Zusammen wachsen - Miroslav Volf - E-Book

Zusammen wachsen E-Book

Miroslav Volf

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Beschreibung

»Religionen sind keine Seuchen, sondern ein Schatz guten Lebens.« (Miroslav Volf)

Das Weltgeschehen wird heute in erster Linie geprägt von zwei Grundkräften: der Globalisierung und den Religionen. Beide erleben die Menschen als Bedrohung. Während die Globalisierung die Ausplünderung der Erde vorantreibt, scheinen Religionen nur noch dazu zu dienen, Krieg und Gewalt zu legitimieren. Steht die Welt am Abgrund?
Miroslav Volf hält in diesem Buch dagegen: Religionen sind keine Plagen! Sie bewahren motivierende Hoffnungsbilder für gelingendes (Zusammen-)Leben. Die Kernelemente dieser Hoffnungsbilder beleuchtet Volf und zeigt, wo und wie sie in einer globalisierten Welt friedvoll und zukunftsstiftend zur Entfaltung kommen können.

  • Die Welt braucht Religion!
  • Ein neuer Ansatz in einer Debatte voller Vorurteile
  • Religiöse Vielfalt und weltweiter Austausch: Basis für Frieden und Zukunft
  • Eine prophetische Stimme - authentisch, persönlich, fesselnd

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Seitenzahl: 509

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Miroslav Volf

Zusammen wachsen

Globalisierung braucht Religion

Aus dem Englischen übersetzt

von Hans-Georg Türstig

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Titel der Originalausgabe:

Miroslav Volf: Flourishing: Why we need Religion in a Globalized World

© 2015 by Miroslav Volf, originally published by Yale University Press

Copyright © 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

Umschlagmotiv: © Igoror/shutterstock.com

ISBN 978-3-641-21181-3V001

www.gtvh.de

Für Jessica

 

 

INHALT

Vorwort

Danksagungen

Einleitung. Wo ich stehe

ERSTER TEIL

1. Die Religionen angesichts der Herausforderungen durch die Globalisierung

Globalisierung damals

Globalisierung heute

Weltreligionen, globale Visionen

Weltmärkte

Religionen, Märkte und die Hochschätzung des normalen Lebens

Globalisierung, die Entwicklung der Menschheit und das globale Gemeinwohl

Transzendenz, Unersättlichkeit und Sterblichkeit

Ein Hamsterrad und der Sturm vom Paradies

Der Unterschied, den Religionen ausmachen

2. Religionen und die Herausforderung der Globalisierung

Das Wachstum der Religionen

Öffentliches Selbstbewusstsein

Was sind Weltreligionen?

Die verschiedenen Formen des alltäglichen Lebens

Fehlfunktionen und Streitereien

Die Scheitellinie unseres Lebens

Religionen und Staat

Religionen und Wirtschaft

Globalisierungen im Konflikt?

ZWEITER TEIL

3. Respektvolle Geisteshaltungen, respektvolle Regime

Und der Preis für Intoleranz geht an ...

Toleranz

Religionsfreiheit

Weltreligionen und Religionsfreiheit

Apostasie und Konversion

Personen respektieren, Überzeugungen respektieren

Andere Religionen respektieren

Blasphemie

Respektvolle Regime

4. Religiöser Exklusivismus und politischer Pluralismus

Zwei Arten von Exklusivismus und Pluralismus

Die Dynamik des religiösen Exklusivismus

Unvereinbar oder nicht?

Religiöser Exklusivismus und die Ursprünge des politischen Pluralismus

Die Christliche Rechte und der politische Pluralismus

Warum religiöse Exklusivisten gut für die Globalisierung sind

5. Konflikt, Gewalt und Versöhnung

Der Rückgang von Gewalt

Bedingungen für Frieden und Globalisierung

Globalisierung, Frieden und Krieg

Warum Versöhnung?

Erinnern und vergeben

Entschuldigen, wiedergutmachen und annehmen

Religionen, Konflikte und die Güter der Welt

Verstrickung in Machtverhältnisse

Lebensweisen

Nachwort. Gott, Nihilismus und zusammen wachsen

Anmerkungen

Namenregister

 

VORWORT

Der englische Originaltitel dieses Buches ist Flourishing. Auf Deutsch lässt er sich mit Gedeihen, Wachsen, Aufblühen, Erblühen, mit Zusammenwachsen bzw. zusammen wachsen wiedergeben. Flourishing, zusammen wachsen – das steht für ein Leben, das gut gelebt wird, für ein Leben, das gut geht und das sich gut anfühlt – alles zusammen, unlösbar miteinander verflochten. Es steht für »ein gutes Leben« und »ein lebenswertes Leben« und ruft ein Bild von etwas Lebendigem hervor, das in seiner eigenen, ihm angemessenen Umgebung gedeiht: »ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken« (Psalm 1,3), ein Lamm, das »auf grünen Auen« lagert und »an stillen Wassern geht« (Psalm 23,2), »ein mächtiger Adler mit gewaltigen Flügeln, mit weiten Schwingen, mit dichtem, bunten Gefieder« (Ezechiel 17,3). Auch wenn diese Bilder manchen allzu pastoral für unser schnelles modernes Leben vorkommen mögen, vermitteln sie doch deutlich eine Vorstellung davon, was sie meinen: Ein gutes Leben besteht nicht nur darin, bei dem einen oder anderen Vorhaben erfolgreich zu sein, gleichgültig, ob es sich um etwas Alltägliches oder ganz Außergewöhnliches handelt, sondern vor allem darin, menschliche und persönliche Fülle zu erfahren. Ein gutes Leben bedeutet, kurz gesagt, zu wachsen, zu gedeihen, ein blühendes Leben zu führen.

Das Bild ist bestechend, doch viele, besonders junge Menschen haben das Gefühl, dass die Menschheit erschöpft und dem Untergang geweiht ist. Dass sie, auch wenn die jungen Leute nicht die Worte der Psalmisten und Propheten benutzen, im »finsteren Tal« (Psalm 23,4), im Schatten des Todes und »im Land der Finsternis« (Jesaja 9,1) festsitzt. Es herrschen derzeit gewiss nicht die finstersten Zeiten, die es je gab, aber ich kann diesen Pessimismus verstehen. Der Klimawandel wirkt sich verheerend auf die Umwelt aus; globale Pandemien werden immer wahrscheinlicher; die sozialen Unterschiede in Bezug auf Macht, Vermögen und Bildung werden immer größer; rasante Entwicklungen auf dem Feld der künstlichen Intelligenz drohen, die Menschen überflüssig zu machen; barbarischer Terrorismus, der Menschen verbrennt und enthauptet und die Kunstwerke vergangener großer Zivilisationen zerstört, hält die Welt in Atem. – Diese und weitere Bedrohungen legen sich wie ein asch grauer Mantel der Melancholie auf das Gemüt vieler Menschen. Auch wenn wir die Bedrohungen benennen können, hat jede Bedrohung doch auch etwas Unbekanntes und lässt die Zukunft ungewiss erscheinen. Wir werden von einem Gefühl heimgesucht, dass vielleicht dem des Pharaos aus der biblischen Geschichte in Genesis 41 gleicht, als dieser von den mageren Kühen träumte (Genesis 41). Werden diesen Bedrohungen noch weitere folgen? Sind wir von Gefahren bedroht, die wir gegenwärtig noch nicht einmal benennen können? Manche Menschen sind geradezu gelähmt von dem Gedanken, dass die Welt zugrunde gehen, dass alles menschliche Leben ausgelöscht werden wird. Andere befürchten eine dystopische Zukunft nach einer Apokalypse – verwüstete Städte, in denen Menschen im Überlebenskampf gefangen sind und sich bemühen, die Reste ihrer Humanität und zivilisatorischen Bindungen zu erhalten. Und auch wenn es solche alptraumhaften Szenarien heute gar nicht gibt, glauben allzu viele, dass menschliches Leben in der Welt, wie sie heute aussieht, überhaupt keinen Sinn mehr hat und auch keinen mehr gewinnen wird. Wenn Sie auch so pessimistisch sind, werden Ihnen Begriffe wie »Gedeihen«, »Wachsen«, »Aufblühen« oder »Zusammen wachsen« als Ausdrücke sinnloser Sehnsucht erscheinen, erwachsen aus einem unmöglichen Traum von einem Wolkenkuckucksheim.

Die beiden beeindruckendsten Bilder menschlichen Gedeihens stammen in den westlichen kulturellen Traditionen aus der Bibel, aus den Kapiteln am Anfang ihres ersten Buches und aus den letzten Kapiteln ihres letzten Buches. Das eine Bild beschreibt einen grünen, wunderschönen und nährenden Garten – einen Lebensraum für die Menschen, den sie »bebauen und behüten« sollen und der ein Tempel ist, in dem sie ihrem Gott begegnen (Genesis 2). Das andere Bild erzählt von einer universalen Stadt, die zu einem Tempel wird, »dem neuen Jerusalem« auf einer »neuen Erde«; sie wird von den Nationen verherrlicht und verehrt und ist vollkommen sicher (Offenbarung 21). Allen, die sich diese Bilder zu eigen machen, sind sie nicht einfach nur Traumgebilde, die im Raum religiöser Phantasie herumschweben. Für diese Menschen sind diese Bilder vielmehr Teil einer großartigen Erzählung, die mit der Schöpfung der Welt beginnt und mit dem neuen Himmel und der neuen Erde endet. Und diese Erzählung mit ihren Visionen vom Gedeihen, Aufblühen und Zusammenwachsen, wurzelt in der Überzeugung von der Wirklichkeit des Einen, der in unzugänglichem Licht wohnt. Das Versprechen dieser Visionen von Wachstum ist ein Kronjuwel im Schatz des christlichen Glaubens, eines seiner wertvollsten Geschenke an die Welt.

