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Brecht, der bedeutendste Dramatiker des 20. Jahrhunderts, setzt neue Maßstäbe für den Umgang mit der Geschichte der Neueren Deutschen Literatur. Neben den Standards des Deutschunterrichts stellt der vorliegende Band das dramatische Œvre in seiner beeindruckenden Vielfalt vor. Auf die umfangreiche Lyrik und Epik wird ebenso eingegangen wie auf das weithin unbekannte Filmwerk. Dem Überblick über die dramatische Entwicklung folgt ein Einblick in Leben und Werk. Ausführlich werden "Die Dreigroschenoper" sowie die Exildramen "Mutter Courage und ihre Kinder", "Der gute Mensch von Sezuan" und "Der kaukasische Kreidekreis" vorgestellt. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Band der Forschungsgeschichte im geteilten Deutschland sowie der anhaltenden internationalen Wirkung des 'Stückeschreibers' und Regisseurs Brecht.
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Seitenzahl: 230
LITERATUR KOMPAKT
Herausgegeben von Gunter E. Grimm
Eva-Maria Siegel
BERTOLT BRECHT
Dr. Eva-Maria Siegel, Apl. Prof. für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln, Promotion 1991 an der Humboldt Universität Berlin, Habilitation Universität Köln 2002. Seit 2004 selbständige Trainerin mit den Schwerpunkten Unternehmenskommunikation, Coaching und Diversity Management. Lehr-/Forschungsgebiete: Literatur 18. bis 21. Jahrhundert, Diskursgeschichte, Dramaturgie(n) des 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen: Jugend, Frauen, Drittes Reich (1993), High Fidelity. Konfigurationen der Treue um 1900 (2004), Gewalt in der Moderne (2010), Erfolgreich studieren (2012) sowie zahlreiche Aufsätze in Sammelbänden und Fachzeitschriften.
Eva-Maria Siegel
Bertolt Brecht
Literatur Kompakt – Bd. 10
ISBN 978-3-8288-6335-4
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3531-3 im Tectum Verlag erschienen.)
© Tectum Verlag Marburg, 2016
Reihenkonzept und Herausgeberschaft: Gunter E. Grimm
Projektleitung Verlag: Ina Beneke
Layout: Sabine Manke
Bildnachweis Cover: Porträt Bertolt Brecht, 1954, Bundesarchiv, Bild 183-W0409-300 / Kolbe, Jörg / CC-BY-SA 3.0
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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben
sind im Internet überhttp://dnb.ddb.de abrufbar.
Für Christoph und Florian
Inhalt
I.Totgesagte leben länger – der Klassiker des 20. Jahrhunderts
II.Zeittafel
Grafik: Brecht kompakt
III.Leben und Werk
Grafik: Wichtige Punkte
IV.Aspekte der Werkgeschichte
V.Dramatik
1.Überblick zu Brechts dramatischer Entwicklung
2.Theorie des epischen Theaters
3.Dramen in einem Akt
4.Ummontierung des Menschen
5.Das Theater der Republik: Die Dreigroschenoper
6.Dialektik auf der Bühne: Lernspiele
7.Mahagonny oder die Verfertigung der Vergnügungen
8.‚Öfter die Länder als die Schuhe wechselnd’ – die großen Dramen
Mutter Courage und ihre Kinder
Der gute Mensch von Sezuan
Das Leben des Galilei
Der kaukasische Kreidekreis
9.Nach den großen Kriegen
VI.Erzählwerke
1.Die Bestie
2.Geschichten von Herrn Keuner
3.Der Dreigroschenroman
4.Flüchtlingsgespräche
5.Filmprojekte
VII.Lyrik
VIII.Wirkung
1.Brecht im geteilten Deutschland. Aspekte der Werk- und Forschungsgeschichte
2.Internationale Wirkung
IX.Literatur
Glossar
Abbildungsverzeichnis
I. Totgesagte leben länger – der Klassiker des 20. Jahrhunderts
Kurz nach der ersten Brecht-Inszenierung überhaupt, der Uraufführung von Trommeln in der Nacht im Herbst 1922, erbat der Berliner Theaterkritiker Herbert Jhering vom Verfasser eine Kurzbiografie. Der Debütant sollte als Träger des Kleist-Preises vorgestellt werden. Brecht antwortete, einigermaßen wahrheitsgemäß:
