Lilien im Sommerwind - Nora Roberts - E-Book
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Lilien im Sommerwind E-Book

Nora Roberts

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Mit acht Jahren wird Tory Zeugin des gewaltsamen Todes ihrer besten Freundin. Achtzehn Jahre später kehrt sie in ihre Heimatstadt zurück, um den Mord an Hope aufzuklären. Mutig beginnt Tory mit ihren Nachforschungen. Dabei verliebt sie sich in Hopes Bruder Cade, der ihr bei der Suche nach dem Mörder zur Seite steht. Bald stellt sich jedoch heraus, dass dieser Fall nur der Anfang einer ganzen Serie ähnlicher Morde war. Und diese Serie ist noch nicht zu Ende.

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Seitenzahl: 728

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Das Buch

Vor achtzehn Jahren wurde in Progress, South Carolina das Schulmädchen Hope Lavelle ermordet. Das Verbrechen konnte niemals aufgeklärt werden. Die beste Freundin von Hope, Tory Bodeen, findet seitdem keine Ruhe. Acht Jahre ist es her, dass Tory ihre Heimatstadt verließ. Nun ist die junge Frau nach Progress zurückgekehrt, um sich mit einer Geschenkboutique selbständig zu machen. Doch heimlich stellt sie Nachforschungen über den Mord an ihrer Freundin an. Hopes Bruder Cade hilft ihr bei ihrer Suche nach dem Mörder und die beiden verlieben sich ineinander. Gemeinsam entdecken sie, das Hope das erste Opfer einer Mordserie war. Seitdem wurde jedes Jahr im August ein blondes Mädchen in Hopes Alter umgebracht. Alles deutet auf einen einzigen Mörder hin, auf einen Menschen aus Torys unmittelbarer Nähe.

Die Autorin

Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von 400 Millionen Exemplaren überschritten. Mehr als 175 Titel waren auf der New-York-Times-Bestsellerliste und ihre Bücher erobern auch in Deutschland immer wieder die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Keedysville, Maryland.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDie AutorinWidmungTory
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10
Progress - Fortschritt
Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20
Hope
Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30
Copyright

Für die Freundinnen meiner Kindheit,Blutsschwestern und Vertraute,mit deren Hilfe gewöhnliche Gärten zu magischen Wäldernwurden.

Tory

Für mich mein schöner Freund,wirst du nie alt;Wie ich dich erstmals sah,erscheinst du mir noch heut,so schön.

WILLIAM SHAKESPEARE

1

Sie erwachte im Körper einer toten Freundin. Sie war acht, groß für ihr Alter, mit leichten Knochen und zarten Gesichtszügen. Ihr seidiges Haar hatte die Farbe von reifem Weizen und fiel anmutig über ihren schmalen Rücken. Ihre Mutter kämmte es jeden Abend voller Liebe, einhundert Striche mit der weichen, silbergefassten Bürste, die auf dem zierlichen Kirschholzfrisiertisch des Kindes lag.

Der Körper der Kleinen erinnerte sich daran, sie spürte jeden langen, liebevollen Bürstenstrich. Sie kam sich dann immer vor wie eine Katze, die gestreichelt wurde. Sie erinnerte sich auch daran, wie das Licht über die Schachteln mit den Haarnadeln und über die Kristall- und Kobaltflaschen glitt und sich im silbernen Rücken der Bürste fing.

Sie erinnerte sich an den Duft im Zimmer und konnte ihn sogar jetzt riechen. Gardenien. Bei Mama waren es immer Gardenien.

Und im Spiegel konnte sie im Lampenlicht das blasse Oval ihres eigenen Gesichts sehen, so jung, so hübsch, mit nachdenklichen blauen Augen und einer glatten Haut. So lebendig.

Ihr Name war Hope.

Die Fenster und die Terrassentüren waren geschlossen, weil es Hochsommer war. Die Hitze presste ihre feuchten Finger gegen das Glas, aber innen war die Luft kühl, und ihr Baumwollnachthemd so gestärkt, dass es knisterte, wenn sie sich bewegte.

Sie selbst hatte nichts gegen die Hitze, und sie ersehnte das Abenteuer, aber sie behielt diese Gedanken für sich, als sie Mama einen Gutenachtkuss gab. Ihre Lippen streiften die parfümierte Wange nur.

Mama ließ stets im Juni die Läufer im Flur zusammenrollen und auf den Speicher bringen. Die dicken Piniendielen mit ihrer Schicht aus Bohnerwachs fühlten sich unter den bloßen Füßen des Mädchens glatt und weich an. Hope ging den Flur mit den einfachen Zypressenpaneelen und den goldgerahmten Gemälden entlang und dann die Wendeltreppe hinauf in das Arbeitszimmer ihres Vaters.

Dort war der Duft des Vaters. Tabak, Leder, Old Spice und Bourbon.

Sie liebte diesen Raum mit den runden Wänden und den großen, schweren Ledersesseln, die die Farbe des Portweins hatten, den ihr Papa manchmal nach dem Abendessen trank. Die Regale an den Wänden waren mit Büchern und Schätzen voll gestopft. Sie liebte den Mann, der mit einer Zigarre und dem Whiskeyglas an seinem riesigen Schreibtisch über den Büchern saß.

