vierfache Warnung aussprechen. Sonst wird unser Seminartisch vielleicht zur Ursache gravierender Missverständnisse.

Der Großteil des Buches handelt davon, was andere Leute denken. Wir versuchen, das so gut wie möglich zu vermitteln. Wir werden deren Blickwinkel so überzeugend wie möglich darstellen. Aber das, was sie sagen, ist nicht unsere Überzeugung. Nicht alles, was wir hier vorstellen, ist das, was wir selbst glauben. Daher bitten wir dich, darauf zu achten, wann wir unsere eigenen Ansichten darstellen und wann wir beschreiben, was jemand anderer denkt. Das verhindert nicht nur Missverständnisse. Es schafft auch die Möglichkeit, dass du den dynamischen Austausch zwischen den verschiedenen Perspektiven genießen kannst, um den es uns geht.

Trotzdem sind wir nicht einfach nur möglichst neutrale Führer zu einem guten Leben. Niemand stellt sich der Frage aus dem Nichts heraus. Jeder von uns hat seinen eigenen Standpunkt. Daher möchten wir dir kurz beschreiben, aus welcher Ecke wir kommen. Wir sind alle drei Christen. Genauer gesagt, sind wir christliche Theologen (was heißt, dass es unser Job ist, über den christlichen Glauben nachzudenken), die in den Vereinigten Staaten leben und arbeiten. Wir haben (aus spezifisch christlichen Gründen) versucht, mit all den Stimmen an unserem Seminartisch unvoreingenommen umzugehen. Wir haben versucht, die Karten nicht in unserem Sinne zu mischen. Aber es wäre unaufrichtig, dir nicht zu sagen, woher wir kommen, sodass du von der Information den Gebrauch machen kannst, den du machen möchtest.

Wenn wir bestimmte Gesprächspartner an den Seminartisch holen, dann gehen wir nicht davon aus, dass sie stellvertretend für eine gesamte religiöse oder philosophische Tradition stehen. Niemand kann Jahrtausende schönster Tradition auf ein paar Seiten zusammenfassen. Nicht einmal in ein paar Büchern. Wir möchten nicht, dass du dieses Buch aus der Hand legst im Glauben, du verstündest jetzt den Konfuzianismus, den Utilitarismus oder das Judentum. Wir hoffen aber, dass dir dann bewusst ist, dass du dich mit einigen interessanten Dingen auseinandergesetzt hast, die bestimmte Menschen aus dieser Tradition gesagt oder getan haben. Und wenn die Freunde am Debattiertisch dich wirklich interessieren, kannst du ja mehr über sie herausfinden. (Das Gleiche sagen wir im Übrigen den Studierenden, die unser Seminar belegen.)Bitte gehe nicht davon aus, dass die Teilnehmer an unserem Gespräch sich durchgehend einig darüber sind, was sich wirklich lohnt. Das ist eine große Versuchung, vor allem für jene unter uns, die befürchten, dass religiöse und ideologische Unterschiede die sozialen, kulturellen und politischen Konflikte unserer Tage anheizen. Ein gemeinsames Herzstück, über das sich alle einig sind, wäre ein wunderbarer Ausweg. Aber leider gibt es das nicht. An dieser Stelle jedoch hilft uns das Bild vom Seminartisch weiter. Wer in den Geisteswissenschaften als Lehrer tätig ist, betritt den Seminarraum auch nicht mit der Vorstellung, dass die Studierenden schon alle das Gleiche denken. Oder dass sie am Ende der Unterrichtsstunde bzw. des Seminars das Gleiche glauben. Meinungsverschiedenheiten sind Teil des Formats. Zum Format gehört im Übrigen auch, dass bei einer Diskussion zwangsläufig jemand das letzte Wort hat – was nicht heißt, dass er oder sie die Frage entscheidet. Es heißt einfach nur, dass das Seminar vorüber ist. Das gilt auch für unseren imaginären Seminartisch. Es macht nun einmal jemand den Abschluss, aber das bedeutet nicht, dass dies die bestmögliche oder endgültige Antwort ist. Nur weil wir ein Kapitel mit einer bestimmten Sichtweise beenden, ist das noch lange »die richtige« oder die, die wir für »richtig« halten.

Okay, das wäre also geklärt. Nun geht’s los.

Pre-pos-ter-ous

Zufällig hat jeder von uns drei Autoren eine Tochter. Als Ryans Mädchen sechs Jahre alt war, lernte sie lesen und kam irgendwann an den Punkt, an dem sie lange Wörter lernte. Wörter wie pre-pos-ter-ous (etwa lä-cher-lich).

Ihre kleinen Sechsjährigenaugen richteten sich auf preposterous und sahen eine unaussprechliche, nicht enden wollende Buchstabenkette, die nur eines zu sagen schien: Vergiss es. Doch wenn du die große Schwester bist und deinem kleinen Bruder Das Buch ohne Bilder vorliest, gibst du nicht einfach auf und drückst Papa das Ding in die Hand. Schließlich ist das eine sehr ernste Aufgabe.

Und Ryans Tochter fand einen Trick, nämlich die lange, erschreckende Kette von Buchstaben in kleinere Happen zu zerteilen: pre-pos-ter-ous. Dieser phonetische Berg lässt sich erklimmen.

Wie wir bereits sagten: Die Frage ist eine Riesensache. Geradezu lächerlich riesig. Die Art von Frage, die uns dazu verleiten kann, das Handtuch zu werfen. Aber wenn du die oder der Große bist und verantwortlich für dein Leben, dann kannst du nicht einfach aufgeben und die ganze Angelegenheit jemand anderem überlassen. Das ist nämlich eine ernst zu nehmende Aufgabe.

Daher möchten wir dir hier den gleichen Trick empfehlen, den Ryans Tochter anwandte: Nimm die gewaltige, ernst zu nehmende Frage und brich sie auf handliche Stückchen herunter. Was für die Phonetik gilt, gilt auch für das lebensverändernde Nachdenken darüber, was wirklich lohnt – mehr oder weniger. Die handlichen Stückchen hier sind keine Silben. Es geht vielmehr um irgendwie kleinere, näher eingegrenzte Teilfragen, die individuelle Aspekte der einen Riesenfrage darstellen.

