Little Bird - Camilla Way - E-Book
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Little Bird E-Book

Camilla Way

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Beschreibung

Elodie ist zwei Jahre alt, als ein stummer Mann sie in der Normandie entführt. Mit ihm lebt sie im Wald, fernab der Zivilisation – bis zu seinem Tod. Als ein Spaziergänger das Mädchen findet, stürzt sich die Presse auf den Fall: Denn die Zwölfjährige spricht nicht, kann nur Vogelstimmen imitieren. Man vertraut Elodie einer berühmten amerikanischen Linguistin an. Sie verschafft «Little Bird» eine neue Heimat, eine neue Sprache – und eine neue Identität. Doch nach einem tragisch endenden Streit flieht Elodie. Sie landet in London, nennt sich Kate und will das Geschehene für immer vergessen. Erst recht, als sie sich in Frank verliebt. Aber die Vergangenheit lässt sich nicht einfach ablegen: Ein hartnäckiger Verfolger aus ihrem früheren Leben taucht plötzlich auf. Und er will Kate töten. «Brillant – es ist einfach unmöglich, dieses Buch aus der Hand zu legen.» (Cosmopolitan). «Eindringlich schön und berührend authentisch.» (Marie Claire) «Großartiges Tempo, ein dramatischer Plot und ständig wechselnde Schauplätze deuten es an: Das wird ein Sommer-Hit!» (Elle)

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2010

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Camilla Way

Little Bird

Psychothriller

Deutsch von Gabriele Weber-Jarić

FÜR DAVE

TEIL EINS

EINS

Le Ferté-Macé, Normandie, 24.Mai 1985

Sich das Kind zu schnappen dauerte eine Sekunde. Ein stiller, unbemerkter Augenblick, und es war aus der Welt gerupft. Nicht länger als ein Fingerschnippen oder ein Lidschlag, und es war weg. Als wäre es wie ein Vogel auf und davon.

Fremde hatte Georges Preton an diesem Morgen auf dem Marktplatz nicht gesehen, auch keine unbekannten Fahrzeuge auf der Straße. Wie üblich hatte er um acht Uhr seinen Laden geöffnet und wie immer eine Zigarette geraucht. Dann holte er die ersten Brote aus den Öfen, arrangierte das Gebäck in der Vitrine, wischte über die Theke und blätterte in der Zeitung. So gegen zwanzig vor neun sah er Thérèse von der hintersten Ecke des Marktplatzes her kommen. Vor sich her schob sie einen altmodischen Kinderwagen und lächelte der Kleinen darin zu.

Aus der Wärme seiner weißgekachelten boulangerie heraus schaute Georges in den Morgen. Es war ein schöner Tag, die Wolken wie verstreute Brotkrumen, die Sonne rund und gelb wie ein Puddingteilchen. Durch das Schaufenster sah er, dass Thérèse ihr Töchterchen im Schatten seiner Markise im Kinderwagen schlafen ließ. Sie kam herein, und wie jeden Morgen wechselten sie ein paar Worte. Thérèse kaufte zwei Croissants, bezahlte und ging. Der gewöhnliche Anfang eines gewöhnlichen Tages. Die Glocke an seiner Tür bimmelte, als sie hinter Thérèse zufiel. Eine Minute hatte das Ganze gedauert, mehr nicht. Eine Minute mit sechzig Sekunden, doch nur eine davon war ausschlaggebend gewesen.

Wenn Georges Preton in den kommenden Tagen, Monaten und Jahren an den Schrei zurückdachte, den Thérèse ausgestoßen hatte, erinnerte er nur, dass er den Klang von Albträumen hatte oder als wäre sonst irgendwie die Hölle los. Und wenn er sich ihrer Augen entsann, als Thérèse dann durch die Tür gestürzt kam, den leeren Wagen hinter sich herzerrend, in der Hand eine schlaffe rosa Wolldecke, ohne Baby und nutzlos wie der Fetzen einer Hautblase, dann erinnerte er sich an den Moment, an dem sich ihre Blicke begegnet waren – an die entsetzliche Gewissheit, die sie geteilt hatten, die grausame Vorahnung, dass, ganz gleich wie viele Suchaktionen in den kommenden Tagen und Wochen gestartet würden oder Aufrufe an die Bevölkerung ergingen oder wie viele Polizisten dem Fall zugeordnet würden, das Kind verschwunden war. Es war weg und würde nie wieder gesehen werden.

Und noch etwas würde Preton für alle Zeit wissen: In demselben kurzen Moment, in dem er erkannt hatte, dass das Leben der jungen Frau vorüber war – oder besser, in der Sekunde, in der ihr Kind geraubt worden war–, war all das, was Thérèse war und noch hätte werden können, gleichermaßen geraubt worden.

ZWEI

The Mermaid, Dalston, im Norden Londons, 21.September 2003

Ein Rattenloch von Bar. An den Wänden standen Männer mit Zigaretten in der Hand, die ihre Biere runterstürzten und sich durch den Lärm und die Musik hindurch Satzfetzen zuriefen. Hinten in der Ecke, wo Frank Musik auflegte, klangen ihre Stimmen wie Hundegebell. Frank sah ihre Blicke, die zur Tür glitten, um das hereinkommende Angebot zu checken, und die Hände, die nach Handys und Koksbriefchen tasteten. Und dann kam sie herein. Frank entdeckte sie über die Schallplatte hinweg, die er gerade vor sich hielt, erspähte sie zwischen den Schultern seiner beiden Freunde hindurch, die sich mit ihm in der Ecke des Discjockeys drängten. Ein Mädchen, das eine Bar betritt.

«Frank? Frankie? He, Alter!»

Aber jetzt war das Mädchen da, und Frank hörte und sah sonst nichts mehr.

«Herrgott, Frank, schläfst du? Der Song ist gleich zu Ende!»

Die Platte drehte sich noch auf dem Teller. Frank reckte den Hals, damit er sie über die Tanzenden hinweg sehen konnte. Da war sie. Holte sich einen Drink an der Bar. Magere Schultern, aufblitzendes kurzes blondes Haar. Jetzt wandte sie sich der Menge zu und verschwand in den blassblauem Rauchwolken, den Lederjacken, turbogebräunten Gesichtern, den Gläsern mit dünnem Bier – wurde von einem der Freitagabende in London verschluckt, als hätte es sie nie gegeben.

Frank wurde sich der vielen Augen bewusst, die ihn von der Tanzfläche her vorwurfsvoll anstarrten. Er stieß seinen Freund zur Seite, der ihn daraufhin mit rotgeränderten Augen und bierseligem Grinsen ansah. «Übernimm mal kurz», sagte Frank und fing an, sich zur Bar durchzuboxen, dahin, wo sie gestanden hatte, hinter sich das ratschende Geräusch einer Nadel, die über eine Schallplatte rutschte, und dann die Stimme von Gary Glitter, in der falschen Geschwindigkeit. Doch da war sie. Sie war da, dem Scheißhimmel sei Dank.

Klein. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter. Kurze Büschel gebleichten Haars. Dunkle Augen, blau und flink. Ein zartes Kinn. Sie war so dünn, dass Frank wusste, würde er mit einem Finger über ihre Wirbelsäule fahren, könnte er jede Sehne, jeden Knochen und Muskel spüren. Auch wie ihre Haut sich anfühlen würde, wusste er schon.

