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"Es gab eine Zeit, da habe ich die Spiegel so aufgehängt, dass ich nur meinen Oberkörper sehen konnte. Die Beine ignorierte ich, die gehörten nicht zu mir... Ich habe meinen Körper mit allem gequält, was mich vermeintlich schlank machen würde... Ich weiß, wie schlimm die körperlichen Beschwerden bei Lipödem sind, und dass die seelischen noch viel mehr schmerzen."
Irgendwann reichte es Isabel García. Sie wollte wissen, wie das Leben mit Lipödem leichter wird. Wie man die Schmerzen in Griff bekommt. Wie man es schafft, sich schön und selbstbewusst zu fühlen. Und welche Ernährung und welche sportliche Betätigung am besten helfen.
Das Leben darf leicht sein
Mit Isabel Garcías Selbsthilfe-Strategien gelingt der Weg zu einem gesunden Essverhalten, sinnvoller Bewegung und einem guten Körpergefühl. Die Styling- und Schlagfertigkeitstipps pushen Ihr Selbstbewusstsein - denn Sie sind viel mehr als eine Krankheit.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 360
Isabel García
1. Auflage 2019
Bei einem Lipödem sollte so früh wie möglich operiert werden.
Ich kann das Lipödem amputieren. Es kommt danach nie wieder.
Bei uns in der Klinik kommen Patientinnen an, die eine Operation hinter sich haben und schlimmer aussahen als vorher. Nur jetzt 18 000 Euro ärmer.
Eine Fettabsaugung bei einer 14-Jährigen durchzuführen ist moralisch nicht vertretbar.
Ich habe ein Ganzkörper-Lipödem.
Ein Lipödem gibt es nur an den Beinen und Armen. Nirgendwo sonst.
Dank der Kompression bin ich heute fast schmerzfrei.
Die Kompression bringt mir gar nichts.
Das alles sind Aussagen und Statements zu ein und derselben Krankheit: Lipödem. Reichlich verwirrend und auch widersprüchlich. Prost Mahlzeit. Und in den Dschungel habe ich mich freiwillig reingetraut? Ja. Ich will Antworten. Da ich selbst ein Lipödem habe, beschäftigt mich dieses Thema schon ein Leben lang. Bis zu meinem 27. Lebensjahr unbewusst und danach bewusst. Mit 27 gab es noch keine Bücher dazu und schon damals keimte die Idee in mir, selbst eines zu verfassen. Ich habe es allerdings nie umgesetzt. Am Anfang lag es wohl daran, dass ich gar nicht wusste, wie man das macht und wie ich einen Verlag finde. Als ich mittlerweile mehrere Kommunikationsbücher geschrieben hatte, rieten mir einige Berater davon ab. Ich war mittlerweile eine erfolgreiche Rednerin zum Thema Kommunikation und ein weiteres Thema würde meine »Marke« verwässern. Und darüber hinaus könne es doch nicht mein Ziel sein, nur noch als die Rednerin mit den dicken Beinen gesehen zu werden. Einige Jahre haben mich die Aussagen noch davon abgehalten, dieses Buch zu schreiben. Mittlerweile nicht mehr.
Ich starte einen großen Selbsttest und lasse Sie daran teilhaben. Tauche ein in die Welt der Widersprüche. Reise quer durch Deutschland und befrage verschiedene Experten. Versuche eine Krankheit zu entschlüsseln, die noch nicht zu Ende erforscht ist. Spreche mit anderen Frauen, die auch ein Lipödem haben. Tausche mich mit selbstbewussten Frauen aus, die mutig an die Öffentlichkeit gehen und sich zeigen, mit ihrem Lipödem. Bemerke, dass sich auch bei mir vieles wandelt während dieser rund einjährigen Recherchezeit.
An dieser Fülle von Antworten, Anregungen, Lösungsmöglichkeiten und auch meinen sehr persönlichen Erfahrungen möchte ich Sie gern teilhaben lassen. Damit Sie Ihren ganz individuellen Weg finden, um gut mit Ihrem Lipödem zu leben.
Ihre
Isabel García
Titelei
Auf der Suche nach Klarheit
Teil I Lipödem? Was ist das denn?
