Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Anna Schwanitz trennt nur noch ein Wimpernschlag von der Erfüllung ihrer Träume: Auf Rügen warten die große Liebe, beruflicher Erfolg und eine Heimat. Doch nach dem Mord an einer jungen Frau wird sie immer mehr zur Detektivin wider Willen. Der erste Fall von Anna Schwanitz handelt von Lebensträumen, die unter Lügen und Geheimnissen begraben werden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Isa Schikorsky wuchs an der innerdeutschen Grenze mit Fernsehkrimis aus Ost und West auf. Seit 1989 lebt sie in Köln und reist mindestens einmal im Jahr auf ihre Lieblingsinsel Rügen. Die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin publiziert seit 2009 Kriminalromane. Über Rügen und ihre Rügen-Krimis bloggt sie unter
https://schikorsky.wordpress.com
Website: http://www.Schikorsky.de
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Will dieser Winter denn überhaupt nicht enden?, dachte Anna kurz hinter Gustow. Schon Mitte März, und die Insel ist noch immer weiß. Zwischen den Bäumen der Allee glitzerte verharschter Schnee in der Mittagssonne. Die Dörfer schliefen. Auch in Poseritz war niemand auf der Straße. Keine vier Autos waren ihr bisher begegnet. Anna summte die Schlager von Radio Rügen mit und trommelte den Rhythmus sacht gegen das Lenkrad. Beschwingt und ein klein wenig nervös fühlte sie sich. Ganz anders als vor drei Jahren. Aufgeregt und angespannt war sie gewesen, als sie zum ersten Mal hier entlang gefahren war. Und voller Angst. Angst, sich wieder falsch entschieden zu haben. Wie schon so oft zuvor.
Das Weiß der Wiesen hob sich scharf vom Blau des Himmels ab. Am Waldrand ästen Rehe, Möwen glitten durch die Luft und stritten mit den Krähen.
Garz döste im Sonnenschein. Bürgerhäuschen, deren Dächer beinahe die Erde berührten, säumten die Straße zu beiden Seiten. Auf einer kleinen Anhöhe thronte der Backsteinbau von Sankt Petri. In den Jahren zuvor hatten am Friedhof immer schon die Schneeglöckchen geblüht. Anna lächelte. Inzwischen wusste sie, dass sie sich richtig entschieden hatte. Es war die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen.
»... besteht die Gefahr weiterer Erdabbrüche an den Steilküsten«, sagte die Nachrichtensprecherin gerade. Anna erinnerte sich, vor ein paar Tagen in der Berliner Zeitung über den Absturz der Wissower Klinken gelesen zu haben. Die Natur hatte ein Stück Natur zerstört. Der Wetterbericht klang wenig verlockend: Schnee und Frost, bis zehn Grad minus.
Anna fuhr den Polo an den Straßenrand und hielt an. Sie kramte das Handy aus ihrer Umhängetasche, die auf dem Beifahrersitz lag, tippte auf Wahlwiederholung und lauschte eine Weile dem Freizeichen. Dann sprang die Mailbox an. Merkwürdig, warum meldete sich Frank nicht? Schon die ganze Woche war er kaum zu erreichen gewesen. Sollte sie ihm eine Nachricht hinterlassen, damit er wusste, wann sie kam? Nein, das lohnte sich nicht. In höchstens einer halben Stunde wäre sie sowieso da. Sie stopfte das Handy wieder in die Tasche und lenkte den Wagen zurück auf die Straße.
Putbus wirkte wie eine Residenz im Puppenstubenformat. Die klassizistischen Häuser rund um den Obelisken am Circus strahlten mit dem Schnee um die Wette. Sie und Rügen – das war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick gewesen. Immer wieder fragte Anna sich, woran es lag. Waren es die klaren Farben der Landschaft, die Melodie des Meeres, der Salzgeruch des Windes? Oder alles zusammen? Jedenfalls war sie zum ersten Mal in ihrem Leben sicher gewesen, den Ort gefunden zu haben, an den sie gehörte. Von Jahr zu Jahr war das Gefühl stärker geworden. Nach jeder Saison war es ihr schwerer gefallen, wieder nach Berlin zurückzukehren.
Der Polo holperte noch ein Stück über Kopfsteinpflaster und erreichte dann die Bundesstraße. Der Verkehr nahm zu. In Baabe war die Bahnschranke geschlossen. Natürlich. Jedes Mal musste sie hier warten. Na ja, beinahe jedes Mal. Der ›Rasende Roland‹ pfiff und fauchte vorbei. Die Schranke öffnete sich. Nur noch ein paar Minuten zu fahren. Auf der Baaber Heide hatte der Wind den Schnee aus den Kiefern geschüttelt. Gelb leuchtete das Ortsschild von Göhren ihr entgegen. Sie war angekommen. Zum vierten Mal. Aber diesmal nicht für einen Sommer, sondern für ein ganzes weiteres Leben.
