Erinnern, Strukturieren, Schreiben - Isa Schikorsky - E-Book

Erinnern, Strukturieren, Schreiben E-Book

Isa Schikorsky

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Beschreibung

Worüber Sie schreiben wollen, wissen Sie genau: über Ihr Leben oder das eines anderen Menschen. Doch vieles andere ist unsicher. Darf ich etwas dazuerfinden? Muss ich mit meiner Geburt beginnen? Welche Perspektive und Zeitform sind angemessen? Wie mache ich meine Aufzeichnungen für Leser und Leserinnen zugänglich? Diese und zahlreiche weitere Fragen, die sich beim Schreiben einer Autobiografie oder Biografie ergeben, beantwortet dieser Ratgeber. Er stellt neben den bewährten Mustern auch ungewöhnliche Alternativen vor. Warum nicht mal die Zeit rückwärtslaufen lassen, Unordnung zum Strukturprinzip erklären, Wahrheit und Dichtung absichtsvoll kombinieren oder besondere Spannung erzeugen. Sie erhalten einen Fahrplan für Ihr biografisches Projekt: Er führt Sie von der Idee und den ersten Planungsschritten bis hin zur Veröffentlichung. Beispiele aus der Literatur veranschaulichen die allgemeinen Grundsätze.

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Seitenzahl: 264

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Autorin

Die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Isa Schikorsky war von 1995–2020 als Dozentin für kreatives und literarisches Schreiben in der Erwachsenenbildung tätig. Außerdem veranstaltete sie Schreibreisen und arbeitete als Lektorin sowie Textberaterin. Sie lebt als freie Autorin in Köln.

Zu ihren Veröffentlichungen zählen unter anderem eine Biografie über Erich Kästner (dtv 1998), die Schreibratgeber Helden, Helfer und Halunken (2014), Aus dem Lektorat 1 und 2 (2018) und Kreativ unterwegs (2013), mehrere Kurzgeschichten und Kriminalromane.

www.schikorsky.dewww.stilistico.wordpress.com

Inhalt

Einleitung

Entscheiden Sie sich für eine Gattung

Autobiografie, Lebenserinnerungen

Memoiren

Memoir

Autobiografischer Roman, Autofiktion

Brief und Tagebuch

Biografie

Biografischer Roman, Romanbiografie

Kapitel 1: Das Wichtigste in Kürze

Klären Sie die Grundfragen

Motivation: Warum wollen Sie schreiben?

Prämisse: Was wollen Sie zeigen?

Handwerkzeug: Welche Fähigkeiten brauchen Sie?

Organisation: Wie setzen Sie Ihren Plan um?

Kapitel 2: Das Wichtigste in Kürze

Sammeln Sie Erinnerungen

Das Wesen von Erinnerungen

Schreibimpulse für Erinnerungen

Kapitel 3: Das Wichtigste in Kürze

Bauen Sie ein biografisches Archiv auf

Private Quellen

Öffentliche Quellen

Kapitel 4: Das Wichtigste in Kürze

Entwickeln Sie eine Erzählstruktur

Ordnungskriterium Zeit

Ordnungskriterium Raum

Ordnungskriterium Thema

Ordnungskriterium Assoziation

Mediale Sonderformen

Kapitel 5: Das Wichtigste in Kürze

Wählen Sie die Darstellungsarten

Bekennen

Beschreiben

Berichten

Szenisches Erzählen

Zusammenspiel der Darstellungsarten

Kapitel 6: Das Wichtigste in Kürze

Beachten Sie spezifische Gestaltungsaspekte

Intuitives und quellenbasiertes Schreiben

Umgang mit Fakten und Fiktionen

Personendarstellung

Erzählperspektiven

Erzähltempus

Lokal- und Zeitkolorit

Sprache und Stil

Kapitel 7: Das Wichtigste in Kürze

Optimieren Sie Ihr Manuskript

Kapitel 8: Das Wichtigste in Kürze

Finden Sie Ihren Weg zum Lesepublikum

Kapitel 9: Das Wichtigste in Kürze

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Anmerkungen und Literatur

Ausgewählte Literatur zum biografischen Schreiben

Einleitung

Fünfundzwanzig Jahre habe ich als Dozentin für kreatives und literarisches Schreiben in der Erwachsenenbildung sowie als Textberaterin und Lektorin gearbeitet. In dieser Zeit traf ich zahlreiche Menschen, die davon träumten, ihre Autobiografie zu verfassen. Doch nur sehr wenige verwirklichten diesen Traum. Ich fand das immer sehr schade, weil ich überzeugt bin: Jedes Leben ist es wert, bewahrt zu werden.

Woran mag es liegen, wenn jemand sein Herzensprojekt mehr oder weniger schnell wieder aufgibt? Sind es Unsicherheiten über das Vorgehen? Fehlendes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten? Dass es an Stoff mangelt, ist eher unwahrscheinlich. Häufiger dürfte das Gegenteil zutreffen. Manchem und mancher wächst das Material über den Kopf. Die Überfülle der Notizen, Ideen und Erinnerungen entwickelt sich dann zu einem Labyrinth, in dem man sich leicht verirren kann.

Wie lässt sich ein Ausweg aus den verschlungenen Pfaden finden? Wie gelingt es, durchzuhalten? Mir selbst hilft für gewöhnlich ein gut überlegter und getakteter Fahrplan dabei, langfristige Vorhaben zu bewältigen.

Einen solchen Fahrplan möchte ich Ihnen mit diesem Buch an die Hand geben. Wenn Sie wissen, warum, für wen, in welcher Form, mit welchen Mitteln und welchem Ziel Sie Ihre Autobiografie verfassen wollen, fällt es erheblich leichter, den Weg bis zum Ende zu gehen. Ein klares Konzept führt Sie sicher durch Ihr Projekt, selbst wenn zwischendurch Hindernisse, Umwege und unerwartete Abzweigungen auftauchen oder Sie sogar ein Stück zurückwandern müssen.