1 48 Jahre Lipödem – meine Geschichte
1.1 Diese Beine gehören nicht zu mir
1.2 Meine Beine werden einfach nicht schlanker
1.3 Ich stecke im Teufelskreis aus Diäten und Frustessen fest
1.4 Die Beine beginnen zu schmerzen
1.5 Der erste Arztbesuch
1.6 Ich rette mich in den Humor
1.7 Keine Mode, die mir passt
1.8 Mein Weg über die Bühne zum Radio
1.9 Meine »Rettung«: Ess-Brech-Sucht
1.10 Ich erhalte die Diagnose »Lipödem«
1.11 Ich bin auf Zuckerentzug
1.12 Kompression: eine schweißtreibende Quälerei
1.13 Ich fahre zur Kur
1.14 Ich will endlich normale Beine und lasse mich operieren
1.15 Der Weg zum Buch
2 Meine Suche nach Antworten
2.1 Lipödem ist das Thema im Internet
2.2 Warum ich begann, dieses Buch zu schreiben
2.3 Kann mir eine Schönheitschirurgin helfen?
2.4 Kann man das Lipödem einfach wegoperieren?
2.5 Ich interviewe Dr. Bertsch
2.6 Dr. Bertsch räumt mit einigen Mythen zum Lipödem auf
2.7 Mein Versuch, »normal« zu essen
2.8 Es wird Zeit, meine Essstörung loszuwerden
2.9 Noch glaube ich an den goldenen Weg, der schlank macht
2.10 Ich interviewe weitere Ärzte
2.11 Warum viele Betroffene auch psychologische Hilfe benötigen
2.12 Beim Lipödem gibt es noch viele Fragezeichen
2.13 Die Schmerzen nachvollziehen
2.14 Wovon hängt es ab, ob die OP-Kosten erstattet werden?
2.15 Die basische Ernährung kommt ins Spiel
2.16 Wie gehen andere Frauen mit ihrem Lipödem um?
2.17 Ivona: schmerzfrei durch Kraftsport und viel Gemüse
2.18 Auch Ioana treibt sehr viel Sport
2.19 Ein kurzer – sehr erhellender – Schlenker in die Modewelt
2.20 Die Lipödem-Selbsthilfegruppe
2.21 Der Lipödem-Podcast
2.22 Meine erste Faszienmassage
2.23 Weitere Recherche-Highlights
2.24 Noch mal von vorn
3 Was ist ein Lipödem? Mythen und Fakten
3.1 Lipödem: ein eigentlich unpassender Begriff
3.2 Mein Lymphsystem funktioniert wunderbar
3.3 Wenn das Lymphsystem funktioniert, braucht es keine Lymphdrainage
3.4 Ein Lipödem schreitet nicht zwangsläufig voran
3.5 Extreme Lipödeme sind nur selten
3.6 Mein Vater hat mir die Lipödem-Veranlagung vererbt
3.7 Ein Hormonschub kann zum Ausbruch führen
3.8 Ohne Gewichtszunahme keine Krankheitsprogression
3.9 Ein Lipödem betrifft immer beide Beine
3.10 Kann ein Lipödem auch schuld am dicken Hintern sein?
3.11 Hängen Lipohypertrophie und Lipödem zusammen?
3.12 Nicht jede Frau mit schwabbeligen Beinen hat ein Lipödem
3.13 Kann ich mit Sport und Ernährung nichts ausrichten?
3.14 Hier kommt meine Lipödem-Definition
4 Hängt Lipödem mit Adipositas zusammen?
4.1 Übergewicht und Lipödem gehen oft Hand in Hand
4.2 Zu viel zu essen kann viele Gründe haben
4.3 Seelischen Schmerz betäuben
4.4 Das Lipödem als Ausrede für Übergewicht
4.5 Viele haben Adipositas plus Lipödem, also zwei Krankheiten!
4.6 Nur wenn ich die Verantwortung für mich übernehme, kann ich etwas ändern
4.7 Das Lipödem wird mit jeder Zunahme schlimmer
4.8 Magenverkleinerung bei massiver Adipositas
4.9 Vergessen Sie nicht, dass Essen wie eine Sucht sein kann
4.10 Warum ich psychologische Hilfe so wichtig finde
5 Die Schmerzen beim Lipödem
5.1 Es fällt mir schwer, über meine Schmerzen zu schreiben
5.2 Ich zapple häufig mit den Beinen
5.3 Auf einmal waren die Schmerzen da
5.4 Mit der Diagnose rückt auf einmal der Schmerz in den Fokus
5.5 Seelischer Schmerz
5.6 Woher kommen überhaupt diese Schmerzen?
5.7 Was hilft gegen die Schmerzen?
6 Weitere Erkenntnisse
6.1 Das Lipödem-Stadium
6.2 Die unterschiedlichen Formen des Lipödems
6.3 Das Lipödem bleibt eine Wundertüte
6.4 Folgeerkrankungen des Lipödems
6.4.1 Häufig ist nicht das Lipödem schuld, sondern das Übergewicht
6.4.2 Auch beim Lymphödem ist oft die Adipositas der Übeltäter
6.4.3 Eine weitere Folge von Adipositas: erhöhtes Krebsrisiko
6.4.4 Depressionen und Lipödem
6.4.5 Weitere mögliche Folgeerkrankungen
6.5 Gibt es spezielle Lipödem-Fettzellen?
6.5.1 Wieso gibt es nicht schon längst bessere Studien?
6.5.2 Warum gibt es keinen Lipödem-Test?
6.5.3 Bisher konnte kein Unterschied gefunden werden
7 Das Scheitern am Schönheitsideal
7.1 Ich mache mich selbst über meine Figur lustig
7.2 Der Model-Wahn
7.3 Ich bin auf dem Weg, mich schön zu finden
7.4 Eine Runde jammern
7.4.1 In der Opferrolle finden wir keine Lösung
7.4.2 Beim Jammern sind wir tröstungsresistent
7.4.3 Ein Wort zu Selbsthilfegruppen
7.4.4 Beim Lipödem wird besonders viel gejammert
7.4.5 Warum wir im wahrsten Sinne oft sauer sind
Teil II Meine Selbsthilfe-Strategien
8 In Bewegung kommen: Sport mit Lipödem
8.1 Den Stoffwechsel ankurbeln
8.2 Wie Ivona es geschafft hat
8.3 Ein Personal Trainer ist Gold wert
8.4 Warum Kraftsport hilfreich ist
8.5 Erste sportliche Schritte
8.6 Das Lachen nicht vergessen
8.7 Mehr trinken
8.8 Schwimmen und Aquasport
8.9 Trampolin schwingen
8.10 Meine Sport-Tipps im Überblick
9 Raus aus der Diäten-Falle
9.1 Essen darf Spaß machen
9.2 Bei veganer Rohkost spielt leider mein Darm nicht mit
9.3 Es gibt keine »Lipödem-Ernährung«, die für alle passt
9.4 Ernährungsempfehlungen von Dr. Bertsch
9.5 Ernährungsempfehlungen von Dr. Deling
9.6 Ernährungsempfehlungen von Dr. Oberlin
9.7 Essstörungen sind leider sehr häufig
9.8 Ayurveda: Waltrauds Weg
9.9 Ist zu viel Kapha schuld am Lipödem?
9.10 Ich bin ein Pitta-Vata-Typ
9.11 Ich bleibe dran am Ayurveda-Weg
9.12 Wie geht es Ihrer Leber?
9.13 Intervallfasten ist mein Ding
9.14 Mit der Leber erholt sich auch Ihr Stoffwechsel
9.15 Die kleinen Zellkraftwerke auf Trab bringen
9.16 Wie Stress und Cortisol uns ausbremsen
9.17 Ein Vorschlag, wie es gehen könnte
9.17.1 Erster Schritt: alles frisch kochen bzw. backen
9.17.2 Zweiter Schritt: nur drei Mahlzeiten am Tag essen
9.17.3 Dritter Schritt: langsam den Gemüseanteil erhöhen
9.18 Essen darf einfach und unkompliziert sein
10 Weitere hilfreiche Strategien
10.1 Faszienmassage: schmerzhaft, aber wirkungsvoll
10.2 Mein Selbsttest mit Faszienmassage
10.3 Auch festgehaltene Emotionen lösen sich
10.4 »Rolfing« war die erste Faszienbehandlung
10.5 Faszientraining macht Spaß und tut nicht weh
10.6 Auch gut für die Faszien: Yoga
10.7 Lymphdrainage ist nur in Einzelfällen sinnvoll
10.8 Störungen des Lymphflusses sind eher selten
10.9 Auch Ärzte lernen dazu