Der Film Melancholia von Lars von Trier, der vom Untergang der Welt durch den Zusammenstoß mit einem vagabundierenden Planeten erzählt, endet mit einer Szene, in der zwei Frauen und ein Kind in einem improvisierten Tempel aus dünnen Stöcken kauern und im greller werdenden Licht das Ende der Welt erwarten. Ist dies ein Bild für einen vertrauensvollen Sprung ins Licht? Oder führt es uns die Absurdität der Religion angesichts der unüberwindlichen Finsternis vor Augen, also letztlich die Absurdität des Universums selbst? Von Trier lässt uns im Unklaren. In gewissem Sinne lasse ich diese Frage in diesem Buch ebenfalls offen. Ist der Glaube an die Möglichkeit des Zusammenwachsens der Welt, den religiöse Bilder am Leben halten, sinnvoll, oder werden hier nur schöne, aber trügerische Geschichten erzählt, die dem sinnlosen und zerbrechlichen Leben derer, die an ihnen festhalten, Schutz und Gedeihen versprechen? Wie stehen sie da im Vergleich zu den Deutungen der Wirklichkeit, die behaupten, auf exakten Naturwissenschaften zu beruhen? Und wenn die religiösen Überzeugungen und Visionen vom Wachsen und Erblühen des Lebens wahr sind, sind sie dann alle wahr? Wenn nur eine Religion wahr ist, welche ist es dann und warum ist sie wahr?

Dies sind wichtige Fragen – und ich werde sie in diesem Buch vollständig übergehen. Stattdessen konzentriere ich mich auf die Behauptung, die diesen Fragen überhaupt erst ihre Bedeutung verleiht. Diese Behauptung ist folgende: Religionen sind weit entfernt davon, eine Seuche für die Menschheit zu sein, wie es heute viele glauben und manche erleben müssen. Sie vermitteln vielmehr überzeugende Visionen vom Zusammenwachsen der Welt. In diesem Buch beleuchte ich die Schlüsselelemente dieser Visionen in den Weltreligionen, schildere, warum sie in einer globalisierten Welt gebraucht werden, und untersuche, wie Religionen sie friedlich und gemeinschaftlich zum Ausdruck bringen können, während ich zugleich ihren jeweiligen Wahrheitsanspruch ernst nehme.

 

DANKSAGUNGEN

Dieses Buch hat seine Wurzeln in einem Seminar über Glauben und Globalisierung, das wir an der Yale Universität in den Herbstsemestern 2008 bis 2011 veranstaltet haben. Darum möchte ich zunächst denen danken, die es mit mir durchgeführt haben. Ich bin dem ehemaligen Premierminister Tony Blair dankbar, mit dem ich die ersten drei Durchläufe dieses Kurses durchführte. Er hat mich in die Arbeit über das Thema einbezogen, und ich danke ihm besonders für unsere lebhaften Donnerstagmorgen-Diskussionen bei den Vorbereitungen auf die Nachmittagssitzungen. Viel verdanke ich auch Philip Gorski, einem Kollegen aus dem Fachbereich für Soziologie, mit dem ich den vierten Durchlauf des Kurses abhielt. Ganz besonders dankbar bin ich ihm dafür, dass er mir die Augen öffnete für die Komplexität der Säkularisierung und der Beziehung zwischen Nationalismus und Gewalt. 2010 führte ich diesen Kurs als Sommerseminar für den akademischen Mittelbau am Calvin College durch. Drei Jahre später diente ein früher Entwurf dieses Buches als Grundlage für ein Seminar, das ich unter der Schirmherrschaft der amerikanischen Universität im Kosovo, des kosovarischen Außenministeriums und der Tony Blair Faith Foundation für junge Diplomaten aus verschiedenen Ländern, für Religionswissenschaftler und Politologen durchführte. An allen drei Orten war ich gesegnet mit wunderbar wissbegierigen Teilnehmern aus aller Welt, die eine große Bandbreite akademischer Disziplinen repräsentierten.

Ich hielt Vorlesungen über Themen dieses Buches an vielen universitären Institutionen und auf zahlreichen Konferenzen in der ganzen Welt. Ich zähle hier, in alphabetischer Reihenfolge, nur einige der Städte auf, in denen diese Veranstaltungen stattfanden: Adelaide, Australien; Boston, Massachusetts (die jährliche Prophetic Voices-Vorlesung am Boston College); Bukarest, Rumänien (ITP Jährliche Vorlesungen am Theological Pentecostal-Institut); Buffalo, New York (Joseph J. Naple’s 41 Conversations in Christ & Culture-Vorlesung und Performance Series am Canisius College); Dallas, Texas; Edinburgh, Vereinigtes Königreich (»Cunningham«-Vorlesungen an der Universität von Edinburgh); Georgetown, Washington, D.C.; Holland, Michigan; Hongkong, China; Houston, Texas; Macon, Georgia (Harry Maugham Smith-Vorlesungen an der Mercer Universität); Marburg, Deutschland; Melbourne, Australien (Hughes-Cheon-Vorlesungen am Trinity College); Osijek, Kroatien (Jährliche Vorlesungen am Evangelischen Theologischen Seminar); Pasadena, Kalifornien (Payton-Vorlesungen am Fuller Theologischen Seminar); Peking, China; Sarajevo, Bosnien-Herzegowina; Seoul, Südkorea; Seattle, Washington; South Bend, Indiana; Sydney, Australien; Taipeh, Taiwan. Ich danke den Organisatoren dieser Veranstaltungen und auch den Kollegen und Zuhörern, dass sie sich mit meinen Argumenten auseinandersetzten. Ich habe durch ihre Fragen, ihren Widerspruch und ihre Vorschläge viel gelernt.

Drei Kreise von Wissenschaftlern lasen und diskutierten mit mir einen Entwurf des gesamten Buches, mit Ausnahme der Einleitung und des Nachwortes. Die erste Diskussion organisierte im Mai 2013 Daniel Chua, Professor des Fachbereichs Musik an der Universität von Hongkong. Außer Chua selbst gehörten zu dieser anregenden interreligiösen und interdisziplinären Gruppe noch Uzma Ashraf, Ng Wai Hang, Sik Hin Hung, Chan Jianlin Jianlin, Gareth Jones, Louie Kin, David Palmer, Conan Pengyin, Simone Raudino, Kang Phee Seng, Benny Tai, Ang Sze Wei, Louie Kin Yip, Esther Yau, Wendy Yuen und Liang Yuanyuan. Die zweite Gruppe traf sich 2013 kurz vor der jährlichen Sitzung der American Academy of Religion in Baltimore zu einem ausgezeichneten Essen und zu intensiven Diskussionen. Das Treffen wurde großzügig finanziert von meinem Freund Phil Love, der nicht nur Mitglied des Beirates des Yale Center for Faith and Culture ist, sondern auch ein Theologe mit eigenem Profil. Bei dieser Versammlung – die schöner war als ein antikes Symposium, mit weniger Wein, als Sokrates zu trinken pflegte, dafür aber mit bestimmt besserem Essen – waren anwesend: José Casanova, Willis Jenkins, Charles Mathewes, Joerg Rieger und Mona Siddiqui. Die Wissenschaftler der dritten Gruppe, die mir und dem Thema im Dezember 2013 einen ganzen Tag und einen Abend im Le Petit Café schenkten, waren meine Kollegen von der Yale University: Nayan Chanda, Philip Gorski, Zareena Grewal, Jennifer Herdt, Kathryn Lofton, Aleksandar Santrač, Kathryn Tanner und Linn Tonstad. Eine Liste all der Dinge, die ich von diesen drei Gruppen gelernt habe, wäre zu umfangreich für diese Danksagungen. Viele dieser Wissenschaftler, vor allem Kathryn Lofton, Mona Siddiqui und Linn Tonstad, haben mich ermuntert, meine eigenen Überzeugungen und meinen Standpunkt klarer zum Ausdruck bringen, was zu den beiden Texten am Anfang und am Ende dieses Buches führte: der Einleitung und dem Nachwort. Das dritte Kapitel wurde ursprünglich als Beitrag zum Thema Respekt im Rahmen der Gesprächsreihe Gott und menschliches Gedeihen , die ich am Yale Center for Faith and Culture organisiert hatte, vorgestellt. Ich möchte Alonzo McDonald von der McDonald Agape Foundation dafür danken, dass er die Veranstaltung finanziert hat. Den Teilnehmern danke ich für ihr kritisches und konstruktives Feedback: Alon Goshen-Gottstein, John Hare, Jennifer Herdt, Gilbert Mailander und Michael Peppard. Abgesehen von diesen drei Gruppen von Wissenschaftlern haben mir Monica Duffy Toft von der Oxford University wertvolle Hinweise zum Entwurf des ersten Kapitels gegeben. Tobias Faix und Tobias Künkler vom Marburger Bildungs- und Studienzentrum verdanke ich hilfreiche Anregungen zum ersten und zweiten Kapitel, Daniel Philpott von der University of Notre Dame eben solche zum Entwurf des fünften Kapitels.

Von dem Moment an, als ich darüber nachdachte, diesen Kurs abzuhalten, bis zu dem Moment, als ich die letzte Zeile des Nachworts niederschrieb, war mir stets schmerzhaft bewusst, dass das Thema dieses Buches für einen einzelnen Wissenschaftler viel zu umfangreich ist. Die vielfältige Unterstützung, die ich von Kollegen, Zuhörern und Studenten in der ganzen Welt erhielt, waren für die Vollendung dieses Projektes darum unerlässlich. Ich habe mich auch um Rat von Experten auf dem Gebiet religiöser, nicht-christlicher Traditionen bemüht. Ich möchte drei guten Freunden aus diesen Traditionen besonders danken, die mir sehr großzügig ihre Zeit zur Verfügung gestellt haben: Anantanand Rambachan, Professor für Religionswissenschaft am St. Olaf College (Hinduismus); Dr. Alon Goshen-Gottstein vom Elijah Institute, Jerusalem (Judentum); und Seine Königliche Hoheit Prinz Ghazi bin Muhammad, Professor für Philosophie und oberster Berater für religiöse und kulturelle Angelegenheiten Seiner Majestät König Abdullah II. von Jordanien (Islam). Meine Fragen zum Konfuzianismus beantwortete geduldig Joseph A. Adler, jetzt Professor Emeritus für Ostasiatische Religionen am Kenyon College.