Anna passierte ›Janny’s Eissalon‹, das ›Wollstübchen‹, den ›Edeka‹, den ›Orientgrill‹, Pizzerien, Fischrestaurants und Schnickschnackläden. Erst der Mönchguter Museumshof ließ etwas vom pittoresken Fischer- und Bauerndorf erahnen, das die Hochglanzprospekte der Kurverwaltung rühmten. Der Polo bog in die Nordperdstraße ein, ruckelte über Katzenkopfsteine den notdürftig vom Schnee geräumten Weg bergauf, bis kurz vor dem Sturmsignal die Reifen über den Schotter des Hotelparkplatzes knirschten und dann zum Stillstand kamen.
Anna reckte den Kopf zum Rückspiegel. Sie strich sich die Locken hinter die Ohren – Drahthaare, hatte Tante Renate immer geschimpft, wenn sie sich mühte, die störrische Pracht zu bändigen. Jetzt zupfte Anna ein paar Ponyfransen in die hohe Stirn, probte ein Lächeln, das etwas schief geriet, und zog eine Grimasse. Sie fand, dass alles an ihr zu üppig geraten war: das Gesicht zu rund, der Busen zu voll, die Hüften zu breit. Beim Aussteigen versanken die Mokassins sofort im Schneematsch und färbten sich dunkel. Nässe tränkte die Strümpfe und kletterte hinauf bis zum Saum der Jeans. Frühlingsschühchen im Winter, typisch Großstädterin, dachte sie, wütend über sich selbst.
Sie sah hinüber zum Hotel, einer weißen Villa mit Erkern, Gauben und Türmchen. Das Sonnenlicht ließ die Schnitzornamente der Holzbalkone plastisch hervortreten. Im letzten Jahr hatte Frank mit ausgebreiteten Armen vor der Tür gestanden. Heute war nur Edgar da. Er stellte den Schneeschieber an die Hauswand.
»Tag, Anna«, grüßte er, als wäre sie gerade eine Stunde und nicht ein halbes Jahr fort gewesen. »Willkommen im Wintersportort Göhren.« Dabei zeigte er auf die Schneehaufen am Rand des Parkplatzes. Dann nahm er ihre beiden Koffer und marschierte los. »Dasselbe Zimmer wie immer?«
»Ich denke schon.« Anna versuchte mit Edgar Schritt zu halten und fragte nach Frank.
»Herr Pannwitt? Hat wohl zu tun. Irgendeine Tagung«, brummte Edgar. »Geh nur vorne rein.« Er selbst bog um die Ecke zum Personaleingang hinten bei den Müllcontainern.
Die Glastür glitt zur Seite. Da war es wieder, das inzwischen vertraute Prickeln, das sich stets einstellte, wenn sie hier ankam. Es war wie der Eingang in eine geheimnisvolle, fremde Welt. Eine Freitreppe mit fein ziseliertem Messinggeländer schwang sich hinauf zum ersten Stock. Sofas und Sessel leuchteten in Siena, Orange und Magenta.
Annas Mokassins quietschten leise auf den Fliesen. Vom Tresen der Rezeption aus winkte Nina.
»Hallo Chefin, schön, dass du da bist«, sagte sie und umarmte Anna.
»Noch Kollegin, bitte.« Anna machte eine Handbewegung, als wolle sie das Wort ›Chefin‹ ein Stück von sich weg schieben. »›Man soll es nicht beschreien‹, hat meine Großmutter in solchen Fällen immer geunkt.«
»Und mein Opa sagte immer: ›Nach der Schlacht werden die Toten gezählt‹«, lachte Nina. »Aber heute ist Bescheidenheit mega-out, vor allem, wenn eine Sache so sicher ist.«
Von wegen Bescheidenheit. Wenn du wüsstest, dachte Anna. Ihre Zurückhaltung war pure Fassade. Innerlich platzte sie beinahe vor Stolz über ihren Aufstieg vom Mädchen, das sich nicht entscheiden kann, zur zukünftigen Hoteldirektorin.
»Wo sind denn unsere Noch-Chefs?«, fragte sie lächelnd.
»Kröcherts sind heute Morgen für eine Woche zum Verwandtenbesuch nach Dresden gefahren. Frau Kröchert hat sich wie verrückt gefreut, endlich mal hier rauszukommen. Aber er wäre wohl lieber in seinem Weinkeller verschwunden«, sagte Nina. Sie lachten beide.
»Und wo steckt der designierte Hoteldirektor?«, fragte Anna weiter und bemühte sich, ihre Stimme lässig klingen zu lassen. »Ich konnte ihn nicht erreichen.«
»Frank wird oben bei den Sparkassenleitern sein«, sagte Nina. »Geh doch einfach hoch. Übrigens: Ist es okay, wenn du morgen mit dem Frühdienst beginnst?«
»Na klar.« Anna nickte. »Dann will ich mal, bis später.« Sie wandte sich zur Treppe. Im Marmorkamin knackten die Scheite. Der Geruch nach Holz und Harz vermischte sich mit Frühlingsblumenduft. Überall standen Töpfe und Vasen, gefüllt mit Tulpen, Hyazinthen und Narzissen.
