Aus dem Lektorat 1 und 2 - Isa Schikorsky - E-Book

Aus dem Lektorat 1 und 2 E-Book

Isa Schikorsky

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Beschreibung

Erzählen im Präsens oder Präteritum? Wie gelingen spannende Dialoge? Was lässt sich aus Bestsellern lernen? Sind Füllwörter wirklich überflüssig? Braucht man einen Literaturagenten? Welche Fachbücher zum Schreiben und Veröffentlichen sind empfehlenswert? Isa Schikorsky ist seit 1995 als freie Lektorin für Verlage, Autorinnen und Autoren sowie als Dozentin für kreatives und literarisches Schreiben tätig. Diese Gesamtausgabe vereint die beiden Teilbände »Aus dem Lektorat« (2009) und »Aus dem Lektorat 2« (2018). Die insgesamt 100 Tipps zum Schreiben beantworten wichtige und aktuelle Fragen zum Schreiben, Publizieren und Vermarkten. Das Buch richtet sich insbesondere an Menschen, die erste Schritte auf dem Buchmarkt wagen, sich orientieren und ihr Schreibwissen ergänzen möchten.

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Seitenzahl: 250

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Zu dieser Gesamtausgabe

Sie enthält eine überarbeitete und aktualisierte Ausgabe der 50 Tipps von AUS DEM LEKTORAT (2009) und die 50 neuen Tipps des Folgebands AUS DEM LEKTORAT 2 (2018).

Die Autorin

Die Sprach- und Literaturwissenschaftlerin Isa Schikorsky ist seit 1995 als Dozentin für kreatives und literarisches Schreiben und freie Lektorin tätig. Sie lebt und arbeitet in Köln und publiziert neben Schreibratgebern auch Sachbücher, Kriminalromane und Erzählungen.