10.10 Kompression ist für viele hilfreich
10.11 Eine Strumpfhose aussuchen und anpassen
10.11.1 Eine Flachstrick wird für Sie maßgeschneidert
10.11.2 Ausgiebiges Testen muss sein
10.11.3 Es gibt sogar Kompression mit Reißverschluss
10.11.4 Eine Rundstrick hat zwar keine Naht, aber diverse andere Nachteile
10.11.5 Zum Anziehen brauchen Sie Handschuhe
10.11.6 Die richtige Pflege
10.12 Beim Sport sollten wir Kompression tragen
11 Mentale Selbsthilfe
11.1 Aus dem Sorgenkarussell aussteigen
11.2 Der eigenen Denkweise auf die Schliche kommen
11.3 Ist Ihr Umfeld bestärkend oder zieht es Sie eher runter?
11.4 Welches Bedürfnis steckt hinter dem Essen?
11.5 Wie wäre es mit etwas mehr Ruhe?
11.6 Sich selbst lieben
12 Liposuktion als letzte Maßnahme
12.1 Pro und Kontra
12.2 Sollen nur die Beine oder auch die Arme operiert werden?
12.3 Wann übernimmt die Krankenkasse die Kosten?
12.4 To-do-Liste, wenn bei Ihnen eine Liposuktion ansteht
13 Das Leben darf leicht sein
13.1 Auf Partnersuche
13.2 Optimale Sexstellungen
13.3 Kann hormonelle Verhütung das Lipödem verschlimmern?
13.4 Was Sie über Vererbung wissen sollten
13.5 Ist eine Lipödem-Früherkennung möglich?
13.6 Einen Mann finden, der Sie so liebt, wie Sie sind
13.7 Ich gönne mir eine Stilberatung
13.8 Lipödem-Mode
13.8.1 Das Dreieck oder der A-Typ
13.8.2 Das Oval oder der O-Typ
13.9 Mein Mode-Fazit
13.10 Wie Beleidigungen einfach an Ihnen abperlen
13.11 Zwei Improvisationsregeln, die das Leben leichter machen
13.12 Musterunterbrechung: anders als sonst reagieren
14 Fazit am Ende der Reise
Teil III Service
15 Hilfreiche Anlaufstellen
16 Personen
17 Literatur
18 Danksagung
Autorenvorstellung
Impressum
1 48 Jahre Lipödem – meine Geschichte
2 Meine Suche nach Antworten
3 Was ist ein Lipödem? Mythen und Fakten
4 Hängt Lipödem mit Adipositas zusammen?
5 Die Schmerzen beim Lipödem
6 Weitere Erkenntnisse
7 Das Scheitern am Schönheitsideal
Lipödem ist eine Störung der Fettverteilung, die fast nur Frauen trifft. Die Krankheit ist mit Schmerzen verbunden und stellt für die Frauen ein großes ästhetisches Problem dar. Da ich es selbst habe, beginne ich mit meiner Geschichte.
Ich trage ein langes Kleid. Nur die Schuhe schauen unter dem Saum hervor. Von den Beinen ist nichts zu sehen. Mit Absicht. Ich habe nämlich ein Lipödem.
Vereinfacht ausgedrückt wurde bei mir der Oberkörper einer schlanken Frau auf den Unterkörper einer übergewichtigen Frau gesteckt. Oben herum Barbie und unten Monchhichi. Das können Sie sich nicht vorstellen? Ich wundere mich auch immer wieder, wie das zusammenpasst, wenn ich mich im Spiegel anschaue.
Es gab sogar mal eine Zeit, da habe ich die Spiegel so aufgehängt, dass ich nur meinen Oberkörper sehen konnte. Die Beine wurden ignoriert. Die gehörten nicht zu mir. Und das war mein fester Glaube: Diese Beine gehören nicht zu mir. Und dabei fing alles vermeintlich harmlos an: mit meiner ersten Brigitte-Diät. Ich war 13 Jahre alt und hatte mit Beginn der Pubertät etwas zugenommen. Bei einer Größe von damals 1,76 m wog ich 53 Kilo. Vorher waren es 49 Kilo gewesen.
Hätte ich die zusätzlichen vier Kilo überall gleichmäßig zugenommen, wäre ich wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen, eine Diät zu machen, aber ich nahm das Gewicht nur an den Oberschenkeln zu. Vorher war ich ein Strich in der Landschaft, nun war ich ein Strich mit zwei Beulen. Nervig. Das wollte ich nicht. Und da meine Mutter sowieso häufig auf Diät war, machte ich einfach mal mit. An die leckere Fischsuppe erinnere ich mich heute noch gern.
Leider nahm ich kaum ab. Eigentlich hätte meine Mutter viel langsamer abnehmen müssen als ich, da der Stoffwechsel im Alter runterfährt. Es war aber andersherum. Und nicht nur dieses eine Mal. Wir haben sogar mal eine Woche gemeinsam gefastet. Meine Mutter nahm fünf Kilo ab und ich gerade mal ein Kilo, das dann nach dem Fastenbrechen auch sofort wieder drauf war.
Natürlich habe ich mich bei der ein oder anderen Diät auch mal nicht ganz strikt an den Diätplan gehalten. Ich war schließlich noch ein Kind. Eine Jugendliche. Eine junge Frau. Doch meistens war ich konsequent. Denn mit jeder neuen Diät hegte ich die Hoffnung auf schlanke Beine. Leider nahm ich jedes Mal sehr langsam ab und hauptsächlich am Oberkörper, der ohnehin schon schmal war. Ich wollte an den Beinen abnehmen, doch die wurden von Diät zu Diät bzw. von Jo-Jo zu Jo-Jo immer dicker.
Was konnte ich also noch tun? Sport. Klar. Mit Sport würde ich auch an den Beinen abnehmen. Ich meldete mich im Fitnesscenter an, besorgte mir einen eigenen Stepper für zu Hause, fuhr Fahrrad und versuchte es sogar mit Joggen. Es gab Tage, da bin ich 40 Kilometer mit dem Fahrrad gefahren, dann noch 40 Minuten gejoggt und habe mich abends vorm Fernseher auf den Stepper gestellt. Jede Übung für die Beine war meine. Wurden die Beine davon schlanker? Ja. Einen Hauch. Doch dies stand in keinem Verhältnis zu dem Aufwand, den ich betrieb. Und wenn ich bei dem Pensum nachließ, wuchsen die Beulen nur noch mehr. Mit 18 hatte ich schon einen Unterschied von fünf Kleidergrößen. Oben herum Größe 36 und untenherum Größe 46. Wobei ich mit »untenherum« nur die Beine meine. Die Taille war schmal, die Hüften waren schlank und dann kamen die säulenartigen Beine.
In meiner Hochphase hatte ein einziger Oberschenkel einen Umfang von 90 cm und die Taille nur 60 cm. Versuchen Sie mal mit solchen Maßen eine Hose zu finden. Wenn die Beine reinpassten, konnte ich mir den Hosenbund zweimal um die Hüfte schwingen. Also erst Hose kaufen und dann ab zur Schneiderin. Einen hüftlangen Blazer konnte ich nicht anziehen, weil ich den nicht über die Oberschenkel bekam. Nur taillierte Sachen konnte ich tragen. Doch dadurch fielen die Oberschenkel noch stärker auf. Von der Natur wurde ich mit einem knackigen Hintern belohnt. Leider sorgte das Lipödem dafür, dass die Oberschenkel unter dem Hintern so dick waren, dass es aussah, als ob mein Hintern bis zur Hälfte des Oberschenkels hinunterhing. Mein hübscher Hintern ging nahtlos in die dicken, beuligen Oberschenkel über und ich konnte kaum erkennen, wo der Hintern aufhörte und die Schenkel anfingen.