«Hallo, Süßer! Was kann ich für dich tun?» Die Bardame deutete mit dem Kinn auf ihn, und Frank sah die Barthaare darauf. Er bestellte drei Pints. Am Zigarettenautomaten stand er inmitten des Hundegebells, als wäre er in einem leeren Raum, während irgendwo irgendwie ein pädophiler Glitzerrocker viel zu schnell kreischte. Frank nippte an seinem Bier. Eine große, stachlig aussehende Rothaarige und eine kleinere pummelige Brünette gingen auf das Mädchen zu. Das Mädchen lächelte. Es war ein Lächeln, das ihr Gesicht in Licht zu tauchen schien.

Hinter ihm zischte und holperte die Nadel in den Rillen.

Zeit, zurückzugehen, eine neue Platte aufzulegen, sich zu kümmern. Erst wenn sie mich anschaut. Erst wenn sie sich umdreht und mich anschaut. Tony, der Türke, kam schon mit seinen komischen zwergenhaften Beinen angewalzt. Rot, blau und grün glänzte sein fettiges Haar in den Discolichtern. Fürs Rumstehen habe er Frank nicht bezahlt, motzte er, und zwar ganz und gar nicht. Also, mach schon, Frankie, setz deinen Arsch in Bewegung. Sieh mich an. Erst musst du mich ansehen. Und da machte sie – diese Fremde – mitten im Gespräch eine halbe Drehung und ließ ihren Blick über die Theke schweifen, als suchte sie etwas oder jemanden. Und dann fand sie ihn. Fand seine Augen und hob ihr Kinn. Hielt ihn fest, bannte ihn mit ihrem Blick. Wann fängt Liebe an?

Hinter den Plattentellern hockten Jim und Eugene, besoffen und zugekifft, wahrscheinlich in eine schwachsinnige Unterhaltung vertieft und nutzlos wie immer. Die Einzigen, die nicht kapiert hatten, dass die Musik verstummt war, und zwar schon seit Minuten. Frank bahnte sich einen Weg zurück durch die Menge, vorbei an zwei Jugendlichen, die Drogen kauften, und einer Frau mittleren Alters, deren Kopf auf dem Tisch lag. Er legte ein Stück von Beyoncé auf. Im Nu füllte sich die Tanzfläche wieder. Genügsame Seelen, das waren die Leute, die ins Mermaid kamen. Der Abend ging weiter, und es kamen immer noch mehr. Frank machte Musik. Die Tanzfläche war brechend voll und die Stimmung ungefähr so gut, wie man es erwarten konnte. In der Zwischenzeit standen die drei Mädchen an der Bar, Zielobjekte zahlloser Blicke. Die Rothaarige und die Brünette kippten ihre Drinks runter, als gäbe es kein Morgen.

Frank beobachtete das Mädchen. Das hektische Treiben nahm er nur noch verschwommen wahr. Sie trug einen einfachen Rock, T-Shirt und altmodische Turnschuhe. Das gestutzte Haar saß wie eine gelbe Kappe auf ihrem Kopf. Die beiden harten Gesichter links und rechts von ihr, der Lärm und die zuckenden Lichter waren nur noch einfarbiger Nebel, aus dem sie scharf und leuchtend wie ein Relief hervortrat. Franks Blick wanderte über das kleine Dreieck ihres Gesichts, die beinahe übernatürlich großen blauen Augen, den schlanken Hals, und er hatte fast das Gefühl, er würde sie berühren.

Es dauerte nicht lang, bis ihre Freundinnen Eugene entdeckten. Bei den meisten Frauen ging das ruck, zuck – mit sofortiger Wirkung, als hätte sich in ihnen ein Feuer entzündet. Amüsiert beobachtete Frank, wie die beiden sich leicht aufrichteten und ihre Blicke an ihm vorbei zu Euge glitten, der betrunken und nichts ahnend bei Jimmy stand. Frank legte seine Platten auf, mit einem Auge hatte er das Mädchen im Blick, mit dem anderen das Getümmel unter ihm. Es war das übliche Chaos am Freitagabend: Typen aus dem East End, die sich mit grottenschlechtem Koks zudröhnten, während ihre Frauen mit verkniffenen Gesichtern billige Cocktails schlürften. Er fragte sich, was sie hier tat und was das bedeutete. Nach einer Weile entdeckte er seine Freunde unter den Tänzern: Jimmy, der so eine Art Pogo vollführte, unabhängig von der Musik, und irgendetwas brüllte, die Augen glücklich auf die Brust der Brünetten geheftet. Eugene hatte sich an die Rothaarige rangemacht, mit lüstern oder besoffen glänzenden Augen. Hat aber lang gedauert, dachte Frank.

Und da war sie, sein Mädchen. Stand ein wenig abseits, mit einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen. Doch dann sah sie plötzlich hoch und richtete die Augen erneut auf ihn. Es ging ihm durch und durch, und er begriff, dass er dieses Bild im Gedächtnis behalten würde. Die Rauchschwaden, durchsetzt von Lichtblitzen, sie mit dem halberhobenen Glas, der plötzliche Blick, offen und direkt aus ihren strahlend blauen Augen. Auf dieses Bild würde er eines Tages zurückschauen, das wusste er, und sich an die Nacht erinnern, als er das Mädchen, dessen Name er noch nicht kannte, zum ersten Mal gesehen hatte.

Es war zwei Uhr morgens, das Mermaid so gut wie leer. Frank kniete auf dem Boden und packte seine Schallplatten ein. «Na, Alter, wie läuft’s?» Im Hochschauen sah er Jimmys gerötetes Gesicht über sich.

«Die Schnitten da fahren mit uns nach Hause», sagte Jimmy grinsend. «Die Dunkelhaarige ist ein lustiger Vogel, und mit der Roten macht Eugene schon rum, der Mann hat er vielleicht ein Glück. Für dich ist nur noch die Dritte übrig. Die sagt zwar keinen Ton, aber so eine geht später ab wie eine Rakete.» Jimmy zwinkerte Frank zu. «Das weiß man ja.»

Frank nickte nur; er kniete auf dem Boden und schaute grundlos in seine Plattentasche hinein, wie gelähmt von der Vorstellung, in wenigen Minuten mit ihr zu reden. Zu guter Letzt rappelte er sich auf, warf sich die Taschen über die Schulter und griff nach seinen Kopfhörern. Als er sich umdrehte, stand sie vor ihm. «Ich heiße Kate», sagte sie lächelnd. «Soll ich dir tragen helfen?»

Im Taxi, auf dem Weg in den Südosten Londons, drehte der Fahrer das Radio auf, als wollte er seine Fahrgäste mit der Musik von LBC übertönen. Kate und Frank saßen allein auf der Rückbank des Vans, als stilles Publikum ihrer Freunde, die sich vor ihnen grölend einen fetten Joint und die Flasche Whisky teilten, die sie aus der Bar hatten mitgehen lassen.

Hier saßen sie also, als wäre es das Normalste der Welt. Frank spürte ihr Bein an seinem und die Wärme ihrer Schulter an seinem Arm. Sie schaute die ganze Zeit geradeaus, mit diesem halben Lächeln, das um ihre Mundwinkel spielte. Die Luft war voller Spannung, voller Möglichkeiten. Verzweifelt durchforstete Frank sein Gehirn nach einem Gesprächsthema, doch in seinem Kopf herrschte gähnende Leere. Das Schweigen dehnte sich aus, gemeinsam mit der Panik in seiner Brust. So war er doch sonst nie bei einem Mädchen. Stück für Stück verflüchtigte sich jener kurze süße Moment, als sich ihre Blicke getroffen hatten; denn ihm fiel absolut nichts ein, was er hätte sagen können.