www.stilistico.dewww.schikorsky.de

Inhalt

Schreibtipps für Erzähltexte

1. Lockerungsübung: automatisch schreiben

2. Der Stoff, aus dem Geschichten werden

3. Das Geheimnis des Spannungsbogens

4. Von Heldenreisen und Schneeflocken

5. Aus Bestsellern lernen

6. Tipps für Kurzgeschichten

7. ABC der Erinnerungen

8. Braucht man eine Prämisse?

9. Eine Frage der Zeit: Präsens oder Präteritum?

10. Gefühle lesen und zeigen

11. Fluch und Segen: die Rückblende

12. Vertraute Fremde: Figuren, die berühren

13. Namenlose Helden?

14. Die Tücken des Vornamens

15. Passende Nachnamen suchen

16. Spannende Dialoge

17. Gedanken im Erzähltext

18. Mimik und Gestik nicht vergessen

19. Wer erzählt Ihre Geschichte?

20. Die Tücken der Allwissenheit

21. Verzichten Sie auf den »Gott aus der Maschine«

22. Die Bedeutung des Wo und Wann

23. Die Zeit als Strukturelement

24. Schauplätze als Mit- und Gegenspieler

25. Adjektive: Schmuck oder Ballast?

26. Lassen Sie die Verben »schwitzen«

27. Sinn und Unsinn der Füllwörter

28. Mit allen Sinnen schreiben

29. Mit Bildern erzählen

30. Kürzen ist »literarisches Viagra«

31. Streichen ohne Verlust: Korrekturen mit Word

Aus dem Autorenalltag

32. Nicht nur, wenn die Muse küsst – Schreibplanung

33. Lohnt sich das Schreibprogramm »Papyrus Autor«?

34. Ein Roman in einem Monat: NaNoWriMo

35. Teilnahme an Wettbewerben

36. Vor- und Nachteile von Anthologien

37. Lisa Müller oder Carla Caroli? Über Pseudonyme

38. Reich werden als Autor?

39. Es ist Ihr Geld: Verwertungsgesellschaft Wort

40. So wird Ihre Lesung perfekt

41. Gemeinsam stark: Autoren-Netzwerke

42. Auf zur Buchmesse?

43. Klagenfurt oder Vom Umgang mit Kritik

44. Vom Nutzen der Testleser

Professionell in Formfragen

45. Ein perfektes Manuskript

46. Was ist eine Normseite?

47. Gänsefüßchen & Co.

48. Gedankenstrich und Bindestrich

49. Über den Unsinn des Blocksatzes

50. Muss ein Autor richtig schreiben?

51. Abkürzungen und Zahlen

52. Groß oder klein? Anredepronomen

53. Die Suche nach dem Apostroph

54. Absätze und Leerzeilen: Pausen im Text

55. Das Drei-Punkte-Problem

56. Buchgestaltung mit Word

57. Punkt, Punkt, Komma – Satzzeichen clever nutzen

Veröffentlichen und vermarkten

58. Was schreiben Sie?

59. Verkauft sich das?

60. Marketinginstrument Buchtitel

61. Von fairen und unfairen Verlagen

62. Publizieren nach Plan B

63. Suchen Verlage Romane im Internet?

64. Verlagssuche auf der Buchmesse

65. Die Bewerbung beim Verlag

66. Brauche ich einen Literaturagenten?

67. Ganz einfach: E-Books selbst veröffentlichen

68. Der Buchmarkt für Kinder und Jugendliche

69. Marketing? Macht das nicht der Verlag?

70. Werbemittel Leseexemplare

71. Hilft Facebook beim Buchverkauf?

72. »Ihr Buch gefällt mir nicht«: Ein-Stern-Urteile

73. Was bietet die »Autorenwelt«?

74. Der dritte Weg: Veröffentlichen im Imprint

Ratgeber zum Schreiben und Publizieren

75. Juli Zeh: »Treideln«

76. Fritz Gesing: »Kreativ schreiben«

77. »Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller?«

78. Bastian Sick: »Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod«

79. Bestsellerautoren als Schreiblehrer

80. Handbücher für Schriftsteller

81. Franz Dornseiff: »Der deutsche Wortschatz«

82. Christa und Emil Zopfi: »Leichter im Text«

83. Romane aus der Welt der Literatur

84. Rolf-B. Essig: »Schreiberlust & Dichterfrust«

85. Groothuis: »Wie kommen die Bücher auf die Erde?«

86. Hans-P. Roentgen: »Vier Seiten für ein Halleluja«

87. »Das Buchmarktbuch«

88. Max Frisch: »Schwarzes Quadrat«

89. R. P. Clark: »Die 50 Werkzeuge für gutes Schreiben«

90. Ron Kellermann: »Fiktionales Schreiben«

91. Sol Stein: »Über das Schreiben«

92. James Wood: »Die Kunst des Erzählens«

93. Ulrike Scheuermann: »Die Schreibfitness-Mappe«

94. Liane Dirks: »Sich ins Leben schreiben«

95. Patricia Highsmith: »Suspense«

96. Hanns-Josef Ortheil: »Schreiben auf Reisen«

97. Haruki Murakami: »Von Beruf Schriftsteller«

98. Sylvia Englert: »So lektorieren Sie Ihre Texte«

99. André Hille: »Titel, Pitch und Exposé«

100. Tanja Rörsch: »Praxishandbuch Buchmarketing«

Literaturverzeichnis

Erwähnte Internetseiten

Schreibtipps für Erzähltexte

1. Lockerungsübung: automatisch schreiben

Wer mit dem Schreiben beginnt, leidet zuweilen unter Schreibhemmungen. Oft steckt dahinter ein Streben nach Perfektionismus, dem die Vorstellung zugrunde liegt, jede Formulierung müsse bis in alle Ewigkeit so stehen bleiben. Mit zunehmender Schreibpraxis verliert sich das Gefühl meist, man schreibt unbekümmerter, weil man weiß, dass sich alles immer wieder korrigieren lässt. Wenn es aber bei neuen oder besonders wichtigen Projekten einmal hakt, wenn man keinen Anfang findet und frustriert aufs weiße Blatt oder den blinkenden Cursor des Monitors starrt, kann es sinnvoll sein, auf eine kreative Methode zurückzugreifen, gewissermaßen als Lockerungs- und Entspannungsübung.

Ein Verfahren, das ich persönlich sehr schätze, ist das automatische Schreiben. Es setzt dem rationalen, mit Überlegung und Logik geformten Text das Experiment entgegen, die freie Assoziation, den spontanen und unbewussten Ausdruck. Wenn es funktioniert, geraten Sie in den Fluss der Sprache, aus dem Ideen und Bilder aufsteigen.

Häufig genutzt wurde das automatische Schreiben von den Surrealisten. Ob es tatsächlich so ist, »daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden«, wie André Breton in seinem ERSTEN MANIFEST DES SURREALISMUS (1924) behauptete? Probieren Sie es aus! Breton rät: »Schreiben Sie schnell, ohne vorgefaßtes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein, zu überlegen.« Ganz wichtig: Nicht den Stift absetzen, nicht die Finger von der Tastatur nehmen, immer weiterschreiben. Denken Sie auf keinen Fall! Sinnen Sie nicht über das nach, was Sie gerade geschrieben haben. Verbieten Sie sich alle Gedanken, insbesondere solche wie: Ist das überhaupt ein richtiger Satz? Wie wird das Wort geschrieben? Das ist doch völliger Blödsinn! – Schreiben Sie, was Ihnen durch den Kopf geht, völlig frei und unzensiert, ohne einen Gedanken an Rechtschreibung, Stil, Struktur, Logik zu verschwenden.

Wer nicht ganz frei schreiben mag, kann ein Wort, einen Satzbeginn oder einen Satz als Impulsgeber nutzen, zum Beispiel: Als ich heute Morgen erwachte ..., Reden ist Silber ... (oder ein anderes Sprichwort).

Sie können sich einen Wecker stellen, zehn Minuten genügen. Alternativ schreiben Sie einfach so lange, bis Sie sich leergeschrieben fühlen. Wenn am Ende eine logisch aufgebaute Geschichte entstanden ist, haben Sie vermutlich etwas falsch gemacht. In der Regel entsteht ein Steinbruch mit mehr oder weniger ausgeprägten Goldadern, in denen ungewöhnliche, originelle Formulierungen und Ideen aufblitzen, die zum Weiterdenken und Weiterschreiben anregen. Viel Spaß dabei!