Als Au-pair-Mädchen in England kaufte ich mir dann eine Videokassette zu Callanetics. In der Werbung sah man eine Frau mit einer ähnlichen Figur wie meiner und nach nur wenigen Monaten hatte sie eine normale Figur – dank des Fitnessprogramms. Toll. Das wollte ich auch. Die Trainerin in dem Video sagte, dass der Po auf derselben Höhe sein sollte wie das Schambein. Lustig. Mein Hintern hing deutlich tiefer. Sehr deutlich. Ich habe dieses Programm monatelang gemacht. Auch danach hing mein Hintern tiefer als das Schambein und die dicken Oberschenkel waren immer noch da. Wurde es besser? Ja, ein bisschen. Reichte es mir? Nein. Ich wurde diese dicken Beine einfach nicht los.
Zu der Zeit hatte ich schon überall Besenreiser an den Beinen und die Cellulitis verteilte sich gleichmäßig vom unteren Hintern bis zu den Waden. Was habe ich dagegen gemacht? Noch mehr Sport. Noch mehr Diäten. Ich kenne sie alle: Blutgruppendiät, Fasten, Fit for life, Atkins, Brigitte-Diät, Hollywood-Diät, die Wundersuppe und viele, viele mehr. Immer mit der Hoffnung, dass ich mit der nächsten dauerhaft mein Gewicht würde halten können.
Konnte ich aber nicht. Warum nicht? Unter anderem, weil ich eine emotionale Esserin bin. Wenn ich jemals meine Traumbeine erreicht hätte, hätte ich vielleicht aus dem Diäten-Karussell aussteigen können. Doch ich kam ja nie an. Ich nahm ab. Die Beine wurden etwas schlanker. Aber nie schlank. Nie schön. Die Fettmassen sorgten dafür, dass ich kein sichtbares Knie mehr hatte. Selbst wenn ich nach einer Diät Kleidergröße 38 trug, so hatte ich als junge Frau dennoch keine Knie. Ich erinnere mich noch an das Schützenfest bei uns auf dem Land, wo ich mit meiner Familie immer meine Wochenenden und Ferien verbrachte. Ich hatte einen Minirock an, und als ich mit einigen Freunden nachts noch zusammensaß, stellte ein guter Freund von mir fest: »Komisch. Du hast gar keine Knie.« Woraufhin alle anderen auch schauten und zu demselben Ergebnis kamen.
Ich fühlte mich schlagartig furchtbar. Bis dahin hatte ich den Abend genossen. Jetzt war ich die Frau ohne Knie. Solche Erlebnisse gab es in meiner Jugend immer mal wieder.
Auch jetzt noch kommen Emotionen hoch, wenn ich mich daran erinnere. Wenn ich esse, fühle ich weniger. Essen betäubt mich. Dann kann ich auch ausblenden, dass ich am Wochenende immer nur mitgenommen wurde, weil die Clique jemanden brauchte, der Auto fuhr. Ich gehörte nicht wirklich dazu. Aber ich trank keinen Alkohol, was für die anderen sehr praktisch war. Wenn ich mitkam, konnten alle trinken. Durch das Essen spürte ich auch meine Einsamkeit nicht mehr, weil mich kein Junge interessant fand. Meinen ersten Freund hatte ich erst mit 23 Jahren. Wer will auch mit so einer merkwürdig aussehenden Frau zusammen sein? Ich konnte die Jungs verstehen. Ich mochte mich ja selbst nicht.
Ich erinnere mich noch, wie mir ein Lebenspartner mit leuchtenden Augen mitteilte: »Du bist meine erste dicke Freundin.« Das sollte ein Kompliment sein. Nach dem Motto: Meine Liebe ist so groß, dass ich sogar mit den Fettmassen klarkomme. Wobei ich ja nie dick war. Nie übergewichtig. Nicht dass dies schlimm wäre oder ich es verurteilen würde. Die meisten Lipödem-Betroffenen sind übergewichtig oder sogar adipös. Es geht mir nicht darum, dass ich zu den Ausnahmen gehöre, sondern dass ich von einem Mann, der meint, mich zu lieben, als dick bezeichnet wurde, obwohl ich zu dem Zeitpunkt nur 78 Kilo gewogen habe. Eigentlich ist das bei 1,80 m Normalgewicht. Bei meiner Figur und den Fettmassen wirkt es aber in der Tat übergewichtig. Oder ein anderer Mann, der mich im Badezimmer kritisch betrachtete und dann erstaunt sagte: »Mensch. Du bist ja wirklich nur hier unten dick. Hier oben bist du hübsch.« Das sind Komplimente, nach der sich jede Frau sehnt. Oder auch nicht. Und wenn ich diesen Seelenkummer vergessen wollte, flüchtete ich mich wieder in Fressattacken. Und die Kilos waren schneller wieder drauf, als ich Jo-Jo sagen konnte.
Darüber hinaus machte meine Cellulitis eher einer Mondlandschaft alle Ehre und nicht einer süßen, saftigen Orange. Was hilft dagegen? Wechselduschen. Heiß, kalt, heiß, kalt, heiß, kalt. Habe ich natürlich auch gemacht. Was noch? Schwimmen. Ich ging mit meinem Vater regelmäßig morgens ins Schwimmbad, um meine 1 000 Meter zu schwimmen. Mit meinem Vater traute ich mich ins Schwimmbad. Alleine nicht. Und ich habe alle Cremes und Massagebürsten ausprobiert, die es zu kaufen gab. Ohne großen Erfolg. Wenn Sie also wochenlang auf alles Leckere verzichten und trotz Sport nicht das gewünschte Ziel erreichen, dann kommt der Frust. Die Enttäuschung. Die Traurigkeit. Wie soll mich jemals ein Mann dauerhaft lieben können? Mit den Beinen?
Also fing ich wieder an zu essen. Manchmal räumte ich den Kühlschrank leer, doch häufig reichte schon normales Essen. Mit normal meine ich das, was bei uns gegessen wurde: morgens ein Brötchen mit Marmelade, mittags ein Teller Eintopf, nachmittags ein Stück Kuchen und abends Brot mit Aufschnitt. Doch mein Körper wusste schon gar nicht mehr, was »normal« ist nach den vielen Diäten. Er nahm zu. Natürlich hauptsächlich untenherum und das Drama wurde schlimmer und schlimmer. Denn dann fingen die Schmerzen an.