Deshalb liegen die Schwerpunkte dieses Ratgebers auf den vorbereitenden Arbeitsschritten, auf den Basisfragen, über die Sie nachdenken sollten, bevor Sie starten. Dazu gehören insbesondere Überlegungen zur Gattung und Struktur, weil diese Aspekte den Charakter Ihrer Aufzeichnungen wesentlich bestimmen. Wenn Sie die Bandbreite der Möglichkeiten kennen, können Sie bewusst diejenigen auswählen, die zu Ihrem Vorhaben und Ihren Absichten am besten passen.

Gedacht ist dieser Ratgeber für alle, die die Geschichte eines Lebens im Ganzen oder in Teilen aufschreiben möchten. Er führt Sie durch das gesamte Projekt, angefangen von den Voraussetzungen und Vorüberlegungen bis hin zum fertigen Buch. Sie müssen die Kapitel nicht in der vorgegebenen Reihenfolge lesen, sondern können sich die Abschnitte heraussuchen, die für Sie im Moment wichtig sind.

In erster Linie geht es um das autobiografische Schreiben, also die Beschäftigung mit dem eigenen Leben. Vieles davon lässt sich auf das biografische Schreiben, also das Verfassen von Lebensgeschichten anderer Menschen, übertragen. Wo besondere Bedingungen gelten, werden diese berücksichtigt.

Mein Tipp Nummer eins: Fangen Sie einfach an. Denn der richtige Zeitpunkt für ein neues Projekt ist immer: genau JETZT.

Köln, im März 2023 Isa Schikorsky

1. Entscheiden Sie sich für eine Gattung

Wer über sein Leben schreibt, gerät unweigerlich in das Grenzgebiet zwischen der fiktionalen Belletristik und der nichtfikti-onalen Sachliteratur. Mit den Informationen dieses Kapitels sollten Sie entscheiden können, wo genau zwischen Erfundenem und Erfahrenem, Möglichkeit und Wirklichkeit Sie Ihre Autobiografie oder Biografie verorten möchten.

Lebensgeschichten sind wirklich

Auf einer ersten Ebene lässt sich das ebenso einfach wie eindeutig bestimmen: Da ein konkretes Leben immer real ist, zählt dessen Schilderung logischerweise zur Sachliteratur. Weniger klar fällt eine Antwort aus, wenn man berücksichtigt, dass Lebensgeschichten zu einem großen Teil auf Erinnerungen beruhen, und die sind – wie noch zu zeigen sein wird – äußerst unzuverlässig. Kann dann ein Text, der auf dieser Grundlage entstanden ist, als wahr gelten? Und wie wahr ist überhaupt die Wirklichkeit bzw. unsere Erkenntnis davon? Ist nicht all unsere Erfahrung kulturell und gesellschaftlich durch Normen und Traditionen vorbestimmt und konstruiert? Demnach wäre jede Erzählung eines gelebten Lebens ein Stück weit erfunden und damit fiktional.

Romane haben einen Bezug zur Wirklichkeit

Auch von der Belletristik aus gesehen verschwimmt die Grenze. Woher sollen Autorinnen und Autoren von Romanen ihre Einfälle bekommen, wenn nicht aus ihrer Lebenserfahrung? Alles, was sie schreiben, haben sie zuvor selbst erlebt oder wahrgenommen, von anderen gehört oder gelesen, reflektiert, weiterentwickelt, neu kombiniert und durchdacht. Somit weist jeder fiktionale Text zurück in die Realität und besitzt eine nichtfiktionale Grundierung.

Dazu kommt: Ein Text allein verrät nicht, ob er sich auf Erfindung oder Erfahrung zurückführen lässt, der Bezug zu einem konkreten Leben kann vorgetäuscht oder versteckt sein. Die Form der Autobiografie oder Biografie kann als literarisches Stilmittel eingesetzt werden, Beispiele dafür sind etwa »Orlando« (1928) von Virginia Woolf oder die als Memoiren ausgewiesenen »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« (1954) von Thomas Mann.

Im Grenzgebiet zwischen Erfindung und Wirklichkeit

Es ist also sinnvoll, wenn Sie sich Gedanken über Ihre Arbeitsweise machen. Welche Absicht leitet Sie? Wollen Sie die Realität unmittelbar abbilden oder sie mit den Mitteln der Sprache gestalten? Wollen Sie – wie bereits Aristoteles es formulierte – beschreiben, was geschehen ist, oder was geschehen sein könnte? Im Folgenden werden die biografischen Gattungen in ihren Grundzügen vorgestellt, um es Ihnen zu erleichtern, den für Ihren Zweck passenden Texttyp zu finden.

Ob Sie diesseits oder jenseits der Trennlinie zwischen Fiktionen und Fakten bleiben oder sich für eine Mischform entscheiden – Ihre Wahl wirkt sich auf die Art und Weise Ihres Schreibens aus, auf die Wege der Veröffentlichung (z. B. die Verlagswahl), die Position auf dem Buchmarkt, die Erwartungshaltung der Lesenden und die rechtliche Beurteilung der dargestellten Personen (vgl. Kapitel 7).

Muss Ihr Projekt überhaupt von Anfang an einer konkreten Gattung zugeordnet werden? Es kann sein, dass diese Vorstellung Sie hemmt. Dann sollten Sie auf eine Bestimmung vorab verzichten, erst einmal schreiben und sich zu einem späteren Zeitpunkt – nach Abschluss der Erstfassung oder während des Überarbeitens – überlegen, welche Form die richtige für Ihre Aufzeichnungen ist.