Zumindest gehen wir das in unserem Life-Worth-Living-Seminar so an. Und es funktioniert. Die Studierenden, die das Seminar zum ersten Mal besuchen, wissen nichts über die Frage, ja, sie wissen noch nicht einmal, dass es diese Frage gibt. Und sie wissen schon gar nicht, wie sich diese beantworten lässt. Am Ende aber haben sie einen Werkzeugkasten, der ihnen hilft, auf die Frage immer wieder zurückzukommen und für sich gute Antworten zu finden.

Genauso werden wir hier vorgehen. Wir werden uns in jedem Kapitel eine dieser Teilfragen vornehmen. Wir stellen sie vor, schauen, wer eine Idee für eine Antwort hat, und zeigen dann, wie sie sich noch beantworten lässt.

Was in diesen Kapiteln nicht vorkommt: eine Antwort auf die Teilfrage. Die zu finden ist deine Aufgabe. Es ist zwar wichtig, bei der Suche danach Freunde an seiner Seite zu haben, aber letztlich ist es allein deine Sache, eine Antwort auf die große Frage und all ihre Teilfragen zu finden.

Du allein

Wie frei sind wir in der Gestaltung unseres Lebens? Und wie viel Verantwortung tragen wir dafür?

Beim Kartenspiel Leben und Tod bekommst du zu Beginn eine Handvoll Karten. Wie jeder andere am Tisch. Du kennst deine Karten nicht, und du kannst auch nicht sehen, welche Karten deine Mitspieler haben. Jeder Spieler deckt nur die oberste Karte auf. Wer die höchste Karte hat, nimmt alle aufgedeckten Karten an sich und schiebt sie wieder verdeckt unter seinen Stapel. Wenn zwei oder mehr Spieler gleich hohe Karten aufdecken, legen sie vom Stapel so lange Karten auf, bis einer eine höhere hat als der andere.

Das Spiel ist erst zu Ende, wenn einer – unweigerlich und gnadenlos – alle Karten gewonnen hat.

In diesem Spiel müssen keine Entscheidungen getroffen werden. Es ist ein ziemlich simpler Ablauf. Jede Maschine könnte erkennen, welche Karte mehr zählt, und könnte das Spiel genauso gut spielen wie irgendein Mensch. Niemand trägt die Verantwortung dafür, wie das Spiel ausgeht.

Bei einer Runde Poker bekommst du, wie bei Leben und Tod, eine zufällige Reihe von Karten. Wie jeder andere Spieler am Tisch. Hier aber kannst du deine Karten sehen. Während das Spiel voranschreitet, geben die Spieler Wetten ab und Karten werden aufgedeckt, die die Spieler mit den ihren kombinieren können. Du hoffst dabei, mit deinen fünf Karten das höchste Blatt zu erzielen.

Es gibt Regeln, die eindeutig bestimmen, welches Blatt das beste ist. Und Regeln dafür, wie du in jeder Runde vorgehen kannst. Zum Beispiel Regeln dafür, wie viel bzw. wie oft du eine Wette abgeben kannst. Du kannst auch nicht einfach die Karten anderer Spieler aufdecken. Oder den Stapel neu mischen. Oder sonst was in der Richtung.

Beim Pokern hast du nicht die volle Kontrolle. Du kannst dir deine Karten nicht aussuchen. Oder die deiner Mitspieler. Auch deren Wetten sind nicht deine Sache, so wie es allein deren Sache ist, wie sie auf deine Wetten reagieren. Auch die Regeln des Spiels kannst du nicht beeinflussen. Der Großteil des Geschehens liegt nicht in deiner Hand.

Und doch bist du dafür verantwortlich, wie du deine Karten ausspielst. Du kannst das Ergebnis nicht festlegen. Das hängt vom Glück ab und davon, wie andere Spieler agieren. Trotzdem bist du nicht unbeteiligt, was das Ergebnis angeht. Wie das Spiel läuft, hängt nämlich auch davon ab, wie du mit der Situation umgehst, die du vorfindest. Du bist beteiligt. Und du bezahlst dafür, wie du dich beteiligst.

Es sieht also so aus, als hätten Leben und Tod bzw. Poker nicht viel gemein. In Ersterem scheinst du keine Wahl zu haben und damit auch keine Verantwortung. Beim Poker hast du begrenzte Möglichkeiten und daher auch Verantwortung. Der entscheidende Punkt ist: Selbst bei Leben und Tod hast du Verantwortung. Du bist zwar nicht einmal ansatzweise für das Ergebnis verantwortlich. Aber du bist verantwortlich dafür, wie du spielst. Bist du nett zu dem kleinen Kind, das auf der anderen Seite des Spieltisches einen Riesenspaß hat? Oder bist du sauer, weil es dich in diese deterministische Hölle hineingezerrt hat? Spielst du nach den Regeln? Oder schummelst du und mischst die Karten anders, während dein Mitspieler sich was zu essen holt? (Einer von uns hat das als Vierjähriger mal versucht. Es hat nicht geklappt.)

Ist das Leben nun eher wie Pokern oder wie Leben und Tod? Wie viel Raum lassen uns die »Regeln« des Lebens? Schwer zu sagen. Es gibt für beide Seiten überzeugende Argumente. Aber ganz egal, wo unser Leben in dem Spektrum zwischen Leben und Tod bzw. Poker landet, zwei Punkte sind wichtig. Erstens: Du hast immer eine gewisse Verantwortung dafür, wie dein Leben läuft (also dafür, ob du gewinnst oder verlierst oder wie du das Spiel spielst). Zweitens: Diese Verantwortung hat ihre Grenzen. Sie gilt nicht uneingeschränkt. So kannst du beispielsweise nicht beeinflussen, wo du geboren wirst. Diese umwerfend komplizierte Welt bestimmt immer wieder, in welcher Situation du dich befindest. Und auch das Endergebnis bestimmst nicht du. (Muskelschmalz und Mumm garantieren noch lange keinen Erfolg. Das ist ein amerikanischer Mythos, der obendrein noch ziemlich schädlich ist.)