Gelegentlich bin ich den fachkundigen Ratschlägen dieser Berater nicht gefolgt. Darum sollte keiner von ihnen verantwortlich gemacht werden, falls sich in dieses Buch irgendwelche Fehler bezüglich dieser Religionen eingeschlichen haben.

Während ich zu diesem Buch lehrte, forschte und an ihm schrieb, habe ich von vielen sachkundigen Lehr- und Forschungsassistenten Hilfe bekommen. Neil Arner, Lisa Tepper Bates, Scott Dolff, Osman Haneef, John Hartley, Natalia Marandiuc, Jeff Morris, Christiana Peppard und John Super arbeiteten als Lehrassistenten, wobei Neil Arner, der mit Spitznamen Neil the Magnificent (Neil der Großartige) hieß, mit beachtlicher Effizienz und großem Geschick den größten Teil der konzeptionellen und pädagogischen Vorbereitungen leistete, die nötig waren, um den Kurs über Glauben und Globalisierung überhaupt durchführen zu können. Yeehyun Chun, Karin Fransen, Brad Gable, Janna Gonwa, John Hartley und Jordan Kassabaum arbeiteten als Forschungsassisenten und waren mir bis auf John Hartley bis in die letzten Phase der Niederschrift eine große Unterstützung. Matt Croasmun fungierte als Forschungskoordinator und als kritischer Leser in der letzten Phase der Arbeit am Manuskript. Er schrieb auch einen Abriss zur Steuerung von Systemen, der als kurzer Abschnitt Eingang in die Einleitung fand.

Zwei Forschungsassistenten müssen besonders hervorgehoben werden. Sie sind ganz erstaunliche Menschen und wunderbare Wissenschaftler, und ich bin ihnen zutiefst dankbar. Justin Crisp half bei der Gestaltung der Einleitung, schrieb zwei Anmerkungen zum Konfuzianismus im zweiten Kapitel und führte ausgiebige Forschungen zum dritten Kapitel durch, insbesondere über die Augustinus-Locke-Proast-Debatten, sowie zum Abschnitt »Toleranz« und »Respekt vor anderen Religionen«. Er schrieb außerdem kurze Zusammenfassungen über Aspekte des Denkens bei José Casanova, Reiner Forst und Maurice Merleau-Ponty und sammelte das gesamte Feedback, das wir in den Diskussionsgruppen in Baltimore und Yale bekamen. Ryan McAnnally-Linz, mein Doktorand, der mit mir jetzt schon seit sechs Jahren an verschiedenen Projekten arbeitet und mehr ein Gesprächspartner geworden ist als ein Forschungsassistent, verdient es, am Schluss genannt zu werden; denn er hat am meisten zur Entstehung dieses Buches beigetragen. Er hat dabei geholfen, die Argumentation der Einleitung zu gestalten; zum ersten Kapitel führte er Untersuchungen durch für die Abschnitte »Religionen, Märkte und die Hochschätzung des normalen Lebens« und »Der Unterschied, den Religionen ausmachen«; im zweiten Kapitel half er bei »Die verschiedenen Formen des alltäglichen Lebens« (wobei er auch die ausführliche Fußnote zu Augustinus schrieb) und »Fehlfunktionen und Streitereien« (einschließlich der Entscheidung, wo dieser Abschnitt in dem Kapitel auftauchen sollte); im dritten Kapitel forschte er zum Thema »Weltreligionen und Religionsfreiheit« und »Apostasie und Konversion« (ein Abschnitt, über den wir viel diskutiert haben); er half dabei, den Argumenten im vierten Kapitel insgesamt Gestalt zu verleihen, und leistete bedeutende Beiträge zum Abschnitt »Unvereinbar oder nicht?«

Für die meisten dieser Wissenschaftler bestand der Dank für ihre großartige Arbeit in der großzügigen Unterstützung durch den Beirat des Yale Center for Faith and Culture; die Mitglieder dieses Beirates bilden eine außergewöhnliche Gruppe von Menschen, ohne die dieses Buch und viele andere Projekte, derer sich das Center angenommen hat, nicht möglich gewesen wären. Ein »außenstehender« Unterstützer des Yale Center for Faith and Culture leistete einen substanziellen Beitrag zur Finanzierung meiner Forschung: mein Freund Warner Depuy, der die William H. Pitt Foundation und ihren Präsidenten Robert G. Simses ermutigte, die Arbeit an diesem Buch finanziell zu unterstützen. Ich bin ihm, der Stiftung und dem Beirat des Centers dankbar für ihre Freigebigkeit.

Den größten Teil dieses Buches schrieb ich in einem Sabbatjahr und beendete die Bearbeitung während eines weiteren. Ich bin der Yale University und zwei Dekanen der Yale Divinity School, Harold Attridge und Gregory Sterling, dafür dankbar, dass sie mich in der Zeit von meinen Lehrverpflichtungen befreit haben. In kritischen Zeiten, wenn Fristen einzuhalten waren, verwaltete mein guter Freund Skip Masback, der geschäftsführende Direktor des Yale Center for Faith and Culture, diese Institution einschließlich ihrer akademischen Aktivitäten nicht nur mit außergewöhnlichem Geschick, sondern auch ohne ein einziges Mal an die Tür meiner Schreibhöhle (tatsächlich war sie ein Büro am Ende des Flurs) zu klopfen. Es ist wirklich ein großes Geschenk, ihn als Mitarbeiter zu haben. Meine Redakteurin Jennifer Banks, Korrektor Robin DuBlanc und die anderen Mitglieder des Teams der Yale University Press sind so, wie es sich ein Autor nur wünschen kann, insbesondere ein Autor, dessen Muttersprache nicht Englisch ist; ich bin dankbar für ihre Anregungen und ihr Engagement für dieses Projekt.

Zusammen wachsen widme ich meiner Frau Jessica Dwelle, einer Frau mit einem messerscharfen Verstand und außergewöhnlicher Sensibilität. Unsere Beziehung begann im Herbst 2010, ungefähr zu der Zeit, als ich darüber nachzudenken anfing, dieses Buch zu schreiben. Sein Werden ist verwoben mit dem Wunder unserer Liebe.

 

EINLEITUNG

Wo ich stehe

Die Wurzeln der Weltreligionen1 und der Globalisierung reichen fast so weit zurück wie die dokumentierte Geschichte der Menschheit selbst. Heutzutage umfasst jede dieser beiden komplexen und multidimensionalen Phänomene den gesamten Planeten und erscheint in einer Vielzahl unterschiedlicher lokaler Inkarnationen.

Die Formulierung Religionen und Globalisierung, zwei durch eine Konjunktion getrennte Nomina, könnte den Eindruck erwecken, dass die beiden Phänomene lediglich außerhalb des jeweils anderen existieren: Die Religionen befinden sich außerhalb des Globalisierungsprozesses und reagieren auf ihn in unterschiedlicher Weise – Ablehnung, Zustimmung, Ambivalenz, Rückzug, Aggression – und die Globalisierung befindet sich außerhalb der Religionen, verdrängt sie, stärkt sie, transformiert sie – fordert zum Beispiel deren Glauben an ein Jenseits heraus oder ihre Vorliebe für Ungleichheit oder Intoleranz, die für einige Religionen charakteristisch sind. Aber das wäre nicht richtig, denn in Wirklichkeit verbindet die Konjunktion »und« in dieser Formulierung die beiden Nomina miteinander. Religionen und Globalisierung sind keine Nachbarn, die jeweils in ihrem eigenen Haus wohnen, durch eine hohe Wand voneinander getrennt, und die abwechselnd miteinander kooperieren, konkurrieren oder streiten. Die Weltreligionen sind Teil der Dynamik der Globalisierung – sie sind in gewisser Weise sogar die ursprünglichen Globalisierer und zählen immer noch zu den Triebkräften der Globalisierungsprozesse. Und die Globalisierung ist Teil der Dynamik der Religionen, ihrer moralischen und dogmatischen Selbstdarstellungen, ihrer kulturellen und politischen Ausformungen und ihrer Generationen übergreifenden missionarischen Ausbreitung. Die Globalisierung existiert innerhalb der Religionen, und die Weltreligionen existieren innerhalb der Globalisierung.

Zu den Zielen dieses Buches gehört es, Licht darauf zu werfen, wie Religionen und Globalisierung einander seit Jahrhunderten beeinflusst haben. Und es soll deutlich werden, welche Beziehung sie in Zukunft zueinander haben sollten. Denn wenn wir diese beiden mächtigen Phänomene in ihrer Beziehung zueinander nicht verstehen, können wir weder begreifen, was mit uns und unserer Welt geschieht, noch können wir verantwortlich darin handeln. Mehr als alles andere, mit Ausnahme vielleicht der technologischen Neuheiten, gestalten die Globalisierung und die großen Weltreligionen unser Leben. Sie beeinflussen das Handeln der politischen Führer, die ökonomischen Entscheidungen der Industriebosse, Investoren und gewöhnlichen Angestellten, die Inhalte der Lehrpläne unserer Schulen und Universitäten und bestimmen die Sehnsüchte unserer Herzen.