Die Liebe verursachte der Frau in dem Kind Herzschmerzen, sehnsüchtige, neidische Stiche – wegen dieser unkomplizierten und allumfassenden Liebe.

Seine Stimme war laut, seine Arme waren stark und sein Bauch fühlte sich weich an, wenn er sie in eine Umarmung zog, die so ganz anders war als der sanfte, zurückhaltende Gutenachtkuss von Mama.

Da ist meine Prinzessin,sie geht jetzt ins Königreich der Träume.Wovon werde ich träumen, Papa?Von Rittern und weißen Rössern und Abenteuern über dem Meer.

Sie kicherte, ließ aber ihren Kopf noch ein bisschen länger als sonst an seiner Schulter liegen und schnurrte tief in der Kehle wie ein Kätzchen.

Wusste sie es? Wusste sie, dass sie niemals wieder sicher und geborgen auf seinem Schoß sitzen würde?

Dann wieder die Treppe hinunter, vorbei an Cades Zimmer. Für ihn war noch nicht Schlafenszeit, weil er vier Jahre älter und ein Junge war, der an Sommerabenden lange aufbleiben und fernsehen oder Bücher lesen durfte, solange er morgens pünktlich aufstand und seine Pflichten erledigte.

Eines Tages würde Cade der Herr von Beaux Reves sein und selbst an dem großen Schreibtisch im Turmzimmer mit den Büchern sitzen. Er würde der Herr über die Angestellten sein, die Plantage und die Ernte überwachen und auf Sitzungen Zigarren rauchen und sich über die Regierung und den Preis für die Baumwolle beklagen.

Weil er der Sohn war.

Für Hope war das in Ordnung. Sie wollte nicht an einem Schreibtisch sitzen und Zahlen addieren müssen.

Vor der Tür ihrer Schwester blieb sie stehen und zögerte. Für Faith war es nicht in Ordnung. Für Faith schien nie etwas in Ordnung zu sein. Lilah, die Haushälterin, sagte immer, Faith würde sich sogar mit Gott dem Allmächtigen streiten, einfach nur, um ihn zu erzürnen.

Hope vermutete, dass das stimmte, und obwohl Faith ihre Zwillingsschwester war, verstand sie nicht, warum sie ständig an allem herumnörgelte. Gerade erst heute Abend war sie in ihr Zimmer geschickt worden, weil sie eine freche Antwort gegeben hatte. Jetzt war die Tür fest verschlossen, und es schimmerte auch kein Licht unter dem Türspalt durch. Hope stellte sich vor, dass Faith schmollend zur Decke starrte und die Fäuste so fest geballt hatte, als wolle sie mit den Schatten boxen.

Hope berührte den Türgriff. Meistens gelang es ihr, Faith aus ihren düsteren Stimmungen herauszuschmeicheln. Sie konnte mit ihr im Dunkeln im Bett kuscheln und Geschichten erfinden, bis Faith lachen musste und ihre Augen wieder trocken waren.

Aber heute Abend ging es um andere Dinge. Heute Abend ging es um Abenteuer.

Es war alles geplant, aber Hope ließ die Erregung erst zu, als sie in ihrem Zimmer war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie machte das Licht erst gar nicht an und bewegte sich leise in der vom Mondlicht silbern schimmernden Dunkelheit. Sie zog ihr Baumwollnachthemd aus und schlüpfte in Shorts und T-Shirt. Als sie die Kissen auf dem Bett so hinlegte, dass sie für ihre Kinderaugen aussahen wie ein schlafender Körper, klopfte ihr Herz angenehm heftig.

Dann zog sie unter dem Bett ihre Abenteuerkiste hervor. Die alte Frühstücksdose mit dem gewölbten Deckel enthielt eine warm gewordene Flasche Coca-Cola, eine Packung Plätzchen, die sie aus dem Küchenschrank stiebitzt hatte, ein kleines, verrostetes Taschenmesser, Streichhölzer, einen Kompass, eine Wasserpistole – geladen – und eine rote Plastiktaschenlampe.

Hope setzte sich einen Moment lang auf den Fußboden. Sie konnte ihre Buntstifte riechen und das Puder, mit dem sie nach dem Baden eingepudert worden war. Sie konnte, ganz leise, die Musik aus dem Wohnzimmer ihrer Mutter hören.

Als sie ihr Fenster aufzog und vorsichtig das Mückengitter herausnahm, lächelte sie.

Geschickt und gelenkig schwang sie ein Bein über das Fensterbrett und fand Halt in der Pergola, an der sich die Glyzinie emporrankte.

Die Luft war dick wie Sirup, und ihr heißer, süßer Duft füllte Hopes Lungen. Sie kletterte die Pergola hinunter, zog sich dabei einen Splitter in den Finger und sog zischend die Luft ein. Aber sie kletterte unbeirrt weiter, die Augen fest auf die erleuchteten Fenster im Erdgeschoss gerichtet. Ich bin nur ein Schatten, dachte sie, und niemand wird mich sehen.

