Literarische Bildung - Christian Dawidowski - E-Book

Literarische Bildung E-Book

Christian Dawidowski

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Beschreibung

Literarische Bildung ist ein leitendes Ziel des Deutschunterrichts ‒ so steht es in allen Lehrplänen. Doch darüber, wie dieses Ziel in der Praxis realisierbar ist, findet sich dort nichts. Hier setzt der Literaturdidaktiker Christian Dawidowski an. Zunächst skizziert er die historische Entwicklung literarischer Bildung als Unterrichtsziel, um auf dieser Basis ihre Bedeutung für die heutige Gesellschaft zu klären und dann die aktuelle Schulpraxis zu untersuchen. »Was ist also zu tun?«, fragt Dawidowski abschließend und gibt konkrete Empfehlungen für Lehrerinnen und Lehrer.

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Christian Dawidowski

Literarische Bildung

Reclam

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961967-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014191-5

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung

1 Entstehung und Entwicklung von »literarischer Bildung« als Ziel des Deutschunterrichts

2 Systematische Betrachtung: »Bildung« und »Literatur« im gesellschaftlich-schulischen Zusammenhang

3 Umgang mit Literatur bei Lernenden, Lehrenden und im Unterricht

4 Was bleibt? Handlungsoptionen für den Literaturunterricht

Epilog: Literarische Bildung und gesellschaftliche Krise

Literaturverzeichnis

Zum Autor

[7]Einleitung

Literarische Bildung?1 Ein Anachronismus in einer digitalisierten Welt? Nur Hauswirtschaftslehre scheint da noch unangemessener für die Schule der »digital natives«. Immerhin gibt es den Eintrag »Bildung, literarische« von Nikolaus Wegmann im renommierten Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, der dem Begriff ein »emphatisches Verständnis der Lit.« unterstellt,

»das in Opposition zu einer nur funktionalen Ausbildung zwei Behauptungen über die Wirkung von Lit. macht: (a) aus der Lektüre literar. Werke resultieren gravierende positive Effekte auf den Leser als Person; (b) für die lit.gestützte Selbst-Formung gibt es keinen gleichwertigen Ersatz.« (Nünning 2008, 70)

Wenngleich Wegmann im Artikel betont, dass man heute »in der Einschätzung des Phänomens unentschieden« (ebd.) sei, nutzte Ulf Abraham 2014 unter anderem diesen Artikel (freilich auch die sinkenden Quoten von VHS-Kursen zur Literaturvermittlung), um »literarische Bildung« als Zielvorstellung für den Deutschunterricht als Überforderung von Schule zu klassifizieren. Stattdessen solle man sich beschränken auf die Vermittlung von: Kanonkenntnissen, literaturbezogenen Fähigkeiten und (affirmativen) Einstellungen, kultureller Teilhabe und Selbstreflexion, ästhetischer Wahrnehmung der Literatur (vgl. Abraham 2014). Hier ist offensichtlich die Trennschärfe zum Begriff der »literarischen Bildung« kaum [8]gegeben – umso brisanter wird der Fall allerdings, wenn 2019 ausgerechnet der Herausgeber des o. g. Lexikons vehement und mit Schärfe die Rückkehr zu dem einfordert, was auf den folgenden Seiten als »literarische Bildung« definiert werden wird. Nünning akzentuiert »die ungebrochene Aktualität von Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie« (Nünning 2019, 216), er fordert für die Lehrerbildung, »Menschen Bildung durch aktive Beteiligung am Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung zu ermöglichen« (ebd., 217), auch durch Zeitgewinn, denn literarisches Lesen gehorche »ästhetischen Eigenzeiten« (221), weniger dem »Paradigma der Digitalisierung« (ebd., 226). Lehrerbildung solle sich daher »an humanistischen Menschenbildern orientieren« und den »persönlichkeitsbildenden Wert« (ebd., 231) stärken.