Langsam stieg sie die Stufen zur ersten Etage hinauf und bog in den Flur ein. Der königsblaue Velours verschluckte das Geräusch ihrer Schritte. Vom Ende des Ganges her hörte sie Stimmen. Sie ging schneller. Wiedersehensfreude stieg in ihr auf. Der Weg führte am großen Bankettsaal vorbei zu einem Foyer, von dem aus die Tagungsräume abzweigten. Am Büfett blubberte ein Samowar neben Thermoskannen und Tellern mit Keksen.
Frank unterhielt sich an einem der Stehtische mit einer Blondine im Businesskostüm. Sie schaute grimmig, redete auf ihn ein und gestikulierte dabei heftig mit den Händen. Offensichtlich beschwerte sie sich über irgendetwas. Anna blieb hinter einer Yuccapalme stehen. Sie beobachtete die Szene, nein, eigentlich nur Frank. Sein ebenmäßiges Gesicht mit dem kantigen Kinn und der geraden Nase, die dunklen dichten Haare mit dem Ansatz zu Geheimratsecken, vor allem aber die Grübchen, die ihm jedes Lächeln in die Wangen kerbte und seinem Gesicht etwas Lausbubenhaftes gaben: Für sie war er der faszinierendste Mann der Welt.
Frank war völlig auf die Sparkassenblondine konzentriert. Er hatte den Kopf ein wenig in den Nacken gelegt, denn sie überragte ihn um Haupteslänge. Sein Lächeln signalisierte, dass er alle ihre Probleme verstand und sie umgehend lösen würde. Die Gesichtszüge seiner Gesprächspartnerin entspannten sich nach einer Weile, sie verstummte, hörte ihm zu und erwiderte schließlich sogar sein Lächeln.
Ein Telefon schrillte. Franks Blick wurde unruhig und er begann, seine Hände zu kneten. Schließlich verabschiedete sich die Frau mit einem leichten Kopfnicken und stöckelte auf einen Tagungsraum zu. Das Telefon schwieg. »Einen erfolgreichen Nachmittag noch«, rief Frank ihr hinterher und verschwand in seinem Büro.
Anna folgte ihm. Als sie die offene Tür erreicht hatte, saß Frank bereits am Schreibtisch und hielt sein Handy ans Ohr, sprach aber nicht.
»Anna«, rief er, drückte eine Taste und legte das Handy hin. Er sprang auf und kam auf sie zu. »Hallo Liebes, ich habe noch nicht mit dir gerechnet.« Er umfasste Annas Oberarme und küsste sie.
Dann trat er einen Schritt zurück. »Warum hast du nicht angerufen?«
Sie sagte ihm, dass sie es versucht hätte.
»Tut mir leid.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Seit ein paar Tagen ist hier der Teufel los. Solche Zicken und Schnösel hatten wir lange nicht.« Dann zählte er auf: die ständigen Sonderwünsche der Sparkassenleiter, die Reisegruppe aus Hannover, die heute Abend eintreffen würde, die morgen beginnende Tagung der Lesefreunde Mecklenburgs, das Bankett des Golfclubs am nächsten Samstag und so weiter und so weiter. Anna versuchte, seinen Blick einzufangen. Vergeblich. Seine grauen Augen fixierten einen Punkt neben ihr. Plötzlich hielt er inne und sah auf die Uhr. »Verdammt, schon so spät.« Er streckte die Hand vor, strich ihr eine Locke aus dem Gesicht und sagte mit einem entschuldigenden Lächeln: »Lass uns heute Abend in Ruhe reden, ja?«
»Natürlich ... sicher ...« Anna blieb noch einen Moment unschlüssig stehen, während Frank bereits wieder dem Schreibtisch zustrebte. Dann sagte sie leise: »Bis heute Abend dann«, drehte sich um und verließ den Raum.
Ihr Zimmer im vierten Stock empfing Anna wie eine alte Bekannte. Die Primel auf dem Schreibtisch – sicher wieder von Frau Kröchert – ließ bereits die Blüten hängen. Im letzten Jahr hatte daneben noch ein Rosenstrauß gestanden.
Anna streifte die Mokassins von den Füßen, quetschte sich auf Socken zwischen Bett und Sessel hindurch zum Fenster in der Dachschräge und drückte es auf. Kalte Luft strömte herein. Sie starrte hinaus auf die mit Schnee überpuderten Sträucher, auf den Unterstand mit den Müllcontainern und den Schotterplatz, auf dem nur wenige Autos parkten.
So hatte sie sich ihre Ankunft nicht vorgestellt. Warum war Frank gerade so kühl gewesen? War sie ihm nach zwei Jahren schon gleichgültig geworden? Oder sah sie mal wieder Gespenster? Warum konnte sie sich ihr verdammtes Misstrauen nicht abgewöhnen? Die Arbeit ging vor, das war von Anfang an so gewesen. Sie war in erster Linie Empfangssekretärin, er Direktionsassistent. Und jetzt musste Frank den Chef vertreten. War doch klar, dass er da nicht alles stehen und liegen lassen konnte, nur um sich mit ihr zu beschäftigen. Sie war einfach zu egoistisch.