Wenn wir eine Wahrnehmung von etwas Großem und Komplexem bekommen wollen, treten wir einen Schritt zurück und nehmen dann seine Umrisse in uns auf. Vereinfacht gesagt, habe ich genau das in diesem Buch getan. Spezialisten, die sich mit den vielfältigen Aspekten der Religionen und der Globalisierung beschäftigen, mögen darüber frustriert sein, weil ich den »Details« nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt habe – weil ich mich nicht um einige wichtige Aspekte der Phänomene gekümmert habe, weil ich ein intensives akademisches Gespräch über bestimmte Themen vernachlässigt habe, weil ich nicht allen relevanten Gestalten der Vergangenheit genügend Beachtung geschenkt habe und so weiter. Aber meiner Ansicht nach brauchen wir dringend verknüpfendes und integrierendes Wissen, das uns Anleitungen für unser Handeln geben kann. In einem Zeitalter hochgradiger Spezialisierungen ist der unvermeidliche Preis dafür eine Art von »Dilettantismus«. Ich bitte die Spezialisten unter meinen Lesern daher, mit mir eine Weile Geduld zu haben und dann die Skizze, die ich hier anbiete, zu überprüfen und ihre Verdienste eben als solche Skizze, die sie sein will, anzuerkennen (und ich bitte Sie alle, ehe Sie zu Urteilen kommen, die ausführlichen Endnoten zu lesen, in denen ich Begründungen für viele meiner Positionen liefere!). Wenn Sie dann immer noch ganz anderer Meinung sind, möchte ich Sie auffordern, eine ähnlich integrative eigene Alternative zu formulieren.

Um die wesentlichen Linien der Beziehung zwischen Religionen und Globalisierung nachzuzeichnen, habe ich mir meine Aufgabe in mancher Hinsicht vereinfacht. Hinsichtlich der Globalisierung beispielsweise habe ich mich auf ihre ökonomischen und politischen Dimensionen konzentriert sowie auf die impliziten, darin eingebetteten Visionen vom menschlichen Wachsen. Andere wichtige Dimensionen der Globalisierung – ökologische, technologische und rechtliche – habe ich nur am Rande angesprochen. Bei den Religionen habe ich mich auf diejenigen konzentriert, die etwas undeutlich als »sekundäre«, »Offenbarungs-« oder »Welt«-Religionen bezeichnet werden, und unter diesen hauptsächlich auf den Buddhismus, Konfuzianismus, Hinduismus, das Judentum, das Christentum und den Islam. »Primärreligionen« also solche, die »indigen« oder »lokal« vorkommen, habe ich bei Seite gelassen. Lokale Religionen haben ihre eigene, zumeist unglückliche Geschichte mit der Globalisierung. Sie leisten ihren eigenen Beitrag, diese neu zu gestalten, besonders dort, wo es um das Verhältnis der Globalisierung zum natürlichen Lebensraum vor Ort und zum Planeten insgesamt geht.2 Aber diese Geschichte wird jemand anderes aufgreifen müssen.

Dieses Buch ist eher ein Essay als eine akademische Monographie und geht auf den Kurs Glaube und Globalisierung zurück, den der ehemalige britische Premierminister Tony Blair und ich drei Semester lang an der Yale University abhielten (2008–2010). Ich bringe aber mehr in das Buch ein als nur die Fachkenntnisse eines Professors. Als Mensch der westlichen Hemisphäre und Christ schreibe ich über das Thema aus einem bestimmten Blickwinkel heraus und mit einer Reihe tiefer Überzeugungen. Ich schreibe von einem Standpunkt aus, an dem sich die Prozesse der Globalisierung und eine bestimmte Gestalt einer bestimmten Weltreligion in einem einzelnen Leben überschneiden. Es ist daher wichtig, meinen Standpunkt und meine Überzeugungen hier kurz darzustellen, bevor wir uns mit dem eigentlichen Thema dieses Buches befassen.

Ich wurde in einem Land geboren, das sich »am Ende der Geschichte« auflöste. Als ich diesen Ausdruck, den Francois Fukuyama nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Untergang des so genannten »Ostblocks« populär gemacht hatte3, zum ersten Mal hörte, dachte ich: »Soweit ich sehen kann, geht es mit der Geschichte noch mächtig voran!« Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie an ein Ende gekommen war, sondern im Gegenteil das Gefühl, sie beschleunige sich. Als werde sie von unseren Träumen und Ängsten angetrieben. Und auf ihrem Weg hinterließ sie eine Spur beeindruckender Errungenschaften, aber auch Landschaften und menschliche Lebensräume voller Trostlosigkeit. Sie ermöglichte ein Leben voller Wissen und technologischer Errungenschaften und zermalmte zugleich Menschen zwischen den Rädern einer globalen ökonomischen Maschinerie, schuf ein Heer der Vergessenen an den Gestaden der Zeit.

Das Land, über das ich schreibe, Jugoslawien, lag auf dem Balkan. In den 1990er Jahren produzierte diese Region – um es in Anlehnung an Winstons Churchills ebenso berühmter wie arroganter Sentenz zu sagen – immer noch mehr Geschichte, als sie verbrauchen konnte. Nach »dem Ende der Geschichte« wurden immer noch Kriege geführt und gewonnen oder verloren, Regierungen wurden gebildet und aufgelöst, Wirtschaftssysteme wurden verändert, Städte zerstört und wieder aufgebaut, Kinder wurden geboren und starben, und Träume wurden – ja, wurden was?

Fukuyama meinte mit seiner Rede vom »Ende der Geschichte« natürlich weder, dass die Zeit aufgehört und die Ewigkeit angefangen hatte, noch dass Menschen plötzlich ihr Interesse daran verloren hatten, über die Vergangenheit zu schreiben. Er benutzte diese Wendung vielmehr, um die historische Weltveränderung zu beschreiben, die seiner Ansicht nach mit dem Fall der Berliner Mauer stattgefunden hatte. Dieses Ereignis symbolisierte für ihn den »Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als endgültige Form menschlicher Regierung«4. Fukuyama hatte Unrecht. Weder endete die Geschichte, noch wurde dieses Ende durch die endgültige Durchsetzung der liberalen westlichen Demokratien markiert. Obwohl eine bestimmte Form von liberaler Demokratie ein integraler Bestandteil auch der Position ist, die ich hier vertrete, wäre es ein schwerwiegender Fehler, irgendeine Form von Liberalismus – ja, überhaupt irgendeine politische Gestaltungsform – für den Endpunkt der »ideologischen Evolution« der Menschheit zu halten. Die Geschichte des Liberalismus ist viel zu ambivalent, um eine solche Auffassung zu rechtfertigen. Sie kennt gewaltige Misserfolge, die ihre beeindruckenden Erfolge überschatten.5 Menschliches Leben und die Geschichte selbst sind außerdem zu dynamisch und unvorhersagbar, als dass sie immer am Liberalismus festhalten würden. Die Geschichte hat nicht aufgehört, als die ersten Hammerschläge die Berliner Mauer trafen.

Aber etwas hörte tatsächlich auf im November 1989: die Rivalität zweier wichtiger Projekte der Globalisierung, zweier Formen, in der Welt zu leben, die beide als eine einzige, integrierte Wirklichkeit begriffen. Die eine war kommunistisch und hatte ihren Ursprung in der bolschewistischen Revolution im 20. Jahrhundert; ihre Merkmale waren ein totalitärer oder autoritärer Staat und eine zentrale Planwirtschaft. Die andere war kapitalistisch und nahm ihren Anfang im Zeitalter der Entdeckungen im 15. Jahrhundert; ihre Merkmale waren – meistens – eine demokratische politische Ordnung und eine freie Marktwirtschaft.6 Das kommunistische Projekt der Globalisierung hat 1989 definitiv das Ringen gegen das kapitalistische Weltverständnis verloren, denke ich; das kapitalistische Projekt hat gewonnen, zumindest vorerst.

Die Menschen haben unter der kommunistischen Gestalt der Globalisierung gelitten; ich weiß das aus unmittelbarer Erfahrung, denn ich bin im ehemaligen Jugoslawien aufgewachsen. Staatliche Macht raubte uns die bürgerlichen Freiheiten, zwang uns im Namen von Zielen, die wir nicht teilten, in eine Gemeinschaft von »Einheit und Brüderlichkeit« und ignorierte unseren Traum, dass jeder »die Früchte von seinem eigenen Weinstock und von seinem eigenen Feigenbaum essen und Wasser aus seiner eigenen Zisterne trinken« könne, wie es der Prophet vor langer Zeit ausgedrückt hatte (Jesaja 36,16). Staatliche Macht plünderte die Umwelt und trampelte auf der Religionsfreiheit herum sowie auf dem Recht, unser Leben so zu führen, wie wir es selbst für richtig hielten. In ausnahmslos allen europäischen Nationen und ethnischen Gruppen, die in das Projekt der kommunistischen Globalisierung hineingezwungen worden waren, haben die Menschen mehrheitlich den Sieg der kapitalistischen Globalisierung begrüßt. Sie sehnten sich nach Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, nach Marktwirtschaft und Wohlstand.

Jede der Teilrepubliken Jugoslawiens etablierte sich als eigenständiger demokratischer Staat mit einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Zugleich wollten die meisten Menschen in diesen neuen Staaten ihre je eigenen ethnischen und religiösen Identitäten neu zur Geltung zu bringen.7 Diese waren, inspiriert von der Vision einer globalen Einheit der Menschheit, wie sie der Kommunismus vertreten hatte, auf dem Hintergrund der Ideale und politischen Realitäten des Einheitsstaates unterdrückt worden.8 Einige der ehemaligen Teilrepubliken führten in den 1990er Jahren erbitterte Kriege gegeneinander. Sie wurden dabei zum Teil unterstützt von transnationalen ethnischen Netzwerken, die sowohl Geld als auch Soldaten ins jeweilige Heimatland entsandten.9 Westeuropa hatte wenig Verständnis für die separatistischen Bestrebungen dieser Gruppen. Es war damit beschäftigt, nach dem Ende des Kalten Krieges zu neuer, erweiterter Einheit zu finden. Aber diese beiden Prozesse, die Vereinigung Europas und die Auflösung Jugoslawiens, waren auch miteinander verknüpft: Bestrebungen regionaler Selbstbehauptung überschatteten eine zunehmende überregionale Integration.