In dem Jahrzehnt zwischen 2010 und 2020 scheint in Bildungsinstitutionen einiges passiert zu sein, damit es zu einer solch konträren und vehementen Auseinandersetzung und auch einer teilweisen Reanimierung vormals »erledigter« Begriffe gekommen ist. Tatsächlich ist dies der Zeitabschnitt, in dem die durch die PISA-Studie initiierten Schulreformen und auch die Bologna-Reform an Universitäten mit einer durchgreifenden Digitalisierung erste Resultate in Gestalt von Absolventen hervorbrachten. Hier wurde offenbar, dass vieles, was sich zuvor nur andeutete oder geahnt wurde (beispielsweise im Begriff der »digital natives«), nun Realität geworden war. Wenn Nünning nun für offenen »Widerstand gegen unsinnige Anordnungen und Fehlentwicklungen« (ebd., 235) plädiert, steht wiederum – wie so oft in der deutschen Bildungsgeschichte – der Bildungsbegriff selbst zur Diskussion.

Die folgenden Ausführungen wollen an dieser Stelle eingreifen, allerdings nur mit Bezug auf den Umgang mit Literatur an Schulen. Sie sind auch als ein Plädoyer für den Erhalt literarischer Bildung zu verstehen, bemühen sich allerdings auf der [9]Basis historischer und empirischer Forschung um abwägende Argumentation. Wenn jüngst auch rein literaturdidaktische Publikationen unter dem Titel Literarische Kompetenz messen, literarische Bildung fördern (Boelmann/König 2021) die Vereinbarkeit beider Haltungen belegen, kündigen sich darin neue Tendenzen an. Die folgenden Ausführungen zeigen im ersten Kapitel, dass »literarische Bildung« in der Schule des 19. Jahrhunderts alles andere als »mehr Lametta« war, um es salopp zu formulieren. Im zweiten Kapitel versuchen sie, den Bildungsbegriff auf seine sozialen Zwecke hin zu durchleuchten (Statussicherung, soziale Distanzierung) und die Funktion des Literaturunterrichts dabei zu erhellen. Das dritte Kapitel zitiert viele aktuelle empirische Studien, die mit dem literarischen Lesen bei »digital natives«, ihren LehrerInnen und im Unterricht zu tun haben, um auf dieser Basis im vierten Kapitel zu Schlussfolgerungen für die Praxis des Literaturunterrichts zu kommen. Der kurze Epilog ist als Ergänzung zu verstehen, die erläutert, warum Bildungskonzepte insbesondere in Krisenzeiten für die Entstehung und Reifung von Persönlichkeiten eminent wichtig sind.

Die Notwendigkeit für solche Überlegungen ist gegeben, und sie ist zwingend. Rechnet man die Dimensionen Persönlichkeitsbildung und ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit aus dem Bildungsbegriff heraus (wie es im durch die PISA-Studie propagierten Begriff der »literacy« teils geschieht), werden literarische Texte für den Unterricht zunehmend überflüssig, weil ersetzbar durch pragmatische Texte. Es reicht ein kursorischer und vergleichender Blick in die Textsortenverzeichnisse von Lehrwerken Deutsch/Literatur für die Sekundarstufen I der 1990er Jahre und der Gegenwart, um zu sehen, wie weit dieser Prozess bereits vorangeschritten ist.