Sie verlagerte ihr Gewicht, woraufhin ihr Schenkel sich in seine Jeans zu brennen schien. Sein Blick fiel auf ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. An einer Ampel blieb das Taxi stehen. Frank schaute hinaus auf die schwarze Straße, die gelben Lichtstreifen und musste an sich halten, denn sonst hätte er die Tür aufgestoßen und sich unter die Räder des nächsten Nachtbusses geworfen – alles wäre besser als das hier. Die Ampel sprang auf Grün. Mit einem Ruck fuhr der Wagen wieder an. Komm, Frank, sag was.

Sie schaute weiterhin geradeaus, ihre Augen verrieten nichts. Mach die Zähne auf und sag was. Frank schob seine Hände unter die Schenkel und fragte sich, seit wann er ein solcher Depp geworden war.

Sie überquerten die Waterloo-Brücke. Frank räusperte sich. Erwartungsvoll drehte sie sich zu ihm um. Was immer Frank hatte sagen wollen, erstarb auf seinen Lippen. Jetzt war die Luft zum Zerreißen gespannt; selbst die Welt da draußen schien den Atem anzuhalten. Doch als ihr Schweigen andauerte, fiel die Spannung in sich zusammen. Sie wandte den Blick von ihm ab. Das Herz rutschte ihm in die Hose. Er sah zu, wie sie die angestrahlten Gebäude am Südufer betrachtete und die Neonlichter, die der dunkle Fluss wie eine Leuchtspur reflektierte. Nicht mehr lang, und sie wären da, und die Gelegenheit wäre verstrichen. Er war einfach ein Idiot.

Das Taxi näherte sich dem Elephant. In null Komma nichts würden sie in Deptford sein.

Zu spät. Zu spät.

Frank rief dem Fahrer zu, er solle anhalten. Dann kletterte er unbeholfen nach vorn, trat auf den Fuß der Rothaarigen, die Eugene in den Armen hing, und stolperte über die Brünette, deren Hand auf Jimmys Schenkel lag. «Bis die Tage», sagte er noch. Er hatte es versiebt, und sie noch länger anzusehen, hielt er nicht aus.

«Was soll der Quatsch?», fragte Jimmy. «Komm sofort wieder zurück.»

Eugene nickte durch eine Rauchwolke hindurch. «Mach keinen Scheiß, Mann. Was ist denn mit unserer Party?»

«Ich bring nur kurz die Schallplatten weg», log Frank geschmeidig. «Danach komme ich bei euch vorbei.» Und schon war er aus dem Wagen, überlegte noch, wie er sich von ihr verabschieden sollte, schaffte aber nur ein knappes Lächeln. Sein Magen zog sich zusammen. Verdammte Scheiße. Erst als er die Taschen neben sich auf den Bürgersteig stellte, das Taxi weiterfuhr und er sich aufrichtete, sah er sie in dem verschwommenen orangefarbenen Schein einer Straßenlaterne stehen.

«Ich dachte, ich könnte dir noch ein bisschen Gesellschaft leisten», sagte sie ruhig.

Sie hatte das lebendigste Gesicht, das er jemals gesehen hatte. Kein Make-up, aber die Lippen waren voll und rot, und ihre Wangen strahlten zartrosa. Schwarze Pünktchen hatte sie in den blauen Augen. Sprühend wirkte sie, wie Wasser, das über Felsen schäumt.

«Gehen wir jetzt rein, oder nicht?», fragte sie amüsiert und abwartend.

«Oh», meinte Frank. «Klar. Doch. Da lang.»

Als er die Haustür öffnete, schlug ihm der Geruch der Mülltüten entgegen, die er vergessen hatte wegzubringen. Sie folgte ihm durch den dunklen, vollgestopften Flur ins Wohnzimmer. Die Glühbirne an der Decke war kaputt, und er fuhrwerkte eine Weile herum, bis er an die Bodenlampe kam.

Als das Licht das Chaos im Zimmer erhellte, wand er sich verlegen. Seit seinem Einzug vor drei Jahren hatte er an dem Haus nichts gemacht, lediglich eine große Stereoanlage aufgebaut. Es roch feucht und so, als würde irgendwo Gas ausströmen. Ein grüner geblümter Teppich wellte sich zwischen purpurrot tapezierten Wänden. An Möbeln gab es nur das Nötigste, und das hatte schon bessere Tage gesehen. Das Schlimmste jedoch, fand Frank, das Allerschlimmste war, dass alles, jeder Zentimeter auf Boden, Tisch, Sofa und Regalen, mit Platten übersät war. Langspielplatten und Singles, überall glänzende Scheiben, entweder hüllenlos oder halb aus weißen Schutzhüllen ragend oder ein Stück aus bunten Pappschobern herausgerutscht. Es sah aus wie nach einem Raubüberfall. Er warf einen Blick auf Kate, die das Ganze vom Türrahmen aus betrachtete.

«Interessante Dekoration», sagte sie, mit diesem Lächeln, das wie der sanfte Flügelschlag eines Vogels war.

«Tut mir leid, dass es hier wie in einem Saustall aussieht. Das Haus habe ich von meiner Tante Joanie geerbt. Vor ein paar Jahren. Bin aber nie dazu gekommen, was – na ja…» Seine Stimme verebbte. Frank rieb sein Kinn.

«Was du mit dem Zimmer hier gemacht hast, ist ein Wunder», sagte sie lachend und sah zu, wie er Platten vom Boden aufhob und vom Sofa räumte, um ihr Platz zu schaffen.

«Du magst Musik», stellte sie fest.

«So ist es.» Frank lächelte und fragte sich, was er mit ihr machen sollte, jetzt, da sie hier war.

«Das mit deiner Tante tut mir leid», bemerkte sie schließlich. «Habt ihr euch nahegestanden?»

Frank zuckte mit den Achseln, nickte. «Irgendwie schon.» Dann machte er sich wieder daran, Schallplattenstapel von einer Stelle auf die andere zu verfrachten.

«Komm, setz dich.» Sie hatte ihre Jacke ausgezogen. Er sah die Gänsehaut auf ihren dünnen Armen und wusste nicht, wann er das letzte Mal derart nervös gewesen war. Irgendetwas war mit ihrer Stimme, denn die war unglaublich – wie Musik. Wenn sie aufhörte zu reden, hing das letzte Wort wie ein Schlussakkord in der Luft, sodass er die Ohren spitzte, um dem Klang nachzuhorchen.

Einen Moment lang starrten sie sich an. «Kaffee», sagte Frank und verließ den Raum.

Im dunklen Flur, auf dem Weg zur Küche, stolperte er über eine Kiste mit Schallplatten und entschuldigte sich stumm bei ihnen. In der Küche setzte er Wasser auf, durchsuchte klappernd das schmutzige Geschirr und spürte, wie das Handy in seiner Gesäßtasche vibrierte. Jimmy und Eugene, nahm er an. Er schaltet das Handy aus. In der Küche stank es aus dem Kühlschrank. Im Wohnzimmer wurde eine Platte aufgelegt. David Bowie. Life On Mars.