Autobiografie, Lebenserinnerungen

DEFINITION Autobiografie

Am bekanntesten ist in der Literaturwissenschaft der Gegenwart die Gattungsbezeichnung »Autobiografie«. Sie ist zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern für »selbst« (auto), »Leben« (bios) und »Beschreibung« (graphia): Jemand beschreibt sein eigenes Leben. Der Begriff ist vergleichsweise jung, er verbreitete sich im 19. Jahrhundert. Davor sprach man oft von »Konfessionen« oder »Bekenntnissen«, daneben existieren bis heute gleichbedeutende Ausdrücke wie »Selbstbiografie«, »Lebensbeschreibung«, »Lebensgeschichte« und »Lebenserinnerungen« bzw. »Erinnerungen«.

Das »Sachwörterbuch für deutsche Literatur« definiert die Autobiografie als »zusammenhängende Erzählung der Geschichte des eigenen Lebens oder größerer Lebensabschnitte im Rückblick«1. Das sind sehr weit gefasste, vage Kriterien. Sie sagen nichts darüber aus, wie groß die Distanz zum Erlebten und wie lang die Lebensabschnitte sein sollten, ob ein bestimmtes Alter, eine besondere Reife oder Position nötig sind.

Ein klassisches Muster

Als musterbildend für die Gattung gelten Goethes Aufzeichnungen »Aus meinem Leben«, die zwischen 1811 und 1814 in drei Bänden erschienen und die Zeitspanne von 1749 bis 1775 umfassen, also von der Geburt des Dichters bis zu seinem literarischen Durchbruch (»Götz von Berlichingen« 1773, »Werther« 1774). 1809 hatte Goethe mit der Konzeption begonnen, sicher nicht zufällig im Jahr seines sechzigsten Geburtstags. Daraus wurden die Kennzeichen einer klassischen Autobiografie abgeleitet: Aus dem Abstand von einigen Jahrzehnten wird zurückgeblickt auf die Entwicklung in einer Lebensphase. Zielgerichtet und chronologisch vorgängig wird der Weg von der Geburt bis zur Herausbildung einer gefestigten Persönlichkeit geschildert. Am Ende stehen idealerweise eine angemessene, sinnstiftende Position in der Gesellschaft und beruflicher Erfolg. Vereinzelt wurde sogar gefordert, nur von Schriftstellern und Schriftstellerinnen verfasste Erinnerungen als Autobiografien zu bezeichnen oder zwischen literarischen und populären Autobiografien zu differenzieren.

Vielfalt moderner Autobiografik

Solche begrifflichen wie inhaltlichen Engführungen werden der modernen Autobiografik nicht gerecht. Die Gattung hat sich zunehmend ausdifferenziert in ein breites Spektrum an strukturellen und thematischen Varianten, das brüchige, unfertige, missglückte und unkonventionelle Lebenswege ebenso einschließt wie Experimente bei der Zeitgestaltung. Desgleichen sind Beschränkungen in Hinblick auf den sozialen Status bzw. den Beruf abzulehnen. Grundsätzlich gilt: Jeder und jede ist befugt, seine bzw. ihre Autobiografie zu schreiben, niemand muss sich dafür rechtfertigen.

Autobiografischer Pakt

Es gibt jedoch eine Bestimmung, die Sie unbedingt einhalten sollten, wenn Sie Ihren Text als Autobiografie verstanden wissen wollen: die Selbstverpflichtung auf die Wahrheit, die Sie den Leserinnen und Lesern in einem »autobiografischen Pakt«2 anbieten. Sie versichern, dass Sie als Verfasserin und Verfasser sowohl mit der textinternen Erzählinstanz als auch mit der Hauptfigur identisch sind. Damit erklären Sie zugleich, dass es Ihre eigene Geschichte ist, die Sie schildern. Das Ich, von dem Sie erzählen, ist dasselbe Ich, das erzählt, oder – wenn aus einer Er- oder Sie-Perspektive geschrieben wird – Autor, Erzähler und Protagonist sind deckungsgleich. Auf diese Weise grenzen Sie sich klar von der Fiktion ab, in der ein Ich-Erzähler keinesfalls mit dem Schreibenden gleichgesetzt werden darf, selbst dann nicht, wenn beide denselben Namen tragen.

Wie Sie diesen Pakt formulieren? Üblicherweise in Form von sogenannten Paratexten, also von Informationen, die kein Bestandteil des Haupttextes sind, sondern ihn begleiten. Dazu gehört etwa ein Titel oder Untertitel, der eindeutig auf die Gattung verweist, wie zum Beispiel »Autobiografie« oder »Lebenserinnerungen«. Ein Possessivpronomen der ersten Person wie »Mein Leben«, »Meine Reise« oder »Mein Deutschland« hebt den Aspekt des Selbsterlebten hervor. Eine klare Zuordnung erlauben außerdem Hinweise im Klappentext (»XY erzählt ihre Kindheit und Jugend«) oder in einem Vorwort, das Erscheinen in einem Sachbuchverlag bzw. einem Programmbereich für nichtfiktionale Literatur, Werbung und Präsentation in einer Sachbuchrubrik wie zum Beispiel »Biografien & Erinnerungen«.

Indem Sie mitteilen: In diesem Buch wird ein empirisches Leben, wird mein Leben geschildert, steuern Sie die Lektüreerwartung. Leserinnen und Leser erachten den Inhalt für wahr, im Sinne von tatsächlich erlebt und nachprüfbar. Sie gehen davon aus, dass es die im Buch erwähnten Menschen, Orte und Landschaften wirklich gibt und die Fakten korrekt sind. Dieser Wirklichkeitseffekt macht das Besondere einer Autobiografie aus. Dass die Geschichte, mag sie noch so unwahrscheinlich klingen, sich genauso zugetragen hat, erzeugt bei Lesenden wesentlich größere emotionale Nähe, Identifikation, Empa-thie, Betroffenheit und Bewunderung, als wenn sie ein Produkt der Einbildungskraft wäre. Der Wert des Authentischen steht so sehr im Vordergrund, dass die literarische Ästhetik dahinter zurücktritt. Die Wahrheit ist wichtiger als eine künstlerisch geformte Sprache.