Hartmut Rosa und Heiko Christians – um nur zwei zu nennen – haben sich in der jüngsten Vergangenheit aus der Sicht [10]des Soziologen (Rosa) und des Medienwissenschaftlers (Christians) mit diesen Fragen intensiv auseinandergesetzt. Der eine fordert eine »Resonanzpädagogik« (vgl. Rosa/Endres 2016), die vor allem auch die Wirkungen von Kunst und Literatur produktiv in Schulen nutzt, um das Dogma der »Beschleunigung« (so der Titel seiner einflussreichen Schrift) in einer leistungs- und steigerungsfixierten Gesellschaft zu schwächen. SchülerInnen als Menschen zu sehen, das propagiert auch Christians in seinem Buch über Medienbildung (Christians 2020): Der Medienwissenschaftler warnt hier auf der Basis medienhistorischer Forschung vor einer Überschätzung der Leistungen und Folgen digitaler Medien und plädiert für eine Rückkehr zum »langsamen« Lesen literarischer Werke. Es wird Zeit, dass sich die Literaturdidaktik und die Lehrenden in der Literatur als Vertreter der zuständigen Disziplin mit den Entwicklungen ihres Gegenstandes auseinandersetzen. Das vorliegende Buch soll in diesem Prozess Hilfestellung bieten. Es wurde verfasst in der Zeit des Corona-Shutdowns in Deutschland, der zu einer Umstellung der schulischen und universitären Lehre auf Digitalisierung führte. Vieles, was insbesondere im abschließenden Kapitel zur Praxis des Unterrichts im Sinne von authentischer Ko-Konstruktion und Anschlusskommunikationen in Lehrerausbildung und Deutschunterricht geäußert wird, wurde damit schlagartig hinfällig, denn ohne eine reale Begegnung werden davon nur Schlacken bleiben. Eventuell zeigt uns jedoch gerade der Entzug, wie wertvoll das vorschnell »Erledigte« sein kann.

1Entstehung und Entwicklung von »literarischer Bildung« als Ziel des Deutschunterrichts

Adelbert von Chamissos Ballade Die Weiber von Weinsberg war im 19. Jahrhundert ein beliebtes Gedicht, das in vielen Lesebüchern abgedruckt war. In aller Regel las man es in 9. Klassen (nach heutiger Zählung) verschiedener Schulformen, also mit etwa 14–15-jährigen. Es schildert eine Anekdote um die Belagerung Weinsbergs 1140 durch den ersten Hohenstaufen, König Konrad, und die angesichts der Hungersnot und der drohenden Niederlage unternommene List der Frauen. Ihre Bitte um freien Abzug quittiert Konrad wie folgt: »Die Weiber mögen abziehn, und jede habe frei / Was sie vermag zu tragen und ihr das Liebste sei«. Am Folgetag erscheinen die Frauen vor dem Tor, und »[t]ief beugt die Last sie nieder, die auf dem Nacken ruht / Sie tragen ihre Eh’herrn, das ist ihr liebstes Gut.« Konrad gibt es zu, denn »war es nicht die Meinung, sie haben’s gut gemacht! / Gesprochen ist gesprochen, das Königswort besteht / Und zwar von keinem Kanzler zerdeutelt und zerdreht.« Vom heutigen Standpunkt her erscheint die Ballade humoristisch und stark auf die literarisierte Wiedergabe eines historischen Geschehens bezogen, dementsprechend in metaphorischer Hinsicht simpel und wenig lebensweltlich aktualisierbar. In zeitgenössischen Präparationen (Unterrichtsvorbereitungen für Lehrer) findet man häufig sehr realitätsnahe Vorschläge zur unterrichtspraktischen Realisierung, die uns einen Eindruck vom Literaturunterricht des ausgehenden 19. Jahrhunderts geben, so auch zu diesem Text in Lombergs bekannten Präparationen zu deutschen Gedichten (1899), die viele Auflagen erlebten. Hier heißt es zu Chamissos Ballade:

Adelbert von Chamisso, »Die Weiber von Weinsberg« (Anfang), in: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten, hrsg. von Norbert Kohts [u. a.], Vierter Teil (Unter-Tertia), Hannover: Helwingsche Verlagsbuchhandlung, 91908. S. 188

[12]Die Begebenheit, die das Gedicht erzählt, ist der deutschen Sage entnommen. Sie verherrlicht einen Charakterzug des deutschen Volkes, nämlich die Treue. Diese Treue wird hier zunächst von den Weibern geübt, die mit klugem Sinne ihre Männer vom sichern Tode erretten. Die wackere That dieser Weiber verdient die wärmste Anerkennung, und wir können dem Dichter, der sie in schönen Worten besungen hat, nur unsern Dank aussprechen […]. Die Treue wird der Sage und dem Gedicht nach aber auch von dem deutschen Kaiser geübt. […] So hat Kaiser Konrad, wie das Gedicht sagt, das Gold der Krone rein und unentweiht gehalten. (Lomberg 1899, 63)