Als er zurückkehrte, stand sie am Fenster und bemerkte ihn zuerst nicht. Frank verharrte im Türrahmen, betrachtete ihren schlanken Hals, der sich über die Schallplattenhülle in ihren Händen neigte, und fragte sich, wie ihre Haut riechen würde. Sie wandte sich zu ihm um. Beim Anblick ihres Lächelns fühlte er sich wie geblendet und errötete vor Freude. Sie legte die Plattenhülle weg und kam auf ihn zu.

Behutsam nahm sie ihm die beiden Kaffeebecher ab und stellte sie auf den Tisch. Sie führte ihn zum Sofa, mit sanfter Hand, bis er neben ihr saß. Dann nahm sie sein Gesicht in die Hände, zog es zu sich heran und strich mit den Lippen über seinen Mund. Frank stockte der Atem. Als Nächstes küsste sie seine Brauen, seine Wangen, seine Lider und zuletzt seinen Mund. Ihre Zunge kitzelte seine Lippen. Frank legte eine Hand auf ihren Rücken. Seine langen Finger folgten den Knubbeln und Dellen ihres Rückgrats. Er zog sie dichter an sich heran, erwiderte ihre Küsse und fühlte sich wie im Rausch, als wenn er einen Schritt über den Rand einer Klippe hinweg gemacht hätte.

Der Kaffee wurde kalt. Die Schallplatte war zu Ende. Sie nahm seine Hand, führte ihn in den dunklen Flur und die schmale Treppe hoch, als wäre sie schon zigmal in seinem Haus gewesen. In der Tür zu seinem Schlafzimmer blieben sie stehen und betrachteten den Raum, der wie sein Wohnzimmer übersät von Schallplatten war. Kate löste sich als Erste, kickte die Stones vorsichtig aus dem Weg und führte ihn zum Bett. Ihn noch immer an der Hand haltend, stieg sie geschickt über die Kinks hinweg. Mit einer Hand schob sie Aretha Franklin von der Bettdecke, ließ sich neben John Coltrane nieder und zog Frank zu sich. Erst da ließ sie seine Hand los, streifte sich das T-Shirt über den Kopf, drückte Frank aufs Bett und küsste ihn wieder.

DREI

Normandie, 10.April 1985

Den Mann, der im Wald wohnte, kannte eigentlich keiner so recht, und die wenigen, die mit ihm zu tun hatten, nannten ihn nur den «Stummen». Mitunter tauchte er in seinem verrosteten blauen Lieferwagen in einem der Dörfer auf, die ein gutes Stück vom Forêt de Breteuil entfernt lagen. Wenn die Ladenbesitzer ihn bedienten, rumorte in ihnen eine undeutliche Ahnung von der eigentümlichen Last seines Schweigens. Doch erst wenn sie ihm halfen, seine Vorräte zum Wagen zu tragen, oder das Geld für Benzin entgegennahmen, fiel ihnen plötzlich ein, dass sie ihn schon einmal bedient hatten, an einem Tag vor langer Zeit.

Begrüßte man ihn, lächelte der Stumme freundlich und wie um Verzeihung bittend, legte einen knochigen Finger auf seine Lippen und schüttelte bekümmert sein Haupt. Dann zog er aus der Jackentasche einen Notizblock hervor und schrieb seine Bestellung auf. Diejenigen, die sie entgegennahmen, registrierten seinen offenen liebenswürdigen Blick, sahen ihm beim Davonfahren nach und überlegten für einen Moment, wer er sein und wo er wohnen könnte, ehe sie mit den Schultern zuckten und wieder ihrer Arbeit nachgingen.

Nur die junge Frau, die im Laden eines Wohltätigkeitsvereins in Argentan arbeitete, hatte den Mann noch nie zuvor gesehen. Die Musik von Wham dröhnte aus dem Radio, und sie telefonierte, als der großgewachsene, ernstaussehende Fremde mit dem scheuen Lächeln und dem leicht gekrümmten Rücken ihr einen Geldbetrag überreichte, den sie zerstreut in die Kasse eintippte. Zehn Jahre später wurde die Leiche dieses Mannes zwanzig Meilen entfernt in einem Wald entdeckt, und sein Foto war auf sämtlichen Fernsehsendern zu sehen. Doch die junge Frau namens Laure wusste nicht, dass es das Gesicht des schweigsamen Mannes war, der eines Nachmittags vor zehn Jahren sackweise Kleidung für ein Baby, ein größeres Kind und ein junges Mädchen gekauft hatte.

VIER

Forêt de Breteuil, Normandie, 1985

Hier, unter den Bäumen, ist ihr erstes Leben rasch vergessen. Fast drei Jahre ist sie alt. Anfangs hat sie die wenigen Babysätze gebrabbelt, die sie gelernt hatte, doch da der Mann nie etwas erwidert, vergisst sie ihre Sprache. Im Wald existieren keine Worte. Die heiße Sonne, der kühle Regen und die eisige Kälte kommen und gehen und kehren wieder zurück. Der Geruch, die Berührung und die Stimme ihrer Mutter – ihr Zuhause–, all das entschwindet. Der Wind nimmt es mit sich, wenn er bläst, heult und die Äste der Buchen und Eichen peitscht. Über den Fluss trägt er ihre Erinnerungen, durch das zitternde Laub der Bäume, hinaus, weit hinaus aus dem Wald. Nur sie bleibt zurück.

Das gedrungene Haus aus Stein ist kaum größer als ein Schuppen. Es hat zwei kleine Zimmer, ein undichtes Dach und je ein schmales Bett links und rechts der großen Feuerstelle. Ringsum liegt dichter Wald. Die nächste Straße ist acht Meilen entfernt und wird selten benutzt, nur ab und zu fahren Lastwagen dort entlang, auf dem Weg irgendwohin.

Die Jahre vergehen. Im Winter ist der Wald still und melancholisch. Die Baumstämme erheben sich schwarz und ausgezehrt wie Knochen aus dem Schnee. Ihre Äste tragen ein paar vertrocknete Blätter, die abgestorben, aber nicht gefallen sind. Im Winter ist die Luft im Haus schwer von der Hitze, die das Feuer ausstrahlt, und dem Geruch des Eintopfes, der über den Flammen köchelt. Sie setzen sich zum Essen und betrachten das brennende Holz, während draußen dicht und schwarz die Nacht hockt und wartet, hockt und wartet.

Dann kehrt der Frühling wieder, und durch die dunkle Welt hindurch kriecht langsam etwas Neues und Weiches. Schösslinge sprießen aus der toten Erde. An den Zweigen zeigen sich die ersten Knospen. Doch dann beschleunigt sich der Pulsschlag des Waldes, schlägt stärker und lauter, bis die Bäume auf einmal lebendig werden, voller Farben und Lärm, und sich ein blasses grünes Licht um sie herum windet. Im Fluss tummeln sich die Fische. Rotwild, Hasen, Eichhörnchen, Dachse und Wildschweine rascheln im Unterholz, über ihnen wippen Zweige inmitten des Vogelgezwitschers.

Als sie fünf ist, schnitzt der Mann ihr eine Angel und bringt ihr bei, wie man Fische fängt. Seite an Seite sitzen sie am Ufer und warten geduldig auf das verheißungsvolle Zucken am anderen Ende der Leinen. Er zeigt ihr, wo sie Beeren findet und wo der wilde Knoblauch wächst. Überglücklich schaut sie zu, wie er mit der Axt Baumstämme spaltet und ihr eine Wippe baut. Er ist stärker und größer als alle Bäume.