Nicht einmal wer du bist, liegt ganz in deiner Hand. Jeder Mensch macht Erfahrungen, die ihn auf eine Weise prägen, die er sich nicht ausgesucht hat. In vielen wichtigen Dingen müssen wir uns damit abfinden, wer wir sind.

Du bist kein allmächtiger Diktator. Du hast nicht immer das letzte Wort. Das leuchtet wohl ein.

Aber um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: Du bist auch nicht aus Stein. Ein Stein reagiert nicht darauf, wer ihn in die Hand nimmt, zurechtklopft und dann als Teil eines Gartenweges verwendet.6 Du aber reagierst auf begrenzte, doch sehr reale Weise auf das, was dir widerfährt und was um dich herum vorgeht. Du spielst dein Blatt aus.

Du bist auch kein Hamster. Ein Hamster reagiert, wenn ihn jemand aufnimmt. Möglicherweise gibt es da sogar einen Moment, in dem er entscheidet, was er tut. Aber ein Hamster kann sich nicht fragen, wie er reagieren sollte. Du kannst das. Und weil du das kannst, bist du verantwortlich dafür, ob du es tust oder nicht.

Aber auch hier gibt es Grenzen. Die alten Maya konnten sich nicht einfach dafür entscheiden, die Erleuchtung zu suchen oder Jesus nachzufolgen oder nach sozialer Gerechtigkeit zu streben, weil es im Leben darum geht. Diese Möglichkeiten waren für sie nicht mal denkbar. Trotzdem liegt auch darin eine gewisse Verantwortung. Nur weil es einen Weg gibt, dem alle folgen, heißt das nicht, dass du nicht verantwortlich dafür bist, ob du ihnen das auch gleichtust. Nur weil es eine Standardversion des guten Lebens gibt, die auf Menschen wie dich zutrifft, bedeutet das noch lange nicht, dass du nicht die Verantwortung dafür trägst, ob du diese zu deiner eigenen Vision machst.

Das ist die wohl grundlegendste Form der begrenzten Verantwortung, die dein Leben kennzeichnet.7 Die Verantwortung, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden, welche Art des Lebens sich anzustreben lohnt – die Verantwortung, die eigentliche Frage zu erkennen und sie zu beantworten.

Es ist so schlecht, wie du denkst (und das ist gut)

Das weitaus bekannteste Wort Jesu in unserer Zeit ist wohl dieses: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.«8 Und das liegt nicht zuletzt daran, dass manche zeitgenössischen Christen nichts lieber tun, als andere zu richten. Wir schrecken vor dem Richtspruch zurück – vor allem, wenn es um unser Leben als Ganzes geht. Unsere größte Angst, wenn jemand einen Teil unseres Lebens beurteilt, ist, dass er über das Ganze urteilt.

In diesem Buch geht es darum, dass unsere größten Ängste wahr sind. Unser Leben – nicht nur der ein oder andere Aspekt, sondern das allumfassende Ganze – unterliegt einer Beurteilung. Wer darüber urteilt und nach welchen Kriterien – das sind wichtige Fragen. Wir werden sie auf den folgenden Seiten aufgreifen. Aber wir beginnen mit der Vorstellung, dass unser Leben als Ganzes erfolgreich sein oder scheitern kann. Einige der Dinge, die wir tun oder eben nicht, stehen für Erfolg oder Scheitern, und zwar nicht nur im Hinblick auf einen Lebensaspekt, sondern auf unsere Menschlichkeit insgesamt.

Aber dieses Buch will auch vermitteln, dass es gut ist, dass in unserem Leben so viel auf dem Spiel steht. Der Sinn und der Reichtum des Lebens, wie wir es hier und jetzt kennen und führen, gründen auf diesem Ernst. Ein Spiel um die Meisterschaft ist wichtiger als ein flottes Herumkicken auf dem Bolzplatz, weil es um mehr geht. Noch elementarer ist die Tatsache, dass unser Leben deshalb so wertvoll ist, weil es unser einziges ist. Die meisten Traditionen gehen davon aus, dass wir nur dieses eine haben. Und dass nichts wertvoller ist. Erfolg oder Scheitern im gesamten Leben, das ist das Wichtigste, was wir anpacken können.

Vor allem Architekt

Albert Speer (1905–1981) war ein intelligenter junger Mann und ein brillanter Architekt. Als Hitler ihm den Posten des Generalbauinspektors für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei anbot, war er noch nicht mal 30 Jahre alt. Es war ein Angebot, das er seiner Ansicht nach nicht ausschlagen konnte. Und er war, wie er selbst sagte, »vor allem Architekt«. Und Hitler bot ihm an, »Bauwerke zu errichten, wie sie in den letzten 2000 Jahren nicht mehr entstanden sind. Man müsste schon moralisch ein vollendeter Stoiker sein, um dieses Angebot zurückzuweisen«, schrieb Speer Jahre später. »Und ich war nicht so.«9

Also sagte er Ja. Und dann beteiligte er sich (stärker, als er selbst je eingestand) an einigen der unfassbarsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Er unterstützte die deutschen Kriegsanstrengungen, setzte Zwangsarbeiter ein und förderte den Holocaust. Und nebenher schuf er tatsächlich spektakuläre Bauwerke.

Albert Speer besaß tatsächlich eine gewisse Bedeutung. Das lag daran, dass er »vor allem Architekt« war. Diese bemerkenswerte Hingabe machte ihn zu einem außergewöhnlich guten Architekten. Aber zu dieser Bedeutsamkeit gehören auch die Gräueltaten seines Lebens, denn dieselbe bemerkenswerte Hingabe ließ ihn auch zu einem außergewöhnlich schlechten Menschen werden.

Es ist möglich, dass wir unsere höchsten Ziele erreichen und trotzdem als Menschen scheitern.

Es gehört zu den schönsten Seiten des Menschseins, dass wir die große Frage stellen können und die Antwort darauf in unserem Leben umsetzen. Diese Fähigkeit macht beides möglich: das Gute und das Schlechte unserer Menschlichkeit, die Wahrheit und Falschheit in unserem Leben.