Für eine didaktische Einordnung dieser Zeilen, die in etwa das leitende Unterrichtsziel wiedergeben, sind vor allem auch die Aufgabenstellungen von Belang, die sehr viele Lehrer der Zeit befolgt haben werden:

1. Erkläre folgende Ausdrücke: Winsberg, Staufe, Welf, Kanzler, Degen […]

2. Welcher deutsche Kaiser hat das Gold der Krone nicht rein und unentweiht erhalten? […]

3. Wie rühmt der römische Geschichtsschreiber Tacitus die deutsche Treue? […]

4. In welchen Zeiten hat der Gegensatz zwischen Waiblingen (Hohenstaufen) und Welfen abermals viel Unheil über das deutsche Reich gebracht?

5. Nenne Gedichte, die denselben Strophenbau zeigen wie »Die Weiber von Winsberg«! (Ebd.)

Wenn wir über das Konstrukt »literarische Bildung« sprechen, wird uns häufig ein Literaturunterricht der Vergangenheit als leuchtendes Beispiel vorangestellt, als man angeblich nicht nur [14]mehr, sondern vor allem auch gründlicher und »nachhaltiger« las, also Literatur scheinbar wesentlich stärker mit Person und Charakter zusammenband, so dass mehr »Bedeutsamkeit« für den Einzelnen daraus hervorging. Das obige Beispiel lässt da stutzen. Zum einen natürlich wegen seiner Unterkomplexität für SchülerInnen (gerade in Mädchenschulen las man diesen Text, immerhin sind Frauen die Handelnden, wenn auch nicht individualisiert), zum anderen aber, weil die Aufgabenstellungen ausschließlich die historische Kontextuierung (sogar bei der Begriffsklärung) und dann das Gattungswissen bezüglich des (alexandrinischen) Strophenbaus anzielen. SchülerInnen sollten also a) ein breites historisches Wissen und b) literarische Kenntnisse besitzen. Die eigentliche Interpretation des Textes wurde vermutlich – wenn überhaupt – im kurzen abschließenden Lehrervortrag vorgenommen (ein Interpretationsgespräch im heutigen Sinne gab es damals nicht). Hier geht es dann um folgende, den SchülerInnen zu vermittelnde Schwerpunkte: a) Es gibt eine typisch deutsche Treue, die wir wertschätzen müssen. b) Herausragende deutsche Dichter wie Chamisso verdienen Dank und Anerkennung für ihre schönen Worte. c) Der deutsche Kaiser ist treu und gottesfürchtig. Offensichtlich wird hier das historische Ereignis benutzt, um eine lebensweltliche Anbindung und Aktualisierung durchzuführen – selbstverständlich ganz im Geiste des Kaiserreichs mit einem nationalen, einem christlichen und einem kanonbezogenen Akzent, dabei jedoch stark instruierend und indoktrinierend.

Inwieweit verträgt sich dies mit unseren Vorstellungen über »literarische Bildung«,2 die meist neben (auch historischem und literaturgeschichtlichem) deklarativen Wissensvorräten auch die Formung des Charakters und der Persönlichkeit [15]beinhalten? Zwar wird hier mit Chamissos Ballade Persönlichkeit gebildet, dies geschieht jedoch nicht durch Selbststeuerung oder in der diskursiven Auseinandersetzung mit Meinungen und Personen, sondern durch Zwang und Indoktrination, wobei das Bild des Deutschen in Sage und Historie die Leitlinie für den idealen deutschen Untertan abgibt. In dieser Form arbeiten wir heute nicht mehr mit Literatur in der Schule, dafür aber scheint es häufig, wenn wir aktuelle Aufgabenstellungen in Arbeitsbüchern für SchülerInnen konsultieren, dass sich Unterrichtsmedien in Zeiten der Kompetenzorientierung ganz auf das Messbare konzentrieren, das in unserem Beispiel über das lexikalische, historische und literaturgeschichtliche Wissen in den fünf Aufgabenstellungen abgedeckt wird. Offensichtlich verließ man sich auch im 19. Jahrhundert eher auf diese von der Interpretation kaum berührten Elemente, denn die »Interpretation« überließ man ganz dem Lehrervortrag. Sie war weder diskussionswürdig (oder -fähig) noch in einer neunten Klasse so relevant, dass man sie verschriftlichen müsste (dies änderte sich mit dem deutschen Aufsatz in der Prima, der heutigen Klasse 13, dann maßgeblich). Das literarische Gespräch und das Aushandeln von (zugewiesenen) Bedeutungen ist jedoch – wie auch die ästhetische Würdigung des Textes, der Genuss und das »Gefallen« – wohl ein wesentliches Element von »literarischer Bildung«. Dies fristet auch in der Gegenwart im Rahmen der priorisierten und möglichst weit standardisierten Wissensvermittlung (und der Scheu vor dem Zutagetreten unerwünschter Meinungen, auch vor der Komplexität solcher Unterrichtsgespräche in Zeiten einer kaum noch literarisch sozialisierten Schüler- und Lehrerschaft?) mehr und mehr ein Schattendasein.3