Sie war Hope Lavelle, die junge Spionin, und um Punkt zweiundzwanzig Uhr fünfunddreißig hatte sie ein Treffen mit ihrer Kontaktperson, ihrer Partnerin.

Sie musste ein Kichern unterdrücken. Atemlos sprang sie zu Boden.

Um ihre Erregung noch zu steigern schoss sie wie ein Pfeil hinter die dicken Stämme der großen alten Bäume, die das Haus beschatteten, und spähte von dort zu dem schwachen blauen Licht, das aus dem Fenster drang, wo ihr Bruder fernsah, und zu dem hellen gelben Schein der Fenster, hinter denen ihre Eltern den Abend verbrachten.

Wenn man mich jetzt entdeckt, ist das eine Katastrophe für meinen Auftrag, dachte sie, während sie gebückt durch den Garten lief, durch den süßen Duft der Rosen und des nachtblühenden Jasmins. Das musste sie um jeden Preis verhindern – schließlich ruhte das Schicksal der Welt auf ihren Schultern und denen ihrer tapferen Partnerin.

Die Frau in dem Kind schrie auf: Geh zurück, o bitte, geh zurück! Aber das Kind hörte sie nicht.

Hope holte ihr pinkfarbenes Fahrrad hinter den Kamelien hervor, wo sie es am Nachmittag versteckt hatte, legte ihre Kiste in den weißen Korb und schob das Rad über den Rasen neben der kiesbedeckten Auffahrt, bis das Haus und die Lichter verschwunden waren.

Dann radelte sie wie der Wind und stellte sich dabei vor, das hübsche kleine Fahrrad sei ein schnelles Motorrad. Die weißen Plastikwimpel an der Stange flatterten im Wind und schlugen fröhlich aneinander.

Sie flog durch die schwüle Luft, und der Chor der Grillen und Zikaden wurde zum brummenden Motorgeräusch ihrer schnellen Maschine.

An der Straßengabelung bog sie links ab und sprang dann vom Rad, um es von der Straße in den schmalen Graben zu schieben, wo die Büsche es verdeckten. Obwohl das Mondlicht hell genug war, nahm sie die Taschenlampe aus ihrer Kiste. Die lächelnde Prinzessin Leia auf ihrer Armbanduhr sagte ihr, dass sie eine Viertelstunde zu früh war. Ohne Angst und ohne nachzudenken bog sie auf den schmalen Pfad in den Sumpf ein.

Ins Ende des Sommers, ins Ende der Kindheit. Des Lebens.

Hier war alles voller Geräusche – von Wasser, Insekten und kleinen Nachttieren. Das Licht drang in schmalen Streifen durch das Dach der Schirmakazien und der Zypressen mit den tropfenden Moosflechten. Hier wurden die Magnolienblüten dick und fett und verströmten einen betörenden Duft. Der Weg zur Lichtung war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Dieser Treffpunkt, dieser geheime Ort, wurde gut gepflegt, behütet und geliebt.

Da Hope als Erste da war, nahm sie Zweige und knorrige Äste vom Holzstapel und entzündete ein Feuer. Der Rauch sollte die Moskitos fern halten, aber sie kratzte bereits an den Stichen, mit denen ihre Arme und Beine übersät waren.

Sie nahm sich ein Plätzchen und ihre Cola und setzte sich hin.

Nach einer Weile fielen ihr die Augen zu, und die Musik des Sumpfes lullte sie ein. Das Feuer fraß sich durch das Holz und wurde zu Glut. Schläfrig legte Hope den Kopf auf die hochgezogenen Knie.

Zuerst war das Rascheln nur Teil ihres Traums, in dem sie durch verwinkelte Pariser Straßen schlich, um dem bösen russischen Spion nicht in die Arme zu laufen. Als jedoch ein Zweig unter einem Schritt knackte, fuhr ihr Kopf hoch, und sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Sie grinste breit, verfiel dann aber rasch in das professionelle Verhalten einer Geheimagentin.

Passwort!

Außer dem monotonen Summen der Insekten und dem leisen Knistern des Feuers herrschte Stille im Sumpf.

Taumelnd sprang Hope auf und hielt die Taschenlampe wie eine Pistole in der Hand. »Passwort!«, rief sie wieder und richtete den kurzen Lichtstrahl vor sich.

Jetzt jedoch raschelte es hinter ihr, also fuhr sie herum, und ihr Herz machte einen nervösen Satz. Angst, etwas, das sie in ihren acht kurzen Lebensjahren so selten verspürt hatte, schnürte ihr heiß die Kehle zu.

Komm schon, sag es. Du jagst mir keine Angst ein.

Ein Geräusch von links, absichtlich, höhnisch. Wieder stieg die Angst in ihr auf, und sie trat einen Schritt zurück.

Und dann hörte sie das Lachen, leise, keuchend, dicht bei ihr.

Hope rannte los, rannte durch die Dunkelheit und die schmalen Lichtstreifen. Blankes Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu, schnitt ihre Schreie ab, bevor sie sie ausstoßen konnte.