Ich habe das Licht der Welt im Jahr 1898 erblickt. Meine Eltern sind Schwarzwälder. Die Volksschule langweilte mich vier Jahre. Während meines neunjährigen Eingewecktseins in einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern. Mein Sinn für Muße und Unabhängigkeit wurde von ihnen unermüdlich hervorgehoben. Auf der Universität hörte ich Medizin und lernte das Gitarrespielen. In der Gymnasialzeit hatte ich mir durch allerlei Sport einen Herzschock geholt, der mich mit den Geheimnissen der Metaphysik bekannt machte. Während der Revolution war ich Mediziner in einem Lazarett. Danach schrieb ich einige Theaterstücke und im Frühjahr dieses Jahres wurde ich wegen Unterernährung in die Charité eingeliefert. […] Nach 24 Jahren Licht der Welt bin ich etwas mager geworden. (GBA 28, S. 177 f.)
Heute gilt Bertolt Brecht als der einflussreichste deutsche Dramatiker, den das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Sein Werk hat noch immer enorme Auswirkungen auch auf das Theater der Gegenwart. Mit der Dreigroschenoper und anderen Stücken – Mutter Courage und ihre Kinder, Das Leben des Galilei oder Der gute Mensch von Sezuan – schrieb und inszenierte er einige der bislang erfolgreichsten deutschsprachigen Theaterstücke (vgl. Knopf 2006, S. 121). Sein Entwurf des ‚epischen Theaters‘ erforscht auf der Bühne über weite Teile, wie Ideologien in ihrem Verhältnis zu einer sozioökonomischen Begründung funktionieren. Über Weltanschauungen beginnt zu sprechen, so schreibt er an den Juristen und Politiker Karl Korsch, wer sieht, dass »die Welt sich aufgelöst hat.«
Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 floh Brecht mit seiner Familie, politisch links stehend, ins Exil. Seine literarischen Werke wurden in Deutschland verfemt und verbrannt, er selbst ausgebürgert. Zu dieser Zeit lebte er in Skandinavien, seit 1941 dann in den USA, wo er nach 1945 als vermutet kommunistischer Autor ebenfalls Repressalien ausgesetzt war. 1948 kehrte er über die Schweiz nach Deutschland zurück. Inmitten der Trümmerlandschaft Berlins gründete er 1949 zusammen mit seiner Frau, der österreichischen Schauspielerin Helene Weigel, das Berliner Ensemble. Während der ‚Formalismusdebatte‘, die über den Stellenwert moderner Kunst in der Gesellschaft geführt wurde, geriet er erneut ins Visier und verbrauchte seine Kräfte im Kampf mit Staatsapparat und Zensurbehörden der DDR. Er starb im August 1956. Sein Grab befindet sich auf dem Dorotheestädtischen Friedhof in Berlin.
Berühmt, auch ohne Nobelpreis
Brechts Werk aber ist lebendig geblieben. Obgleich ihm nie ein Literaturnobelpreis zuerkannt wurde, vermochte sein literarisches Schaffen und seine Bühnenkonzeption international große Wirkung zu erzielen. Weltweite Aufführungszahlen – nicht nur in Europa, sondern auch in Asien und Lateinamerika – sprechen für sich. Unter den Verehrern und Adepten seiner Stücke befinden sich zahlreiche Literaturnobelpreisträger und -preisträgerinnen. Um nur einige prominente Namen der Weltliteratur zu nennen: Die südafrikanische Schriftstellerin Nadine Gordimer, der nigerianische Epiker und Dramatiker Wole Soyinka, der italienische Bühnenautor und Regisseur Dario Fo sowie Elfriede Jelinek, österreichische Romanautorin und Dramatikerin, haben die Ausstrahlungskraft von Brechts Werken außerordentlich geschätzt. Oft galt ihnen auch seine Theaterarbeit als bahnbrechend.