Darüber habe ich mit kaum jemandem geredet. Weil ich mich schämte. Ich dachte, die Schmerzen kämen daher, dass ich zu dick sei. Ich müsste einfach nur mehr Sport treiben und eine Diät lebenslang durchhalten, dann würden auch die Schmerzen weniger. Mir tun die Oberschenkel weh, wenn ich längere Zeit sitze. Mir tun die Beine weh, wenn ich lange stehe. Wenn in einem Hotel der Duschkopf zu hart eingestellt ist, tut mir der Wasserstrahl auf den Beinen weh. Als eine Ärztin letztens Akupunktur-Nadeln gesetzt hat und leicht in meine Waden drückte, um die richtige Stelle zu finden, da wäre ich ihr am liebsten vom Tisch gesprungen. Auf einer Skala von 0 bis 10 habe ich permanent Schmerzen zwischen 2 und 4. Die kann ich meistens ausblenden. Doch wenn ich mich leicht stoße, ungünstigen Sport treibe, zu heftig angefasst werde, dann kurbelt sich der Schmerz schnell auf 6 bis 8 hoch. So eine harmlose Aktion wie Beine hochlegen tut mir weh, wenn ich die Waden nur auf einen Stuhl lege. Selbst dick gepolsterte Kanten tun mir weh. Ich kann meine Beine nur auf einem Sofa hochlegen, wo ich nicht an einer Stelle vermehrt Druck auf meine Beine ausübe. Das mache ich natürlich nicht in jedem Haushalt bzw. im Büro. Daher kämpfe ich mich meistens durch den Tag, ohne die Beine zwischendurch hochzulegen.
Berührungen, die Menschen ohne Lipödem als intensives Streicheln empfinden würden, treiben mir Tränen in die Augen. An manchen Tagen ist es schlimmer und an manchen weniger. Das glaubt einem doch keiner. Also habe ich es mir auch irgendwann nicht mehr geglaubt und dachte, dass ich das alles wegbekomme – Fett und Schmerzen –, wenn ich die nächste Diät inklusive Sportprogramm endlich dauerhaft durchhalte.
Nervig waren auch die blauen Flecken. Ständig sah ich aus wie frisch verprügelt. Häufig konnte ich mich gar nicht mehr erinnern, ob und wo ich mich gestoßen hatte, doch der blaue Fleck war unübersehbar. Einmal schaut mich mein damaliger Lebenspartner morgens voller Schreck an: »O Gott, habe ich das gemacht? Habe ich dich zu hart angefasst?« – »Nö. Das ist normal. Ich bekomme auch einfach so spontan blaue Flecke.« Einmal war ich mit einem Freund auf dem Dom. Dies ist eine große Kirmes in Hamburg mit vielen Karussells. Ich war dort im »Shaker«. Das ist ein Gerät, bei dem der Wagen immer wieder unvermittelt stoppt, losrast, sich überschlägt und um die eigene Achse dreht. Ich wurde von rechts nach links, nach oben und unten geschleudert. Großartig. Dementsprechend sah ich hinterher aus: überall blaue Flecke. Einen Tag später hatte ich ein Blind Date. Im Hochsommer. Keine Ahnung, was der Mann sich bei meinem Anblick gedacht hat. Ich kann ihn auch nicht fragen, weil es bei diesem einen Date blieb.
Mit 18 Jahren ging ich zum Arzt. Ich wollte herausfinden, ob hinter meinen dicken, schmerzempfindlichen Beinen nicht vielleicht doch eine Krankheit stecken könnte. Vielleicht die Schilddrüse? Eine Stoffwechselkrankheit? Irgendetwas? Ich betrat den Praxisraum und dort saß dieser Gott in Weiß.
»Wo wollen Sie denn abnehmen? An den Ohrläppchen oder was?« Schallendes Gelächter seinerseits. – »Ich denke, Sie können deutlich erkennen, wo ich zu dick bin.« Er grübelte, entnahm Blut … und stellte Fragen wie: »Wie sieht denn Ihre Mutter aus? Oder andere Familienmitglieder?« – »Schlank. Die sind alle schlank.« – »Na, dann sind Sie doch das einzige Goldstück in der Familie.« Sprach’s und klopfte mir grinsend auf die Schulter. Die Untersuchung ging weiter. Die Sprüche auch. Irgendwann hielt ich diese nicht mehr aus und fing an zu weinen. Da sagte er: »Jetzt hören Sie doch auf zu weinen. Sie verschmieren noch Ihr ganzes Make-up.« – »Ich trage kein Make-up.« – »Na also, damit können Sie doch schon mal anfangen. Wenn Sie schöner sein wollen, fangen Sie an sich zu schminken.«
Nach weiteren Tests hat dieser Arzt dann doch noch eine für ihn logische Erklärung gefunden, warum meine Beine so dick waren: »Ihr Name klingt so ausländisch.« – »Ja. Mein Vater ist Spanier.« – »Ach, sehen Sie, da haben wir es doch. Schauen Sie sich doch die ganzen Türken an, die hier zu uns nach Hamburg kommen. Wenn die jung sind, sind sie schlank und im Alter werden sie fett. Das ist Veranlagung.«
Ein paar Minuten später fuhr ich heulend mit dem Bus nach Hause. War dort allein mit meinem Kummer und habe gegessen. Um weniger zu fühlen. Die körperlichen Schmerzen sind bei einem Lipödem nicht zu unterschätzen. Die seelischen aber auch nicht. Mit dieser Figur bin ich nicht mehr ins Schwimmbad gegangen. Oder nur dann, wenn niemand dort war oder mein Vater mitkam. Ich wollte fiese Sprüche vermeiden. Und die kamen regelmäßig, selbst wenn ich Kleidung anhatte. Ohne Kleidung noch extremer. Ich versuchte mit Kleidung meine Schwachstellen zu verstecken. Doch wie versteckt man die Hälfte des Körpers? Mit Röcken. Das ging. Wallende Röcke mit Petticoat drunter. Und lang musste der Rock sein, weil die Waden so dick waren. Es geht weniger um den Umfang der Waden, sondern mehr um die unnatürliche Form. Denn das Fett an den Waden hört schlagartig an den Knöcheln auf. Die Füße sind schlank mit keinem Gramm zu viel. Wie bei den besagten Monchhichi. Den Puppen aus meiner Kindheit: Fell am ganzen Körper und dann ragten die hellen schlanken Füße raus.
Wenn ich also mal ausgehen wollte, stand ich ewig vor dem Kleiderschrank. Es ging nicht um die Frage »Was sieht gut aus?« oder »Was ist dem Anlass angemessen?«, sondern nur um »Womit sehe ich schlank aus«. Meistens war es dann ein Rock. Wenn sich Freunde aber für ein Picknick verabredeten oder für eine Fahrradtour, dann ging der Rock nicht. Also griff ich dann zu einer weiten Hose und einem weiten Pullover oder sagte ab. Häufig habe ich abgesagt. Lieber zu Hause einsam sein als draußen ständig unwohlfühlen und den Blicken der anderen ausgesetzt sein.