Hinter ihr schwere Schritte. Schnell, zu schnell, und viel zu nah. Etwas trifft sie von hinten. Ein heftiger Schmerz im Rücken, der ihr bis in die Fußsohlen schießt. Schwer fällt sie zu Boden, und schluchzend entweicht die Luft ihren Lungen, als er sie mit seinem Gewicht niederdrückt. Sie riecht Schweiß und Whiskey.

Sie schreit jetzt, einen langen verzweifelten Schrei, und ruft nach ihrer Freundin.

Tory! Tory, hilf mir!

Und die Frau, die in dem toten Kind gefangen ist, weint.

Als Tory wieder zu sich kam, lag sie auf den Fliesen in ihrem Patio. Sie trug nur ein Nachthemd, das von dem feinen Frühlingsregen bereits ganz durchweicht war. Ihr Gesicht war nass, und sie schmeckte das Salz ihrer eigenen Tränen.

Schreie hallten in ihrem Kopf wider, aber sie wusste nicht, ob es ihre eigenen waren oder die des Kindes, das sie nicht vergessen konnte.

Zitternd rollte sie sich auf den Rücken, damit der Regen ihre Wangen kühlen und ihre Tränen wegwaschen konnte. Die Episoden – Anfälle nannte ihre Mutter sie immer – ließen sie oft schwach und zitterig zurück. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie sie unterdrücken können, bevor sie sie überfielen. Oder der stechende Schmerz vom Gürtel ihres Vaters hatte sie verdrängt.

Ich peitsche dir den Teufel aus dem Leib, Mädchen!

Für Hannibal Bodeen war der Teufel überall – in jeder Angst und jeder Versuchung lauerte die Hand des Satans. Und er hatte sein Bestes getan, um seinem einzigen Kind das Böse auszutreiben.

In diesem Moment, während ihr die Übelkeit den Magen umdrehte, wünschte Tory, es wäre ihm gelungen.

Es erstaunte sie, dass sie jahrelang das, was in ihr war, angenommen hatte, es erforscht, benutzt, ja sogar willkommen geheißen hatte. Ein Vermächtnis, hatte ihre Großmutter zu ihr gesagt. Das zweite Gesicht. Das dritte Auge. Ein Geschenk des Blutes durch das Blut.

Aber da war Hope. Immer häufiger war da Hope, und die aufblitzenden Kindheitserinnerungen ihrer Freundin taten Torys Herzen weh. Und jagten ihr Angst ein.

Nichts, was sie je erlebt hatte, wenn sie ihre Gabe entweder unterdrückte oder annahm, hatte sie so mitgenommen, so überwältigt. Es machte sie hilflos, obwohl sie sich gelobt hatte, nie wieder hilflos zu sein.

Und doch lag sie hier auf ihrer Terrasse im Regen, ohne auch nur im Geringsten zu wissen, wie sie nach draußen gekommen war. Sie war in der Küche gewesen und hatte sich Tee gekocht, Licht und Radio waren an, und Tory hatte an der Theke gestanden und einen Brief von ihrer Großmutter gelesen.

Das war der Auslöser, stellte Tory fest, während sie langsam aufstand. Ihre Großmutter war das Bindeglied zu ihrer Kindheit. Zu Hope.

In Hope hinein, dachte sie, während sie die Terrassentür schloss. In den Schmerz und die Angst und das Entsetzen in jener schrecklichen Nacht. Und sie wusste immer noch nicht, wer es getan hatte oder warum.

Zitternd ging Tory ins Badezimmer, zog sich aus und stellte sich unter die heiße Dusche.

»Ich kann dir nicht helfen«, murmelte sie und schloss die Augen. »Ich konnte dir damals nicht helfen, und ich kann es auch jetzt nicht.«

Ihre beste Freundin, ihre Herzensschwester, war in jener Nacht im Sumpf gestorben, während sie, in ihrem Zimmer eingeschlossen, heiße Tränen weinte wegen der Schläge, die sie bekommen hatte.

Und sie hatte es gewusst. Sie hatte es gesehen. Sie war hilflos gewesen.

Schuldgefühle, so frisch wie vor achtzehn Jahren, überfluteten sie. »Ich kann dir nicht helfen«, sagte sie noch einmal, »aber ich komme zurück.«

Wir waren acht Jahre alt in jenem Sommer. In jenem lange vergangenen Sommer, als die heißen Tage endlos schienen. Es war ein Sommer der Unschuld und der albernen Streiche und der Freundschaft, die Art von Sommer, die uns wie eine hübsche Glaskugel umhüllt. Doch eine Nacht hat alles verändert. Seitdem war für mich nichts mehr wie vorher. Wie hätte es das auch sein können?

Die meiste Zeit im Leben habe ich es vermieden, darüber zu sprechen. Die Erinnerungen oder die Bilder hat das jedoch nicht verhindert. Aber eine Zeit lang versuchte ich, sie zu begraben, so wie Hope begraben war. Dies jetzt laut auszusprechen, wenn auch nur für mich, ist eine Erleichterung. Als zöge ich einen Splitter aus meinem Herzen. Der Schmerz wird noch eine Weile anhalten.