2. Der Stoff, aus dem Geschichten werden

»Stoff, das fiktive oder realistische Material, das durch einen Autor gestaltet wird, der erfundene oder in Mythos, Religion, Geschichte, Zeitereignissen oder in der Dichtung anderer Autoren gefundene Geschehniszusammenhang (Fabel, Plot), den er einer Dichtung zugrunde legt.« So definiert der LITERATUR-BROCKHAUS (2004) den Begriff »Stoff«.

Im Grunde hat der literarische Stoff dieselbe Funktion wie ein Kleider- oder Gardinenstoff: Er ist das Material, aus dem Geschichten geschneidert werden. Wie kommt man an einen geeigneten Stoff? Man kann ihn natürlich selber weben. Aus den Erfahrungen des eigenen Lebens entstehen Stoffe, deren Materialeigenschaften man genau kennt, aus denen sich aber, je nachdem, was man erlebt hat, möglicherweise nur schlichte und praktische Alltagskleidung nähen lässt.

Warum also nicht auf einen bereits gewebten Stoff zurückgreifen? Es gibt Ereignisse und Biografien, die funkeln wie Brokat, sind aufregend wie Chiffon oder knistern vor Spannung wie Seide. Und das Beste, Sie erhalten diese »edlen« Materialien ganz umsonst, wenn Sie nur die Augen offen halten. Etwa bei der Zeitungslektüre. Vor allem die kleinen Artikel unter Vermischtes (in den weniger intellektuellen Blättern) liefern Ihnen Stoffe ballenweise: Tod nach dem Verzehr von Tiramisu oder Hund erschießt Herrchen. Ich liebe außerdem Todesanzeigen und Spaziergänge über Friedhöfe, die Stoff für Familiengeschichten über Generationen bieten. Des Weiteren können Erzählungen von Freunden, belauschte Gespräche in der Straßenbahn, Reportagen im Fernsehen oder Bücher als Stofflieferanten fungieren.

Eine ungemein reichhaltige Quelle entdeckte ich vor einiger Zeit eher zufällig. DAS GROSSE BUCH DER LISTEN (2005) von David Wallechinsky bietet nämlich, anders als der Titel ahnen lässt, nur wenige Listen, dafür aber ganze Berichte über kuriose und fast unglaubliche Geschehnisse. So findet sich unter »18 seltsame Tode« der Fall eines Mannes, der von einem Roboter getötet wurde. Es gibt »23 Dinge, die vom Himmel fielen«, »20 denkwürdige Küsse« und »10 bemerkenswerte Mansardengeschichten«. Auch aus »10 eigentümlichen Beschwerden« lassen sich allerhand Geschichten schneidern, zum Beispiel über Phänomene wie »Mohrrübenabhängigkeit« oder »Bestecksucht«.

Und schließlich können Sie dem Beispiel berühmter Schriftsteller folgen und Stoffe aus Mythos, Religion, Geschichte und Literatur gestalten, die über Jahrhunderte hin die Grundlage der Weltliteratur bildeten. Anregungen dazu erhalten sie aus dem Buch STOFFE DER WELTLITERATUR (2005) von Elisabeth Frenzel. Hier lernen Sie wahrhaft dramatische Biografien kennen und erfahren, wie unterschiedlich sie im Verlauf der Zeit gestaltet wurden. Es kann ungemein produktiv sein, sich zu überlegen, wie heute die Geschichte einer Frau erzählt werden könnte, die aus Liebe zu einem Mann selbst vor einem Mord nicht zurückschreckt. Und die dann, als sie ihm den Weg zu Macht und Ruhm geebnet hat, von ihm verlassen wird. Sie hat nur noch einen Gedanken: Rache. Und um dem Mann wirklich alles zu nehmen, tötet sie nicht nur seine Geliebte, sondern auch ihre eigenen Kinder. Was für ein Stoff! Welche literarische Gestalt er zwischen Altertum und Gegenwart angenommen hat, können Sie unter dem Stichwort »Medea« nachlesen.

3. Das Geheimnis des Spannungsbogens

Woran liegt es, dass man manchen Roman irgendwann gelangweilt zur Seite legt? Es fehlt einfach die Spannung. Gemeint ist damit nicht unbedingt die genretypische Spannung eines Actionthrillers oder Krimis, sondern die innere Spannung des Handlungsverlaufs, die jeder Roman benötigt, um Leser bis zur letzten Seite zu fesseln. Ein Spannungsbogen kann nur aufgebaut werden, wenn es einen Konflikt gibt. Ein Konflikt wiederum kann nur entstehen, wenn die Hauptfigur ein wirkliches Ziel hat und Hindernisse überwinden muss, um es zu erreichen. Ron Kellermann hat dieses Grundgesetz einer jeden Geschichte wunderbar knapp auf den Punkt gebracht: »Der Protagonist will etwas – die antagonistische Kraft hindert ihn daran.« Beide Aspekte sind zwingend nötig fürs literarische Erzählen. Solange Sie sich davor drücken, festzulegen, welches Ziel Ihr Protagonist verfolgt und was ihn hindert, es (sofort) zu erreichen, werden Sie das innere Gefüge Ihres Romans nicht in den Griff bekommen. Aber wenn Sie es wissen, wird sich die Struktur fast von selbst ergeben. Dann fällt es auch wesentlich leichter, das »Primärereignis«, wie Elizabeth George es nennt, zu bestimmen oder den »narrativen Haken« (Fritz Gesing). Gemeint ist das Geschehen, das den Konflikt auslöst und in der Folge die Handlung vorantreibt.