Ein Blick in die wissenschaftliche Debatte zeigt, wie sehr Brechts dramatisches Werk und theoretische Schriften für lange Jahre im Fokus der Auseinandersetzung standen (Hecht 2007, S. 5; The B-Effect 2012). Viel stärker als seine Biografie werden heute die theatralischen Mittel diskutiert. Dazu zählen etwa das Durchbrechen der Illusion auf der Bühne und der Einsatz moderner medialer Formen im Theater, aber auch das Verhältnis von Vergnügen und Erkenntnis sowie die Definition eines ‚politischen‘, in gesellschaftliche Verhältnisse eingreifenden Theaters. Im Zentrum steht also die Frage, wie Unterhaltung in Belehrung – und umgekehrt – auf neue Art und Weise sich verwandeln lassen (GBA 22.2, S. 701). Eine Fundgrube dafür sind die Darstellungsformen des epischen Theaters, wie sie Brecht als Bühnenkonzeption in den zwanziger und dreißiger Jahren entwickelte und immer wieder mit Veränderungen versah. Bis heute haben sie nichts von ihrem anregenden Charakter und ihrem Potenzial zur Provokation verloren.
Denken und Probleme
Wer die Forschungsliteratur sichtet, stößt jenseits der Frage nach der theatergeschichtlichen Wirkungsmacht Brechts rasch auf eine zweite aktuelle Fragestellung. Hervorgehoben wird die Bedeutung der Klassizität des Werks. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass Theater nicht allein für die gegenwärtige Bühne, sondern auch für die europäische Geistesgeschichte und Philosophie von Relevanz ist (Mayer 2011). Das mag zunächst überraschen. Bezüge etwa zur Diskurstheorie bzw. Machtanalyse sind seit längerer Zeit hervorgehoben worden (Raddatz 2007). Doch nicht nur Anknüpfungspunkte an den Prozess europäischer Theoriebildung werden herausgestellt. Vor Augen geführt wird der Autor des kollektiv-schöpferischen Werkes vorzugsweise als »raffinierte[r] Meister der Verstellung«, als Befürworter »des listigen Lernens« und vor allem der »Zumutung nichtorthodoxer Erkenntnis« (Mayer 2011, S. 7). Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Brecht seine Erfahrungen in verschiedenen Ländern und mit mindestens fünf verschiedenartigen politischen Systemen machte: dem deutschen Kaiserreich, der Weimarer Republik, der Diktatur des Nationalsozialismus sowie die Gründung der BRD und der DDR. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb hat er niemals für eine »Verselbstständigung des Denkens« plädiert. Vielmehr stellt sein Werk selbst eine Praktik dar für das »Denken über Probleme, die durch Denken nicht gelöst werden können« (ebd., S. 23). Die Zuwendung zu gesellschaftlichen Problemlagen zeigt sich damit auf neuartige Weise: »Neben und nach dem satirischen Gesellschaftskritiker und Antifaschisten, neben dem Nachtclublyriker und Vorturner des Lehrstücks, dem Theatermeister und Musikkenner, dem Leser der Antike oder der östlichen Weisheit« gerät nun »der Philosoph Bertolt Brecht« in den Blick. Dabei geht es allerdings nicht um die Verkündung ewiger Wahrheiten, sondern vielmehr um die Einsicht in deren Veränderbarkeit (vgl. ebd., S. 7). Genau hier findet sich seine philosophische Erkenntnis: Zur Entwicklung der Gesellschaft, zur Bildung ihrer Mitglieder gehörte für Brecht die Veränderung des Einzelnen, das Anderswerden, unabdingbar hinzu.