Sie war meine beste Freundin. Unsere Bindung besaß eine Tiefe und Intensität, wie sie nur Kinder herstellen können. Vermutlich waren wir ein seltsames Paar, die blonde, privilegierte Hope Lavelle und die dunkelhaarige, schüchterne Tory Bodeen.

Mein Vater hatte ein kleines Stück Land gepachtet, eine winzige Ecke der großen Plantage, die ihrem Vater gehörte. Manchmal, wenn ihre Mama ein großes Gesellschaftsessen oder eine ihrer prächtigen Partys gab, dann half meine Mama beim Saubermachen und Servieren.

Aber diese Kluft zwischen den gesellschaftlichen Schichten berührte unsere Freundschaft nie. Das kam uns einfach nie in den Sinn.

Hope lebte in einem prächtigen Haus, das einer ihrer exzentrischen Vorfahren so gebaut hatte, dass es eher einem Schloss glich als den georgianischen Villen, die damals so beliebt waren. Es war aus Stein, mit Türmen und Türmchen und Zinnen. Aber Hope hatte nichts von einer Prinzessin.

Sie lebte für Abenteuer. Und wenn ich mit ihr zusammen war, tat ich das auch. Ich floh aus dem Elend und dem Aufruhr in meinem Zuhause und meinem Leben und wurde ihre Partnerin. Wir waren Spione, Detektive, Ritter auf dem Kreuzzug, Piraten oder Raumfahrer. Wir waren tapfer und aufrichtig, kühn und wagemutig.

Im Frühling vor jenem Sommer ritzten wir uns mit ihrem Taschenmesser die Handgelenke auf. Feierlich tauschten wir unser Blut aus. Wir hatten wahrscheinlich Glück, dass wir keinen Wundstarrkrampf bekamen. Stattdessen wurden wir Blutsschwestern.

Sie hatte eine Zwillingsschwester. Aber Faith nahm selten an unseren Spielen teil. Sie fand sie zu albern oder zu rau und schmutzig. Irgendetwas hatte Faith immer daran auszusetzen. Wir vermissten ihre Wutausbrüche oder ihre Klagen nicht. In jenem Sommer waren Hope und ich die Zwillinge.

Wenn mich jemand gefragt hätte, ob ich sie liebe, wäre ich verlegen geworden. Ich hätte die Frage nicht verstanden. Aber ich habe sie seit jener schrecklichen Augustnacht jeden Tag vermisst. Sie hat mir gefehlt wie jener Teil von mir, der mit ihr gestorben ist.

Wir wollten uns im Sumpf, an unserem geheimen Ort, treffen. Vermutlich war er gar nicht besonders geheim, aber er gehörte uns. Wir spielten oft dort, in der feuchten grünen Luft, und erlebten unsere Abenteuer zwischen Moos, wilden Azaleen und dem Gesang der Vögel.

Man hatte uns verboten, nach Sonnenuntergang dort hinzugehen, aber wenn man acht Jahre alt ist, ist es aufregend, Verbote zu missachten.

Ich wollte Marshmallows und Limonade mitbringen – zum Teil aus purem Stolz. Meine Eltern waren arm, und ich war noch ärmer, aber ich musste etwas dazu beitragen, und so hatte ich das Geld gezählt, das ich in dem Steinkrug unter meinem Bett versteckte. Ich besaß in jener Augustnacht noch zwei Dollar und sechsundachtzig Cents – nachdem ich die Sachen bei Hanson gekauft hatte –, und hatte mein restliches Vermögen, das nur noch aus Pennies, Nickels und einigen hart verdienten Vierteldollarmünzen bestand, in einem Einmachglas versteckt.

Zum Abendessen gab es Hühnchen und Reis. Im Haus war es, obwohl der Ventilator auf Hochtouren lief, so heiß, dass das Essen eine Qual war. Aber wenn man auch nur ein Reiskorn auf dem Teller hatte, erwartete mein Vater, dass man es aß und dankbar dafür war. Vor dem Abendessen wurde gebetet. Je nach Daddys Stimmung dauerte das zwischen fünf und zwanzig Minuten, und in der Zwischenzeit wurde das Essen kalt, und der Magen knurrte und der Schweiß rann einem in Bächen den Rücken hinunter.

Meine Großmama pflegte immer zu sagen: »Als Hannibal Bodeen zu Gott fand, versuchte der, ein anderes Versteck zu finden.«

Er war ein großer Mann, mein Vater, mit einer breiten Brust und kräftigen Armen. Ich habe gehört, dass er früher einmal als gut aussehend galt. Die Jahre prägen einen Mann auf unterschiedliche Art, und meinen Vater hatten die Jahre bitter gemacht. Bitter und streng, mit einer unterschwelligen Gemeinheit. Er trug sein dunkles Haar zurückgekämmt, und unter dieser Haube wirkte sein Gesicht wie ein scharfkantiger Fels im Gebirge. Ein Fels, der dir die Haut von den Knochen reißen konnte, wenn du einmal nicht aufgepasst hattest. Auch seine Augen waren dunkel, ein flammendes Dunkel, das ich heute in den Augen einiger Fernsehprediger oder Obdachloser wiedererkenne.