Schwierig sind die Überlegungen zum Figurenziel vor allem, wenn der Stoff stark autobiografisch geprägt ist. Dann muss man einen großen Schritt zurücktreten oder das eigene Leben aus der Vogelperspektive betrachten, muss fokussieren und pointieren. Oft neigt man dazu, den eigenen Werdegang als Abfolge von Zufällen zu verstehen. Doch es gibt in jedem Leben einen geheimen Motor, man muss ihn nur finden – oder erfinden. Manchmal scheinen auch verschiedene Ziele so fest miteinander verknüpft, dass es schwerfällt, sie aufzudröseln. Aber Sie werden nicht umhinkommen, einen roten Faden deutlich sichtbar durch Ihre Geschichte zu ziehen, und der ergibt sich wiederum aus dem Handlungsziel des Protagonisten.

Nehmen Sie einfach irgendeinen Roman zur Hand und analysieren Sie ihn unter diesen Gesichtspunkten. Sicher werden Sie das Muster entdecken. Zum Beispiel EIN PERFEKTER FREUND (2003) von Martin Suter: Fabio Rossi erwacht im Krankenhausbett und kennt sich selbst nicht mehr. Fünfzig Tage fehlen in seiner Erinnerung. Von anderen erfährt er, dass er sich in der Zwischenzeit sehr seltsam und ganz anders als gewöhnlich verhalten hat. Was ist geschehen? Das herauszufinden, ist das Ziel von Fabio Rossi, aber auch das des Lesers. Es gibt einen starken, zunächst unbekannten Gegner, der alles unternimmt, um diese Spurensuche zu verhindern. Die Auflösung des Spannungsbogens hat mich in diesem Roman allerdings nicht überzeugt.

4. Von Heldenreisen und Schneeflocken

Wie wichtig sind Strukturvorgaben für das Plotten von Romanen? Darüber wird unter Autoren und Autorinnen heftig debattiert und gestritten. Bekannte Muster sind »Heldenreise«, »Schneeflockensystem« und »Drei-Akt-Struktur«, gefachsimpelt wird über Plotpoint, Pinchpoint, Mirror-Moment, Twist usw. So mancher fühlt sich von dem Begriffswirrwarr überfordert und fragt sich, ob er erst Listen von Fachwörtern pauken muss, bevor er endlich schreiben darf. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Absolutheit, mit der die jeweilige Methode zuweilen als einzig wahre verteidigt wird. Die meisten wollen gerade nicht nach Schema F arbeiten, sondern auf ihre eigene Weise erzählen.

Dabei kann es sinnvoll sein, sich das Strukturmodell des Erzählens genauer anzusehen, denn es ist – zumindest in seiner Grundform – erstens sehr einfach und zweitens sehr alt und universell. Es ist das, was in verschiedenen Kulturen und zu allen Zeiten unter einer Geschichte verstanden wurde und wird. Wir haben dieses Modell so weit verinnerlicht, dass uns nur auffällt, wenn es nicht beachtet wird.

Meine Seminare zu diesem Thema leite ich gern mit folgender »Geschichte« ein: Gestern bin ich in die Stadt gegangen, um mir einen Rock zu kaufen. Gleich in der ersten Boutique fand ich genau das, was ich suchte. Ich habe den Rock gekauft und bin wieder nach Hause zurückgekehrt.

Die Zuhörer reagieren mit irritierten bis ungläubigen Blicken: Wie, schon zu Ende? Das soll eine Geschichte sein? An diesem kruden Beispiel leuchtet es unmittelbar ein: Nein, das ist nicht das, was wir von einer Geschichte erwarten. Und jeder weiß, was fehlt: das Außergewöhnliche, Unerwartete, eine Komplikation. Im Alltag kann es ein Missgeschick sein: Ich stelle an der Kasse fest, dass ich mein Portemonnaie vergessen habe (und ich brauche den Rock ganz dringend für einen Termin). Oder: Eine andere Kundin schnappt mir meinen Traumrock vor der Nase weg (und es gibt keinen weiteren davon in meiner Größe). Der Zuhörer will wissen, wie ich das Problem gelöst habe. Ist es mir gelungen, der Rivalin den Rock wieder abzuschwatzen? Mit welchem Trick konnte ich die Verkäuferin dazu bringen, mir den Rock ohne Bezahlung mitzugeben? Sofort wird das Grundmuster erkennbar: In einer Alltagssituation passiert etwas, woraus sich eine Schwierigkeit ergibt, man versucht sie zu meistern, es gelingt oder misslingt.