Vielleicht werden nur wenige von uns je in die Lage kommen, so katastrophal zu scheitern wie Albert Speer. Vermutlich stehen wir nie vor der Frage, ob die Befriedigung unseres persönlichen Ehrgeizes es wert ist, sich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu beteiligen. Und wir können der schrecklichen Antwort, die Speer darauf gegeben hat, entgehen. Aber vielleicht werden wir unserer Menschlichkeit auch schlicht deshalb nicht gerecht, weil wir nach nichts Besonderem streben. Und doch hat jeder von uns auf die ein oder andere Weise für die Art seines Lebens Rechenschaft abzulegen. Genügt es, darauf zu bauen, dass wir, wenn wir kein menschliches Leben führen können, zumindest nicht grandios scheitern werden? Oder sollten wir uns stattdessen nicht der großen Frage zuwenden und uns Mühe geben, sie nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten? Damit wir Menschen werden, deren aufrichtiges Bekenntnis nicht lautet: »Ich war vor allem Architekt«, sondern: »Ich war vor allem Mensch«?

Wie du dieses Buch lesen solltest

Wir hoffen, du bist jetzt überzeugt, dass es die Zeit und die Energie wert ist, sich mit unserer entscheidenden Frage auseinanderzusetzen. Wenn die Gestalt unseres Lebens auf dem Spiel steht, ist ernsthaftes Reflektieren gefordert. So weit, so gut, aber eine Unterscheidung möchten wir hier noch anstellen: Sich ernsthaft mit der Frage auseinanderzusetzen ist eine Sache. Dies durch Lesen, Schreiben und Nachdenken zu tun, eine völlig andere. Uns ist durchaus klar, dass nicht jeder Mensch die Gelegenheit hat, über die Frage so nachzudenken, wie wir es hier vorschlagen. Strukturelle Ungleichheiten, auch der Lebensumstände, können das unmöglich machen. Die meisten Menschen haben sich im Laufe der Geschichte gefragt, was wichtig ist und warum, was ein gelingendes Leben ist und welche Art zu leben sich wirklich lohnt. Und viele von ihnen haben das geklärt, ohne Bücher zu konsultieren und ihre Gedanken niederzuschreiben. Nicht wenige von ihnen mussten sich währenddessen mit allerlei Widrigkeiten herumschlagen. Für Millionen Menschen gilt das heute noch.

Doch es gibt auch die Millionen jener, die sich die Frage gar nicht stellen können, weil sie dabei an intellektuelle oder andere Grenzen stoßen. Als wir noch sehr jung waren, galt das im Übrigen für uns alle. Und viele von uns wird die Demenz um diese Fähigkeit bringen. Es gibt keine wichtigere Menschheitsfrage als diese, was aber nicht heißt, dass du kein Mensch bist, wenn du nicht in der Lage bist, dich damit auseinandersetzen.

Was bedeutet: Es ist bereits ein gewisses Privileg, dass du diese Seiten lesen kannst: In diesem Augenblick hast du Fähigkeiten und Möglichkeiten, über die nicht jeder verfügt. Wir möchten dich ermutigen, dieses Privileg ernst zu nehmen und davon Gebrauch zu machen. Hier einige Empfehlungen, wie du deine Lektüre entsprechend einrichten kannst:

Lies die Kapitel in der vorgegebenen Reihenfolge. Die fünf Teile des Buches zeichnen eine Entwicklung nach. Die einzelnen Kapitel bauen aufeinander auf. Du wirst von deiner Lektüre am meisten profitieren, wenn du diesem Weg folgst, statt vor- und zurückzublättern, je nachdem, was dich gerade am meisten interessiert. Wir haben die große Frage in überschaubare Teilfragen aufgeteilt, aber das Ganze ist schließlich kein Wühltisch.Finde ein Tempo, das dir liegt. Möglicherweise kommst du besser zurecht, wenn du langsam vorgehst. Oder es überkommt dich und du liest quasi in einem Atemzug ein Kapitel nach dem anderen. Beides ist gut! Wir möchten dich nur darauf hinweisen, dass es wenig Sinn hat, das Buch durchzulesen und dann für immer wegzulegen. Die große Frage ist kein Punkt auf einer To-do-Liste. Wir können sie nicht abhaken und dann wieder zur Tagesordnung übergehen. Für welches Lesetempo du dich auch entscheidest, lass dir genug Raum, um die Frage und die möglichen Antworten wirken zu lassen. Es ist schließlich keine Schande, einen Absatz, eine Seite oder ein Kapitel zwei Mal zu lesen. Überlege dir, ob du dir während der Lektüre Notizen machst. So kannst du dich aktiv auf die Fragen und Stimmen einlassen, denen du begegnest. Wo du deine Gedanken festhältst, ist nicht von Belang. Wenn du willst, mach deine Anmerkungen direkt im Buch (wenn es nicht gerade ein Bibliotheksbuch ist). Uns würde es freuen. Wir sind Akademiker und daher Fans von Unterstreichungen, Hervorhebungen und Randbemerkungen. Oder du schreibst alles, was dir dazu einfällt, in ein Tage- oder Notizbuch. Da bietet sich auf jeden Fall mehr Platz. Am Ende jedes Kapitels findet sich ein Abschnitt »Du bist dran!«. Dort findest du Fragen und Anregungen, die deine höchstpersönliche Reflexion anstoßen können. So hast du Gelegenheit, deinen Reaktionen, Gedanken und Überzeugungen auf den Grund zu gehen. Oder Stichworte, die zu Samen für tiefschürfende Gespräche mit anderen Menschen werden können. Was uns zum nächsten Tipp bringt …Sprich mit anderen Menschen über die Gedanken, die sich beim Lesen einstellen. Die Frage lässt sich am besten im Dialog stellen, sowohl mit Menschen, die deiner Meinung sind, als auch mit anderen, mit denen du nicht übereinstimmst. Nur der Klarheit halber: Es geht nicht darum, dass ihr über dieses Buch redet. Unterhaltet euch lieber über die Fragen und Ideen, die es aufwirft (und darüber, welche Art zu leben es anspricht). Trotzdem kann es schön sein, eine fortlaufende Gesprächsgruppe zu haben, deren Teilnehmer sich mit den gleichen Fragen beschäftigen. Wenn sich das gut anhört, dann denk darüber nach, eine Lesegruppe zu gründen, bei der ihr euch (online oder persönlich) trefft, um euch über eure Leseerfahrung zu unterhalten. Dafür haben wir einige Tipps, die du (in englischer Sprache) auf: lifeworthlivingbook.com findest.Und schließlich: Lass dir Zeit. Wir haben gezeigt, was bei der Frage auf dem Spiel steht und wie ernst sie ist. Und es ist nur allzu wichtig, darauf hinzuweisen, denn sonst geht man an der Frage leicht vorbei. Aber bitte setz dich nicht unter Druck. Ein Buch zu lesen, wird die Frage für uns nicht »beantworten«. Darum geht es nicht bei der Lektüre (und ging es auch nicht beim Schreiben) dieses Buches. Die Auseinandersetzung mit der Frage ist ein lebenslanger Prozess. (Wir als Autoren können sagen, dass unsere persönliche Antwort darauf sich im Laufe des Schreibprozesses immer wieder geändert hat.) Wir hoffen, dieses Buch bietet dir etwas Verlässlicheres als nur eine Antwort. Wir hoffen, es hilft dir, die große Frage und ihre Teile besser zu verstehen. Wenn du hinterher in der Lage bist, präzisere, tiefgreifendere und facettenreichere Formen dieser Frage zu stellen, dann ist schon viel gewonnen. Das liegt einfach daran, dass wir hier versuchen, gemeinsame Reflexionsgewohnheiten zu bilden und Fähigkeiten herauszukitzeln, die die ernsthafte Arbeit daran erleichtern. Zu guter Letzt hoffen wir, dass du hier auf Rohdiamanten stößt, die du im Laufe der Zeit immer präziser schleifst, sodass sie zur überzeugenden Antwort auf die Frage werden. Also noch einmal: Das Ziel ist nicht, die große Frage ein für alle Mal zu beantworten. Das Entscheidende ist, dass du anfängst, dich mit ihr zu befassen. Und darum geht’s jetzt los.