Nach dem Krieg bemühten sich die neu gegründeten Staaten um Aufnahme in die Europäische Union, die selbst eine bedeutende Kraft in der Dynamik kapitalistischer Globalisierung darstellt. Die Aussicht auf eine Integration in die Europäische Union löste auch negative Reaktionen aus: Ängste vor dem Verlust der nationalen Souveränität und vor der Auslöschung kultureller Eigenheit; Wut über erzwungene Übernahmen von Unternehmen und über unfaire Bedingungen, die lokale Industrien aushöhlten; Frustration wegen der wachsenden Ungleichheit zwischen Reich und Arm und der sich auflösenden sozialen Sicherungssysteme; und – über allem – die Unsicherheit der Menschen darüber, ihre Träume von Zukunft und Erfolg als Einzelne und als Gemeinschaft verwirklichen zu können.

Bei den meisten Menschen dieser Staaten, wie auch bei den meisten Menschen auf allen Kontinenten, ruft die kapitalistische Globalisierung ambivalente Gefühle hervor. Sie bietet eine Fülle unglaublicher Möglichkeiten und strotzt zugleich vor Ungewissheiten und Gefahren. Ich habe diesen janusköpfigen Charakter kapitalistischer Globalisierung sowohl aus der Perspektive von Gesellschaften, die sie in herausragender Weise repräsentieren, nämlich der der USA und Deutschlands, wie auch vom Standpunkt einer kleineren und fragileren Nation, nämlich von Kroatien aus, erfahren. Die Wahrnehmungen in diesen beiden Kontexten haben meine Überzeugung wachsen lassen, dass wir die kapitalistische Globalisierung weder einfach feiern noch einfach verurteilen sollten.

Ich wurde in eine Glaubensgemeinschaft hineingeboren, obwohl – so ganz richtig ist das nicht. Meine Eltern gehörten zu einer religiösen Gemeinschaft, die, wie es der berühmte Harvard Philosoph und Psychologe William James ausgedrückt hat, aus »Zweimal Geborenen« bestand: einmal als Kinder irdischer Eltern und das zweite Mal als Kinder des himmlischen Geistes. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft glauben, dass alle Menschen einer Neugeburt bedürfen, weil sie sich von der Quelle des wahren Lebens getrennt haben. Außerdem sind sie davon überzeugt, dass eine religiöse Gemeinschaft ein freiwilliger Bund ist (Max Weber spricht dann von einer »Sekte«), dem man nach seiner zweiten Geburt beitritt, nicht aber eine »Familie« oder »Kultur«, in die man sich hineinfindet, nachdem man in dieser angekommen ist (Max Weber nennt eine solche Gemeinschaft »Kirche«).10

Trotz seiner heftigen Wut auf Gott, der ihn, einen unschuldigen Mann und Sozialisten, in einem kommunistischen Arbeitslager leiden ließ, nahm mein Vater, damals ein Teenager am Rande des Todes, den Glauben an Gott an. Allerdings war er der Meinung, dass nicht er Gott, sondern dieser ihn angenommen hat. So wurde er schließlich ein Anhänger der Pfingstkirche. Die Familie, in die ich hineingeboren wurde, war eine Glaubensinsel, ein Mikrokosmos mit strengen Regeln, aber einer schönen und lebensförderlichen Athmosphäre. Mit meinem ersten Schrei als Neugeborener erlebte ich, dass nicht alle Formen von Religiosität »Religionen« in des Wortes abschätziger Bedeutung sind, nämlich den Geist verschließende und die Freiheit zertrampelnde gesellschaftliche Gebilde, die allein der sozialen Kontrolle dienen.

Die Pfingstbewegung nahm ungefähr vierzig Jahre vor der Konversion meines Vaters in Los Angeles ihren Anfang. 10.167 km Luftlinie entfernt von dem Lager, in dem er gezwungen wurde, Säcke zu schleppen, die fast doppelt so schwer waren wie er selbst. Der Begründer der Pfingstbewegung war William Seymour (1870–1922), ein Schwarzer und Sohn eines ehemaligen Sklaven. Er leitete die gemischtrassige und multiethnische Gemeinde, von der aus sich die Pfingstbewegung in der ganzen Welt ausbreitete.11 Seymours Glaube konnte zum Glauben meines Vaters werden, weil ein slowenischer Gastarbeiter in den USA konvertiert war und später während der Weltwirtschaftskrise über den Atlantik zurückkam, um die frohe Botschaft zu verbreiten. Heute gibt es etwa 279 Millionen Pfingstler auf allen Kontinenten. Sie machen 12,8 Prozent aller Christen aus. Außerdem hat die pfingstlerische Spiritualität mindestens ebenso viele Menschen anderer christlicher Konfessionen beeinflusst, auch Katholiken und Anhänger der Episkopalkirchen. Das erhöht die Gesamtzahl der Pfingstler und charismatischen Christen auf ungefähr 585 Millionen, das sind 26,7 Prozent aller Christen.12 Innerhalb eines einzigen Jahrhunderts hat der Glaube eines unterdrückten schwarzen Mannes aus der Neuen Welt auf dem ganzen Erdball Anhänger und Anhängerinnen gefunden, das Leben von mehr als einer halben Milliarde Menschen geprägt und die Sympathien prominenter religiöser Führungspersönlichkeiten wie von Papst Franziskus gewonnen.13 Meinen Vater hat dieser Glaube buchstäblich vor dem Tod bewahrt und in einen neuen Menschen verwandelt.

Jugoslawien war ein überwiegend von katholischen und orthodoxen Christen bewohntes Land mit einer muslimischen Minderheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgten die Kommunisten alle religiösen Gemeinschaften. Und in den Gebieten, in denen die Katholiken oder Orthodoxen dominierten, verfolgten diese wiederum ihrerseits Sekten wie die Pfingstbewegung, die dort unter dem Spitznamen »gelber Glaube« (yellow faith) bekannt waren. (Diese Bezeichnung war ein Echo der viel grausameren Verfolgung der Juden, die mindestens seit 807 n.Chr. häufig gezwungen waren, gelb gekennzeichnete Kleidung zu tragen.) Ungeachtet ihrer tiefgreifenden Differenzen teilten die Kommunisten und die beiden wichtigsten religiösen Gruppen in Jugoslawien die tiefe Überzeugung, dass es eine enge Beziehung zwischen Religion (bzw. Ideologie) und politischer Gesellschaft geben müsse.14 Man war politisch »in«, wenn man der Religion (bzw. der Ideologie) anhing, die das »sozial Heilige« definierte; wenn man weder der einen noch der anderen folgte, war man »out«.15 Die Kommunisten und die Führer der dominierenden religiösen Gruppen stimmten darin überein, dass die »Sekten« »out« waren; sie zerstörten die Einheit von Religion (bzw. Ideologie) und politischer Gesellschaft. Für die Sekten bedeutete die Treue zu dem einen Gott aller Völker, dass keine politische oder ethnische Gruppe davon ausgeschlossen werden könne, zu einer bestimmten religiösen Gemeinschaft zu gehören, und dass der Staat keine Legitimation durch eine einzelne religiöse Gruppe suchen, noch diese besonders behandeln dürfe; Religion und Politik sind zwei voneinander unterschiedene kulturelle Systeme.

Mein Vater formulierte zu keiner Zeit nicht einmal im Ansatz eine politische Philosophie. Dennoch stand er als Pfingstler für eine Vision der Beziehung zwischen Religion, Politik und ethnischer Identität, die sich deutlich von der vorherrschenden unterschied. Und das nicht nur damals im ehemaligen Jugoslawien, sondern in der gesamten Geschichte der Menschheit. Obwohl er das niemals so ausgedrückt hätte, war seine politische Haltung eher pluralistisch als exklusivistisch. Sie war den Haltungen ähnlich, die die englischen Baptisten des frühen 16. Jahrhunderts pflegten und die später, in abgeschwächter Form, von John Locke formuliert wurden.16

Angehörige der Pfingstbewegung sind bekannt für ihre Liebe zur Transzendenz – für ihr Interesse an Wundern, Prophezeiungen und Visionen. Meine Eltern beteten sehr inbrünstig und redeten dabei sogar in Zungen, wie die so genannte Glossolalie in dieser Gemeinschaft genannt wird; häufig hörten sie Gott zu ihnen sprechen und erlebten Wunder, die Gott vollbrachte. Und doch waren sie nicht »jenseitig«, strebten nicht danach, dieser Welt in eine mystische Vereinigung ihrer gesegneten Seelen mit Gott zu entfliehen. Sie beteten (und arbeiteten) für Gesundheit, Wohlstand, Nachkommen und ein langes Leben, um die Schlüsselkomponenten eines natürlichen Wachsens, das sich die meisten Menschen wünschen. Für sie war die Erlösung der Seele nur die eine Hälfte des Evangeliums; die andere Hälfte war die Gesundheit des Körpers.17 Wenn es schlimm kommt, dann bitten die Pflingstler Gott darum, ihnen die Tore zu einer aufwändigen Lebenshaltung zu öffnen, eine Praktik, die meine Eltern vehement missbilligten. Wenn es sehr gut läuft, ahmen sie Jesus nach, der nachts betete und tagsüber die Kranken heilte und den Hungrigen zu essen gab. Meine Eltern bemühten sich darum, Gott zur Quelle und zum Ziel ihres Lebens zu machen. Von ihm erbaten sie die Kraft, die Güter des alltäglichen Lebens zu erwerben, um sie zu genießen und an alle weiterzugeben, die weniger wohlhabend waren als sie selbst.