Alle Strukturmethoden, egal welchen pompösen Namen sie tragen, fußen auf diesem einfachen Modell: Einleitung, Hauptteil, Schluss. Ausgangssituation, Problem, Lösung. Sicher, im Roman sollte alles größer sein als in der Realität, also das Problem existenzieller, die Lösungsversuche intensiver, die Widerstände heftiger und die überraschenden Wendungen zwischendurch weniger berechenbar. Und ganz klar: Die Spannung muss bis kurz vor Ende des Romans bestehen bleiben, sollte sogar noch ansteigen.

Sie möchten es gern genauer wissen? Im Internet finden Sie eine Fülle von Informationen zu den gängigen Strukturmodellen. Sie können sich daran orientieren und sie vollständig oder in Teilen für Ihr Romanprojekt nutzen.

Die »Heldenreise« ist ein mythologisches Modell, das so alt wie das Erzählen selbst ist und sich bereits an Homers ODYSSEE (8. Jh. v. Chr.) eindrucksvoll studieren lässt. Gezeigt wird der Held (Protagonist) auf seiner Reise durch die Welt, bei der er zahllose Gefahren meistern muss. Es lässt sich auf jeden Plot übertragen, wird jedoch am häufigsten für Fantasy genutzt. Einen guten Überblick gibt der Wikipedia-Artikel zum Begriff »Heldenreise«, in dem die Abfolge der Stationen nach den Modellen von Joseph Campbell und Christopher Vogler knapp und verständlich vorgestellt wird. Wer noch mehr erfahren möchte: Christopher Voglers Buch DIE ODYSSEE DER DREHBUCHSCHREIBER, ROMANAUTOREN UND DRAMATIKER (2018) ist gerade neu aufgelegt worden.

Bei der »Schneeflockenmethode« handelt es sich um ein von Randy Ingermanson entwickeltes Verfahren, bei dem der gesamte Roman von einer Idee aus geplottet wird. Vorbild ist die Entstehung einer Schneeflocke: An ein gefrorenes Wassertröpfchen lagern sich immer weitere Kristalle an. Analog dazu wird von einem Satz aus der Roman gebaut. Der erste Schritt ist zugleich der schwierigste, denn der Basissatz soll die Kernaussage der Geschichte enthalten. Ihm werden Schritt für Schritt Informationen hinzugefügt, bis der zehnte schließlich das Schreiben der Geschichte als finale Erweiterung der szenischen Grundstruktur vorsieht. Der Vorteil: Man weiß, wie der Roman enden wird, wenn man mit dem Schreiben beginnt. Vorgestellt wird DIE SCHNEEFLOCKENMETHODE (2015) zum Beispiel von der Schreibtrainerin Anette Huesmann.

Die Drei-Akt-Struktur (1. Exposition, 2. Entwicklung, Zuspitzung, Konfrontation, 3. Auflösung) mit den entsprechenden Wendepunkten erklärt Ron Kellermann sehr fundiert. Sein Buch FIKTIONALES SCHREIBEN (2006) ist leider nur noch antiquarisch (zu überhöhtem Preis) erhältlich. Hilfreiche Informationen finden sich im Blog www.filmschreiben.de.

5. Aus Bestsellern lernen

Sie kennen den Tipp bestimmt: Wer Romane schreiben möchte, sollte Romane lesen. Dadurch lernt man mehr als durch jeden noch so dicken Schreibratgeber. Besonders hilfreich müsste es demnach sein, Bestseller zu lesen. Auch wenn daraus nicht zwangsläufig folgt, dass einem selbst welche gelingen. Erfolg versprechende Strategien lassen sich aber zweifellos erkennen. Ein Musterbeispiel dafür ist EIN GANZES HALBES JAHR (2012) von der Engländerin Jojo Moyes. Der Unterhaltungsroman stand viele Monate auf den deutschen und internationalen Bestsellerlisten ganz vorne und verkaufte sich bis Mitte 2014 allein in Deutschland über 1,2 Millionen Mal.

Was hat dieser Roman, was andere nicht haben? Einen geradezu klassischen Spannungsaufbau und eine wunderbare Protagonistin. Mit der völlig durchschnittlichen Louisa Clark können sich Leserinnen leicht identifizieren: Sie stammt aus kleinen Verhältnissen, fühlt sich wenig selbstbewusst, schlingert ohne Ziel durchs Leben und hat sich in einer lauwarmen Beziehung mehr schlecht als recht eingerichtet. Dann wird sie arbeitslos und muss jeden erdenklichen Job annehmen. So kommt sie zu der Aufgabe, einen Mann zu betreuen, den sie unter anderen Umständen nie kennengelernt hätte. Will Traynor ist das genaue Gegenteil von Louisa: Er ist ehrgeizig, neugierig, reich, gebildet und gut aussehend – aber eben auch gelähmt und rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Louisas erstes Problem: Sie muss mit dem sarkastischen und depressiven Mann irgendwie zurechtkommen. Schon daran verzweifelt sie beinahe. Nur weil sie den Verdienst unbedingt braucht, harrt sie aus. Doch bald stellt sich heraus, dass der anfangs so groß erscheinende Konflikt im Vergleich zum folgenden lächerlich gering ist. Lou erfährt, dass Will fest entschlossen ist, sein Leben zu beenden. Seine Familie hat ihm eine Frist von sechs Monaten abgerungen, in der er seine Entscheidung überprüfen soll. Jetzt sieht Lou ein Ziel: Sie will in dem halben Jahr erreichen, dass Will seinen Entschluss aufgibt. Wird ihr das gelingen? Wer bis zu dieser Stelle gelesen hat, kann die Lektüre vermutlich nur noch schwer unterbrechen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit um Leben und Tod eines geliebten Menschen, denn zumindest der Leser weiß lange vor Lou, wie es um ihre Gefühle steht.