Mit einem Ruck schloss Anna das Fenster, wandte sich um und ließ die Schlösser des großen Koffers aufschnappen. Zuoberst lag ein cremefarbenes Jackenkleid aus Seide, das sie vorsichtig über einen Bügel streifte und glatt strich. Dann räumte sie T-Shirts, Pullover, Strümpfe, Wäsche und Sportzeug in die Kommode, hängte Jeans, Kostüme, Blusen, Sommerkleider und die Regenjacke in den Schrank. Sie brachte die Kosmetiktasche ins Bad und versteckte die rissige Holzplatte des Tischchens unter einer Decke. Den dunkelbraunen Cordsessel dekorierte sie mit zwei Kissen, legte ein Plaid und einen Plüschfuchs mit eingerissenem Ohr aufs Bett und einen Stapel Kriminalromane auf den Nachttisch.
Schließlich wickelte sie vorsichtig zwei kleine Bilderrahmen aus Blasenpapier. In einem steckte das Foto eines Hochzeitspaares: Ernst blickten beide in die Kamera. Als hätten sie damals schon geahnt, dass ihnen nicht mehr viel Lebenszeit blieb. Dass Anna, die kleine Tochter, die sie bekommen würden, ohne sie aufwachsen musste. Nein, dachte Anna, so traurig sähe sie auf ihrem Hochzeitsporträt sicher nicht aus. Und sicher würde sie keine Nelken mit Asparagus als Brautstrauß im Arm halten, wie ihre Mutter damals.
Mit einem Taschentuch polierte Anna das Glas. »Mama, Papa«, flüsterte sie. Es klang fremd und ungewohnt. Vielleicht hing ihr ständiges Misstrauen mit dem frühen Tod ihrer Eltern zusammen. Einige Beziehungen waren daran zerbrochen. Die Männer hatten ihr vorgeworfen, sie sei zu eifersüchtig, klammere zu sehr, nähme ihnen die Luft zum Atmen. Anna verstand das nicht. Sie fand es normal, sich ganz auf den zu konzentrieren, den man liebt.
Sie griff nach dem zweiten Bilderrahmen. Vom Foto lachten ihr Tante Renate und Onkel Wolfgang aus dem Strandkorb entgegen. Sie selbst und Lars, ihr Cousin, buddelten im Sand. Ein typischer Urlaubsschnappschuss, eine ganz normale Familie. Die Familie, zu der sie gehörte. Anna rückte die Rahmen auf dem Nachttisch zurecht. Dann schloss sie die leeren Koffer und schob sie auf den Schrank.
In der Bäckerei und Konditorei ›Dobelstein‹ auf der Strandstraße stand Regina hinter dem Tresen. Regina Knoch war eine hagere Enddreißigerin mit leichtem Überbiss. Eine pragmatische Schönheit hatte Frank sie mal genannt. Er kannte sie seit der Unterstufe, sie stammten beide aus Bergen. Regina begrüßte Anna mit einem strahlenden Lachen, zählte aber weiter Brötchen in eine Tüte und reichte sie einer Kundin über den Tresen.
Anna musterte derweil Torten und Gebäck in der Vitrine. »Was gibt’s Neues?«, fragte sie.
»Was willst du hören?« Regina packte Sanddornplätzchen in eine zweite Tüte. Ihr blonder Pferdeschwanz wippte, an den Ohren schaukelten riesige Creolen. »Dass wir letzten Monat einen Orkan hatten? Dass meine Chefin in diesem Jahr zur Bernsteinkönigin gewählt werden will? Oder dass Ludwig eine neue Schrottplastik vollendet hat und morgen Abend feiert? Die ›Meeresgöttin‹ soll getauft werden. Du bist genau zum richtigen Zeitpunkt angekommen.«
»Aber ich bin doch nicht eingeladen.« Anna kannte Ludwig Neuhausen, den Berliner Künstler mit vielen Ambitionen und wenigen Erfolgen, nur flüchtig.
»Frank aber sicher.« Die Kundin bezahlte und verließ die Bäckerei. Regina grinste Anna an: »Apropos – Wie geht’s deinem Verlobten?«
»Das weißt du vermutlich besser. Ich hab ihn erst kurz gesprochen«, antwortete Anna.
»Schön wär’s. Er hat sich ziemlich rargemacht in letzter Zeit. Seit Monaten wollen wir uns treffen, nie hat es geklappt. Ist wohl viel los bei euch oben?«
»Ich weiß nicht«, sagte Anna ausweichend. »Ich bin noch keine zwei Stunden hier.« Während sie mit dem Finger auf die Kuchenstücke wies, die sie haben wollte, fragte sie: »Und wie steht’s bei dir mit der Liebe? Hat sich was Neues ergeben?«
»Einmal Single, immer Single«, lachte Regina. »Nein, du weißt doch, die Einheimischen kenne ich zu lange, die Urlauber immer nur zu kurz.«
Anna wusste, dass Regina ab und zu eine Affäre hatte, aber ansonsten nicht ungern allein lebte. Außerdem besaß sie einen weitverzweigten Freundeskreis.