Mit den Jahren bin ich nach und nach zur Episkopalkirche gekommen, aber wichtige Impulse des Glaubens meiner Eltern, von denen einige unter Christen weit verbreitet sind, blieben mir erhalten. Ich betrachte die Beziehung Gottes zu den Menschen und die der Menschen zu Gott als Bedingung für die Möglichkeit menschlichen Lebens und Wachsens in allen Dimensionen. Ich glaube, dass Glaube und Politik zwei voneinander verschiedene kulturelle Systeme sind. Ich glaube aber auch, dass ein authentischer Glaube immer engagiert ist und daran arbeitet, Leiden zu lindern, und sich auch gegen soziale Ungerechtigkeit, politische Gewalt und die Zerstörung der Umwelt zur Wehr setzt.

Die Pfingstler, unter denen ich nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg aufwuchs, waren Revolutionäre. Bewaffnet waren sie aber nicht mit AK-47 Sturmgewehren, sondern mit dem Evangelium des Friedens. Als Mitglieder einer winzig kleinen und unterdrückten Gemeinschaft hofften sie auf eine neue Weltordnung, auf eine radikal neue Weltordnung, wie sie die Bibel in der Offenbarung des Johannes zeichnet, auf »einen neuen Himmel und eine neue Erde« (Offenbarung 21,1). Der Messias, derselbe Jesus Christus, der in Palästina im 1. Jahrhundert am Kreuz gestorben, am dritten Tage wieder auferstanden und in den Himmel aufgefahren war, er wird in Herrlichkeit wiederkehren. Dann »gehört die Herrschaft über die Welt unserem Herrn und seinem Gesalbten; und sie werden herrschen in alle Ewigkeit« (Offenbarung 11,15). Die Mitglieder unserer Gemeinde sangen diese Worte nicht mit derselben Perfektion wie die Chöre in den großen Kathedralen, wenn das »Halleluja« aus Händels Messias erschallt – aber sie glaubten an diese Worte. Sie erwarteten tatsächlich »das Ende der Geschichte«, wie wir sie kennen. Sie formten so ihre eigene Gestalt der Jahrhunderte alten jüdischen, christlichen und muslimischen Hoffnung, die eine zutiefst diesseitige religiöse Hoffnung ist. Eine Erwartung, die später oft um ihren Wirklichkeitsbezug entleert und in den Horizont einer geschichtslosen Ewigkeit verschoben wurde, um dann zu profanen globalen Utopien säkularisiert zu werden, wie bei Marx im Bild der kommunistischen Gesellschaft oder, in gewisser Weise, bei Fukuyamas in der Gestalt liberaler Demokratie.18

Nun kann man fragen: Warum warteten sie auf diese neue Weltordnung? Warum krempelten sie nicht die Ärmel hoch und arbeiteten daran, sie herbeizuführen? Nun: Diese Frage ist falsch gestellt, weil sie davon ausgeht, dass warten und arbeiten einander ausschließen. Das ist aber nicht der Fall. Man kann durchaus arbeiten und doch warten in der Hoffnung auf etwas Größeres, als Menschen allein es erreichen können. Denn für meine damalige Gemeinschaft war das einzige Ende der Geschichte, auf das es sich zu hoffen lohnte, nicht einfach eine reformerische oder sogar revolutionäre Transformation globaler politischer und wirtschaftlicher Systeme. Wenn die Geschichte zu Ende kam, dann bedeutete das eine umfassende »Erlösung«, die Freiheit vom Tod, vom Bösen und vom Leiden sowie eine Freiheit für beständige Liebe, Schönheit und Wahrheit. Und diese Gemeinschaft wartete, weil eine am Rand stehende Gemeinde von Männern, die die Gewalt des Krieges oder die Qualen der Arbeitslager überlebt hatten, und von Frauen, die Vergewaltigung erdulden mussten oder um gefallene Söhne und Ehemänner trauerten, kaum glauben konnte, dass jemals ein politisches oder wirtschaftliches System so gestaltet werden könnte, dass es nicht die schwächsten und verwundbarsten seiner Mitglieder zerbrechen würde. Alle Könige und Führer, demokratisch gewählt oder nicht, waren verdächtig, denn sie alle waren darauf aus, ihr eigenes Bankkonto zu füllen und im Luxus zu schwelgen, während die Armen, Unterdrückten und Enteigneten im Elend lebten. Unbedeutende Menschen wie meine Eltern warteten also darauf, dass der »König der Könige und Herr der Herren« kommen würde, um die Dinge in der Welt richtigzustellen (Offenbarung 19,16).

Auch wenn es passiv und machtlos aussieht zu »warten, war dies doch die richtige Haltung, vorausgesetzt man verstand es, richtig zu warten. Ich habe das als Teenager nicht so gesehen, habe aber, nachdem ich als Student einen der größten Theologen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Jürgen Moltmann, gehört habe, meine Meinung geändert. Moltmann, mehr ein politischer als ein mystischer Theologe, unterschied schon am Beginn seines theologischen Weges zwei Arten von Zukunft: Futurum und Adventus. Futurum bezeichnet die Zukunft, die mit Hilfe gegenwärtiger Ursachen erklärt werden kann, es geht um die Zukunft, mit der die Gegenwart schwanger ist und die sie gebären wird. Adventus meint eine Zukunft, die von außerhalb von Zeit und Raum kommen wird, als die Erfüllung des Versprechens Gottes.19 Das Ende der Geschichte, so Moltmann, ist die Zukunft als Adventus, nicht als Futurum. Man kann diesen Adventus nicht hervorbringen, indem man ein falsches Weltsystem durch ein richtiges ersetzt oder an dem Zustand der Welt herumbastelt, wie man es bei einer stotternden Maschine tun würde, um sie wieder zum Laufen zu bringen. Das Ende der Geschichte kommt, wenn Gott kommt. Die Christen haben das schon immer die »Wiederkunft« Christi genannt.

Der christliche Glaube behauptet ganz unbescheiden, dass die Globalisierung – also der gegenwärtige Zustand wechselseitiger Verknüpfungen und Abhängigkeiten in der Welt, der ganze Prozess, der dazu führte, und der kapitalistische Markt gemeinsam mit dem »Geist der Unersättlichkeit«, der ihn heutzutage im Wesentlichen antreibt – einfach nur ein Moment in dem großen Bogen der Geschichte ist, der mit der Schöpfung begann und mit der Neuschöpfung enden wird. Gott erschuf die Welt am Anfang aus dem Nichts (ex nihilo); Gott wird die neue Welt am Ende aus der alten erschaffen (ex vetere).20 Beide Schöpfungen sind Gottes Werk; die Menschen waren bei der ersten Schöpfung nicht dabei, und es liegt außerhalb unserer Macht, die zweite hervorzubringen. Deswegen beten wir: »Der Herr komme!« Und wir warten.

Aber was bedeutet es, zu warten? Auf etwas zu warten steht im Gegensatz zu »etwas verwirklichen«. Viele Menschen erleben heutzutage Religion – oder die Religionen, die von ihrer eigenen verschieden sind – als eine irrationale Kraft, die sich Unwilligen aufzwingen will, und die Geschichte der Religionen, einschließlich der des Christentums, gibt ihnen Recht. Wenn aber Warten für den authentischen christlichen Glauben so wesentlich ist, dann ist es für diese Religion unangemessen, sich anderen aufzwingen zu wollen. Nicht selbst – beispielsweise durch die »Christianisierung« der Welt – das erschaffen zu wollen, was die Ankunft Gottes herbeiführen wird, ist ein zentrales Charakteristikum des Glaubens.21 Das ist die passive Seite des Wartens.

Warten hat aber auch eine aktive Seite. Die Ankunft Gottes hat zwei Dimensionen: zum einen die Dimension der Wiederkunft, wenn Gott das Ende der Geschichte hervorbringen wird, und zum anderen die Dimension der Ankunft, wenn Gott in die Geschichte eintritt. Das Leben Jesu Christi, in dem Gottes Kommen gekommen ist und im Kommen bleibt, veranschaulicht, was wir tun, während wir warten. Wir wurden geboren, und neue Möglichkeiten eröffnen sich für uns und die Welt22; wir hören eine Stimme vom Himmel in den Tiefen unseres Seins, die uns dazu aufruft, Gott über alles zu lieben und unsere Nächsten wie uns selbst, und unsere Leben werden radikal umgewendet23; wir feiern und verstärken, was gut in uns und in unserer Umgebung ist, und wir heilen, was zerbrochen ist, und verbessern, was vollendet werden kann.

Und gelegentlich werden wir auch vor dem weichen müssen, was unveränderlich zerstörerisch und böse ist. Dann gilt, was Dietrich Bonhoeffer so formulierte: »Es wird nicht die Aufgabe unserer Generation sein, noch einmal ›große Dinge zu begehren‹, sondern unsere Seele aus dem Chaos zu retten und zu bewahren und in ihr das Einzige zu erkennen, das wir wie eine ›Beute‹ aus dem brennenden Hause tragen.«24

Während wir auf den Christus warten, der in Herrlichkeit kommen wird, und in unseren alltäglichen Handlungen Christus folgen, der in Demut gekommen ist, sollten wir weder untätig sein, noch etwas erzwingen wollen. Aber wir sollten immer engagiert bleiben.25

In diesem Buch geht es um die Weltreligionen und die Globalisierung. Jedes Mal, wenn ich den dem Buch zugrunde liegenden Kurs über dieses Thema in Yale durchführte, hat der eine oder andere Student gefragt: »Aber wie steht es mit nichtreligiösem Glauben?« Die Studierenden dachten dabei an unterschiedliche Formen des eher philosophisch orientierten säkularen Humanismus wie zum Beispiel an den kommunistischen Humanismus von Karl Marx oder an den evolutionären Humanismus von Julian Huxley, oder an ein ganzes Sammelsurium von unterschiedlichen humanistischen nichtreligiösen Glaubensmodellen.26 Einige Studenten mit einer säkularen Weltanschauung fühlten sich in dem Seminar über Religionen und Globalisierung ausgeschlossen. Andere glaubten, dass es in die falsche Richtung gehe, denn sie betrachteten Religionen im Wesentlichen als Hindernisse für den Fortschritt, als unheilvolle Kräfte. Sie meinten, moralische Orientierung müsse aus säkularen Visionen vom menschlichen Gedeihen entstehen. Warum also lasse ich in diesem Buch, wie ich es auch in dem Seminar getan habe, säkulare humanistische Perspektiven beiseite und berücksichtige nur die Weltreligionen? Zum einen weil religiös motiviertes Zelotentum auf der einen und irrationales Zaudern auf der anderen Seite wesentliche Probleme in einer so sehr wechselseitig verbundenen und abhängigen Welt darstellen. Religionen sind ein globales Problem, das nachdrücklicher Aufmerksamkeit bedarf. Doch Religionen sind nicht nur ein Problem. Sie sind auch ein unverzichtbarer Teil der Lösung. Und das ist der zweite und sogar wichtigere Grund, warum ich mich auf Religionen konzentriere.