Geteilte Lektüren
Lange Zeit sind Biografie und Werk Brechts gerade in ihrer wissenschaftlichen Rekonstruktion in beiden Teilen Deutschlands sehr verschiedenartig gewertet worden. »Ost-Interpreten haben, seine Kritik an der DDR vertuschend, das Bild Brechts SED-rot geschminkt, und einige West-Interpreten haben es grell dunkelrot übertüncht und verteufelt.« (Hecht 2007, S. 5) Nach mehr als zwei Jahrzehnten eines vereinigten Deutschlands scheint es an der Zeit zu sein, interessierten jungen Lesern eine Betrachtungsweise jenseits eingefahrener ideologischer Fronten nahezubringen.
Diese vergleichsweise ungewohnte Lesart des Brecht’schen Werkes reklamiert für sich Offenheit und Weltläufigkeit – zum Beispiel, indem sie »Dialektik und Humor« (Mayer 2011, S. 10) enger zusammenführt. Einer solchen eher abgeklärten Betrachtungsweise ging viele Jahrzehnte ein regelrechtes Auf und Ab der Forschungspositionen voraus. Hausse und Baisse von Autorschaft und Werk hingen nicht nur von der literarisch-ästhetischen Gewichtung der Dramen, Gedichte, Romane und Erzählungen ab, sondern auch vom politisch gesteuerten Zugriff auf Gedächtnisspeicher wie etwa Archive von Parteien und Geheimdiensten. Nicht selten ergaben sich geradezu verbittert miteinander um die Herrschaft über das Werk ringende Positionen, die über Tod und Leben der Texte entscheiden zu können glaubten. »Eben war er noch mausetot, staatsmännisch eingesargt im Berliner Ensemble, für alle Zeiten verräumt in der (mit dem Jahr 2000) vollendeten dreißigbändigen Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe, ein Repertoire-Zuchtmeister mit bescheidenen, kreidestaubigen Qualitäten, und dann diese triumphale Wiederkehr…«, resümierte 1997 der Literaturkritiker Willy Winkler in Die Zeit. Nun aber dürfe man sich Brecht als »einen richtigen Menschen« vorstellen – einen, der gerne geraucht, geboxt, Gitarre gespielt habe, der in der Weltgeschichte spazieren gefahren sei und auch noch einiges andere gerne tat. Allerdings werde dieser, und das sei wohl der Preis, seinem Protagonisten Macheath aus der Dreigroschenoper, genannt Mackie Messer, dadurch immer ähnlicher.
Zahlreiche Publikationen und Veranstaltungen belegen ein anhaltendes Interesse an Brechts Beziehungen zu Frauen (von links oben nach rechts unten): Collage anlässlich von zwei Veranstaltungen zu»Brecht und die Frauen« in Augsburg (2010); Hiltrud Häntzschel: Brechts Frauen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (2002); Carola Stern: Männer lieben anders. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (2001); Hartmut Reiber: Grüß den Brecht, Berlin: Eulenspiegel (2008); Sabine Kebir: Ein akzeptabler Mann?, Berlin: Buchverlag Der Morgen (1987)
Den weitgehend biografischen Deutungsabsichten ist entgegenzuhalten, dass Brecht zu den wenigen Autoren des 20. Jahrhunderts zu zählen ist, die autobiografische Bezugnahmen eher vermieden als befördert haben. Noch seine Tagebuchaufzeichnungen tragen die neutrale Bezeichnung Arbeitsjournale, sind also der nüchternen Aufzeichnung eines Schaffensprozesses untergeordnet und leisten dem Anekdotischen bewusst keinen Vorschub. Ausdrücklich waren sie nicht als Aussprache subjektiver Empfindungen konzipiert. Diese waren bestenfalls den lyrischen Werken vorbehalten. Dabei lebte Brecht in den Hauptjahren seiner dichterischen Produktivität zweifellos mit »großer Intensität« (Kebir 1987, S. 9) und pflegte eine enorme Fülle an menschlichen Beziehungen. Nicht zuletzt deren unterschiedliche Bewertung hat die Auseinandersetzungen der Forschung in Ost und West für viele Jahre zusätzlich angeheizt.