Jetzt mögen Sie einwenden: Wie soll ich den autobiografischen Pakt einhalten bei all den Ungewissheiten, die das Erinnern mit sich bringt? Aus Angst, »Unrichtiges« zu schreiben, kann man sich bei der Recherche hoffnungslos verzetteln. Wer immer tiefer in die Materie seines Lebens eindringt, endlos nach Dokumenten sucht und Zeitzeugen befragt, läuft Gefahr, die Wahrheit zunehmend weniger zu erkennen, die Lust am Schreiben zu verlieren oder in eine Blockade zu geraten. Außerdem kann das Bemühen um absolute Objektivität zu staubtrockenen, langweiligen Texten führen. Wer totale Faktentreue anstrebt, bleibt in einem zahlengesättigten Lebenslauf stecken, wie er beispielsweise bei der Bewerbung um eine Arbeitsstelle gefordert wird.

Ihre subjektive Wahrheit

Deshalb sollten Sie sich klarmachen: Es geht in Ihrer Autobiografie allein um Ihre Wahrheit, und die ist subjektiv. Es zählt nicht, wie sich die Schwester oder der Freund an ein Ereignis erinnert. Ein Moment der Unschärfe ist unvermeidbar, das trifft selbst auf Goethes Aufzeichnungen zu. Die Forschung hat ihm zahlreiche »Fehler« nachgewiesen. Doch Goethe wusste um die Janusköpfigkeit der Erinnerung, wie der von ihm gewählte Untertitel »Dichtung und Wahrheit« verrät. Er verstand seine Autobiografie als produktive Symbiose aus Erinnerung und Einbildungskraft. Deshalb gilt statt eines uneingeschränkten Wahrheitsanspruchs ein Aufrichtigkeitspostulat. Sie versprechen Ihrer Leserschaft, nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben zu haben, dabei so authentisch und nah am Erlebten geblieben zu sein, wie es Ihnen möglich war, das heißt, soweit es Ihre Erinnerung zuließ.

BEISPIEL Verletzung des autobiografischen Pakts

Unzulässig sind in diesem Verständnis des autobiografischen Pakts bewusste Lügen und Täuschungen. Dafür gibt es immer wieder Beispiele, etwa Ulla Ackermanns Buch »Mitten in Afrika. Zu Hause zwischen Paradies und Hölle«3. Es erschien im Februar 2003 und wurde durch Klappentext, Schlagwortkategorien, Rezensionen, Medienberichte und Auftritte der Autorin in Talkshows als Autobiografie vermarktet. Es wurde der Eindruck vermittelt, Ulla Ackermann schildere ihr Leben, das sie als Kriegsreporterin in verschiedene afrikanische Länder geführt hatte. Dort habe sie im Verlauf von sechzehn Jahren unvorstellbare Grausamkeiten und schwere persönliche Schicksalsschläge erlebt. Das Buch eroberte die Spitze der Bestsellerlisten, Ackermann bestätigte in Interviews die Authentizität des Geschilderten. Doch dann deckte eine Journalistin auf, dass entscheidende Passagen frei erfunden sein mussten. Niemand aus dem überschaubaren Kreis der Kriegsreporter kannte die vermeintliche Kollegin und die Fernsehsender, für die sie angeblich arbeitete, existierten nicht. Nachdem zahlreiche weitere Fehler und Unstimmigkeiten nachgewiesen worden waren, musste die Autorin die Fälschung zugeben. Der Verlag distanzierte sich, nahm den Titel vom Markt und erstattete auf Wunsch den Kaufpreis. Ackermann hatte den autobiografischen Pakt mutwillig verletzt und die Lesenden arglistig getäuscht. Wäre das Buch als Roman veröffentlicht worden, hätte es all diese Probleme nicht gegeben. Wahrscheinlich wäre es aber auch nicht so erfolgreich geworden.

Memoiren

DEFINITION Memoiren

Der Begriff »Memoiren« leitet sich ab von lateinisch memor für »sich erinnern« bzw. memoria für »Gedächtnis«, »Erinnerung«.4Er lässt sich mit »Denkschrift« oder »Denkwürdigkeiten« übersetzen und gleichbedeutend mit »Autobiografie« und »Erinnerungen« verwenden, wird allerdings meist mit einer speziellen Akzentsetzung benutzt.

Konzentrierten sich Lebensbeschreibungen in der Frühzeit generell auf das Äußere, auf das Handeln in der Öffentlichkeit, so verschob sich die Perspektive seit dem 18. Jahrhundert auf eine Betrachtung und Reflexion des psychischen Erlebens und Empfindens. Seither wird häufig differenziert: Bei Autobiografien dominiert die Innen-, bei Memoiren die Außensicht. Im Mittelpunkt stehen Erlebnisse, Begegnungen und Anekdoten, die in den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext der Zeit eingebettet sind. Wer seine Memoiren schreibt, konzentriert sich auf seine soziale und berufliche Rolle. Und da Lesende solche Schilderungen insbesondere dann attraktiv finden, wenn sie von Menschen in herausgehobenen Positionen stammen, werden Memoiren bevorzugt von prominenten Politikerinnen, Schauspielern, Musikerinnen, Unternehmern, Künstlerinnen und Sportlern verfasst. Die individuelle Entwicklung hin zu einer vollendeten Persönlichkeit – die bei der Autobiografie entscheidend ist – wird zumeist nur knapp abgehandelt. Vor allem geht es darum, das Erreichte zu beglaubigen, den Erfolg zu präsentieren. Dazu muss noch keine lange Lebensstrecke zurückgelegt worden sein. Selbst im Alter von sechzehn Jahren kann man seine Memoiren publizieren, wie das Beispiel des Teeniestars Justin Bieber zeigt.5

Grundsätzlich gilt auch für das Verfassen von Memoiren der autobiografische Pakt. Leserinnen und Leser erwarten, dass das Private, das sie durchs Schlüsselloch und hinter den Kulissen von exklusiven Lebenswelten sehen dürfen, wahr ist. Dabei zählt die spektakuläre Enthüllung mehr als der literarische Anspruch.