Wie viele unsichere Menschen habe ich mich in den Humor gerettet und in die Schlagfertigkeit. Was mir als introvertiertem Menschen zunächst schwerfiel. Ich wollte nicht im Mittelpunkt stehen, doch mit meinen Beinen war ich eh Gesprächsthema. Dann wollte ich wenigstens ein lustiges Gesprächsthema sein. Wobei ich am Anfang gar nicht lustig war. Meine Schlagfertigkeit war meistens verletzend für mein Gegenüber. Aber ich wurde besser. Das Lipödem ist somit der Hauptgrund, warum ich mich so intensiv mit Kommunikation auseinandergesetzt habe. Wer will schon eine Frau mit so unförmigen Beinen kennenlernen? Dann doch lieber eine Frau mit dicken Beinen, die eloquent, schlagfertig und extrem lustig ist. Und es führte auch dazu, dass ich so lieb wie möglich war. Wie jeder andere Mensch wollte ich gemocht werden, mich geliebt fühlen. Wenn schon nicht wegen meines Aussehens, dann zumindest wegen meines umwerfenden Charakters. Es spricht nichts dagegen, wertschätzend zu sein, doch die Interessen anderer immer vor die eigenen zu packen, ist auf Dauer ungesund und zeugt von wenig Selbstliebe.
Immer wenn ich etwas zu viel wiege, gehe ich in einen Laden für Übergrößen. Als Jugendliche entdeckten meine Mutter und ich Ulla Popken. Wir gingen in den Laden und die Verkäuferin fragte uns, was wir da wollten. Ich gehörte offensichtlich nicht zu deren Klientel. Das dachte die Dame zumindest, bis ihr Blick von meinem Gesicht über den Oberkörper zu den Beinen wanderte. Dann folgte ein wissendes Nicken und sie zeigte uns die Hosenabteilung. In die kleinste Größe 42/44 passte ich gut rein und die Hose hatte einen großen Stretchanteil. Dieser Druck auf der Haut tat zwar auf Dauer weh, aber tagsüber konnte ich es aushalten und es sah besser aus als die konventionellen Hosen in Größe 46 in anderen Läden. Leider schlabberte auch hier der Hosenbund. Den musste ich also verstecken. Am besten mit einem Pullover oder einer Bluse. Doch da wurde es wieder kompliziert. Bis der Pullover auch über den Hintern und die Oberschenkel passte, rutschte er mir oben ständig von den zarten Schultern. Okay. Einen modischen Tod muss man sterben, also trug ich die Pullover in Übergröße und versteckte den letzten schlanken Teil an mir.
Ich flüchtete mich in Fantasiewelten. Ich las Romane. Am liebsten Liebesromane. Dicke Wälzer, in denen ich tagelang die reale Welt vergessen durfte. Ich verließ die Wohnung ungern. Draußen war die böse Welt, mit der ich nicht klarkam. Ich wollte mich nicht zeigen. Dumm nur, dass ich so gern sang. Ich wollte immer Sängerin werden. Zu Hause habe ich schon als Kind auf dem Kassettenrekorder eigene Hitparaden aufgenommen. Ich war alles in einer Person: Moderatorin, Publikum, Sängerin. Ab meinem 14. Lebensjahr habe ich dann im Hamburger Schubertchor mitgesungen. Doch ich wollte mehr. Ich wollte als Solistin für meine Stimme geliebt werden. Doch ich traute mich nicht. Auf die Bühne stellen und von allen gesehen werden? Unvorstellbar.
Mit 24 Jahren nahm ich an einem Gesangswettbewerb teil: dem Stimmtreff 94 von der Sängerakademie in Hamburg. Die Vorrunden liefen nur über ein eingeschicktes Tape. Ich kam in die Endrunde. Dort durften wir alle vor Publikum und einer Jury singen. Ich weiß noch genau, was ich anhatte. Einen grauen, schmal geschnittenen Pullover mit Rollkragen, dazu Stiefel mit Stretch. In normale Stiefel kam ich mit meinen Waden nie rein, aber in diesen Stiefeln wirkten meine Beine schlanker. Und dann natürlich ein Rock. Dunkelblau war er. Die schlanke Taille betonte ich mit einem extra breiten Gürtel. Der schnürte mir zwar die Luft ab und die Beine taten mir in den engen Stretchstiefeln weh, aber ich sah einigermaßen normal aus und traute mich auf die Bühne. Ich sang. Und gewann. Den ersten Platz. Ich weiß, dass »gewonnen« und »erster Platz« doppelt gemoppelt ist, aber ich konnte es kaum glauben. Die anderen waren so gut und sahen so viel besser aus.
Nun durfte also mein neues Leben beginnen, weil mir gesagt wurde, dass die Gewinner aus den letzten Jahren immer einen Plattenvertrag bekommen hätten. In den letzten Jahren schon. Bei mir war das anders. Ich war ihnen nicht hübsch genug. Mir wurde vorgeschlagen, dass ich als Studiosängerin arbeiten dürfte. Ich würde die Songs singen und eine Vorzeige-Frau würde dann zu meiner Stimme auf der Bühne die Lippen bewegen. Das war zu der Zeit gang und gäbe. Doch ich wollte das nicht. Adiós Plattenvertrag. Auf Nimmerwiedersehen.
Ich studierte dann klassischen Gesang, bis ich merkte, dass mein Herz nicht für die Klassik schlägt. Ich mag sie. Aber ich liebe sie nicht und lebe nicht dafür. Dafür war ich ein Musical-Fan und sah mich in Gedanken auf den großen Bühnen. Der Zahn wurde mir aber schnell gezogen, denn mit meiner Figur hätte ich wenig Chancen gehabt. Und da mir das Tanzen wegen der Schmerzen so schwerfiel, hatte ich es auch jahrelang vernachlässigt. Somit fehlte mir die Basis für eine Musical-Karriere. Mein beruflicher Weg führte mich daher weg von der Bühne und hin zum Radio. Dort konnte ich mich als Radiomoderatorin verstecken, denn da war nur meine Stimme gefragt.