Meine Mutter hatte Angst vor ihm. Ich versuche, ihr zu verzeihen, dass sie so viel Angst vor ihm hatte, dass sie mir nie beistand, wenn er mir mit seinem Gürtel seinen rachsüchtigen Gott einbläute.

An jenem Abend war ich still beim Abendessen. Wenn ich still war und meinen Teller leer aß, bestand vielleicht die Chance, dass er keine Notiz von mir nahm. Die Vorfreude auf die Nacht bebte in mir wie etwas Lebendiges. Ich hielt meine Augen gesenkt und versuchte, so zu essen, dass er mir weder vorwerfen konnte zu trödeln noch mein Essen herunterzuschlingen. Alles war bei Daddy immer ein schmaler Grat.

Ich erinnere mich noch genau an das Surren der Ventilatoren und an das Kratzen der Gabeln auf den Tellern. Ich erinnere mich an das Schweigen, an das Schweigen der Seelen, die sich furchtsam versteckten.

Als meine Mutter meinem Vater noch etwas Hühnchen anbot, dankte er ihr höflich und nahm sich ein zweites Mal. Alle im Zimmer atmeten erleichtert auf. Das war ein gutes Zeichen. Ermutigt machte meine Mutter eine Bemerkung darüber, wie gut die Tomaten und der Mais wuchsen und dass sie in den nächsten zwei Wochen einmachen würde. Drüben in Beaux Reves würden sie auch einmachen, und ob er es nicht auch für eine gute Idee hielte, wenn sie dabei helfen würde, weil man sie darum gebeten hatte.

Sie erwähnte nicht, dass sie dafür auch Geld bekommen würde. Selbst wenn Daddy gute Laune hatte, war es nicht gut, von dem Geld zu reden, das die Lavelles für einen Dienst bezahlten. Er war der Ernährer in diesem Haus, und diesen überaus wichtigen Punkt durften wir keinesfalls vergessen.

Alle im Zimmer hielten erneut den Atem an. Manchmal brachte allein schon die Erwähnung des Namens Lavelle Daddy in Rage. An jenem Abend jedoch erlaubte er es. Es sei eine ganz vernünftige Angelegenheit. Jedenfalls, solange sie darüber nicht ihre Pflichten vernachlässigte, die sie unter seinem Dach hatte.

Diese relativ freundliche Antwort brachte Mutter zum Lächeln. Ich erinnere mich noch, wie ihr Gesicht ganz weich wurde und wie sie fast wieder hübsch aussah. Ab und zu, wenn ich es ganz angestrengt versuche, kann ich mich erinnern, dass Mama einmal hübsch war.

Han, sagte sie lächelnd zu ihm, Tory und ich kümmern uns um alles hier, mach dir keine Sorgen. Ich gehe morgen zu Miss Lilah und rede mit ihr und sehe zu, dass wir alles schaffen. Von den Beeren mache ich auch Gelee. Ich weiß, dass ich hier irgendwo noch Paraffin habe, aber ich kann mich nicht entsinnen, wo es hingekommen ist.

Und das, diese rein zufällige Bemerkung über Gelee und Wachs und Vergesslichkeit, änderte alles. Vermutlich waren meine Gedanken während ihres Gesprächs abgeschweift, und ich war im Geiste bereits bei den Abenteuern, die wir erleben wollten. Und ohne nachzudenken, ohne über die Konsequenzen nachzudenken, sagte ich die Worte, die mich verdammten.

Die Schachtel mit dem Paraffin steht auf dem obersten Brett im Schrank über dem Herd, hinter der Melasse und dem Maismehl.

Ich sagte einfach, was ich in meinem Kopf sah, die viereckige Schachtel mit dem Wachsblock hinter der dunklen Flasche mit dem Sirup, und griff dann nach meinem kalten, süßen Tee, um die Reiskörner hinunterzuspülen.

Bevor ich den ersten Schluck trinken konnte, hörte ich, wie das Schweigen wieder einkehrte, die stumme Welle, die selbst das monotone Summen der Ventilatoren übertönte. Mein Herz begann heftig zu schlagen, und mein Kopf dröhnte vom angstvollen Rauschen meines Blutes.

Ganz sanft, wie er es vor seinen Tobsuchtsanfällen immer tat, fragte Vater mich, woher weißt du, wo das Wachs ist, Victoria? Woher weißt du, dass es da oben steht, wo du es gar nicht sehen kannst? Wo du es nicht erreichen kannst?

Ich log. Es war dumm, weil ich bereits dem Untergang geweiht war, aber die Lüge sprudelte als verzweifelte Verteidigung aus mir heraus. Ich sagte, ich hätte wahrscheinlich gesehen, wie Mama es dort hinstellte. Mir sei gerade eingefallen, dass ich gesehen hätte, wie sie es dort hinstellte.

Er zerriss die Lüge in winzige Fetzen. Er hatte eine ganz bestimmte Art, Lügen zu durchschauen und sie in der Luft zu zerreißen. Wann wollte ich das gesehen haben? Warum ich denn nicht besser in der Schule sei, wenn ich so ein hervorragendes Gedächtnis hätte, dass ich noch ein Jahr nach der letzten Einmachzeit wüsste, wo das Paraffin war? Und woher wollte ich wissen, dass es hinter der Melasse und dem Maismehl stand und nicht davor oder daneben?