Du bist dran!

Wir laden dich hiermit ein, die Arbeit aufzunehmen, indem du Bestandsaufnahme machst. Die nachfolgenden Fragen sollen dir aufzeigen, wo du jetzt stehst – dir einen Einblick verschaffen, wie du in deinem Leben die große Frage indirekt bereits beantwortest. Die Übungen weiter unten werden sich immer wieder auf deine Antworten hier beziehen. Also nimm dir ruhig ein wenig Zeit für diesen Abschnitt. (Keine Angst: Die Übungen weiter unten fallen kürzer aus.)

Bei der Beantwortung solltest du darauf achten (ohne das zu bewerten), welche Fragen du sofort beantworten kannst und auf welche sich die Antworten erst nach einiger Reflexion einstellen. Halte deine Beobachtungen schriftlich fest, in einem Notizbuch oder in deinem Tagebuch vielleicht. Notiere sie dir, ganz wie du magst: in Stichworten, als Notizen, Sätze oder längere Texte. Wie immer es dir am besten hilft.

Nun richtest du den Blick zuerst auf dich selbst. Was ist mit dir los, jetzt in diesem Augenblick? Frage dich:

Wie fühlt sich mein Körper an?Was sind meine vorherrschenden Gefühle?Welche Gedanken beschäftigen mich?

Im nächsten Schritt schaust du dir einige wichtige Aspekte deines Lebens an: worin du Zeit, Geld und Aufmerksamkeit investierst. Sieh dir die Quellen an, die dir darüber Aufschluss geben können: deinen Terminkalender, die Aufstellung deiner Ausgaben in den letzten Wochen, deinen Newsfeed. Denke über die folgenden Aspekte deines Lebens nach:

Zeit

Wie verbringst du deinen Tag?Was machst du regelmäßig: einmal in der Woche, im Monat, im Jahr?Wie viel Zeit hast du danach noch übrig? Wie viel Ruhe gönnst du dir? Wie viel Zeit bleibt für soziale Kontakte? Oder für deine spirituelle Praxis?

Geld

Wofür gibst du regelmäßig am meisten aus?Für wen gibst du Geld aus?Wann packt dich der Kaufrausch?Für welche Organisationen spendest du?

Aufmerksamkeit

Was ist das Erste, was du morgens nach dem Aufwachen hörst, liest oder denkst? Auf welchen Webseiten bist du unterwegs?Welche Apps auf dem Handy nutzt du am meisten?Welche Stimmen und Meinungen sind in deinem Leben am stärksten präsent? (Kolumne in der Zeitung, Fernsehen, Podcasts, Radiosendungen) Welchen Menschen folgst du in den sozialen Medien? Was sagen diese Stimmen?Was ist das Letzte, was du liest, hörst oder überlegst, bevor du zu Bett gehst?

Schreib bei jeder dieser Fragen ohne Bewertung auf, was dir einfällt – deine Beobachtungen, ob nun groß oder klein, bedeutsam oder scheinbar unbedeutend. Du sammelst einfach nur Fakten.

Nun machen wir das Gleiche mit deinen vorherrschenden Gefühlen. (Also nicht nur die des Augenblicks, sondern die Gefühle, die normalerweise in deinem Leben prägend sind.)

Was sind deine größten Hoffnungen für dich selbst? Für deine Gemeinschaft? Für die Welt?Was sind deine größten Ängste?Was macht dir Freude?Was verschafft dir inneren Frieden?Welche Erinnerungen lösen Gefühle von Reue oder Enttäuschung aus? Welche Erinnerungen schenken dir ein Gefühl der Befriedigung oder des Vergnügens? Wobei überfällt dich ein Gefühl von Scham?

Gut, nun tritt einen Schritt zurück. Wenn jemand nun diese Bestandsaufnahme ansehen würde (was nicht nötig ist, wenn du das nicht willst) und dein Leben in einem Satz zusammenfassen müsste: Wie würde diese Person den folgenden Satzanfang vervollständigen: »Vor allem war sie/er … «?

Wie würde es dir mit dieser Antwort gehen? Wie sollte der Satz deiner Ansicht nach enden?