Brecht und die Frauen
Nicht selten war das schwer zu durchdringende Beziehungsgefüge den schwierigen Lebensbedingungen im Exil geschuldet. Zu den Frauen, die Brecht zu dieser Zeit umgaben, zählten neben der Schauspielerin Helene Weigel auch die angehende Schriftstellerin Margarete Steffin sowie die dänische Regisseurin Ruth Berlau. Für die Epoche der Weimarer Republik sind insbesondere die Schauspielerin und Sängerin Marianne Zoff und die Schriftstellerin Elisabeth Hauptmann zu nennen. Wie wenige andere weibliche Mitglieder aus Brechts wechselnden ‚erotischen Arbeitsgemeinschaften‘ hat Letztere hellsichtig und in seltener Klarheit die eingeschränkten Möglichkeiten durchschaut, die einer Frau ganz grundsätzlich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein zur Verfügung gestanden haben. Deshalb sei aus ihren Briefen stellvertretend zitiert. So schrieb sie im Januar 1948, rückblickend auf die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, an Brecht:
Ich habe seit 33 vielleicht allerhand nützliche Sachen gemacht, aber mich im Grund auch unnützlich gemacht. Es gibt für eine Frau ja nur drei Lösungen: Entweder sie macht sich erotisch unentbehrlich. Oder sie blackmailed [ist erpresserisch], wo das eine oder andere nicht ausreicht. Dann gibt es das ganz andere, das qualifiziert die Frau dann nicht nur als Frau: sie macht sich ganz unabhängig und schafft sich ihre eigene einflussreiche Plattform. (zit. nach Hecht 2007, S. 73)
Die Frage, ob sie erneut mit ihm zusammenarbeiten wolle, merkte sie an, habe Brecht allerdings nach dem Krieg vergessen zu stellen.
Brechts Werke, quantitativ
Jenseits des Biografischen gilt es weiter der Frage nachzugehen, was Brechts Wirkung heute ausmacht. Ist es nicht so, dass noch immer existierende und wiederauferstehende Kriege, dass der Hunger in der Welt, die Wirtschaftskrisen ein neues Licht auf seine Texte werfen? Einige von ihnen rücken erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weil sie den Zustand der Welt so radikal befragen und ihn als einen veränderungswürdigen und veränderbaren Zustand vor Augen führen. Brecht wurde hineingeboren in den und sozialisiert im Ersten Weltkrieg. Ein britischer Historiker hat diese Epoche einst treffend die ‚schlimmstmögliche Initialkonditionierung für das beginnende Jahrhundert‘ genannt. Auch später, nach zwei Weltkriegen und dem vorläufigen Ende der politischen Lagerbildung, scheinen es immer wieder die Verwerfungen im Politischen selbst zu sein, die das Gesamtwerk einholen. Abgesehen davon gilt es beeindruckend nüchterne Fakten zu erwähnen, die vor allem Jan Knopf in seiner Brecht-Biographie Lebenskunst in finsteren Zeiten hervorhebt. Diese zeugen zunächst von einer großen Produktivität des Autors: Knopf stellt Brecht der Leserschaft als Urheber von 48 Dramen, über 2.300 Gedichten, 200 Erzählungen und drei Romanen in deutscher Sprache vor Augen. Die Frage nach kollektiven Verfasserschaften und den Anteilen und Rechtsansprüchen der jeweiligen Mitautorinnen und -autoren bleibt dabei allerdings außen vor. Doch haben einige der Stücke unter diesem Label eine beispiellose internationale Resonanz von Amerika über Asien und Afrika bis Neuseeland und Zypern erfahren. Nicht nur, dass dieser enorme Werkumfang ihn der Meinung einiger Forscher zufolge an die Seite eines anderen klassischen Literaten deutscher Sprache, Johann Wolfgang von Goethes, stellt – Brecht heute lesen heißt vor allem Weltliteratur zu lesen. Diese »neue Haltung« hat der Philosoph Walter Benjamin, der mit Brecht befreundet war, bereits 1930 angekündigt. Sie gibt der Beschäftigung mit seinen konkreten Vorstellungen vom Theater und dessen Spiel ihren besonderen Wert und lässt ihn zu einem lebendigen Klassiker der Theaterbühne der Gegenwart werden.