Mehr Spannung geht nicht! Moyes hat einen absolut überzeugenden Plot kreiert, der ein Höchstmaß an emotionaler und existenzieller Dringlichkeit enthält, die durch den Zeitdruck zusätzlich gesteigert wird. Weitere Motivstränge wirken als Ergänzung: Lou entdeckt ihre Stärken, bricht aus der Bequemlichkeit aus und entwickelt Pläne für eine Veränderung ihres eigenen Lebens.

Kennen Sie andere Beispiele für dramaturgisch faszinierende Konflikte? Nehmen Sie Ihren Lieblingsroman zur Hand und prüfen Sie den Spannungsaufbau. Forschen Sie nach, in welchem Moment der Roman Sie gepackt hat. Wann wollten Sie ihn nicht mehr zur Seite legen? Was wollten Sie erfahren? Welche Frage sollte der Roman Ihnen beantworten? Welches Ziel verfolgte die Hauptfigur? Welche Hindernisse musste sie überwinden? Formulieren Sie anschließend ähnliche Fragen für Ihr Schreibprojekt. Finden Sie den Punkt, an dem Sie Ihre Leser ganz in den Bann der Handlung ziehen.

6. Tipps für Kurzgeschichten

»Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war.« Erinnern Sie sich an diesen Anfang? Er gehört zu der Kurzgeschichte DAS BROT (1946) von Wolfgang Borchert, die jahrzehntelang in Schullesebüchern ihren festen Platz hatte. Ein perfekter Auftakt: drei Sätze, in denen kein Wort zu viel ist und in denen trotzdem Spannung aufgebaut wird. Karg sind die Gestaltungsmittel auch im weiteren Verlauf: Aus einem Schauplatz, zwei namenlosen Personen und ein paar Scheiben Brot baut Borchert eine Geschichte über Liebe, Lüge und Scham, die beinahe so viel aussagt wie ein Roman von ein paar Hundert Seiten. Es war sicher kein Zufall, dass die Blütezeit der deutschen Kurzgeschichte als eigenständiger literarischer Form in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg fiel. Als ob man in dieser entbehrungsreichen Zeit keine unnötigen Worte machen wollte.

Otto Schumann hat die Kurzgeschichte ein »geschriebenes Blitzlicht« genannt. Als ein Stück »herausgerissenes Leben« bezeichnete Wolfdietrich Schnurre sie. Ohne Umschweife oder langatmige Einleitung leuchtet der Autor für einen kurzen Moment in ein Leben hinein. Für ein weiteres ganz entscheidendes Merkmal hat wiederum Schumann ein sehr anschauliches Bild gefunden: Die Kurzgeschichte gleiche einem Eisberg. Im Text werde nur die Spitze sichtbar, der große, bedeutsamere Teil schwimme unter der Oberfläche. Wenn Sie an Borcherts Text denken: Auf der Oberfläche geht es um eine heimlich gegessene Scheibe Brot, doch darunter verbirgt sich die tief greifende Krise eines lange verheirateten Paares, die durch das Hungern sichtbar wird. Eine Kurzgeschichte ist also nicht einfach nur eine kurze Geschichte. Damit sie zündet, sind Reduktion und Komprimierung auf allen Ebenen vonnöten. Im Extrem geht es darum, in einer einzigen Handlungssequenz oder Szene einen existenziellen Konflikt, eine Entscheidung oder eine Erkenntnis zu zeigen. Eine Pointe kann, muss aber nicht sein. Moderne Kurzgeschichten kommen oft ohne aus. Meister der deutschen Kurzgeschichte sind zum Beispiel Wolfgang Borchert, Wolfdietrich Schnurre oder Ilse Aichinger. Der Schweizer Peter Bichsel hat wunderbar lapidare Kurzgeschichten verfasst und von den amerikanischen Autoren gilt Raymond Carvers Band mit Short Storys WÜRDEST DU BITTE ENDLICH STILL SEIN, BITTE (2000) als exemplarisch.