Keine Sorge, wenn beides sich nicht deckt. Wir stehen am Beginn deiner Reise. Es mag unbequem sein, aber einen gewissen Grad an »Heuchelei« einzugestehen, kann an diesem Punkt wirklich hilfreich sein. Der einfachste Weg, kein Heuchler zu sein, ist es, deine Erwartungen herunterzufahren, sodass sie mit deinem Leben übereinstimmen. Es erfordert einigen moralischen Mut, einerseits an deinen Wertmaßstäben festzuhalten und dir andererseits einzugestehen, dass du hinter ihnen zurückbleibst.

Wenn du dieses Buch zusammen mit einer vertrauenswürdigen Freundin oder einem Freund liest oder in der Gruppe (wir sind alle der Meinung, dass man sich diesen Fragen am besten in einer Gruppe von Wahrheitssuchern stellt.), dann überlege dir, ob du deine Einsichten teilen möchtest.

1 Was sich zu wollen lohnt

Es kann erstaunlich schwierig sein, diese Frage zu beantworten. Im einen Moment scheint uns die Antwort ganz klar, im nächsten schlüpft sie uns zwischen den Fingern hindurch. Diskussionen über die Art von Leben, welche unseres Menschseins würdig ist, enden schnell in Plaudereien über Tipps und Tricks für ein langes, glückliches und gesundes Leben. Eine Frage über den Kern eines Lebens, das sich zu führen lohnt, wird letztlich zur Frage danach, welche Art von Leben wir haben wollen.

Aus all den Einrichtungen, wo wir dieses Gespräch geführt haben, sticht eine besonders hervor, weil sich dort diese Frage tatsächlich vorbehaltlos stellt. Die Studierenden des Life-Worth-Living-Programms, die hinter den Betonmauern der Strafanstalt Danbury Federal Correctional Institution, eines US-Bundesgefängnisses, einsitzen, haben die wenigsten Probleme mit der Unterscheidung zwischen dem, »was ich will« einerseits, und dem, »was sich zu wollen lohnt« andererseits. Sie verstehen sich selbst als in gewissem Sinne »Kriminelle«. (Matt nannte sie einmal versehentlich – und mit rot angelaufenem Gesicht – so, und sie akzeptierten diese Bezeichnung durch die Bank.) Das heißt, dass sie von der Annahme ausgehen, dass sie für einen wesentlichen Teil ihres Daseins ohne irgendwelche Zweifel einer fehlgeleiteten Vision vom Leben folgten. Es war mehr oder weniger genau das, was sie wollten, allerdings war es nicht, was sich zu wollen lohnte. Damit hatten die Männer der Danbury Strafanstalt einen deutlichen Vorsprung gegenüber ihren Life-Worth-Living-Mitstudierenden von »außerhalb«.

Während wir uns der Herausforderung stellen, auf diese Frage eine Antwort zu finden, möchten wir dir gleichzeitig helfen, zwischen ähnlichen, aber in wichtigen Punkten doch unterschiedlichen Problemstellungen zu unterscheiden, die sich ganz selbstverständlich ergeben werden, wenn wir auf die große Frage eingehen, bei der die Antwort sich uns nur zu allzu leicht entzieht.

Zu diesem Zweck werden wir vier verschiedene Daseinsmodalitäten beschreiben, die jeweils zu einer ganz bestimmten Fragestellung passen. Sie zu klären, wird dir helfen, mit den Fragen zurechtzukommen, mit denen wir uns beschäftigen werden. Eine dieser Daseinsmodalitäten ist reaktiv – eine sich im Körper spontan entfaltende Aktivität. Wir nennen das auch »Autopilot«. Die anderen drei sind reflexiv. Wir nennen sie »Effektivität«, »Selbstgewahrsein« und »Selbsttranszendenz«. Zu jedem dieser Punkte gehört eine bestimmte Fragestellung. Es gibt also vier Daseinsformen und vier Fragen. Keine der Daseinsmodalitäten ist an sich schlecht. Alle vier brauchen einander.

Wir erleben diese vier Modalitäten als »Schichten«. Unsere Verbindung mit ihnen kann man als einen Tauchgang sehen, der in immer größere Tiefen vorstößt. Da ist die Oberflächenschicht, auf welche die verschiedenen Unterwasserzonen folgen, deren jede ganz eigene Merkmale aufweist. Wie beim Tauchen durchmessen wir aneinandergrenzende Schichten eher, statt sie zu überspringen. Wenn wir uns auf eine tiefgründige Reflexion einlassen – was wir auf jeden Fall müssen! –, dann dringen wir zu den tieferen Schichten vor. Wenn wir uns dem Handeln zuwenden – was wir ebenfalls müssen! –, wechseln wir in die »oberflächlicheren« Bereiche über.

Wie jede Schicht sich äußert, hängt ab von den Antworten, die wir auf den vorhergehenden Ebenen gegeben haben – selbst oder gerade dann, wenn die Fragen, die sich dort stellten, nicht explizit beantwortet wurden. Blieb eine dieser Fragen unbeantwortet, dann zeigen sich uns in allem, was wir tun, sagen und denken, Spuren dieser Antwort – worauf wir vermutlich nie gekommen wären. Wir leben die Antworten auf tiefgründige Fragen Tag für Tag, selbst wenn wir diese Antworten nicht ausformulieren könnten, wenn man uns danach fragt. Ein Grund mehr, tief einzutauchen und sich ans tiefe Wasser zu gewöhnen.

Doch es wäre gemein, dich einfach so ins kalte Wasser zu werfen, ohne dir vorher zu sagen, was dich dort erwartet. Daher gibt dieses Kapitel dir vorab einen Überblick über die vier Schichten.

Leben an der Oberfläche: Autopilot

Die Oberflächenschicht nennen wir auch »Autopilot«. Wenn wir uns nur in dieser Schicht bewegen, wissen wir nie, warum wir etwas tun. Wir machen es einfach, weil wir das nun mal tun. Diese Schicht hat mit spontanen körperlichen Äußerungen zu tun: Reflexe und Gewohnheiten. Man lebt hier das Leben mit dem Wissen, das in unseren Muskeln und Knochen gespeichert ist. Die Maschinerie unserer – individuellen und kollektiven – Leben dreht sich einfach immer weiter und wir kommen gar nicht auf die Idee zu fragen, wie oder warum.