Was ist ein Klassiker?
Bleibt die Frage: Was ist das, ein Klassiker? Was impliziert diese Kennzeichnung? Damit kann ja nicht allein jene Pose gemeint sein, mit der sich Brecht in seinen Jugend- und Flegeljahren in einer der ‚Dichternischen‘ des Augsburger Stadttheaters, deren Statuen für den Krieg eingeschmolzen worden waren, selbstgewiss als den ‚neuen Schiller‘ einsetzte. Zu den Merkmalen des Klassischen zählen gemeinhin:
1.ein überregionaler Bekanntheitsgrad über einen längeren Zeitraum hinweg,
2.ein Traditionswert, der sich generationsübergreifend erhält,
3.Wiedererkennungseffekte von Dauer, denen ein hoher ästhetischer Wert zugeschrieben werden kann (von Wilpert 1989, S. 445).
Ursprünglich verwies der Begriff in der Antike lediglich auf die Zugehörigkeit zur ‚höchsten Steuerklasse‘. Scriptor classicus wurde dann schließlich zum Merkmal eines mustergültigen Schriftstellers ersten Ranges. Erweitert wurde der Begriff schließlich auf den Charakter des Mustergültigen, Vorbildlichen als Normbegriff und schließlich übertragen auf die kulturellen Höchstleistungen eines Volkes. Dazu zählen: die Klassik in Griechenland, die Periode unter Augustus in Rom, die Renaissance in Italien, das ‚Goldene Zeitalter‘ in Spanien mit Caldéron und Cervantes, in England das elisabethanische Zeitalter mit Shakespeare, in Frankreich das Zeitalter Ludwigs XIV. mit Corneille und Racine und in Deutschland die Weimarer Klassik oder auch Goethezeit. Brecht also wäre ein Klassiker in und zwischen den Großen Kriegen. Zwar geht sein Werk in einer nationalen literarischen Kanonbildung nicht auf, doch »ragt es« zweifellos mit großer Deutlichkeit »in die Weltliteratur hinein« (ebd., S. 446).
Bei der Bezeichnung ‚Klassik‘ handelt es sich demnach um einen sogenannten Kontextbegriff. Je nach Fokussierung kann er Autoren der antiken griechischen und römischen Literatur, an den antiken Mustern, Themen und Ideen orientierte moderne Autoren oder aber Autoren der jeweils nationalen Klassik bzw. erstrangige moderne Autoren allgemein umfassen – abgesehen von bahnbrechenden, mustergültigen Autoren einer Gattung, wie etwa des Kriminalromans, oder wegweisenden Künstlern anderer Bereiche. Aber auch wenn Bertolt Brecht abends gerne Kriminalromane gelesen hat, wovon die Bibliothek in seinem Wohnhaus noch heute Zeugnis ablegt, und er lange vor Rock n’ Roll, Beat, Punk oder HipHop Rhythmik und Synkopen des frühen Jazz schätze – nicht alle Merkmale des Klassik-Begriffs treffen auf ihn zu. Brecht hielt es in diesem Sinne eher mit dem ‚Materialwert‘ der Literaturgeschichte und betrachtete klassische Stoffe eher selbst als einen Fundus, mit dem man einigermaßen respektlos umgehen durfte. Nicht anders verfuhren dann auch Verfasser von Adaptionen seiner eigenen Stücke später mit seinem Werk. Freilich musste, wie die wissenschaftliche Forschung betont, »zur Reduktion auf den erhaltenswerten […] Gehalt und zur formalen Neugestaltung […] eine durch die aktuelle politische Situation begründete Thematik hinzutreten«, um dem »Weiterleben klassischer Werke auf dem Theater« (Horn 2008, S. 324) ihre ästhetische Rechtfertigung zu geben.
II. Zeittafel
Brecht, 1918
1898Am 10. Februar in Augsburg als Eugen Berthold Friedrich Brecht geboren, protestantisch getauft
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