»Wir sehen uns sicher morgen Abend«, sagte Regina, nachdem Anna bezahlt hatte. »Dann verabreden wir was. Wir müssen unbedingt mal wieder zusammen um die Häuser ziehen.«
Anna nickte. »Machen wir.«
»Sind Donauwellen dabei?«, rief Marlene statt einer Begrüßung und stürzte sich auf das Paket, das Anna auf dem Resopaltisch abgestellt hatte. Sie riss das Papier auf und enthüllte Donauwellen, Apfelkuchen und Frankfurter Kranz. Karin schob einen Stapel Kuchenteller daneben und legte Kuchengabeln dazu. Dann ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, kickte ihre Gesundheitssandalen unter den Tisch und angelte sich mit den Füßen einen Hocker heran.
»Achtzehn Zimmer für jede«, sagte sie und seufzte. »Wenn Kristina nicht bald kommt, streike ich.«
»Du wirst dich noch etwas gedulden müssen«, knurrte Marlene. »Von unserer allerseits geschätzten Hausdame Petra Johannmeier habe ich vorhin erfahren, dass Kristina sich beim Skifahren den Arm gebrochen hat und deshalb frühestens Ende April hier ist.«
»Das darf nicht wahr sein«, stöhnte Karin und massierte ihre Zehen.
»Wahrscheinlich sogar erst im Mai«, ergänzte Marlene sarkastisch.
Anna interessierte das übliche Gejammer der Zimmermädchen nicht sonderlich. Sie sah sich um. Die Kaffeemaschine auf dem Sideboard gurgelte vor sich hin. Vielleicht wellte sich das Poster mit van Goghs ›Sonnenblumen‹ etwas stärker als im Jahr zuvor, und aus den Plastikbezügen der Stühle quoll etwas mehr graugelber Schaumstoff, sonst aber schien alles unverändert im sogenannten Personalraum, einer Nische zwischen Küche und Spülanlage. Der Dunst von Schmorfleisch hing in der Luft. Doch gegen den Geruch von Scheuermittel, Seifenlauge und gärenden Essensresten konnte er sich nicht durchsetzen.
»Was habe ich verpasst?«, fragte Anna, holte ihren Becher aus dem Sideboard, goss Kaffee ein und setzte sich zu Karin und Marlene. Die beiden ließen sich nicht lange bitten. Abwechselnd erzählten sie von skurrilen Gästen und kleinen Missgeschicken. Nach und nach gesellten sich Patrick, der Kochlehrling mit der heftig blühenden Akne, und die beiden Kellnerinnen Steffi und Manu dazu. Irgendwann stand auch Paul, der Spüler aus Kenia, am offenen Durchgang und Edgar lehnte an der Anrichte. Kuchengabeln kratzten auf den Tellern, Kaffeelöffel klimperten gegen Porzellan.
»Die Johannmeier hat sich an den Küchenchef rangemacht«, sagte Karin.
»Und, hat er angebissen?«, wollte Anna wissen.
Karin schüttelte den Kopf. »Er hat behauptet, bei seinen Arbeitszeiten keine Beziehung eingehen zu können.«
Sie kicherten schadenfroh.
Steffi plauderte aus, dass Manu sich – wieder mal – un sterblich in einen Hotelgast verliebt habe, einen Architekten aus Kopenhagen.
Manu wurde rot und streckte Steffi die Zunge raus. »Petze«, keifte sie. »Ich jedenfalls glaube noch an die Liebe.«
Die anderen grinsten.
»Übrigens hat sich eine richtig tolle Frau bei uns einquartiert, Typ Supermodel«, schwatzte Steffi weiter. »Sie verdreht allen Männern im Haus die Köpfe.«
»Eine rassige Schönheit«, brummte Edgar.
»Flöckchen«, giggelte Karin, »mit ihrem Herrn Papa.« Und zu Anna gewandt: »Eine schwarzhaarige Gazelle. Du wirst sie morgen früh kennenlernen.«
Marlene wollte bemerkt haben, dass Kröchert in letzter Zeit schlecht gelaunt war. Er schien sich mit Frank gestritten zu haben. So ging es noch eine Weile weiter mit Klatsch und Tratsch. Patrick nahm sich das letzte Stück Kuchen, Edgar schaltete die Kaffeemaschine aus.
»Na, mischt man sich mal wieder unters Volk?«
Petra Johannmeier stand plötzlich neben dem Sideboard. Mit offensichtlicher Missbilligung musterte sie erst das Stillleben aus abgegessenen Tellern und Kaffeebechern, dann Anna. Anna wusste, dass die Hausdame nicht verstand, warum sie lieber mit den Kellnern, Zimmermädchen und Auszubildenden in dieser ungemütlichen Ecke aß, statt mit ihr und den anderen leitenden Angestellten im Restaurant.
»Vielleicht will man erfahren, ob der Liebste treu gewesen ist?«, presste die Johannmeier zwischen schmalen Lippen hervor und beugte den Kopf über einen Strauß Narzissen, den sie im Arm hielt.
Wie schrecklich sie aussieht, dachte Anna, mit ihren Haarstrippen und dem verhärmten Gesicht.
»Es gibt Männer, die man nicht zu lange allein lassen sollte«, fuhr die Johannmeier fort und verschwand dann so unvermutet, wie sie aufgetaucht war. Nur das Klacken ihrer Absätze auf den Fliesen war noch einen Moment lang zu hören.