Es dauert nicht lang, und ihr werden Aufgaben anvertraut. Jeden Morgen kümmert sie sich um den Gemüsegarten, kontrolliert Tierfallen, holt Eier aus dem Hühnerhaus und präsentiert ihm stolz ihre Beute. Ehrfürchtig und ohne mit der Wimper zu zucken, schaut sie zu, wie seine flinken wendigen Finger geschickt ein Kaninchen häuten, mit dem glänzenden rosa Fleisch hantieren und das vormals hoppelnde pelzige Etwas in ein warmes schmackhaftes Mahl verwandeln. Abends, nach dem Essen, wenn sie am Feuer schläfrig geworden ist, drückt sie ihn fest an sich, ehe sie zu Bett geht. Sie liebt seinen holzigen rauchigen Geruch, und wenn sie einschläft, hat sie den noch in der Nase.

Der Mann hat dem Mädchen gezeigt, in welchem Gebiet es herumstromern darf. Nicht weiter als zum Fluss oder zum äußersten Ende der dritten Lichtung hinter ihrem Häuschen, auf der sie ihr Gemüse anbauen. Wenn sie wollte, könnte sie seine Befehle missachten. An den seltenen Tagen, an denen er mit seinem Lieferwagen fortfährt und erst zurückkommt, wenn die Sonne untergegangen ist, an solchen Tagen könnte sie loslaufen, und er würde sie nie wiederfinden. Die Frage ist nur, wohin und warum? Stattdessen verbringt sie die Stunden seiner Abwesenheit mit unruhigem Warten. Kaum dass der verrostete blaue Wagen verschwunden ist, horcht sie voller Ungeduld nach dem rumpelnden brummenden Geräusch, das seine Rückkehr ankündigt. Währenddessen hockt sie auf der schmalen Eingangsstufe des Häuschens oder drückt sich die Nase von innen an der Fensterscheibe platt, strengt Augen und Ohren an, die Hände fest auf die Brust gedrückt, um das Ziehen und Nagen dort zu beruhigen.

Einmal, als der Mann länger als üblich fortbleibt und die Sonne schon seit langem untergegangen ist, starrt sie mit wachsender Verzweiflung hinaus in den Wald, der mit jeder Sekunde schwärzer und dichter zu werden scheint. Zu guter Letzt kommt sie zu dem Schluss, dass er nie mehr zu ihr zurückkehren wird. Voller Panik malt sie sich aus, wie sie sich durch die Bäume hindurch allein auf die Suche nach ihm macht, doch die Welt jenseits des Waldes ist für sie ebenso unvorstellbar wie ein Leben ohne den Mann.

Schließlich, als sie es nicht mehr aushält, verlässt sie das Haus und läuft unter dem kalten stillen Mond zwischen Pfad und Fluss auf und ab, ohne den Regen zu spüren, der ihre Kleidung und Haare durchnässt. Und als er schließlich erscheint, mit einem Sack voller Vorräte auf der Schulter aus der Dunkelheit auftaucht, da ist ihre Freude so groß, dass es eine Weile dauert, bis er ihre Arme von seinen Beinen lösen und ihre rauen Schluchzer zum Verstummen bringen kann. Er hebt sie hoch und trägt sie ins Haus, wiegt sie sanft auf seinem Schoß, bis ihre Tränen verrinnen und sie, an ihn geklammert, in unruhigen Schlaf fällt.

Nur ein einziges Mal tauchen Fremde auf. Da ist sie acht. Der Mann und das Mädchen sitzen am Fluss, als durch die Bäume Stimmen zu ihnen getragen werden. Sie hört sie zuerst, hebt ihr Kinn und richtet sich auf. Mit gespitzten Ohren versucht sie, die seltsamen neuen Laute zu identifizieren, die ihr wie Löwenzahnsamen in einer Brise entgegenwehen. Und plötzlich entsinnt sich etwas in ihr; ein kleiner Teil in ihr regt sich und lässt eine ferne, halbvergessene Erinnerung aufkeimen. Instinktiv steht sie auf und bewegt sich auf die Stimmen zu, auf irgendetwas, nach dem sie gehungert hat, auch wenn ihr das nie klar war. Doch schon hat der Mann sie gepackt. Sie schreit auf, doch er läuft mit ihr auf das Haus zu, die Hand auf ihren Mund gedrückt. Drinnen bindet er ein Hemd um ihren Mund und verknotet es so fest, dass die Tränen in ihrer Kehle ersticken. Er schiebt sie unter den schmalen Holzrahmen ihres Bettes und zieht die Decke herunter, sodass sie im Dunkeln liegt und auf dem kalten Steinboden zittert. Als Nächstes hört sie, wie er das Häuschen verlässt und den Türriegel vorschiebt.

Später, als unter dem Rost das Feuer brennt und der Himmel dunkel geworden ist, sitzt der Mann da, hält sie in den Armen und wischt ihre Tränen fort. Was immer jenseits des Waldes liegen mag, ist zum Fürchten, dessen ist sie sich jetzt gewiss. Sie schaut zu ihm hoch, bis ihr Zorn und ihr Schmerz langsam verfliegen. Nach einer Weile greift sie nach seinem Handgelenk und dreht es auf die weiße fleischige Unterseite. Es ist eine Geste, die ihr seit langem eigen ist, angezogen von dem weichen weißen Stück Haut, das so ganz im Gegensatz zu dem rauen, gebräunten und von Haarkringeln besetzten Rest von ihm ist. Mit dem Finger fährt sie über das zarte Fleisch, unter dessen weißer Oberfläche blassblaue Venen pochen. Er lächelt ihr zu. Alles ist wieder gut.

Nachts liegt das Mädchen auf seinem Lager und lauscht den Schlafgeräuschen des Mannes auf der anderen Seite der Feuerstelle. Sein tiefer regelmäßiger Atem vermischt sich mit dem «Pfiwitt» und «Huhuu» der Eulen, die mit unhörbaren Flügelschlägen durch die Lüfte schweben. Morgens wacht sie vor dem ersten Tageslicht auf. Während der Mann noch schläft, schlüpft sie leise aus dem Häuschen, setzt sich draußen auf die Stufe und wartet geduldig. Wenn dann das erste Licht erscheint, kommt es ihr vor, als würde der Wald sich dehnen und erwartungsfroh seufzen. Schwere Nebelschleier hängen zwischen den Bäumen, und der Farn verströmt einen würzig-süßen Duft. Die Füchse stellen ihre Schreie ein; selbst das Gurgeln des Flusses scheint für einen Augenblick zu verstummen. Und dann endlich fängt es an.

Auf jeden ersten zaghaften Ton antwortet ein zweiter und dann noch einer. Nach und nach werden die einfachen Rufe von Melodien ersetzt, die sich übereinanderlegen, bis der Wald von den Klängen anschwillt. Die Sonne steigt höher und taucht die Blätter in weiches rosiges Licht. Wie verwandelt ist der Wald vom Vogelgezwitscher und getränkt von der Musik – ein Zauber, der ihr allein gehört. Die Töne werden lauter und lauter, bis es ihr vorkommt, als würde die ganze Welt aus Melodien bestehen. Und dann ist da schlagartig nichts mehr. Nur noch Stille, ebenso dramatisch wie die eben beendete Symphonie. Hochzufrieden steht sie auf und kehrt zu dem schlafenden Mann zurück.