Wir verbringen einen Großteil unseres Lebens an der Oberfläche. Und das ist auch ganz in Ordnung so. Wenn das Leben an der Oberfläche gut läuft, sind wir in einer Art »Flow«. Wir führen ein Leben, das unserer gemeinsamen Menschlichkeit würdig ist. Wir sind fest verankert in dieser Reibungslosigkeit, ganz versunken in unser Tun, das wir auf dem Effeff beherrschen. Im besten Fall ist das, was wir reflexartig tun, darauf abgestimmt, uns die Ergebnisse zu liefern, die wir uns wünschen. Und das, was wir wünschen, ist des Wollens wert. In diesem Fall spiegelt unser reflexhaftes Leben unsere tiefsten Werte wider – und das, was unabhängig von unseren Werten wahr ist. Wenn dem so ist, gehören wir zu den Menschen, die der griechische Philosoph Aristoteles (385–323 v. u. Z.) als »weise« bezeichnen würde. Wir besitzen die praktische Weisheit, die einen guten Zimmermann auszeichnet.10 In unserem Fall aber geht es nicht darum, wie man einen Stuhl zimmert, sondern wie wir unser Leben gestalten.

Aber dieser Zustand des tugendhaften »Flow« ist nicht die einzige Zeit, in der wir tun, was wir tun, weil wir es eben tun. Wir leben reflexhaft, wann immer wir über unser Tun nicht nachdenken. Das aber ist Sokrates berüchtigtes »Leben ohne Selbsterforschung«, von dem er meinte, es sei nicht wert, gelebt zu werden.11 Diese Schicht ist also auch der Ort für alles, was wir im kollektiven Leben – z. B. in einem Unternehmen, für das wir arbeiten – begründen mit: »weil wir das immer schon so gemacht haben«. Und wir leben nicht nur in der Gruppe so, denn der Autopilot schaltet sich auch ganz individuell ein. Wenn wir uns von der tieferen Reflexion abschneiden, dann wird die Reflexhaftigkeit zur geistlosen Routine. Die Maschine rattert immer weiter, aber wir haben keine Ahnung, wieso – was sehr verstörend sein kann.

Unmittelbar unter der Oberfläche: Effektivität

Wir haben diesen wenig hilfreichen Modus des Autopiloten vermutlich alle schon erlebt. Das Gefühl festzustecken, bringt uns dazu, einen Schritt zurückzutreten und unsere Gewohnheiten zu überprüfen. Vielleicht kennst du ja auch das Gefühl der Erleichterung, wenn jemand plötzlich herausplatzt und fragt: »Aber bringt uns das, was wir tun, auch das, was wir wollen?« Oder: »Gibt es nicht bessere Wege, um zu verwirklichen, was wir uns wünschen?« In welchen Worten sie auch gestellt sein mag, dies ist die Frage nach der Effektivität, dem Herzstück des »Optimierungsdenkens«, das heute so in Mode ist.

Wenn der Autopilot nicht funktioniert, ist die Frage nach der Effektivität tatsächlich eine enorme Erleichterung. Wir sind in der Lage, einen Schritt zurückzutreten und über unser Tun nachzudenken, uns zu überlegen, ob es uns tatsächlich ans gewünschte Ziel bringt. Dies ist meist ein Wendepunkt im Leben von Menschen und Organisationen, weil wir veranlasst werden, unseren Alltag auf unsere Ziele hin auszurichten.

Außerdem hat die Reflexion in dieser Schicht etwas Unsentimentales, das sehr hilfreich ist. »So haben wir das schon immer gemacht« hat als Argument ausgedient. Neue Abläufe sind erforderlich. Neue Methoden werden ausgebildet. Wenn wir richtig vorgehen, dann optimieren unsere Überlegungen in dieser Schicht unser tägliches Tun und lenken unsere Energien in sinnvolle Bahnen. Als Team sagen wir dann: »Wir ziehen alle an einem Strang.« Nach eingehender Reflexion in dieser Schicht können wir wieder zum reflexhaften Leben zurückkehren im sicheren Wissen, dass unsere neuen Gewohnheiten uns die Ergebnisse bringen, die wir uns wünschen.

Der Nachteil dieser Art von Überlegungen allerdings ist, dass sie »ziel-agnostisch« sind. Zu keinem Zeitpunkt stellt sich die Frage, ob unsere Ziele auch die richtigen sind – oder überhaupt die unseren. Ein effizientes System bringt uns mehr von dem, was wir wollen – was immer das auch sein mag. Und das kann durchaus gefährlich sein, wenn wir nicht eingehend darüber nachgedacht haben, was wir wirklich wollen. Eine effektive Strategie zur Verwirklichung unserer beruflichen Ziele, die unsere wichtigsten zwischenmenschlichen Beziehungen vernachlässigt, ist für unser Leben schlechter als eine ineffektive. Wenn die Ziele schlecht gewählt sind, dann sind bessere Mittel, sie zu erreichen, wohl kaum die richtige Lösung.

Das Beispiel von den beruflichen Zielen, die das Privatleben überwuchern, hört sich vielleicht etwas überspitzt an, aber Tatsache ist, dass wir häufig nicht tiefer gehen als bis in die zweite Schicht. Die Frage nach der Effektivität halten heutzutage viele Menschen für die wichtigste überhaupt. Fasziniert bewundern wir all jene Menschen, die den Aufstieg schaffen. Das Silicon Valley begeistert viele Menschen, weil seine Unternehmen Produkte und Dienstleistungen ausspucken, mit denen man fast alles erreichen kann. Es gibt solche Meister der Effektivität. Von denen wir glauben, sie seien auch die Meister dessen, was wirklich zählt.

Doch eines sollte uns klar sein: Es gibt Wichtigeres als Effektivität. Eine der großen Täuschungen des 21. Jahrhunderts ist es, dass die Frage nach der Effektivität die tiefgründigste ist, die wir uns stellen können. Die Wahrheit ist vielmehr die: Heutzutage ist die Frage nach der Effektivität die tiefgründigste, welche das Gros der Menschheit beantworten kann.