Oh, er war ein kluger Mann, mein Vater, und ihm entging nicht das kleinste Detail.

Mama sagte nichts, während er mit dieser sanften Stimme sprach und wie mit seidenumwickelten Fäusten mit den Wörtern auf mich einschlug. Sie faltete die Hände, und diese Hände zitterten. Zitterte sie um mich? Ich nehme an, mir gefiel der Gedanke. Aber sie sagte auch nichts, als seine Stimme lauter wurde, nichts, als er den Stuhl zurückschob. Nichts, als mir das Glas aus der Hand glitt und auf dem Boden zerschellte. Eine Scherbe schnitt mir in den Knöchel, und in dem wachsenden Entsetzen verspürte ich auch diesen kleinen Schmerz.

Vater prüfte es natürlich erst nach. Das tat er immer, wobei er sich einredete, dass das nur gerecht und richtig war. Als er den Schrank öffnete, die Flaschen beiseite schob und langsam die viereckige, blaue Schachtel mit dem Paraffin hinter der dunklen Melasse hervorholte, weinte ich. Damals hatte ich noch Tränen, weil ich noch Hoffnung hatte. Selbst als er mich hochzerrte, hatte ich die Hoffnung, dass die Strafe dieses Mal nur aus Gebeten bestehen würde, stundenlange Gebete, bis meine Knie taub wurden. Manchmal, zumindest manchmal in jenem Sommer, reichte ihm das aus.

Hatte er mich nicht gewarnt, den Teufel nicht mehr einzulassen? Aber ich brachte immer wieder das Böse in dieses Haus und beschämte ihn vor Gott. Ich sagte, es täte mir Leid, ich hätte es nicht gewollt. Bitte, Daddy, bitte, ich werde es nie wieder tun. Ich werde brav sein.

Ich flehte ihn an. Er schrie Bibelsprüche und zerrte mich mit seinen großen, harten Händen in mein Zimmer, und immer noch flehte ich ihn an. Es war das letzte Mal, dass ich es tat.

Ich wehrte mich nicht gegen ihn. Wenn man sich wehrte, wurde es noch schlimmer. Das vierte Gebot war heilig, man musste seinen Vater in seinem Haus ehren, auch wenn er einen blutig schlug.

Sein Gesicht war hochrot vor Selbstgerechtigkeit, die so groß und blendend war wie die Sonne. Er schlug mir nur einmal ins Gesicht. Das brachte mich zum Verstummen. Und es tötete meine Hoffnung.

Ich lag bäuchlings auf meinem Bett, wehrlos wie ein Opferlamm. Als er seinen Gürtel aus den Schlaufen seiner Arbeitshose zog, klang es wie das Zischen einer Schlange. Dann, als er ihn durch die Luft knallen ließ, gab es ein kurzes, scharfes, sausendes Geräusch.

Er ließ ihn immer dreimal knallen. Die heilige Dreieinigkeit der Grausamkeit.

Der erste Schlag ist immer der Schlimmste. Ganz gleich, wie oft es ein erstes Mal gibt, der Schock und der Schmerz sind qualvoll und dir entweicht ein Schrei. Dein Körper bäumt sich abwehrend auf. Nein, nicht abwehrend, eher ungläubig, und dann hageln der zweite und der dritte Schlag auf dich hernieder.

Bald klingen deine Schreie mehr wie die eines Tieres als wie die eines Menschen. Deine Menschlichkeit ist untergegangen in einer Woge von Schmerz und Demütigung.

Vater betete immer, während er mich schlug, und seine Stimme dröhnte. Und unter diesem Dröhnen schwelte eine verborgene Erregung, eine gemeine Art von Lust, die ich nicht verstand, nicht kannte. Kein Kind sollte etwas über diese schlüpfrigen Untertöne wissen, und eine Zeit lang zumindest blieb auch ich davon verschont.

Als er mich das erste Mal schlug, war ich fünf. Meine Mutter versuchte, ihn aufzuhalten, und er verpasste ihr dafür ein blaues Auge. Sie versuchte es nie wieder. Ich weiß nicht, was sie an jenem Abend tat, während er den Teufel aus mir herausprügelte, der mir die Visionen eingab. Vor meinen Augen und in meinem Kopf war nur ein blutroter Schleier.

Der Schleier war Hass, aber das wusste ich ebenfalls nicht.

Als er ging und die Tür von außen abschloss, weinte ich. Nach einer Weile schlief ich über den Schmerzen ein.

Als ich erwachte, war es dunkel, und mir kam es so vor, als ob ein Feuer in mir brannte. Ich kann nicht sagen, der Schmerz sei unerträglich gewesen, weil ich ihn ja ertrug. Was blieb mir anderes übrig? Auch ich betete, ich betete darum, dass das, was in mir herrschte, nun endlich ausgetrieben worden war. Ich wollte nicht böse sein.