Anna sah auf ihren Teller. Mit der Fingerkuppe schob sie Kuchenkrümel zusammen und tippte sie auf. Was sollte das denn jetzt? Hatte die sie gemeint? Anna wusste, dass die Johannmeier sie nicht ausstehen konnte, aber sie wusste nicht, weshalb. Vom ersten Augenblick an hatte sie ihre Abneigung gespürt. Man munkelte, die Hausdame habe sich ebenfalls für Frank interessiert. Aber das war jetzt zwei Jahre her. Langsam sollte dieser Drachen sich mit den Tatsachen abfinden.
Wir könnten ihr kündigen, dachte Anna und erschrak. Sie würde doch nicht ihre Position für private Rachefeldzüge missbrauchen, oder?
»In der Granitz haben sie Langlaufloipen gespurt«, sagte Edgar in das Schweigen hinein. Niemand reagierte.
Karin wandte sich an Anna. »Hast du vom Absturz der Wissower Klinken gehört?«
Anna nickte.
»Fünfzigtausend Kubikmeter Kreide«, dozierte Edgar. »Am Lobber Haken ist auch was runtergekommen. Jetzt stellen sie überall Schilder auf, die das Betreten der Steilküste verbieten.«
»Als ob das was nützt gegen den Leichtsinn der Leute«, sagte Paul.
»Ideal um jemanden los zu werden«, warf Patrick ein.
»So ein Quatsch.« Karin tippte sich an die Stirn und begann das Geschirr zusammenzuräumen. »Derjenige müsste genau in dem Moment, in dem die Klippe abbricht, dort stehen.«
»Man kann ihm vorher einen Schubs geben«, beharrte Patrick.
»Wenn du Pech hast, überlebt er das«, warf Paul ein.
»Wer?«, fragte Karin.
»Aber nicht am Lobber Haken«, befand Edgar. »Da ist die Steilküste sicher mehr als zwölf Meter hoch. Das genügt.«
»Wie seid ihr denn drauf«, schimpfte Marlene. »Ich geh’ eine rauchen.« Sie kramte ein Päckchen Tabak und ein Zippo aus ihrem Kittel und ging in Richtung Hintertür.
Reinke, der Küchenchef, schaute um die Ecke. »Es geht los, Leute, alles auf die Posten.«
Stuhlbeine scharrten über die Fliesen, die restlichen Tassen wurden zusammengeschoben, der Personalraum leerte sich, der Abendbetrieb begann.
Kurz nach neun Uhr rief Frank aus der Bar an. Anna fuhr mit dem Aufzug in die vierte Etage. In der rundum verspiegelten Kabine konnte sie ihrem Gesicht nicht ausweichen. Winterblass schimmerte es im Neonlicht. Die Locken waren schon wieder vor die Ohren gerutscht. Energisch schob Anna sie zurück und drehte den Kopf etwas zur Seite. So, fand sie, wirkte ihre Wangenlinie schmaler. Warum war eigentlich der Blusenkragen schon wieder verknautscht? Sie versuchte, die Spitzen in die richtige Form zu zupfen. Im zweiten Stock stieg ein Paar zu. Auf Annas Gruß reagierten die beiden nicht. Sie hielten so viel Abstand wie möglich und starrten nebeneinander ins Unbestimmte. Anna musterte die Frau verstohlen. Wieso schafften es andere, immer akkurat gekleidet zu sein? Kein Stäubchen blitzte auf dem T-Shirt mit Strassbesatz, keine Knitterfalte verunzierte die schneeweißen Jeans. Mit einem Pling hielt der Lift. Die Tür glitt zur Seite und das Paar steuerte auf einen Tisch in der Nische neben dem Klavier zu.
Kai, der Barkeeper, kam hinter dem Tresen hervor und hauchte Anna einen Kuss auf die Wange: »Bella, du wirst immer schöner«, sagte er und strahlte sie an.
»Danke, ebenso.«
Kai sah umwerfend gut aus. Er war Mitte zwanzig und notorisch gutgelaunt. Die Frauen liebten seine bergseeblauen Augen und das blonde Strubbelhaar, das dazu einlud, es noch stärker zu zausen. Im rechten Ohrläppchen blitzte ein winziger Brillant. Im ersten Jahr hatte Anna eine heftige Affäre mit Kai gehabt, aber schnell gemerkt, dass er mit jeder Frau ins Bett ging, die ihm gefiel und die er haben konnte. Ihm gefielen viele. Und umgekehrt auch. Anna hatte den Verdacht, dass es Frauen gab, die wegen Kai ein Wochenende im Seehotel buchten. Weil er keiner falsche Versprechungen machte und sehr diskret war, verliefen die Liebesabenteuer meist zur gegenseitigen Zufriedenheit.