Wenn – wie bei Memoiren häufig – ein Ghostwriter beauftragt wird, ist zwar die Identität von Autor und erzählendem Ich nicht gegeben, doch das wird in der Regel verschwiegen. Wird der Co-Autor namentlich erwähnt, tritt an die Stelle der Identität von Erzähler und Hauptfigur die Autorisierung durch die porträtierte Person. Mit ihrem Namen bestätigt sie, dass die Darstellung mit der Wirklichkeit übereinstimmt.

Memoir

Dem Begriff »Memoir«6 liegt dieselbe Bedeutung zugrunde wie dem nur im Plural gebräuchlichen Wort »Memoiren«. Im amerikanischen Englisch entspricht Memoir unserem Verständnis von Memoiren, im Deutschen bezeichnet er eine noch recht junge eigene Gattung, die sich ab Ende der 1980er-Jahre etablierte. Der Ausdruck wird eher in der internen Kommunikation der Buchbranche verwendet, während im Marketing vom »erzählenden Sachbuch«, vom »Erfahrungsbuch« oder »Schicksalsbericht« die Rede ist.

Unterschiede zwischen Memoir und Memoiren

Was für die erwähnten Gattungen Autobiografie und Memoiren gilt, gilt grundsätzlich auch für das Memoir: Der autobiografische Pakt ist einzuhalten, er wird sogar besonders streng ausgelegt. Dass es sich um wahre Geschichten handelt, wird in Paratexten ausdrücklich betont. Erzählt wird ausschließlich aus der Ich-Perspektive und das Ich ist grundsätzlich identisch mit dem auf dem Buchumschlag genannten Namen des Verfassers oder der Verfasserin. Die offensichtlichste Differenz: Memoiren werden von Prominenten geschrieben, Memoirs von bis dahin Unbekannten. Daran gekoppelt sind unterschiedliche Erzählabsichten. Memoiren führen die Lesenden üblicherweise in Milieus, die von deren eigenen Lebenswelt weit entfernt sind und bedienen ein voyeuristisches Interesse. Die Erzählenden der Memoirs stammen dagegen aus der Mitte der Gesellschaft, aus einem ähnlichen sozialen Umfeld wie die überwiegend weibliche Leserschaft.

Konzentration auf eine Episode

Spezifisch ist die Konzentration auf eine einzige, klar umrissene Lebensepisode, deren Gestaltung – anders als bei Autobiografien und Memoiren – eher der Dramaturgie eines Unterhaltungsromans folgt. Zu den ersten erfolgreichen Titeln zählten »Nicht ohne meine Tochter« (1988) von Betty Mahmoody, »Die weiße Massai« (1998) von Corinne Hofmann und »Wüstenblume« (1998) von Waris Dirie. Die Bücher handeln von Kindesentführung durch den Vater, den kulturell bedingten Beziehungsproblemen zwischen einer Schweizerin und einem Krieger aus Kenia sowie von Gewalterfahrungen und Genitalverstümmelung eines somalischen Mädchens. Über die Jahre entwickelte sich die Gattung zu einem stetig anschwellenden Strom aus persönlichen Berichten über Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch, Gewalt, Drogen, Krankheiten, Tod, Flucht, psychischen Störungen, Verwahrlosung, Unfällen und ähnlichen Themen. Dazu kommen Bücher über sehr spezielle, spektakuläre oder exotische Erlebnisse, wie zum Beispiel: »Mein Weg mit Zero Waste«, »Mit 50 Euro um die Welt«, »438 Tage: Überlebenskampf auf dem Pazifik«.

Beliebte Gattung

Wie lässt sich die Beliebtheit des Memoirs erklären? Zum einen bietet es denen, die selbst in gleicher oder vergleichbarer Weise betroffen sind, Trost und Orientierung. Es kann Mut und Hoffnung machen, Lösungen anbieten und zu eigenem Handeln anregen. Das Wahrheitspostulat wirkt als Beweis, dass Schicksalsschläge überwunden werden können, dass es sich lohnt, aus der persönlichen Komfortzone auszubrechen. Bei Lesenden, die das Geschilderte nicht selbst erfahren haben, spielt vermutlich das Bedürfnis nach emotionalem Erleben eine wichtige Rolle. Es kann eine nüchtern-rationale, auf Vereinzelung und Sicherheit ausgerichtete Lebensweise ausgleichen. Man leidet mit den anderen und fühlt zugleich das Glück, von deren Nöten verschont geblieben zu sein. Die Reise- und Abenteuer-Memoirs bieten das sogenannte »Arm-Chair-Travelling«, ermuntern also zu kleinen Fluchten aus dem Alltag bequem vom heimischen Sessel aus.

Die Wahrheit des Memoirs

Kritisch anzumerken bleibt, dass das enorme Interesse an Geschichten aus dem wirklichen Leben zuweilen fragwürdige Blüten treibt. So sehr in allen Informationen zum Buch herausgestellt wird, dass der autobiografische Pakt gilt, hinter den Kulissen wird er vielfach hintertrieben. Denn ein Memoir soll nicht nur wahr, sondern auch sprachlich anschaulich, lebendig, spannend und unterhaltsam geschrieben sein. Diese Fähigkeit fehlt manchem, der von einem besonderen Schicksal zu erzählen hat. Deshalb sind Verlagslektorinnen, Ghostwriter und Co-Autorinnen sehr oft damit beschäftigt, ein Memoir mehr oder minder stark zu überarbeiten, umzuschreiben oder es zur Gänze allein zu verfassen. Da die Leser und Leserinnen über den Umfang der Eingriffe nichts erfahren, können sie nur darüber spekulieren, wie authentisch der Text tatsächlich ist. Reißerische Titel in der Art von »Nur die Hölle könnte schlimmer sein« lassen einen eher lässigen Umgang mit den Fakten vermuten. Das gilt noch weit mehr für Geschichten, die in Zeitschriften mit Titeln wie »Mein Erlebnis« oder »Wahre Schicksale« publiziert werden, aber erwiesenermaßen durchgängig erfunden sind.