Und noch während ich betete, baute sich der Druck in meinem Magen auf, und das Prickeln erschien, wie scharfe, kleine Finger, die über meinen Nacken tanzten. Es war das erste Mal, dass es so zu mir kam, und ich glaubte, ich sei krank und habe Fieber.

Dann sah ich Hope, so lebendig, als ob ich auf unserer Lichtung im Sumpf neben ihr säße. Ich roch die Nacht, das Wasser, hörte das Sirren der Moskitos, das Summen der Insekten. Und wie Hope hörte ich das Rascheln im Gebüsch.

Wie Hope empfand ich Angst. Heiß stieg sie in mir auf. Als Hope wegrannte, rannte auch ich, und meine Brust schmerzte von meinem keuchenden Atem. Ich sah, wie sie fiel, weil jemand sie ansprang. Ein Schatten, ein Umriss. Ich konnte ihn nicht klar erkennen, aber ich konnte sie sehen.

Sie rief nach mir. Schrie nach mir.

Dann sah ich nur noch schwarz. Als ich erwachte, war die Sonne aufgegangen, und ich lag am Boden. Und Hope war fort.

2

Sie hatte beschlossen, sich in Charleston zu verlieren, und fast vier Jahre lang war es ihr auch gelungen. Die Stadt war für sie wie eine hübsche, großzügige Frau, bereit, sie an ihren weichen Busen zu drücken und die Nerven zu beruhigen, an denen die gnadenlosen Straßen New Yorks gezerrt hatten.

In Charleston waren die Stimmen langsamer, und in ihrem warmen, fließenden Strom konnte sie untertauchen. Sie konnte sich verstecken, so wie sie einst geglaubt hatte, sich im Menschengewühl des Nordens verbergen zu können.

Geld war kein Problem. Sie lebte sparsam und war immer bereit zu arbeiten. Sie hütete ihre Ersparnisse wie ein Falke, und als die Summe größer wurde, begann sie von einem eigenen Geschäft zu träumen. Sie wollte für sich selbst arbeiten und jenes ruhige, friedliche Leben führen, das ihr nie vergönnt gewesen war.

Sie blieb für sich. Echte Freundschaften bedeuteten auch echte Bindungen. Dem wollte sie sich noch nicht wieder aussetzen. Vielleicht war sie auch noch nicht stark genug dazu. Die Leute stellten Fragen. Sie wollten etwas über einen wissen, oder sie taten zumindest so.

Tory hatte keine Antworten zu geben und sie hatte nichts zu erzählen.

Sie fand ein kleines Haus – alt, heruntergekommen, perfekt  – und verhandelte hart, um es kaufen zu können.

Die Leute unterschätzten Victoria Bodeen oft. Sie sahen eine junge Frau, klein und schmächtig. Sie sahen die weiche Haut und die zarten Gesichtszüge, einen ernsten Mund und klare graue Augen, die sie fälschlicherweise für arglos hielten. Eine kleine Nase, ganz leicht nach oben gebogen, verlieh dem Gesicht, das von glatten braunen Haaren umrahmt wurde, etwas Niedliches.

Die Leute sahen Zerbrechlichkeit und hörten sie auch in dem weichen südlichen Akzent ihrer Stimme. Aber die Härte in Tory sahen sie nie. Härte, gewachsen aus unzähligen Schlägen mit einem Sam-Browne-Gürtel.

Tory arbeitete für das, was sie wollte, und kämpfte mit aller Entschlossenheit darum. Sie hatte das alte Haus mit seinem zugewucherten Garten und der abblätternden Farbe gewollt, und sie hatte so lange darum gefeilscht und gehandelt, bis es ihr gehörte. Bei Wohnungen fiel ihr New York wieder ein und das Desaster, mit dem ihr Leben dort geendet hatte. Wohnungen kamen für Tory nicht mehr infrage.

Sie hatte ihre Investition gepflegt und viel Zeit und Mühe auf die Renovierung des Hauses verwendet, immer ein Zimmer nach dem anderen. Es hatte volle drei Jahre gedauert, und jetzt konnte sie sich durch den Verkauf und ihre Ersparnisse ihren Traum erfüllen.

Sie musste nur nach Progress zurückgehen.

Tory saß an ihrem Küchentisch und las zum dritten Mal den Mietvertrag über die Geschäftsräume in der Market Street. Sie fragte sich, ob Mr. Harlowe im Maklerbüro sich wohl an sie erinnerte.

Sie war gerade zehn gewesen, als ihre Familie von Progress nach Raleigh gezogen war, damit ihre Eltern die Chance auf eine feste Anstellung bekamen. Bessere Arbeit, hatte ihr Vater behauptet, als sich mühsam von dem ausgelaugten Stück Land zu ernähren, das den allmächtigen Lavelles gehörte.

Natürlich waren sie in Raleigh genauso arm gewesen wie in Progress. Sie hatten zudem noch weniger Platz gehabt.

Aber das spielt keine Rolle, dachte Tory. Sie würde nicht wieder arm werden. Sie war nicht mehr das ängstliche, dünne Mädchen von einst, sondern eine Geschäftsfrau, die in ihrer Heimatstadt einen neuen Laden aufmachte.

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