Im Sommer sitzen der Mann und das Mädchen in der Abenddämmerung auf einer kleinen Bank vor dem gedrungenen Haus. Während er rauchend und nachdenklich in das verblassende Licht des Tages schaut, führt sie ihm die Musikstücke vor, die sie gelernt hat. Das laute pfeifende «Piu-piu» des Mäusebussards, das schrille Trillern des Rotschwanzbussards, das tiefe Gurren des Kuckucks, das «Tschihink-tschihink» der Amsel, sie ist in der Lage, all das perfekt zu imitieren. «Tika-tika-tika», singt sie und «Chi-witt-chi-witt». Das Lied eines jeden Vogels kennt sie, von der Grasmücke über den Turmfalken bis zur Lumme und Lerche. Der Mann raucht, hört ihr zu und schnitzt an seinem Geschenk für sie: einem kleinen Star aus einem herabgefallenen Stück Ast.

Sie sind glücklich miteinander, der schweigsame Mann und das wortlose Kind. Die Tage und Monate kommen und gehen. Jahreszeiten kündigen sich an, lassen sich nieder und ziehen wieder davon. Doch ebenso wie der Abend die Sonne verdrängt und der Winter den sonnigen Herbst übermannt, überfällt eine Dunkelheit den Mann. Wie aus dem Nichts taucht sie auf und bleibt mitunter Tage oder auch Wochen. Wenn sie kommt, legt sie sich mit einer solchen Schwere nieder, dass das Mädchen glaubt, es würde nie wieder hell. Es ist, als wäre der Schlamm aus dem Flussbett hervorgekrochen und hätte den Mann im Schlaf überschwemmt, als wäre eine dicke schwarze Masse in seine Ohren, seine Nase und in seinen Mund gedrungen, um ihn erbarmungslos zu ersticken.

In solchen Zeiten bleibt dem Kind nichts anderes, als zuzusehen und zu warten. Wenn es Abend wird, macht sie ein Feuer und hockt unglücklich vor seinem Stuhl, in dem er reglos sitzt, mit schweren Lidern und brütendem Blick. Manchmal rückt sie näher, hebt seinen Arm und legt sich die nackte Unterseite seines Handgelenks an die Wange, doch wenn er darauf nicht reagiert, lässt sie den Arm wieder fallen, der dann schlaff an seiner Seite hängt, und kauert sich vor das Feuer. Es gibt Morgen, an denen er sein Bett nicht verlässt, sondern nur daliegt, die Knie fast bis hoch an die Brust gezogen hat und blicklos die Wand anstarrt.

Doch wenn er zuletzt wieder zu ihr zurückkehrt und ins Sonnenlicht blinzelt, als wundere er sich, dass die Welt noch genauso ist wie zuvor, dann nimmt sie ihn an die Hand und führt ihn zum Fluss, um zu angeln. Später kümmern sie sich gemeinsam um den Gemüsegarten und die Hühner, nehmen ihr Abendbrot nebeneinander auf der kleinen Bank vor dem Häuschen ein, während die Vögel ihr Abendlied anstimmen.

FÜNF

The Mermaid, Dalston, im Norden von London, 21.September 2003

Sie kommt in die Bar und schlängelt sich wie Zigarettenrauch zwischen den Gästen hindurch. Sechs Monate lang hat sie als Aushilfe bei einer Versicherung gearbeitet, aber heute war ihr letzter Tag, und das soll gefeiert werden. Zwar ist sie müde und ginge lieber nach Hause, aber Candice und Carmen haben auf dem Abend bestanden. Das Ende ihres Jobs wollen sie feiern, wie es sich gehört. Mit einem Mal kreischt Gary Glitter durch den Raum, viel zu schnell, wie eine wildgewordene Hyäne. Kate steht am Zigarettenautomat und wartet.

Im Mermaid drängen sich die Menschen, die in den Bars und Restaurants der wenige Meilen entfernten Upper Street nicht erwünscht sind. In die Upper Street wollen Kate, Carmen und Candice später gehen, aber zuerst das Angebot des Mermaid ausnutzen: drei Cocktails zum Preis von einem. Kate ist zum ersten Mal hier. Es ist eine jener Bars mit getönten Fensterscheiben und Videoüberwachung. Von der Tanzfläche zucken einladend Discolichter herüber – rot, blau, gelb und grün. Sie betrachtet die Gruppen der Trinker: Männer mit rasierten Köpfen und braunen Lederjacken, ihre Frauen übermäßig geschminkt und mit faltigem Dekolleté. Wenn sie reden und trinken, geschieht es ruckartig, doch unterdessen huschen ihre Augen rastlos durch den Raum. Kate holt sich einen Drink, kehrt zum Zigarettenautomaten zurück und wartet auf ihre Freundinnen.

An der Bar steht ein junger Mann und starrt sie an, als hätte sie eben seinen Namen gerufen.

Candice und Carmen tauchen auf. Sie mögen Kate. Das ist typisch für Mädchen wie sie. Kate ist von der schweigsamen Sorte, und deshalb glauben sie fest, dass sie von ihnen beeindruckt ist, von ihren Erfahrungen und ihrem tollkühnen Auftreten. Sie sind auch sicher, dass Kate ihnen die Kleidung von TopShop und ihre langen glatten Haare neidet, kurzhaarig und altmodisch gekleidet, wie sie ist. Und sie ist allein, ohne Mann, und hängt deshalb dankbar an ihren Lippen, wenn sie von Flirts und Bettgeschichten erzählen, von One-Night-Stands mit reichen Jungen aus der Stadt. Kate ist die leere Leinwand, auf die sie sich in den schmeichelhaftesten Farben malen. Sie werden sie vermissen und eine vage Entrüstung spüren, falls sie sich nicht mehr bei ihnen meldet.

Hinter ihnen kratzt eine Nadel über die Rillen einer Schallplatte.

Kate stellt fest, dass der Mann von der Bar jetzt in der Ecke für den Discjockey steht und eine neue Platte auflegt. Die Tanzfläche füllt sich wieder. Durch die sich windenden Körper hindurch studiert sie die drei Männer in der DJ-Ecke. Der großgewachsene dunkelhäutige Mann ist sehr schön, mit katzenartigen Augen, vollen sinnlichen Lippen und langen anmutigen Fingern. Dann und wann zieht er eine kleine Plastikphiole aus seiner Jackentasche und schnüffelt daran, gleichzeitig durchtrieben und verstohlen, was ganz im Gegensatz zu der trägen Sinnlichkeit seines Gesichts steht.

Der Mann neben ihm ist groß, kräftig und hat ein breites offenes Gesicht mit lächelnden Augen. Er drückt sich mit großen, ausholenden Gesten aus, scheint unentwegt zu reden, lacht auch viel und laut und ist sehr körperbezogen, denn er schlägt seinen Freunden auf den Rücken oder wuschelt ihnen durchs Haar. Ein selbstsicherer Typ, der sich in seiner Haut wohlfühlt. Jemand, der wahrscheinlich noch so ist, wie er schon als Junge war, mit Ausnahme des fast unmerklichen Zweifels, der sich hier und da in seine eifrigen lachenden Augen stiehlt.