Eine uneingeschränkte Empfehlung für einen Ratgeber kann ich Ihnen nicht geben. In Jack M. Bickhams Buch SHORT STORY (2002) geht es entgegen dem Titel um allgemeinere Schreibverfahren, zudem ist es nicht mehr lieferbar. Noch immer mit Gewinn lesen lässt sich dagegen Otto Schumanns Kapitel zur Kurzgeschichte in seinem 800-Seiten-Buch GRUNDLAGEN UND TECHNIKEN DER SCHREIBKUNST, das zuerst wohl um 1950 erschienen ist. Thomas Mann soll sich noch lobend über das Standardwerk geäußert haben, das nicht nur Kurzgeschichte, Roman und Lyrik, sondern auch das Schreiben für Hörfunk, Theater und Film behandelt. Manches ist inzwischen natürlich überholt, auch dem Stil, in dem über das »edle Handwerk« des Schreibens berichtet wird, merkt man das Alter an, doch die grundsätzlichen Aussagen sind von erstaunlicher Aktualität.

7. ABC der Erinnerungen

Die Geschichte des eigenen Lebens aufzuschreiben: Diesen Wunsch haben viele Menschen. Sehr oft habe ich erlebt, wie das Projekt mit Begeisterung geplant und begonnen wurde – und nach einiger Zeit wieder ins Stocken geriet. Das ist verständlich, denn je intensiver man sich mit seinen Erinnerungen beschäftigt, desto mehr türmen sie sich in der Vorstellung vor einem auf, bis der Berg so Furcht einflößend hoch ist, dass man die Hoffnung verliert, ihn jemals bewältigen zu können. Das ist der Moment, wo die Bruchstücke der Autobiografie in den Tiefen des Computers oder der berühmten Schreibtischschublade verschwinden.

Ich finde das furchtbar schade. Erfahrungen und Geschichten gehen verloren, die für einen selbst, aber auch für die Familie und die Freunde wertvoll sind. Deshalb mein Tipp: Versuchen Sie es zunächst mit einem kleinen, überschaubaren Projekt, mit einem, das sich in einigen Monaten leicht abschließen lässt und mit dem Sie einen soliden Grundstock legen für eine weitere Beschäftigung mit Ihrem Leben.

Ein Problem, an dem viele Schreiber einer Autobiografie scheitern, ist die Suche nach der geeigneten Struktur. Das chronologische Prinzip bietet sich an, birgt jedoch die Gefahr, endlos auszuufern, weil sich zu jeder Lebensphase immer mehr Stoff ansammelt. Wie können Sie die Fülle reduzieren? Mit einer Ordnung, die ebenso eindeutig wie einfach herzustellen ist: dem ABC. Der besondere Reiz eines ABC-Buchs besteht darin, dass Sie ganz Unterschiedliches zusammenbringen können und trotzdem einen roten Faden haben. Wenn Sie als Basis ein Abecedarium nehmen, kommt ein weiterer Vorzug dazu: Diese spielerisch-assoziative Schreibmethode stimuliert durch die feste Vorgabe der Buchstaben das Gehirn in besonderer Weise, bildhafte Erinnerungen abzurufen.

Und so funktioniert es: Schreiben Sie oben auf ein DIN-A4-Blatt den Titel »Das ABC meines Lebens« und dann die 26 Buchstaben des Alphabets senkrecht untereinander. Am Beginn einer jeden Zeile steht ein Buchstabe. Zu jedem Buchstaben suchen Sie genau ein Wort, das für einen Gegenstand, einen Sachverhalt, ein Gefühl, eine Person, ein Erlebnis oder ein Ereignis aus Ihrem Leben steht. Fallen Ihnen mehrere Wörter ein, entscheiden Sie sich für das treffendste und originellste. Es sollten spezifische Wörter (Lurchie, Milchreis, Kabolz) oder allgemeine Begriffe (z. B. Liebe oder Familie) in einer ganz persönlichen Bedeutung sein. Am besten sind Substantive geeignet.

Arbeiten Sie ruhig länger an Ihrem Abecedarium. Lassen Sie es ein paar Tage ruhen, meist tauchen dann noch unerwartete weitere Wörter aus den Tiefen des Gehirns auf. Wenn Sie mit Ihrer Liste zufrieden sind, schreiben Sie zu jedem Begriff die Geschichte, Betrachtung oder Anekdote auf, die er symbolisiert.

Sie können natürlich auch ABC-Bücher zu spezielleren Themen schreiben: »ABC meiner Freunde«, »ABC meiner Familie« oder »ABC meiner Lebensmenschen« (zu jedem Buchstaben ein Name); »Alles, was ich mag« oder »Alles, was ich nicht mag« (jeweils von A bis Z); »Mein ABC der Kindheit«, »ABC des Berufs«, »ABC meiner Reisen«, »ABC meines Gartens« usw.

Am Ende haben Sie 26 Texte, aus denen Sie mit geringem Aufwand ein Buch mit 26 Kapiteln gestalten können. Eine einfache Variante könnte so aussehen: Machen Sie jedes Kapitel gleich lang, sodass es nicht mehr als zwei Buchseiten umfasst. Aus den 26 Kapiteln wird dann ein Geschenkbüchlein von 56 Seiten Umfang (inklusive Titelei), vielleicht im quadratischen Format (17 mal 17 Zentimeter). Wenn Sie das als Book on Demand (z. B. »BoD Fun« ohne ISBN) drucken lassen, haben Sie wunderbare Präsente, die in der preiswerten Ausstattung als Paperback 2,58 Euro pro Exemplar kosten, als Hardcover 7,18 Euro (Stand Februar 2018; weitere Informationen unter: www.bod.de).