[16]Aber war es jemals anders? Welche Entwürfe gibt es, die »Bildung« als Orientierungsgröße vermessen und bestimmen, die ihr vor allem auch die Literatur und den Umgang mit derselben in der Schule beiordnen? Und inwieweit orientiert sich dann die Schule der Vergangenheit an solchen Vorstellungen – ist sie also ein Musterbeispiel, das uns scheinbar »Literaturfernen« Orientierung geben kann?

Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt es sich, auf die Ursprünge des deutschen Bildungsbegriffs im Zusammenhang des humanistischen Denkens zurückzukommen. Der Bildungsbegriff steht in einer spezifisch deutschen Tradition. Bekanntlich ist der Begriff nicht in andere Sprachen übersetzbar; Termini wie education, knowledge, culture, civilisation oder formation classique haben andere Bedeutungshorizonte als der deutsche Begriff (wenn man in England oder Frankreich von »Bildung« in diesem Sinne spricht, nutzt man in der Regel das deutsche Lehnwort). Die spezifische semantische Dimension des Bildungsbegriffs reicht bis in die Gegenwart mit ihren bildungspolitischen Einflussnahmen auf die Ausrichtung des geisteswissenschaftlichen Fächerkanons. Die Rekonstruktion der Geschichte des deutschen Bildungsbegriffs kann somit dazu beitragen, die Debatten um den Wert der Bildung aufzuhellen und historisch zu fundieren.4

Die Schulrede Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen hielt Johann Gottfried Herder, der damalige Direktor des Weimarer Gymnasiums, 1796 ebenda; sie erlangte Berühmtheit auch, weil Karl Wackernagel sie 1843 als Anhang in einem der ersten Lesebücher für den Gebrauch an Schulen abdruckte. Hier bestimmt Herder die Rede als »Ausdruck der Seele« (Wackernagel 1843, Bd. 4, 104): »Dies ist die Schule, in welcher die Rede der Menschen gebildet und [17]geformt wird« (ebd., 105). Das vermittelnde Medium zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Historie und Gegenwart, zwischen Tradition und kultureller Tätigkeit, zwischen Natur und Kunst ist die Sprache; schon von daher ist die zentrale Stellung der Dichtkunst begründet. In Herders Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) findet sich direkt zu Beginn das Bildungsideal der Alten – nämlich des Patriarchenalters – umrissen; für Herder »die ewige Grundlage für alle Jahrhunderte der Menschenbildung«:

Weisheit statt Wissenschaft, Gottesfurcht statt Weisheit, Eltern-, Gatten-, Kindesliebe statt Artigkeit und Ausschweifung, Ordnung des Lebens, Herrschaft und Gottregentschaft eines Hauses, das Urbild aller bürgerlichen Ordnung und Einrichtung – in diesem allen der einfachste Genuß der Menschheit, aber zugleich der tiefste – wie konnte das alles, ich will nicht fragen, erbildet, nur angebildet, fortgebildet werden, als – durch jene stille ewige Macht des Vorbilds, und einer Reihe Vorbilde mit ihrer Herrschaft um sich her? (Herder 1990, 6 f.)