Der Dritte hat sie vorhin von der Theke aus angestarrt und starrt sie noch immer an. Er trägt abgewetzte Jeans und ein blassgrünes Sweatshirt. Sein Gesicht ist attraktiv und empfindsam, sein Körper groß und schlank. Seine Bewegungen haben etwas Eckiges. Seine Freunde werden immer betrunkener, doch ihm ist etwas Verhaltenes eigen, eine Art große Ruhe, die ihn umgibt. Ab und zu werfen seine Freunde ihm Blicke zu, wie um sich zu vergewissern, dass er noch da ist, dass alles seine Richtigkeit hat. Nach einer Weile bemerkt Kate, dass sie es ihnen nachtut.

«Mensch, Car, hast du den Typen dahinten gesehen?»

Candice packt Carmens Arm, und beide schauen zu dem schönen dunkelhäutigen Mann hinüber. Dass sie so lang gebraucht haben, ihn zu entdecken, wundert Kate.

Der Abend geht weiter. Die Tanzfläche ist brechend voll. Der Mann im grünen Sweatshirt legt die Platten auf, ein Stück jetzt schneller als das andere. Kate sieht, wie liebevoll er mit den Platten umgeht, wie geschickt er die Bedürfnisse der Tanzenden erfasst – wie sicher und fließend seine Handgriffe sind. In diesem Punkt zumindest ist er seiner sicher. Seine beiden Freunde nähern sich ihnen. Der Schöne sagt, sein Name sei Eugene. Der Gedrungene lächelt und heißt Jimmy. Er möchte ihnen Drinks spendieren. Kate tritt zurück, sieht zu, wie die vier tanzen, setzt ihr Glas an die Lippen und dreht sich zur DJ-Ecke um. Ihr Blick trifft auf die sanften braunen Augen des Dritten. Eine Zeit lang hält sie seinen Blick fest.

Im Taxi auf dem Weg in den Südosten Londons sieht sie, dass seine Hände groß sind, die Fingernägel abgekaut. Es tut ihr leid, als er sie unter seine Schenkel schiebt, um sie zu verstecken.

In der Tür zu seinem Wohnzimmer, in dem winzigen Haus in Deptford, beobachtet sie ihn über das Chaos seines schäbigen, mit Schallplatten übersäten Zimmers hinweg. Er fuhrwerkt herum und räumt Schallplattenstapel zur Seite. Seine Augen sehen aus, als wolle er etwas sagen, als drängten sich die Worte schon unter der Oberfläche, nur um mit unsicherem Lächeln wieder heruntergeschluckt zu werden. Auf dem Sofa macht er ihr einen Platz frei, und sie lässt sich nieder.

«Du magst Musik», stellte sie nach ein, zwei Momenten fest.

«So ist es.» Er zuckt mit den Schultern und reibt sein Kinn. «Im Mermaid lege ich allen möglichen Mist auf. Solange die Leute tanzen können, ist ihnen alles egal. Aber sonst…» Er wirft einen Blick in die Runde, als sähe er das Plattenchaos zum allerersten Mal, und lacht entschuldigend. «Ja», bekennt er leise. «Ich mag Musik.»

In dem kalten Zimmer überziehen sich ihre Arme mit Gänsehaut. Sie sieht, wie er unbeholfen vor ihr steht und überlegt, was er als Nächstes sagen soll. Sein ganzer Körper neigt sich ihr zu, als sehne er sich verzweifelt nach ihr. Er möchte sie berühren, das spürt sie, jede Faser von ihm verlangt nach ihr. Doch dann verlässt er abrupt den Raum und murmelt etwas von Kaffee.

Kate steht auf, tritt an seine Stereoanlage und sucht aus einer der Kisten auf dem Boden irgendeine Platte hervor. Ohne auf den Titel zu achten, legt sie sie auf den Teller und setzt die Nadel auf. Mit Musik kennt sie sich nicht aus. Doch zufällig kommt ein Song, an den sie sich erinnert. Life on Mars. Wie erstarrt hört sie zu und wird in eine andere Zeit und zu einem anderen Ort zurückgetragen. Eine kleine enge Wohnung in New York. Eine Decke aus rosa Nylon auf dem Bett. Ein junger Vietnamese namens Bobby, übersät mit blauen Flecken, dem noch der Samengeruch seines letzten Freiers anhängt, ein billiger ratternder Kassettenspieler und Bowie, der fragt: «Is there life on Mars? Is there life on Mars?» Tränen, mit denen sie nicht gerechnet hat, treten ihr in die Augen.

Sie beugt sich über die Schallplattenhülle. Als sie sich umdreht, steht Frank im Türrahmen, in jeder Hand ein Kaffeebecher. Sie lächeln sich an. Doch während sie ihn anschaut, spürt sie erstmalig seit langer, langer Zeit, dass sie vielleicht Frieden finden könnte, hier in diesem dunklen chaotischen Haus, bei diesem großen scheuen Fremden, und wenn auch nur für eine Nacht. Dass sie vielleicht sogar schlafen könnte, ohne den immer wiederkehrenden schrecklichen Traum durchzustehen.

SECHS

Forêt de Breteuil, Normandie, 1995

Das Kind wird größer. Das hellbraune Haar mit den roten und kupferfarbenen Strähnen reicht ihr beinahe bis zur Taille. Inzwischen hat eine Rastlosigkeit sie befallen, die früher nicht da war. Wenn der Mann jetzt in seinen Lieferwagen steigt, versucht sie hinterherzuspringen und klammert sich am Türgriff fest, ehe er losfährt. Wenn er fort ist, stromert sie durch ein größeres Gebiet als zuvor, auf der Suche nach etwas, nach einem anderen Ort. Doch zu weit wagt sie sich noch immer nicht vor.

Sie ist fast dreizehn. In den vergangenen Monaten hat sich zwischen ihr und dem Mann etwas verändert. Ein Schatten hat sich über ihre Zufriedenheit gelegt. Manchmal, wenn sie abends zusammen am Feuer sitzen, dreht sie sich um und entdeckt, dass er sie auf eine Weise ansieht, wie er es noch nie getan hat. Der Moment geht vorüber, doch das Unbehagen, das aufgekommen ist, steht noch für eine kleine Weile im Raum, wie das Rascheln eines Kriechtiers im Dickicht in einer stillen Nacht.

Eines Abends, in den letzten Tagen des Sommers, kehrt sie vom Fluss zurück. Der Mann sitzt an der Herdstelle. Unter dem Rost flackert ein kleines Feuer. Auf der Schwelle bleibt sie stehen und erkennt, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Draußen haben die Vögel ihr abendliches Klagelied angestimmt, und sie wirft einen sehnsüchtigen Blick zurück in den dämmrigen Wald. Der Mann dreht sich um und winkt ihr, zu ihm zu kommen.

Als sie neben ihm sitzt, entdeckt sie auf seinem Schoß eine große Holzkiste, die sie noch nie zuvor gesehen hat, und fragt sich, wo er sie die ganze Zeit versteckt hat. Eine Zeit lang liegen seine langen Finger reglos auf dem Deckel, bis er ihn plötzlich und ohne sie anzuschauen aufklappt und das Foto einer jungen Frau hervorzieht. Das Mädchen reckt sich vor. Ihr Herz hüpft aufgeregt, weil sie plötzlich das Bild eines anderen Menschen sieht. Er hält es ihr hin, und sie nimmt es begierig entgegen, betastet das verblichene körnige Papier und studiert darauf jedes kleine Detail.