Die Weltreligionen sind wohl die kraftvollsten Quellen moralischer Motivationen und Orientierung. Sie transportieren Visionen eines guten Lebens, die Milliarden von Menschen im Laufe der Geschichte überzeugend fanden und auch heute noch finden. Kern dieser Vorstellungen ist die überragende Bedeutung der Transzendenz, der unsichtbaren Bereiche, ja: Gottes – aber nicht verstanden als eine mysteriöse Macht außerhalb der Welt. Die Beziehung, die wir zu jenem transzendenten Bereich haben, beeinflusst ganz grundlegend, in welcher Beziehung wir zu unserer Welt stehen und wie wir sie und uns selbst verstehen.

Betrachten wir zunächst einmal die Natur der Welt. Christen, um bei dem Beispiel meines eigenen Glaubens zu bleiben, glauben, dass Gott der Schöpfer ist: »Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen«, schrieb Martin Luther (1483–1546) in seinem Kleinen Katechismus. Daran festzuhalten, dass Gott »alle Kreaturen« geschaffen hat, heißt aber nicht, sich auf ein altes heiliges Buch zu berufen und die Forschungsergebnisse der modernen Physik, Kosmologie und Evolutionsbiologie abzulehnen. Es bedeutet vielmehr, eine bestimmte Beziehung zu sich selbst und zur Welt zu haben, die Welt und das eigene Leben beispielsweise als Geschenk zu verstehen und nicht als irgendwie zufällige Form von Materie und Energie. Stellen Sie sich einen Gegenstand vor, den Sie sehr mögen, zum Beispiel eine kunstvoll angefertigte, wunderschöne Brieftasche aus Leder mit einer Textur, die zu berühren man kaum widerstehen kann. Stellen Sie sich zunächst vor, wie Sie sich in einem Geschäft diese Brieftasche genau anschauen und überlegen, ob Sie sie kaufen sollen. Dann stellen Sie sich vor, wie Sie sie in der Hand halten, als Geschenk von einem Menschen, den sie lieben, das sie an ihre erste Verabredung erinnert. In beiden Fällen handelt es sich um denselben Gegenstand und doch auch wieder nicht: Die Liebe zwischen Ihnen und dem, der ihnen das Geschenk machte, ist Teil der Erfahrung, die Sie mit dem Gegenstand machen, der Wertschätzung und der Freude, die Sie empfinden. So ist es auch mit der Weise, wie Christen die Welt sehen: nicht als zufällig gewordenen Kosmos, sondern als geschenkte Schöpfung.

Betrachten wir nun die Menschen als Gottes Geschöpfe. Das Wichtigste an uns ist nicht, dass Gott uns erschaffen hat; Gott erschuf auch Bakterien. Das Wichtigste ist, dass Gott uns erschaffen hat für eine Beziehung mit Gott.27 Gott ist nichts, dass zu unserem schon vollendeten Dasein hinzukommt.Wir sind vielmehr, wie ich im zweiten Kapitel zeigen werde, in der tiefsten Struktur unseres Seins auf Gott hin ausgerichtet, sogar schon bevor unser Wille überhaupt ins Spiel kommt. Wir nennen uns »religiös«, wenn wir diese Ausrichtung auf Gott hin annehmen und zum Ausdruck bringen und in der Welt mehr sehen als nur die Summe ihrer Teile; wir nennen uns »säkular«, wenn wir das nicht tun. Aber die Tatsache dieser Ausrichtung bleibt unbeeinflusst davon, wie wir uns nennen oder was wir tun, ebenso wenig wie sich die Wirklichkeit der Welt als Schöpfung ändert, ob wir sie nun als göttliches Geschenk erleben oder nicht.

Der christliche Glaube ist nicht allein, wenn es darum geht, solche Dinge zu behaupten. Anders als die unterschiedlichen Formen des säkularen Humanismus, für die nichts anderes der Fall sein kann als die sicht- und messbare Welt28, haben auch andere Religionen ihre je eigenen Überzeugungen, dass die Welt mehr ist als ihre physische Gestalt und dass die Menschen auf Gott hin ausgerichtet sind. Wie ich im zweiten Kapitel darlegen werde, behaupten die Weltreligionen, dass die Wirklichkeit aus »zwei Welten« besteht, einer transzendenten und einer diesseitigen. Ihrer Auffassung nach leben die Menschen im Spannungsfeld dieser beiden Welten. Für die Weltreligionen ist der transzendente Bereich der Schlüssel zu einem guten Leben in der diesseitigen, profanen Welt. Miteinander diskutieren die Weltreligionen über die Natur des transzendenten Bereichs, z.B. über die Frage, ob diese personal verstanden werden kann oder nicht. Auch haben sie unterschiedliche Auffassungen darüber, wie der Charakter der Beziehung zwischen der Transzendenz und den profanen Bereichen zu verstehen ist, ob das Verhältnis beider Bereiche beispielsweise dualistisch-konkurrierend oder eher im Sinne einer Einheit zu verstehen ist. Trotzdem stimmen sie alle darin überein, dass der transzendente Bereich äußerst bedeutsam ist für die menschliche Existenz, für die Weise unserer Welterfahrung und für ein gutes Leben. Und diese Grundüberzeugung bildet den Kern der Haltungen, die die Weltreligionen zur Globalisierung einnehmen.

Für mich als Christ entscheidet sich der Ablauf der Weltgeschichte und damit auch die Frage, welche Gestalt und Richtung die Globalisierung nimmt, auf dem Hintergrund eines Wettbewerbs der Wünsche in den Herzen der Menschen: Sehnen sich die Menschen nach dem Gott »jenseits« dieser Welt (und betrachten entsprechend die Welt als Gottes Schöpfung) oder hängen sie ihr Herz an die Götzen in dieser Welt (und entscheiden sich letztlich darum gegen die Welt)? Zwei bedeutende Gebote bestimmen dabei meine Einstellung zur Globalisierung. Als Antwort auf die Frage eines Rechtsgelehrten, welches Gebot des jüdischen Gesetzes das wichtigste sei, sagte Jesus: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Matthäus 22,37–39; Zitate aus 5. Moses [Deuteronomium] 6,5 und 3. Moses [Levitikus] 19,18). Gemeinsam bringen diese beiden Gebote, die die Christen von den Juden gelernt haben und möglicherweise mit den Muslimen teilen29, zwei Dinge zum Ausdruck: den Vorrang des transzendenten Bereichs (die Liebe zu Gott) und die zentrale Bedeutung des diesseitigen Bereichs (die Liebe zum Nächsten). Analysiert man die Globalisierung auf diesem Hintergrund normativ, dann stellen sich folgende Fragen:

• In welcher Weise kann die Globalisierung die Liebe zu Gott behindern oder ermöglichen? Hier geht es (1) um Religionsfreiheit (Welchen Raum haben die Menschen unter den Bedingungen einer bestimmten Form von Globalisierung, Gott privat und öffentlich, je nach den Vorgaben des eigenen Gewissens, zu verehren?) und (2) um Götzenverehrung (In welchem Maße »verflacht« die Globalisierung die Welt und verstärkt den menschlichen Wunsch nach falschen Göttern?).• In welcher Weise kann die Globalisierung die Liebe zum Nächsten behindern oder ermöglichen? Hier geht es (1) um die menschlichen Fähigkeiten und Tugenden (Wie gut ist jeder Einzelne unter den Bedingungen einer bestimmten Form von Globalisierung in der Lage, seine oder ihre Fähigkeiten zu Liebe, die ihr oder ihm als Geschöpf nach dem Bilde Gottes gegeben sind, zu entwickeln und anzuwenden, um auf diese Weise Gott und den Nächsten umfassender zu lieben?) und (2) um die Lebensbedingungen (Welche sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen hat eine bestimmte Form von Globalisierung auf die wehrlosesten Bewohner dieses Planeten?).

Etwas anders ausgedrückt: Es geht um ein Leben, das charakterisiert ist durch die Liebe zu Gott und den Nächsten, und so um ein gedeihendes Leben; die Globalisierung ist dann wertvoll, wenn es ein Mittel ist, dieses zu ermöglichen.

Mit der Globalisierung verhält es sich ein wenig so wie mit unserer täglichen Arbeit. Wir arbeiten, um ein gedeihendes Leben zu ermöglichen. Am besten ist es aber dann, wenn wir auch bei der Arbeit gedeihen, wenn die Arbeit unser Wachstum nicht untergräbt, sondern verwirklicht. Globalisierung ist also in zweiter Linie auch in dem Maße wertvoll, in dem wir durch unsere Teilnahme an ihren Prozessen die Ziele verwirklichen können, denen sie dienen sollte. Entsprechend können die Mechanismen des globalen Systems den wirklich menschlichen Zielen aber auch entgegenwirken. Dann müsste unsere Einschätzung der Globalisierung entsprechend korrigiert werden. In der langen Entwicklung der globalen Märkte und der Kommunikationsnetzwerke, insbesondere während der Kolonialzeit, wurden ja tatsächlich Millionen von Menschenleben zerstört und geopfert. Zwar wurden viele Dinge erreicht, die begrüßenswert waren und auch bleiben. Die Prozesse selbst, die zu diesen Fortschritten führten, sie aber waren unterdrückend und tödlich. Heute ist das nicht anders: Millionen profitieren von den Erfolgen der Globalisierung. Sehr viele leiden aber auch unter ihr.