Sie können stolz sein auf ein abgeschlossenes Schreibprojekt. Und wenn die Reaktionen positiv sind, ist das ganz sicher ein Ansporn für Sie, weiterzuschreiben und sich Ihrer Autobiografie mit größeren Schritten und einem festen Ziel zu nähern.

8. Braucht man eine Prämisse?

Welche Prämisse hat die Geschichte, an der Sie gerade arbeiten? Können Sie diese Frage sofort beantworten? Haben Sie noch nie darüber nachgedacht? Oder finden Sie es sogar unsinnig, das zu tun? Viele Autoren und Autorinnen sind der Meinung, ihre Geschichte ist zu vieldeutig und komplex, um sich auf eine Aussage reduzieren zu lassen. Genau das soll die Prämisse aber leisten: Sie gibt Auskunft über die »beherrschende Idee« (Ron Kellermann) oder die Kernaussage eines Textes. James N. Frey behauptet sogar: »Eine Geschichte ohne eine Prämisse zu schreiben ist, als wollte man ein Boot ohne Riemen rudern.« Das trifft es meiner Ansicht nach sehr gut. Sie brauchen die Prämisse, um die Geschichte anzutreiben, um die Richtung zu bestimmen und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Nur wenn Sie Ihre Prämisse kennen, können Sie den roten Faden durch den Plot ziehen und bestimmen, was in den Text gehört und was nicht.

Wie findet man die Prämisse? Zugegeben, meist hat man noch keine rechte Ahnung, wohin die Fahrt gehen soll, wenn man anfängt, eine Geschichte zu entwickeln. Doch wenn die Handlung in groben Zügen klar ist, kann die Suche starten. Sie müssen wissen, welcher (emotionale) Wert im Mittelpunkt steht, wohin und zu welchem Ende er den Protagonisten befördert. In der einfachsten Form folgt die Prämisse dem Muster X führt zu Y: Realitätsflucht führt ins Unglück oder Wer den Hass überwindet, wird sein Gleichgewicht finden oder Unerlaubte Liebe führt zum Tod – diese letzte Aussage beweisen beispielsweise Flaubert mit MADAME BOVARY (1857) und Tolstoi mit ANNA KARENINA (1877). Probieren Sie verschiedene Formulierungen aus und feilen Sie an Ihrer Prämisse, bis sie wirklich überzeugend und eingängig ist, dann wird sie Ihnen gute Dienste bei der Weiterarbeit leisten.

Übrigens: In der Geschichte selbst wird die Kernaussage nie explizit erwähnt. Eine Ausnahme bildet die Gattung der Fabel. Da wird traditionell am Schluss die Moral nochmals zusammengefasst: Wer hochmütig ist, wird vernichtet oder Niemand soll seinen Feind verachten, auch wenn er klein erscheint.

Wem die Suche nach einer Prämisse Schwierigkeiten bereitet, kann den umgekehrten Weg gehen: Nehmen Sie zum Beispiel ein Sprichwort oder eine Redensart und verfassen Sie eine Erzählung dazu. Deren Prämisse lautet vielleicht: Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein oder Wer alles will, bekommt nichts oder Den Vogel, der am Morgen singt, holt am Abend die Katz.

9. Eine Frage der Zeit: Präsens oder Präteritum?

Es ist ein Thema, das in meinen Seminaren häufig und kontrovers besprochen wird: In welchem Tempus, also welcher Zeitform, soll ein Roman oder eine Erzählung geschrieben werden?

Eigentlich muss darüber nicht diskutiert werden. Erst das Erleben, dann das Erzählen. Am Anfang steht ein Geschehen, das anschließend zur Geschichte wird, so ist der folgerichtige zeitliche Ablauf. Deshalb ist das Präteritum die klassische Zeitform der Narration und zugleich die logische. Eigentlich.

An diesem Punkt der Diskussion meldet sich regelmäßig jemand zu Wort und sagt, er habe neulich diesen Roman von der oder dem gelesen, der sei im Präsens geschrieben und deshalb spannender als andere Bücher gewesen. Dieses Argument wird oft benutzt: Präsens wirke näher dran, aufregender, dramatischer. Um das zu überprüfen, habe ich drei Thriller aus dem Regal gezogen, die sicher nicht in Verdacht stehen, langweilig zu sein: Dan Browns ILLUMINATI (2003), Melanie Raabes DIE FALLE (2015) und PASSAGIER 23 (2014) von Sebastian Fitzek – alle verwenden das Präteritum. Ob ein Roman spannend ist oder nicht, hängt also offenbar nicht von der verwendeten Zeitform ab. Ein langatmiger Text wird durch das Präsens keineswegs kurzweiliger.

Allerdings gilt: Schriftsteller sind frei in ihren Entscheidungen, nicht gezwungen, sich an grammatische oder orthografische Regeln zu halten.

Und so gibt es eine Reihe von Autoren, die manchmal oder sogar ausschließlich das Präsens benutzen, weil sie überzeugt sind, dass es die bessere Zeitform ist. Spannungsverstärkung