Frank saß an einem der fast bis zum Boden reichenden Fenster und blickte Anna lächelnd entgegen. Er trug noch immer den anthrazitfarbenen Anzug vom Mittag. Der obere Hemdknopf war geschlossen, die silbergraue Krawatte mit den Pünktchen perfekt geknotet. Wie aus dem Ei gepellt, hätte Tante Renate gesagt. Anna strich ihm kurz über die Schulter. Sandelholzduft streifte ihre Nase. Sie ließ sich in den Ledersessel ihm gegenüber sinken, legte die Arme auf die Lehnen und streckte die Beine aus.
Kai brachte Gläser, entkorkte eine Flasche Wein und stellte sie zusammen mit einem Schälchen Erdnüssen auf den niedrigen Tisch zwischen ihnen. Frank goss ein. »Frühburgunder von der Ahr«, sagte er.
Es war einer ihrer Lieblingsweine. Anna schwenkte ihr Glas und hielt es so, dass das Kerzenlicht hindurchschimmern konnte. Der Wein funkelte rubinrot und duftete nach Weichselkirsche und Johannisbeere. Sie stießen an. Anna schloss die Augen, um sich besser auf den ersten Schluck konzentrieren zu können: reife Frucht, weich, wunderbar strukturiert.
Glenn Millers ›Moonlight Serenade‹ ertönte. Kai besaß das exzellente Gedächtnis eines Barkeepers. Bei diesem Song hatten Frank und sie sich genau an dieser Stelle zum ersten Mal tief in die Augen geblickt und in ihrem altmodischen Musikgeschmack eine erste Gemeinsamkeit entdeckt.
»Schön, dass du endlich hier bist.« Franks Lächeln verstärkte sich. »Wie war dein Abschied von Berlin?«
»Ziemlich hektisch.« Anna schmiegte sich in den Sessel. Plötzlich kehrte das Glücksgefühl zurück. Sie war wirklich und wahrhaftig angekommen. Sie erzählte von den letzten Wochen. Der Job und die Wohnung waren gekündigt, Möbel und Umzugskartons warteten im Lagerhaus auf den Abtransport nach Göhren. »Sonst habe ich keinen Koffer mehr in Berlin«, sagte sie schmunzelnd. Etwas Neues begann. Zur Wehmut bestand kein Anlass. »Und hier? Was ist hier so passiert?«
»Nichts von Bedeutung.« Frank nahm sich eine Handvoll Erdnüsse. »Die Buchungen laufen prima. Für Juli sind wir komplett. Und als Tagungshotel finden wir auch immer mehr Zuspruch. Die Werbeaktion auf dem Kölner Reisemarkt hat eine Menge gebracht, obwohl Kröchert erst nicht viel davon hielt.«
»Du sollst mit ihm gestritten haben.«
»Wer behauptet das?« Franks Stimme klang ärgerlich. Er griff nach seinem Glas und trank. Dann fuhr er fort: »Dieser elende Tratsch hier im Haus. Aber du musst ja immer mit denen zusammenhocken.«
»Stimmt es denn?«, hakte Anna nach, ohne auf seinen Vorwurf zu reagieren.
»Nein, natürlich nicht.« Er nahm einen zweiten großen Schluck Wein, stellte das Glas ab und sprang auf. »Du musst dir unbedingt die Pläne ansehen. Warte, ich hole sie.«
Noch bevor Anna protestieren konnte, war Frank aus der Bar geeilt.
Kopfschüttelnd blickte sie ihm nach. Sie mochte Franks Spontaneität. Vor allem, weil sie selbst Entscheidungen gern hinauszögerte. Auf ihre Beziehung traf die Redensart von den Gegensätzen, die sich anziehen, hundertprozentig zu.
Nachdenklich drehte sie das Weinglas zwischen den Fingern und sah hinaus. Bei Tag konnte man von hier aus über Göhren, den Südstrand, die Ostsee und die Landschaft Mönchguts schauen. Jetzt spiegelten sich in der dunklen Fläche ihr Gesicht und die Flämmchen der Kerzen auf den Tischen. Weiter entfernt waren schemenhaft die Umrisse der Villen zu erkennen. Sie wirkten wie schwarze Gespenster. Nur hinter wenigen Fenstern brannte Licht. Nebensaison eben.
Anna überlegte, wann ihr Weg zur Hoteldirektorin eigentlich begonnen hatte. Kröcherts Herzinfarkt am Ende der letzten Saison – ja, das war der Anfang gewesen. Eines Morgens war er zusammengebrochen, aber noch rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen. Kürzertreten, hatten ihm die Ärzte verordnet. Da waren sie bei Kröchert aber an den Falschen geraten. »Habe ich deshalb nach der Wende alles umgestaltet und renoviert? Um es jetzt zu verkaufen? Niemals!«, hatte er geschrien und sich so sehr aufgeregt, dass seine Frau fürchtete, sein Herz könnte wieder ins Stolpern geraten. Bei den Angestellten war Panik aufgekommen. Was passierte mit ihren Arbeitsplätzen, wenn Kröchert aufgab?