Autobiografischer Roman, Autofiktion

DEFINITION Autofiktion

Waren die bisher besprochenen Gattungen Autobiografie, Memoiren und Memoir fest im Nichtfiktionalen verankert, mäandert das Zwitterwesen autobiografischer Roman, das auch als Autofiktion bezeichnet wird, zwischen Wahrheit und Dichtung. Das machen schon die Begriffe deutlich, die Unvereinbares zusammenfügen. Die nichtfiktionale Autobiografie trifft mit dem fiktionalen Roman zusammen. »Autofiktion« müsste dem Wortsinn nach mit »Selbsterfundenes« übersetzt werden. Entscheidend ist die Zulässigkeit des bewussten Erfindens. Wer sein Leben in dieser Weise erzählt, hat eine große gestalterische Freiheit. Er kann nach Belieben Ausgedachtes mit Erlebtem mischen, ohne dass ihm jemand Unredlichkeit vorwerfen könnte. Der autobiografische Pakt wird ungültig. Stattdessen wird Leserinnen und Lesern ein Spiel mit der Unsicherheit aufgezwungen. »Eine ›Autofiktion‹ ist ein Text, in dem eine Figur, die eindeutig als der Autor erkennbar ist [...], in einer offensichtlich [...] als fiktional gekennzeichneten Erzählung auftritt«7.

Doch gerade an dieser Eindeutigkeit mangelt es häufig. Je nachdem, was Lesende über den Verfasser, dessen Leben und die Idee seines Buches wissen, bleibt ihnen möglicherweise sogar verborgen, dass hier ein Text mit autobiografischen Anteilen vorliegt. Zusätzlich erschwert wird die Orientierung, weil Autofiktion aktuell auf dem Buchmarkt zumeist einfach mit dem Etikett »Roman« versehen oder ohne Gattungszuordnung im Segment Belletristik publiziert wird. Die Gründe und Absichten für dieses Verfahren sind so vielschichtig, dass nur einige davon beispielhaft vorgestellt werden können.

Pseudofiktionalisierung

Ein gebräuchliches Prinzip ist die Pseudofiktionalisierung: Eine Autobiografie wird zum Roman umgelabelt, obwohl sie überhaupt keine fiktionalen Elemente enthält. Dahinter stehen unterschiedliche Motive: Marketing, Entlastung des Schreibenden und Abbau von Blockaden oder Schutz von Betroffenen. Verkaufsstrategisch erscheint die Bezeichnung »Roman« vielen Verlagen erfolgsversprechender zu sein als »Autobiografie«.

Etwas Feigheit ist sicher auch dabei, wenn jemand die Fiktion vorschiebt, damit ihn niemand wegen möglicher Unzuverlässigkeit seiner Erinnerungen angreifen kann. So rechtfertigte etwa Theodor Fontane, dass er seinem Buch »Meine Kinderjahre« den Untertitel »Autobiographischer Roman« gab. Im Vorwort versichert er, alles sei »nach dem Leben gezeichnet«. Aber es könnten am Geschehen beteiligte Personen sich anders erinnern. Und da er nicht mit der »Echtheitsfrage« konfrontiert werden möchte, legt er fest: »Für etwaige Zweifler also sei es Roman!«8.

Fiktionalisierung als Schutz

Pragmatisch begründet ist der Etikettenschwindel, wenn im Text erwähnte Personen geschützt werden sollen. Namen von Orten, Verwandten und Familienangehörigen oder Sachverhalte lassen sich verändern und unkenntlich machen, damit Betroffene anonym bleiben.

Um den Schutz von ihm Nahestehenden ging es Gerhard Henschel, als er sein umfangreiches autobiografisches Projekt begann. Die Titel der neun bisher erschienenen Bände ironisieren traditionelle Subgenres des Romans: Sie reichen bislang vom Kindheitsroman bis zum Schauerroman. Unter dem Deckmantel der Fiktion betreibt Henschel ein radikal dokumentarisches Schreiben, das in seiner akribischen Sachlichkeit die unglückliche Ehe der Eltern, den Krebstod der Mutter, die Alkoholkrankheit des Vaters und den Suizid eines Cousins nicht ausspart. In Interviews bestätigte Henschel freimütig den autobiografischen Gehalt seiner »Romane« und antwortete auf die Frage nach dessen Anteil: »120 Prozent Reales«. Fiktional sind einzig die Namen der Personen.9

Die Bezeichnung »Roman« kann zudem ein Selbstschutz für den Schreibenden sein. Er schirmt seine Privatsphäre ab und bewahrt sich die Freiheit, sein Leben ehrlich und ohne Schere im Kopf schildern zu können. Das gilt möglicherweise für Karl Ove Knausgård. Sein Zyklus »Min kamp«10 folgt ebenfalls einem ins Extreme getriebenen autobiografischen Konzept. Knausgård widmet sich den eigenen Gedanken und Gefühlen in gnadenloser Subjektivität. Trotz der im Klappentext ganz ausdrücklich erwähnten Wirklichkeitsausrichtung werden die sechs Bände (zumindest in Deutschland) im Untertitel als »Roman« ausgewiesen.