Wenn wir die Globalisierung bewerten wollen, dann muss das in Liebe gedeihende Leben ebenso wie das gequälte und verachtete, dann muss die Frage, ob man den Schwächsten Lebensmöglichkeiten gibt oder sie ihnen nimmt, in Rechnung gestellt werden. Ich glaube, wir sollten die historischen Prozesse in der Welt auf dieselbe Art beurteilen wie unser eigenes Leben. Oft sind wir in der Hektik des Alltags so gefangen, dass wie vergessen, was wirklich von Bedeutung ist. Manchmal bekommen wir Klarheit erst im Angesicht des Todes. Da das letzte Hemd keine Taschen hat, spielt es für uns, wenn wir sterben, keine Rolle mehr, wie viel materiellen Besitz, wie viel Ruhm, Macht und Ansehen wir angesammelt haben. Wichtig ist dann nur, wie sehr wir geliebt haben und geliebt wurden, wie viel wir anderen dabei geholfen haben, zu gedeihen und ein sinnvolles Leben zu führen. Als Christ glaube ich, dass Jesus Christus, die Inkarnation der Liebe zu Gott und anderen, das Maß wahrer Menschlichkeit darstellt. Daher läuft meine normative Bewertung der Globalisierung auf Folgendes hinaus: Sie ist in dem Maße gut, in dem sie mir und anderen dabei hilft, an dem Charakter und der Mission von Jesus Christus teilzuhaben. Sie ist unzulänglich in dem Maße, in dem sie das nicht tut. Vertreter anderer Religionen würden den Namen Jesus Christus durch andere ersetzen wie Buddha, Konfuzius, Mohammed oder die Namen anderer Weiser, Heiliger oder moralischer Ideale. Aber ich denke, dass sie alle die Globalisierung als ein Mittel ansehen würden, um authentisch menschliches Leben nach der Definition dieser Heiligen zu ermöglichen.

Vielleicht ist hier eine Bemerkung angebracht über die Beziehung zwischen der Prägung unseres Lebens (unser ganz eigenes Echo auf Jesus Christus) und unseren Lebensumständen (Globalisierung, die Prägung ermöglicht oder verhindert). Ich glaube, dass es möglich ist, Wünsche, Versprechen, Talente und Bemühungen auf Gott hin auszurichten, wie das in Jesus offenbart wurde, unabhängig davon, in welcher Situation wir uns befinden.30 In einem Brief an die Christen in Rom schrieb der Apostel Paulus: »Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt, bei denen, die nach seinem ewigen Plan berufen sind.« »Ist Gott für uns«, fährt der Apostel fort, »wer ist dann gegen uns?« Alle, die von Gott geliebt werden und die Gott lieben, sind letztlich unangreifbar durch »Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert« (Römer 8,28.31.35). Durch die Umstände nicht besiegt werden zu können bedeutet aber nicht notwendigerweise, ihnen gegenüber gleichgültig zu sein. Ein Leben, das von solchen negativen Erfahrungen geprägt ist, ist nicht ein Leben, wie es sein sollte, ist kein gedeihendes Leben.

Soziale Übereinkünfte können den Menschen helfen, ein gutes Leben zu führen, oder sie können die Menschen in Elend stürzen. Solche Übereinkünfte – wie zum Beispiel globale Handelsabkommen oder globale Umweltrichtlinien – können Manifestationen der Liebe zu Gott und zu den Nächsten sein, wenn sie fair sind und die grundlegenden Bedürfnisse der Schwächsten berücksichtigen, oder sie können Manifestationen der Selbstsucht und Gleichgültigkeit der Mächtigen sein. Dann sind sie auch Manifestationen der Verachtung Gottes, der Nächsten und unserer selbst. Wenn wir Gott lieben, der »die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht« und der »die Hungernden mit seinen Gaben beschenkt« (Lukas 1,52–53), erhöhen wir selbst die Niedrigen und beschenken die Hungernden mit guten Gaben. Von den Umständen unbesiegbar, wie wir es sind, werden wir daran arbeiten, sie zu verändern, und so bewirken, dass sich Gottes und unsere eigene Liebe in ihnen verwirklicht. Am Ende der Geschichte, nachdem die Arbeit von Jahrtausenden getan sein wird und der Austausch auf all den miteinander verbundenen Pfaden einer globalisierten Welt, wie wir sie kennen, an ein Ende gekommen ist, wird das Gold unserer Liebe zu Gott, zu unseren Nächsten und zu uns selbst im Feuer des göttlichen Urteils der Gnade geläutert werden. Dann wird der Schutt unserer Lieblosigkeit, unabhängig davon, wie kreativ und produktiv diese auch gewesen sein mag, verbrennen (siehe 1. Korinther 3,10–15).

Dies sind meine Überzeugungen, und dies ist meine Hoffnung, genährt vom christlichen Glauben, den ich angenommen habe. Sie wurden geschmiedet im Schmelztiegel der Umstände, unter denen ich gelebt habe. Dies ist mein Standpunkt, von dem aus ich über Glauben und Globalisierung schreibe.

Ich habe nun eine Reihe starker christlicher Überzeugungen skizziert, die mich zu meiner Sichtweise führen. In diesem Buch geht es aber um Religionen und Globalisierung, nicht nur um Christentum und Globalisierung. Ehe ich darum die Absicht und die These dieses Buches darstelle, muss ich erklären, welche Rolle die Religionen, abgesehen von meiner eigenen, bei diesem Vorhaben spielen.

Schon im Vorangegangenen ist deutlich geworden, dass ich eine mögliche Vorgehensweise verworfen habe. Ich hätte versuchen können, die Besonderheiten meines eigenen Glaubens und meiner Kultur abzustreifen und die Landschaften vielfältiger Religionen und Globalisierungsprozesse unparteiisch zu vermessen, so, als hätte ich keine Voreingenommenheiten oder eigene Interessen. Aber solch ein »objektiver, unvoreingenommener Blick« ist nicht möglich. Wir sind Wesen im Horizont von Raum und Zeit. Wir alle sprechen und schreiben aus unseren eigenen Blickwinkeln, selbst dann, wenn wir uns bemühen, in den Welten anderer zu wohnen und von ihnen zu lernen. Wenn wir über Weltreligionen und Globalisierung nachdenken, stellen wir aber zwangsläufig Behauptungen über Sachverhalte auf, die alle Menschen, ihre Glaubensgebäude und Praktiken, und unser alltägliches Leben auf diesem Planeten betreffen. Das bringt Autoren in eine Zwickmühle: Ihre Arbeiten sind speziell, kommen aber nicht umhin, Behauptungen aufstellen, die universale Gültigkeit beanspruchen. Wie bin ich mit dieser schwierigen Frage umgegangen? Nun: Ich versuche, von meinem Standpunkt aus allgemeingültige Behauptungen über einen planetarischen Prozess, genannt Globalisierung, und über andere Religionen aufzustellen.

Sie denken jetzt vielleicht, dass ich hier einfach die christliche Auffassung von Religionen und Globalisierung vorstelle, dass ich aus der Sicht einer Religion die Beziehung zwischen den beiden sowie die Beziehung unter den Religionen im Kontext der Globalisierung beschreibe. Das aber habe ich in meinem Buch »Öffentlich glauben in einer pluralistischen Gesellschaft«31 getan, ohne die globale Perspektive im Einzelnen einzunehmen. In diesem Buch geht es um die öffentliche Rolle des Glaubens und es ist von einem Christen für Christen geschrieben. Dabei habe ich hauptsächlich christliche Quellen benutzt. Es ist ein Buch, in dem ich im Gespräch mit Menschen, die säkular oder religiös, aber nicht christlich orientiert sind, eine christliche Vision religiöser Präsenz in Gesellschaft entworfen habe.32

Das vorliegende Buch ist anders. Es macht einen doppelten Vorschlag: zum einen dazu, wie sich Menschen mit christlichen Überzeugungen anderen Religionen und der Globalisierung gegenüber ins Verhältnis setzen sollten, aber auch dazu, wie Anhänger anderer Weltreligionen sich zueinander und zur Globalisierung ins Verhältnis setzen können. Es geht also darum, wie wir alle, Christen und Nicht-Christen, in all unserer zänkischen Unterschiedlichkeit, unter dem gemeinsamen globalen Dach leben können. Um einen solchen doppelten Vorschlag machen zu können, genügt es nicht, eine auf christlichen Quellen beruhende und durch das Gespräch mit anderen ergänzte Vision zu formulieren. Ich muss vielmehr auch zeigen, warum Anhänger anderer Weltreligionen Gründe haben, die in ihren eigenen tiefen Überzeugungen wurzeln, meinen Vorschlag anzunehmen oder zumindest ernst zu nehmen. Diese beiden Aspekte gleichzeitig ernst zu nehmen, ist das Wesentliche des dritten Weges, den ich in diesem Buch vorstelle. Tatsächlich sage ich den Anhängern anderer Weltreligionen: »Ich unterbreite hier einen christlichen Vorschlag, aber ich kann auf Wege hinweisen, in denen Sie als gläubiger Anhänger einer anderen Weltreligion sich seinen wichtigsten Elementen auch verpflichtet fühlen könnten. Wenn ich recht habe, wird uns das dabei helfen, miteinander auszukommen und in unserer gemeinsamen Welt besser zu leben.«