Hier wird deutlich, wie Herder den Bildungsbegriff in Abgrenzung zum Rationalitätsgedanken modelliert. Wissenschaft und Artigkeit werden zugunsten reiner Liebe und Weisheit abgelehnt, das Theorem der Gottesfurcht wird auch vor allem bei Lessing (in der Erziehung des Menschengeschlechts) zu einer Erziehung zur Vernunftreligion statt einer Offenbarungsreligion umgedeutet. Wissenschaft wird damit wie die Artigkeit zu einer bloßen Äußerlichkeit, einer kalten Rationalität, die das Innerste des Menschen und also seine Persönlichkeit nie erreicht. Die Dekadenz seiner Gegenwart – »unser Denken! Kultur! Philosophie!« (ebd., 55) – bestand für Herder in der Trennung von »Kopf und Herz« (66), denn es »muß folgen, daß ein großer Teil dieser sogenannten neuen Bildung selbst würkliche [18]Mechanik sei […] es ward Maschine« (59), »Raisonnement zu unvorsichtig, zu unnütz verbreitet« (63). An solchen Einlassungen wird deutlich, dass der Herdersche Bildungsbegriff »in die Nähe der kommenden, neuen Leitwörter ›Geist‹ und ›Humanität‹« (Bollenbeck 1996, 123) rückt. Dies bringt auch die Unübersetzbarkeit des Begriffs mit sich, der sich in der deutschen kulturellen Tradition jenseits der Begriffe – oder besser: zwischen den Begriffen – von »Wissen«, »Ratio«, »Emotion« oder »Einfühlung« ansiedelt und mehr und mehr zu einem Spezifikum wird. Bei Herder vorgeprägt, im Goetheschen Bildungsroman zur Ausformung gebracht, ist Bildung das, was die »vorgegebenen Anlagen der Individualität zu einer harmonischen Einheit« (ebd., 124) bringt. Bildung ist damit Menschenbildung und Persönlichkeitsbildung; immer ist es das Individuum, das nun nicht mehr als Rädchen innerhalb einer Maschinerie (des Staates beispielsweise) aufgefasst wird, sondern das sich emanzipatorisch die Medien seiner Selbstbildung wählt und Kultur, Sittlichkeit, Religiösität in einem charakterlichen Unikat vereint. Im Zentrum steht also der Mensch in seiner Ganzheit, dem hat sich das kulturelle Medium anzupassen. Wie später bei Humboldt ist es auch bei Herder die Sprache, die als Vermittlerin auftritt; sie wird zum »privilegierten Medium der ›Bildung‹« (Bollenbeck 1996, 125). In der Abhandlung über den Ursprung der Sprache findet sich die These, dass »die Sprache dem Menschen so wesentlich [ist], als – er ein Mensch ist« (Herder 1986, 52). Die Dichtung wird dann zum Kanal, der Natur, Leidenschaft und Handlung transportiert, und der Dichter ist »Überbringer der Natur in die Seele und in das Herz seiner Brüder« (Herder 1986, 94; Über die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten).

[19]Natur, Empfindung, ganze Menschenseele floß in die Sprache und drückte sich in sie, ihren Körper, ab, würkt also durch ihn in alles, was Natur ist, in alle gleichgestimmte, mitempfindende Seelen. Wie der Magnet das Eisen ziehet, wie der Ton einer Saite die andre regt, wie jede Bewegung, Leidenschaft, Empfindung sich fortpflanzet und mitteilt, wo sie nicht Widerstand finden, so ist auch die Würkung der Sprache der Sinne allgemein und im höchsten Grade natürlich. Sie macht Abdruck in der Seele, wie sich dies Bild und Siegel in Wachs oder Leim formet. (Ebd.)

Die Ursprünglichkeit des Sprechens, das untrennbar mit dem Menschsein und der Menschenbildung verknüpft ist, wird bei Herder zur geschichtsphilosophischen Legitimation für eine Sprach- und Dichtungstheorie. Programmatisch wird Herder in