»Weißt du, was wir machen?«, hatte Frank eines Abends zu Anna gesagt. »Wir übernehmen den Laden!«
Wieder eine seiner Verrücktheiten. Anna hatte ihn ausgelacht. Woher sollten sie das Geld nehmen, um ein Hotel zu kaufen? Doch Frank hatte sich in die Idee verbissen. In den nächsten Wochen rechnete und kalkulierte er nächtelang, verhandelte mit Banken und redete mit Kröchert. Und an einem Wochenende – sie war bereits wieder in Berlin – hatte er sie mit einem Vorvertrag überrascht. Sie würden zunächst eine Abstandszahlung auf das Inventar leisten, dann die laufenden Kredite übernehmen und Kröcherts eine monatliche Pacht zahlen. Dafür würden sie das Hotel einmal erben, denn Kröcherts hatten keine Kinder. Anna war erst skeptisch gewesen, doch irgendwann hatte Franks Begeisterung sie angesteckt.
»Hier schau!« Anna schreckte auf. Frank war zurückgekommen. Mit einer ungeduldigen Handbewegung schob er die Gläser und das Erdnussschälchen zur Seite und öffnete eine großformatige Zeichenmappe. »Wir bauen hinter dem Pool eine Wellness-Oase vom Allerfeinsten: türkischer Hamam, Blütengrotte, Rosensauna.« Die Computerentwürfe zeigten viel Marmor, Mosaike in Türkis, Blau und Gold, orientalisch anmutende Säulen und Bogengänge, Stoffzelte und Sitzkissen aus Brokat. Auf Franks Wangen breiteten sich rote Flecken aus. Er wies bald auf das eine, bald auf das andere Detail. »Dorthin«, er zeigte auf eine glasüberdachte Terrasse, »kommen Palmen in großen Kübeln, hier links wird ein Orchideengarten angelegt.«
»Traumhaft«, murmelte Anna und strich sacht über die Papierbogen. »Aber das können wir nicht bezahlen.«
»Wir nehmen einen Kredit auf.« Frank war in Gelddingen viel unbekümmerter als sie.
»Hast du vergessen, wie hoch der Kredit ist, den wir von Kröchert übernehmen?«
Frank setzte sich wieder. »Dann erhöhen wir die Summe.« Er trank sein Weinglas leer und goss sich den Rest aus der Flasche ein.
»Das macht die Bank nicht mit. Wir haben doch weiter keine Sicherheiten.« Anna begann, die Pläne wieder in die Mappe zu schieben.
»Du mit deiner kleinbürgerlichen Engstirnigkeit.« Frank wurde plötzlich laut. Gäste vom Nachbartisch blickten neugierig herüber. »Denk doch mal in größeren Dimensionen.« Er senkte die Stimme und erklärte ihr, dass sich durch die Wellness-Oase die Zahl der Übernachtungen vervielfachen würde, in der Folge die Zimmerpreise erhöht werden könnten und dadurch die Umsätze weiter steigen würden. Deshalb sei die Abzahlung eines höheren Kredits überhaupt kein Problem.
Anna krauste die Stirn, Schulden zu machen, widerstrebte ihr. So war sie von Onkel Wolfgang erzogen worden. »Was hält Kröchert von diesen Plänen?«
»Der wird begeistert sein. Ich hatte noch keine Zeit, sie ihm zu zeigen.«
Keine Zeit? Anna zog die Augenbrauen zusammen. Lief da irgendetwas schief? »Wie sieht es denn überhaupt aus mit dem Ablaufplan für die Übergabe? Bleibt alles so wie vereinbart?«, fragte sie skeptisch.
»Ja, ja«, entgegnete Frank ungeduldig. »Das läuft schon. Lass uns morgen weiterreden. Ich bin müde.«
Anna nickte. Sie wollte nicht streiten. Schon gar nicht an ihrem ersten Abend. Morgen war auch noch ein Tag.
Als der Wecker summte, wusste Anna einen Moment lang nicht, wo sie war. Dann fiel es ihr wieder ein. Sie griff neben sich und fühlte das kalte Laken. Frank hatte also die Nacht in seinem Apartment verbracht. Gegen zwölf Uhr war er zum letzten Kontrollgang durchs Haus aufgebrochen. Nach der Abrechnung setzte er sich manchmal noch mit dem Restaurantleiter und dem Küchenchef auf einen Absacker an die Bar. Im letzten Jahr war er danach immer wieder zurück in ihr Zimmer gekommen. Im Halbschlaf hatte sie gespürt, wenn er sich neben sie legte und sich an ihn geschmiegt.
Die Leuchtziffern zeigten sechs Uhr dreißig. Anna gähnte und streckte sich. Sie fühlte sich müde, war aber zugleich neugierig, was der erste Arbeitstag bringen würde. Und sie freute sich, endlich wieder am Meer joggen zu können. In Berlin hatte sie zwar den Landwehrkanal vor der Haustür gehabt, aber eine echte Alternative zur Ostsee war das nicht. Sie schaltete das Licht ein, stand auf, schlurfte ins Bad, zog danach Trainingshose, Joggingschuhe und ein graues Sweatshirt mit Kapuze an und verließ das Hotel über die Hintertreppe.
Der Morgen war trüb und feuchtkalt, der Schnee taute. Über Betonplatten aus der Vorwendezeit lief Anna die von Kastanien gesäumte Friedrichstraße hinunter und bog in die Thiessower Straße ein. Rechts lag das Rook