Mittlerweile habe ich meinen Körper mit allem gequält, was mich vermeintlich schlank machen würde. Zum Beispiel Entwässerungstabletten. Oder auch sehr beliebt: Abführtabletten. Ich weiß noch, wie ich vor einem Vorstellungsgespräch des Radiosenders NDR 2 diese Tabletten genommen habe, damit ich am nächsten Tag etwas schlanker aussah. Leider hielt der Effekt noch vor und ich wäre fast zu spät gekommen, weil ich das Badezimmer nicht verlassen konnte. Kurz darauf habe ich dann angefangen, mir den Finger in den Hals zu stecken. So konnte ich zwei Sachen vereinen: Meinen Körper mit Essen betäuben und trotzdem schlanker werden. An manchen Tagen habe ich sogar extrem wenig getrunken, um noch ein paar Gramm weniger zu wiegen. Ich war davon regelrecht begeistert: essen und nicht zunehmen. Nach einem Jahr erzählte ich Arne davon, einem guten Freund und Radiokollegen, und brachte ihn damit in eine sehr schwierige Situation. Er informierte sich bei Selbsthilfegruppen und erfuhr nur, dass er mir nicht helfen konnte. Also hat er meine Ess-Brech-Sucht über die Jahre stumm ertragen und war für mich da.
Die Waage nahm eine große Rolle in meinem Leben ein. Ich wog mich mehrmals am Tag. Durch die Bulimie nahm ich zwar ab, aber ein soziales Leben war nicht möglich. Arbeit, einkaufen, essen, kotzen, schlafen. Natürlich ging dies nur, wenn ich allein wohnte, keinen Lebenspartner hatte und kaum jemanden traf. Genauso sah mein Leben auch aus. Nun war ich zwar einigermaßen schlank, doch noch einsamer als zuvor. Wenn ich die Einsamkeit nicht mehr aushielt und am normalen Leben teilnahm, kamen die Kilos wieder. Und die Schmerzen wurden schlimmer.
»Sag mal, das mit deinen Beinen könnte eine Krankheit sein. Ich habe eine Freundin mit Lymphödem. Die fährt einmal im Jahr zur Kur in eine Klinik und sie meint, dass dort viele Frauen rumlaufen, die genauso aussehen wie du.« – Ich sitze am Klavier und vor mir steht meine Gesangsschülerin Ulrike. Es ist 1997 und ich bin 27 Jahre alt. Sie fragt dann noch einmal ihre Freundin und mir wird der Begriff »Lipödem« genannt. Am besten solle ich mal zu dieser Klinik fahren, denn dort könnten mir Spezialisten sagen, ob ich das wirklich habe oder nicht. Ich gehe zu meiner Hausärztin und bitte um eine Überweisung. »Wofür?« – »Lipödem.« – »Nie gehört. Wie schreibt man das?«
Ich kratze mein Geld zusammen und fahre mit dem Zug zu der Klinik. Dort bin ich auf einmal nicht mehr allein. Die Patientinnen dort sehen fast alle so aus wie ich. Dort wird mir von einer Ärztin bestätigt, dass ich ein klassisches Lipödem habe. Literatur könne sie mir nicht empfehlen, weil es nur ein Buch gebe und das sei sehr medizinisch. Aber ich bekomme die Empfehlung, bald eine Kur bei ihnen zu machen. Dort würde ich dann alles Nötige lernen und erfahren. Bevor ich fahre, wird mir noch eine Ernährungsliste gegeben und meine Beine werden vermessen. Für die Kompressionsstrumpfhose.
Ich fahre noch am selben Abend zurück und falle in ein tiefes Loch. Heule tagelang von morgens bis abends. Ich weine, weil mir bewusst wird, dass ich mir selbst nicht mehr geglaubt habe. Früher hatte ich noch das untrügliche Gefühl, dass meine Beine nicht zu mir gehören und meine richtigen Beine irgendwo unter den Fettmassen versteckt sind. Doch mit den Jahren glaubte ich mehr dem Umfeld als mir. Wenn mir alle sagen, dass man mit Diät und Sport abnimmt und auch die Beine schlank bekommt, dann habe ich wohl etwas falsch gemacht. Sonst hätte es ja funktioniert. Ich habe sogar ab und an behauptet, dass ich bei Diäten gesündigt hätte, obwohl es nicht der Fall gewesen war, weil es ja nicht anders sein konnte. Und nun habe ich eine Krankheit. Mein Bauchgefühl von früher war richtig gewesen. Doch ich habe mich verraten. Ich fühle mich nicht nur von anderen verraten, sondern auch von mir selbst. Das ist das Schlimmste. Ich habe mich selbst im Stich gelassen und war Opfer und Täter zugleich.
Nun soll alles besser werden. Ich kümmere mich um mich und stürze mich mit Feuereifer in die Ernährungsumstellung. Zucker ist verboten. Sogar Honig und alle sonstigen Süßungsmittel. Nur Obst ist erlaubt. Darüber hinaus wird fettarme Ernährung empfohlen. Fettarmer Fisch, fettarmes Fleisch, fettarmer Käse, fettarme Milch etc. Bei den Fetten soll ich auf einen hohen Anteil an ungesättigten Fettsäuren achten. Salz minimieren, wenig Kohlenhydrate (Brot, Kartoffeln, Reis, Nudeln etc.) und wenn überhaupt, dann in der gesunden Vollkornvariante. Ich soll keine Kalorien zählen, sondern mich von diesen Lebensmitteln satt essen.
Die Umstellung ist hart. Zu der Zeit ist mir noch nicht bewusst, dass der Entzug von Industriezucker dem Körper so zusetzt. Ich habe nach einigen Wochen eine heftige Mandelentzündung. Ich weiß vor Schmerzen gar nicht wohin und drei Ärzte raten mir dringend, die Mandeln entfernen zu lassen. Obwohl ich natürlich jedem sage, dass ich gerade eine Ernährungsumstellung vollziehe und es daran liegen könnte, dass der Körper gerade entgiftet. Mein Vater fährt mich heulendes Wrack dann zu einem vierten Arzt, der endlich mal zuhört. Er gibt mir Medikamente und sagt, dass ich durchhalten solle. Nach einigen Tagen werden die Schmerzen wieder erträglich. Ich bleibe am Ball, ernähre mich gesund und fange wieder verstärkt mit Ausdauersport an. Mir wird abgeraten, Krafttraining zu machen, weil dies das Lipödem nur noch verstärken würde. Und ich solle nur noch mit Kompressionsstrümpfen Sport treiben.
Ach ja … diese Kompressionsstrumpfhose. Nicht zu vergleichen mit den Strumpfhosen, die im Laden als Stützstrümpfe verkauft werden. Es sind im Prinzip Stretchhosen. Mit einer großen Naht auf der Rückseite. Nicht so elegant und sexy wie bei einer hübschen Perlonstrumpfhose, sondern eine dicke, fette Naht, die ich nur halbwegs verstecken kann, indem ich zwei blickdichte schwarze Perlonstrumpfhosen drüberziehe. Und das ist nötig, weil es die Strumpfhosen vorerst nur in Mittelbraun gibt. Die Strümpfe als hässlich zu bezeichnen wäre noch ein Kompliment. Sinn und Zweck der Strumpfhose ist es, die Beine zu halten und die Schmerzen zu lindern.