Die Probleme echter Autofiktion

Die bisher genannten Beispiele standen für Autobiografien, die sich als Roman tarnen. Daneben existiert eine zweite, nicht eindeutig abzugrenzende Gruppe von Romanen, die als echte Autofiktion Erfindung und Wahrheit bewusst miteinander verweben. In welchem Verhältnis das geschieht, welche Teile ausgedacht und welche erlebt sind, bleibt das Geheimnis der Schreibenden. Dieses Verfahren findet in der Gegenwartsliteratur häufig Verwendung, zum Beispiel in den als »Roman« bezeichneten Werken »Streulicht« von Deniz Ohde und »Wut« von Harald Martenstein.11

BEISPIEL »Abendlicht«

Dass kritische Fragen und Konflikte entstehen können, wenn mehrere Lesarten möglich sind, musste seinerzeit Stephan Hermlin erfahren. In »Abendlicht« schildert ein namenloser Ich-Erzähler, im selben Jahr geboren wie der Autor, eine Kindheit und Jugend, die in vielen Punkten mit der des Verfassers identisch war, aber nach Meinung eines Literaturkritikers ein geschöntes Bild entwarf. Hermlin habe sich als Held stilisiert und einen Lebensmythos erfunden, so lautete der Vorwurf. War es überhaupt zulässig, den Text als Autobiografie zu lesen? Der Verlag nannte keine Gattung, ordnete den Titel allerdings der Belletristik zu und beschrieb ihn als »eigentümliches Buch, aus der Rückschau gewonnen und doch keine Autobiographie«12. Damit ist die Unterstellung einer Verfälschung haltlos.

Eine klar erkennbare ästhetische Überformung ist das auffälligste Kriterium von Autofiktion. Sie will und muss erzählerisch überzeugen, im Idealfall verbinden sich Fiktionen und Fakten zu einem glaubwürdigen Ganzen. Misslingt der Spagat, genügt das Ergebnis weder als Lebensgeschichte noch als Roman.

BEISPIEL Ulla Hahns Romanzyklus

Am Beispiel von Ulla Hahns vierbändigem Romanzyklus13 um die Protagonistin Hilla Palm kann die Problematik des autofiktionalen Konzepts aufgezeigt werden. Dass die Hauptfigur der Autorin sehr ähnlich ist und auch zahlreiche andere Personen nach realem Vorbild gestaltet sind, hat Hahn in Interviews bestätigt, der Verlag bewarb die Bücher als »autobiografisches Epos«. Im fiktiven Dondorf lässt sich unschwer Monheim erkennen, der Ort, in dem Hahn aufwuchs. Zudem folgt die Handlung in den Grundzügen ihrem Lebenslauf: die soziale Herkunft, der Bildungsweg, das Studium in Köln, die Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) usw. Der zeitgeschichtliche Kontext wurde mit erkennbar großem Eifer recherchiert, manche Quellen – etwa Zeitungsberichte – wurden ausführlich und wortgetreu zitiert.

Und doch kann es passieren, dass sich beim Lesen Zweifel an der Authentizität des Dargestellten einschleichen. Der prügelnde Vater, die Vergewaltigung, die Ausgrenzung durch die Arbeitskolleginnen, der sexuell übergriffige Vorgesetzte: Diese und ähnliche Begebenheiten erzeugen ein perfektes, fast zu perfektes Bild von Hilla als Opfergestalt. So gar nicht ins proletarische Umfeld passt dagegen der großbürgerliche Hugo, Hillas erste und einzige Liebe. Alles an diesem Mischwesen aus Superheld und Märchenprinz erscheint künstlich. Ulla Hahn hat ihre Arbeitsweise so geschildert: »Schreiben heißt für mich nicht nur, die Wirklichkeit nachstellen – [...], vor allem will ich die Wirklichkeit vergrößern, verlangsamen, vertiefen.«14 Vielleicht benötigte die Autorin Hugo als Fantasiefigur, um Hilla den Schritt in die unbekannte akademische Lebenswelt zu erleichtern? Denn nachdem sie dort Fuß gefasst hat, stirbt der Freund konsequenterweise bei einem Verkehrsunfall. Die Leserin und der Leser müssen sich damit abfinden, bewusst im Ungewissen gelassen zu werden. Das kann zu einer zwiespältigen Haltung gegenüber dem Text führen, zu einem Schwanken zwischen Mitempfinden und Misstrauen.

Bildungs- und Entwicklungsroman

Zu erwähnen ist noch eine dritte Gruppe von Romanen, die als rein fiktionale Werke vermarktet werden, in denen ein kundiger Leser jedoch Berührungspunkte mit dem Leben des Autors oder der Autorin erkennt. Traditionell handelt es sich dabei um Bildungs- oder Entwicklungsromane, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Blütezeit hatten. Sie wollen und sollen als Fiktion gelesen werden, die biografischen Elemente ordnen sich dem Stoff unter. Bekannte Beispiele sind etwa »Der grüne Heinrich« (1854f.) von Gottfried Keller, »Nachsommer« (1857) von Adalbert Stifter und »Der Steppenwolf« (1927) von Hermann Hesse.

Brief und Tagebuch

Autobiografik im weiten Sinn

Zur Autobiografik im weiten Sinn zählen schließlich noch Brief und Tagebuch, für die der Bezug zum eigenen Leben ebenso bestimmend ist wie die Identität von Autor, erzähltem und erzählendem Ich.15 Thematisch unterliegen sie keinen Beschränkungen, formal ist für das Tagebuch eine gewisse Regelmäßigkeit der Aufzeichnungen kennzeichnend. Von den bisher vorgestellten autobiografischen Textformen unterscheiden sich Brief und Tagebuch durch den begrenzten Leserkreis: Ein Privatbrief richtet sich an einen einzigen, dem Schreibenden meist vertrauten Adressaten, das Tagebuch liest zunächst nur derjenige, der es verfasst hat. Da die Empfänger meist über viel Kontextwissen verfügen, kann die sprachliche Gestaltung knapp ausfallen. Oft genügen Stichwörter, Abkürzungen und Andeutungen, man kann schreiben, wie einem der Schnabel gewachsen ist, muss sich an keine Regeln halten. Prägend sind umgangssprachlicher Gesprächs- bzw. Monologcharakter.