Noch einen Schritt tiefer: Selbstgewahrsein

Doch die meisten Menschen haben gespürt, wie hohl diese Effektivität mitunter ist. In diesen Momenten wird uns bewusst, dass das nicht alles sein kann. Es ist ja wunderbar, wenn wir wissen, wie wir mehr von unseren Wünschen verwirklichen können, doch die viel wichtigere Frage ist doch: Was wollen wir wirklich? Was wünschen wir uns eigentlich? Wohin sind wir unterwegs?

Das ist die Frage nach dem Selbstgewahrsein. Sie lädt uns ein zur Introspektion. Raus aus der Geschäftigkeit des Autopiloten, weg von der kühlen Kalkulation unserer Strategien und hinein ins Private. Wir richten den Blick nach innen. Wir hören auf, uns von den Dingen ablenken zu lassen, die leicht zu haben sind. Stattdessen fragen wir, was wir tief drin tatsächlich wollen. Wir machen Bestandsaufnahme dessen, was uns am meisten wert ist.

Die Frage des Selbstgewahrseins kommt nicht so schnell an ein Ende. »Was will ich? Mehr Autorität im Beruf. Warum will ich das? Was will ich wirklich, wenn ich mir das wünsche? Vielleicht ein Gefühl der Effizienz. Und das Bewusstsein, dass die Menschen mich respektieren. Aber warum wünsche ich mir Effizienz und Respekt?« Und so weiter. Je tiefer wir graben, desto klarer wird uns: Was wir wirklich wollen, sind keine konkreten Dinge, Resultate, Gefühle oder Charakterzüge. Es ist sehr viel ganzheitlicher. Was uns antreibt, ist unsere Vision von einem guten Leben – eine umfassende Antwort auf die entscheidende Frage. Irgendwo tief in uns lebt die Vision eines Lebens, das wir für uns und unsere Gemeinschaft wollen – was vielleicht am klarsten wird in dem, was wir für unsere Kinder oder die jungen Menschen wollen, die uns wichtig sind. Diese Vision ist breit gefächert. Wenn wir von der »Vision eines guten Lebens« reden, ist damit keine Auflistung aller Einzelheiten gemeint, die wir damit gedanklich verbinden. Wir meinen vielmehr die groben Züge. Das, was wir als gut geführtes Leben betrachten, als lohnendes Leben, als Leben, das sich genauso anfühlt, wie es sich anfühlen sollte.

Doch selbst wenn wir uns auf die groben Züge beschränken, hat dieses Leben doch eine spezielle Ausprägung. Vielleicht wünschen wir uns ein mutig geführtes Leben. Oder eines, das Raum für andere Menschen lässt. Vielleicht finden wir ein Leben erstrebenswert, in dem es uns an nichts fehlt. Oder eines, in dem wir einfach nur von allem genug haben. Wollen wir ein Leben voll ekstatischer Freude oder lieber eines in friedvoller Gelassenheit? Wünschen wir uns ein unabhängiges Leben? Oder eines, in dem eine wechselseitige Abhängigkeit alle verbindet? Die Wahlmöglichkeiten sind grenzenlos. Und die Wahl obliegt uns.

Die Schicht des Selbstgewahrseins kann einsam machen. Je tiefer wir in unsere intuitiven Einsichten und Vorlieben eindringen, desto deutlicher wird, dass diese Vision eines guten Lebens – sowie unsere Gründe dafür – allein die unsere ist. Selbst wenn wir diese Überlegungen in der Gruppe anstellen, merken wir, dass unser kollektiver Wunsch unweigerlich nur uns betrifft. Für alle Menschen außerhalb unserer Gruppe ist er vielleicht nicht annähernd so reizvoll, ja möglicherweise nicht einmal verständlich.

Wenn wir integer leben wollen, müssen wir unser Leben – unsere Effektivitätsstrategien und unsere reflexhaften Gewohnheiten – auf diese Vision ausrichten. Die Aufgabe, die sich auf der Ebene des Selbstgewahrseins stellt, besteht darin, unser Leben bewusst und gezielt auf das hin zu lenken, was unser Herz stillschweigend und automatisch immer schon wollte.

Am Grund: die Selbsttranszendenz

Ein Leben, das sich bewusst an den tiefinnersten Herzenswünschen orientiert, hört sich ziemlich gut an. Dieses Selbstgewahrsein, diese Integrität zu verwirklichen ist eine echte Leistung. Doch sogar, wenn wir unseres Selbst tatsächlich gewahr geworden sind, kann es sein, dass sich ein nagendes Gefühl der Unzufriedenheit einstellt. Diese Erfahrung kommt in zweierlei Gewand daher.

Da ist einerseits das »Erfolgs«-Szenario. Wir haben es geschafft, unser Leben auf das auszurichten, was wir wirklich wollen. Und bekommen dies größtenteils auch. Und doch – irgendetwas fehlt. Zugegeben, das ist ein Luxusproblem. Die klassische Fragestellung der Midlife-Krise bei all denen, die das »Glück« haben, sie zu erreichen. Viele Menschen widmen ihr Leben dem Erklimmen einer Leiter, nur um ganz oben festzustellen, dass die Leiter gegen die falsche Wand gelehnt war.12

Doch das obere Ende der Erfolgsleiter ist nicht der einzige Ort, wo wir dieser Einsicht begegnen können. Es gibt auch Momente, in denen die Frustration darüber, ausgeschlossen zu sein von dem, was man uns als »gutes Leben« verkauft hat, eine ganz ähnliche Sorge erweckt: Da stehen wir nun und drücken uns am Schaufenster des Lebens die Nase platt, nur um uns zu fragen, ob das verführerisch glänzende Objekt dahinter tatsächlich all die Anstrengung wert war. Ta-Nehisi Coates drückt sich ganz ähnlich aus, wenn er von seinem Standpunkt als Schwarzer Amerikaner, der am Rand der Gesellschaft aufwuchs, den Wert des American Dream infrage stellt, dem so viele Menschen nachjagen.13