Regelmäßig heule ich, wenn ich mir die Strumpfhose anziehe. Sie soll eng sitzen. Was okay ist, wenn ich sie anhabe. Aber das Anziehen an sich ist ein schmerzhafter Vorgang, vor allem als ich noch nicht so viel Routine habe. Lustig ist auch, dass ich diese Kompression nur mit Gartenhandschuhen an- und wieder ausziehen kann. Ich wähle im Laden grüne Handschuhe mit Noppen. Die sind klasse. Damals arbeite ich noch nebenberuflich als Telefonistin bei der Annoncen-Avis in Hamburg. Jedes Mal wenn ich auf Toilette muss, schnappe ich mir meine Gartenhandschuhe. Ich werde hier nicht ins Detail gehen. Nur so viel: Jeder Toilettengang ist eine schweißtreibende Quälerei.
Auch wenn die Kompression helfen soll, mir tut die Strumpfhose weh. Eine Schmerzlinderung spüre ich nicht. Denke aber, dass dies bestimmt noch kommt.
Darüber hinaus bekomme ich Lymphdrainage verschrieben. Es ist eine Art Massage, die das Lymphsystem anregen soll. Wobei es mehr Streicheln als Massage ist. Trotzdem tut es mir weh. Und es ist auch keine Freude, dort meine Kompressionsstrumpfhose komplett aus- und wieder anziehen zu müssen. Nach einem halben Jahr höre ich damit wieder auf. Doch die Kompression trage ich weiterhin. Jeden Morgen ziehe ich sie mir sofort nach dem Duschen an und erst vorm Zubettgehen wieder aus. Dann schnell die Strumpfhose waschen, aufhängen, um sie am nächsten Morgen wieder anziehen zu können.
Dank der Ernährungsumstellung sind schon zehn Kilo runter, bevor ich endlich die Kur genehmigt bekomme und zu der Klinik fahre. Dort nehme ich weitere drei Kilo ab. Ist das Lipödem dadurch weg? Nein. Chronisch sei die Krankheit, sagt man mir. Man wisse nicht, woher sie komme. Das Lipödem hänge wahrscheinlich mit Hormonen zusammen, daher solle ich auch bei der Verhütung Hormone meiden. Mir wird auch gesagt, dass die Krankheit immer schlimmer werden kann und ich im schlimmsten Fall sogar Krebs bekomme, weil bei mir das ganze Lymphsystem nicht korrekt funktioniert. Das sind tolle Aussichten. Trotzdem ist die Diagnose für mich ein Hoffnungsschimmer.
Ich wittere die Chance meines Lebens. Lange Zeit halte ich mein Gewicht dank der neuen Essgewohnheiten, dem vielen Sport und der Kompression. Doch aus der Essstörung bin ich emotional noch lange nicht raus. Die Beine sind ja immer noch hässlich. Nun trage ich zwar oben herum Größe 34 und unten herum Größe 38, aber trotzdem passe ich nicht in normale Kleidung. Nur Stretchklamotten. An dem Aussehen der Beine hat sich nichts geändert. In mir wächst der Wunsch nach einer Operation.
In der Klinik raten sie mir davon ab, weil das Lymphsystem dadurch noch größeren Schaden nehmen könnte. Nur in Ausnahmefällen würden sie dazu raten, herunterhängende Hautlappen entfernen zu lassen. Meine Haut hängt definitiv. Auch durch die erneute Abnahme. Eine Kollegin beim Radiosender kann mein Gejammer nicht mehr hören und meint: »Du hast doch tolle Beine. Was willst du denn?« Als Beweis ziehe ich mir in ihrem Wohnzimmer meine Hose aus. Den entsetzten Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Danach hat sie nie wieder ein Wort darüber verloren.
Wenn ich mich schon so quäle – so mein Gedanke –, dann will ich auch endlich das perfekte Ergebnis haben. Endlich normal sein. Ich suche lange nach einem Schönheitschirurgen, dem ich vertrauen kann, und werde fündig. Als ich in seine Praxis komme, schaut er mich kurz an und geht in Richtung Silikonimplantate. »Ich möchte mir nicht die Brüste vergrößern lassen. Es geht um meine Beine.« Während er mich verdutzt ansieht, legt er langsam das Implantat wieder zurück ins Regal. Zu dem Zeitpunkt wiege ich nur 57 Kilo. Ich bin sehr schlank, daher kann ich seinen ungläubigen Blick verstehen. Als er meine Beine sieht, ist auch dieses Missverständnis geklärt. Er will es erst einmal mit Fettabsaugen an den Oberschenkeln probieren, denn häufig würde sich die Haut dann zusammenziehen und verbessern. Dies wäre ein deutlich kleinerer Eingriff als das Entfernen der Haut.
Die Krankenkasse hätte die Kosten nicht übernommen, also nehme ich einen kleinen Kredit auf. In der Klinik liegt neben mir eine Frau, die stolz erklärt, dass sie hier und heute mit ihrer Diät anfangen würde: »Ich lasse mir jetzt mindestens fünf Kilo absaugen. Vom Bauch und dem Po. Dadurch ist schon mal ein großer Batzen weg und dann mache ich mit Diät weiter.« Ich wäre gern an ihrer Stelle. Denn ohne Lipödem könnte ich abnehmen. Ohne Lipödem hätte ich nach dem Abnehmen eine schöne Figur.
Die erste Operation bringt leider nicht den angestrebten Erfolg. Die Haut hängt. Also werden mir in einer zweiten OP zwei Kilo Haut wegoperiert. Er schneidet aus jedem Oberschenkel einen Querstreifen raus, zieht die Haut von der Mitte des Oberschenkels nach oben und näht sie dort wieder an. Und er saugt sogar noch einmal oberhalb des Knies etwas Fett weg, sodass es fast so aussieht, als hätte ich Knie. Ich bin glücklich. Überglücklich. Ich kaufe mir Miniröcke, Röhrenjeans und alles, was ich bisher nicht tragen konnte.
Natürlich ist das Lipödem noch da. Und die Waden wurden nicht operiert, weil dies dem Chirurgen zu heikel war. Ich habe also immer noch kräftig gebaute Beine, aber es ist alles in einem relativ normalen Rahmen und ich traue mich sogar wieder ins Schwimmbad. Das Leben hat mich wieder. Jetzt habe ich recht normale Konturen. Sind die Schmerzen weg? Nein. Bin ich seitdem ständig schlank? Nein. Die Essstörung, die im Kopf beginnt, ist ja nicht geheilt. Wenn es mit einem Partner auseinandergeht, wenn ich Ärger mit einer Freundin habe, wenn mich finanzielle Sorgen quälen oder ich mich im Job unwohlfühle, dann fange ich an zu essen. Mein Gewicht pendelt meistens zwischen 60 und 70 Kilo. Hoch. Runter. Hoch. Runter.