Besondere Merkmale

Der Brief und noch stärker das Tagebuch sind dem Moment verpflichtet. Sie entstehen unter dem Eindruck unmittelbaren Erlebens oder aus kurzer Distanz, bewahren die Wahrnehmungen und Gedanken frisch, unverfälscht und ungefiltert. Das macht den Reiz dieser Gattungen aus und unterscheidet sie von einer Autobiografie, die aus zeitlicher Entfernung verfasst wird und mit den Unzulänglichkeiten des Erinnerns zu kämpfen hat. Dafür ist es Brief- und Tagebuchautoren kaum möglich, aktuelles Geschehen einzuordnen, weil sie die weitere Entwicklung nicht kennen können. Die Aufzeichnungen sind zudem anfällig für Irrtümer. Was an einem Tag gilt, kann am nächsten ganz anders sein. Deshalb ist die Angabe des Schreibdatums obligatorisch. Ihre Unmittelbarkeit macht diese Texte zu einer wertvollen Basis für das Schreiben autobiografischer und autofiktionaler Werke. Darauf wird noch eingegangen (vgl. Kapitel 4).

Privates wird öffentlich

Es kommt vor, dass für vertrauliche Zwecke verfasste Briefe, Briefwechsel oder Tagebücher veröffentlicht werden, um sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Dabei handelt es sich bevorzugt um Aufzeichnungen von Menschen in hervorgehobener öffentlicher Position, beispielsweise von Politikerinnen, Wissenschaftlern und Schriftstellerinnen. Die Lesenden erhoffen sich unverstellte Einblicke in die Persönlichkeit der Prominenten und ein tieferes Verständnis für deren Werke und Leistungen.

Briefe und Tagebücher Unbekannter können ebenfalls von allgemeinem Interesse sein. Das ist etwa der Fall, wenn sie als Chronisten gesellschaftliche Umbrüche und Krisensituationen schildern. Wegen ihrer individuellen Sichtweisen gelten sie als bedeutsame Ergänzung zu offiziellen Darstellungen.

Trotz des grundsätzlich privaten Charakters ist nicht auszuschließen, dass Briefe und Tagebücher bereits mit Blick auf eine Veröffentlichung geschrieben, und deshalb Mittel sprachlicher Stilisierung und Inszenierung verwendet wurden. Ansonsten sind Änderungen der Ursprungsform spätestens dann unumgänglich, wenn ein Text aus der privaten in die öffentliche Sphäre übertragen wird. Manchmal muss der Umfang reduziert, manchmal müssen Ergänzungen vorgenommen werden, Rechtschreibung und Zeichensetzung sind zu korrigieren, die Persönlichkeitsrechte zu wahren. In Anmerkungen werden üblicherweise Informationen zu erwähnten Orten, Personen und Sachverhalten gegeben, die sonst unverständlich blieben. Wie stark ins Original eingegriffen wurde, sollten Autorin oder Herausgeber ehrlicherweise in einem Vor- oder Nachwort erläutern und nachvollziehbar machen.

BEISPIEL Tagebücher von Victor Klemperer

Derart transparent wurden die Tagebücher des jüdischen Romanisten Victor Klemperer aus Dresden bearbeitet, die er unter Lebensgefahr zwischen 1933 und 1945 verfasst und aufbewahrt hat. Sie erschienen 1995 und lösten ein großes, ganz überwiegend positives Medienecho aus. Klemperer, ein manischer Tagebuchschreiber seit jungen Jahren, begann nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die allmählichen Veränderungen in seinem Alltag akribisch zu protokollieren. Er konnte nicht ahnen, dass er eine einzigartige »Chronik der Isolierung, Entmündigung, Drangsalierung und schließlich der systematischen Vernichtung der Dresdner Juden«16 verfassen würde. Die Herausgeber ließen die sprachliche Gestalt weitgehend unangetastet und machten notwendige Eingriffe (z. B. Kürzungen) sichtbar, sodass die Aufzeichnungen in hohem Maße authentisch und dadurch besonders verstörend wirken.

BEISPIEL Roman in Briefen

Ähnlich glaubwürdig mutet das von Gerhard Henschel publizierte Buch »Die Liebenden«17 an. Es erzählt auf 750 Seiten die Liebesgeschichte seiner Eltern, eingebettet in das Umfeld der Familie und eng verwoben mit den gesellschaftspolitischen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs zwischen 1940 und 1993. Der Clou: Es wurden ausschließlich Ausschnitte aus Privatbriefen und einigen offiziellen Dokumenten verwendet. Abgesehen von den Namen des jeweiligen Absenders und Adressaten gibt es keinerlei Erklärungen. Obwohl das Werk als »Roman« firmiert, zweifelt man nie daran, echte Briefe zu lesen. Die Leistung des Autors bestand darin, aus mehr als hundert Aktenordnern mit Korrespondenzen Passagen auszuwählen und zusammenzustellen. Entstanden ist eine Komposition, die an Spannung und Tiefgründigkeit einem Roman in nichts nachsteht, Lesende aber vor allem in den Bann zieht, weil sie in jeder Zeile das wirkliche Leben spüren.

BEISPIEL »Notabene 45«

Wie schmal der Grat zwischen Authentizität und Inszenierung ist, lässt sich am Beispiel von Erich Kästners Tagebuch aus dem Frühjahr 1945 zeigen, das er 1961 unter dem Titel »Notabene 45« veröffentlichte. Wie Klemperer und Henschel ging es auch ihm vorgeblich um Glaubwürdigkeit. Er habe, so schreibt Kästner im Vorwort, wie ein Konservator gearbeitet, und die stenografischen Notate aufbereitet, ohne sie zu verfälschen: »Ich habe den Text geändert, doch am Inhalt kein Jota.«18