Die Frau trägt ein langes grünes Kleid. Ihr dunkles Haar ist voll. Der Pony fällt ihr tief in die Stirn. Ihr Lächeln ist scheu und geheimnisvoll. Ihre Augen sind auf ihre Hände gerichtet, die hübsch gefaltet auf ihrem Schoß liegen. Voller Staunen nimmt das Mädchen all das in sich auf, bis der Mann die Kiste ein zweites Mal öffnet.

Dieses Mal holt er ein grünes Kleid hervor, das sorgsam gefaltet ist und einen schwachen Geruch nach etwas Altem verströmt. An den Falten ist der Stoff verblichen. Er reicht es ihr und bedeutet ihr, es anzuziehen. Doch sie sitzt nur da, das Kleid auf ihrem Schoß, und starrt wie hypnotisiert auf den Stoff, während ihre Finger nervös über die Knöpfe am Halsausschnitt fahren. Trotz ihres gesenkten Blicks spürt sie zwischen sich und dem Mann ein Knistern in der Luft, das sie nicht einmal im Ansatz begreift. Zu guter Letzt schaut sie zu ihm hoch. Er ist so reglos, dass er nicht einmal zu atmen scheint, doch er hält ihren Blick fest.

Gehorsam steht sie auf und streift sich das Kleid über den Kopf, glättet es über ihrem T-Shirt und ihren Shorts, in der Hoffnung, das Ziehen und Nagen in ihrer Brust würde verschwinden, wenn sie ihm diesen Gefallen tut. Die Ärmel des Kleides sind zu lang, und der Saum berührt den Boden, doch während sie so vor ihm steht, brennen ihre Wangen von etwas, das sie noch nie empfunden hat. In das Gesicht des Mannes tritt ein Ausdruck so tiefen Schmerzes, dass sie unwillkürlich aufschreit und einen Schritt auf ihn zumacht. Doch direkt vor ihm hält sie inne, zieht sich verwirrt zurück und nimmt ihren Sitzplatz wieder ein.

So vergeht eine Weile. Bis der Mann aufsteht und seine große Handwerkerschere aus dem Werkzeugkasten holt. Ehe sie weiß, wie ihr geschieht, macht er sich daran, ihr die Haare abzuschneiden, sorgfältig, bis sie aussehen wie die der Frau auf dem Bild. Anschließend setzt er sich wieder. Behutsam betastet sie ihre neue Frisur. Der Mann schaut sie an. Auf einmal beginnt er zu weinen. Es ist das erste Mal, dass sie Tränen bei ihm sieht, und der Anblick verstört sie.

So sitzen sie da, während Minuten, Stunden verrinnen, ohne dass der Mann seinen Blick von ihr löst. Sie wiederum rührt sich nicht, möchte ihn weder seinem Schmerz überlassen noch weiß sie, wie sie ihn trösten soll. Als es Nacht wird, geht das Feuer aus. Erst als es so dunkel ist, dass sie nicht mehr weiß, wo er ist oder die Nacht beginnt, rappelt sie sich auf, kriecht in ihr Bett und liegt mit offenen Augen und klopfendem Herz da, während der Mann und die Nacht im Raum hocken und warten, hocken und warten.

Am nächsten Morgen steht sie vor der Sonne auf, schlüpft aus dem Haus und wartet auf die Vögel. Doch ihr Gesang bereitet ihr keine Freude. Sie bleibt draußen, bis die Sonne über die Baumwipfel gestiegen ist. Wie immer liegt der kleine Holzvogel auf ihrem Schoß. Ihr Daumen folgt der glatten Form seines Kopfes in langsamen tröstlichen Kreisen.

Als sie das Haus wieder betritt, malen sich über den Boden Sonnenstreifen. Im Türrahmen hängt eine Wolke aus Mücken. Alles ist still. Der Mann liegt ausgestreckt auf seinem Bett. An seiner Seite befindet sich die Schere. Ihre schweren Klingen sind rot gefärbt. Das Mädchen schleicht sich näher heran. Seine Augen sind offen und starren hoch zur Decke. Sein linker Arm wirkt wie achtlos vom Körper geschleudert, mit der Innenfläche nach außen. Eine tiefe Wunde zieht sich über die Innenseite seines Unterarms vom Handgelenk bis zum Ellbogen. Das Fleisch und die Sehnen sind zerrissen. Die Wunde ist so tief, dass sie den Knochen erkennen kann. Das Bett ist blutgetränkt und das Gesicht des Mannes bläulich. Er atmet nicht.

Bis in die hinterste Ecke des Raums weicht sie zurück und kauert sich nieder, den Mund aufgerissen vor Entsetzen, bis sie schließlich schreit. Draußen stiebt ein Vogelschwarm auf, aufgerüttelt von ihrem Schrei. Plötzlich springt sie auf, hält den kleinen Holzvogel fest umklammert und flieht. Meilenweit durch den dichten Wald läuft sie, weiter und weiter, bis tief in die Nacht, und der Wald schreit in ihren Ohren.

SIEBEN

The New York Times

Montag, 15. August 1995

Nachrichten aus aller Welt– Frankreich (Reuters)

Das Vogelkind der Normandie

Ein Mädchen von schätzungsweise zwölf oder dreizehn Jahren wurde im Gebiet des Forêt de Breteuil in der Normandie im Norden Frankreichs gefunden. Vermutlich handelt es sich dabei um Elodie Brun, die im Alter von zwei Jahren aus der nicht weit entfernten Stadt Le Ferté-Macé entführt wurde und seit 1985 vermisst wird.

Der Lastwagenfahrer Marcel Collet entdeckte das Kind im Straßengraben, als er am Donnerstag um fünf Uhr morgens an dem zwanzigtausend Hektar großen Waldgebiet entlangfuhr.

«Anfangs dachte ich, es wäre ein überfahrenes Tier», entsinnt sich Collet. «Dann sah ich, dass es ein kleines Mädchen war, und habe angehalten. Sie war in schlechter Verfassung. Ihre Beine und Füße waren nackt und bluteten, und sie war sehr schmutzig. Sie wirkte sehr verängstigt, und auf meine Fragen gab sie keine Antwort. Ich dachte, dass sie aus einem Wagen geworfen worden ist. Ich war fassungslos und so erschüttert, dass ich kaum wusste, was ich machen sollte.»

Schließlich konnte Collet das Kind überreden, in seinen Lastwagen zu steigen, sodass er es in das Krankenhaus in der nahe gelegenen Stadt Evreux fahren konnte. «Meine Frau hatte Brote mit Käse und Schinken für mich eingepackt», erklärte er. «Das hat den Ausschlag gegeben.»

Das Kind wurde zwei Tage später in das Kinderkrankenhaus von Rouen überführt. «Es ist ein ungewöhnlicher Fall», gesteht der dortige Oberarzt Dr.Bernard Dumas. «Seit fünf Tagen ist sie jetzt bei uns, und körperlich scheint es ihr gut zu gehen, doch bislang hat sie noch kein einziges Wort gesprochen.»

Die Psychiaterin Dr.Cécile Philipe hat das Kind eingehend untersucht. «Anfänglich nahmen wir an, dass ihre Sprachlosigkeit eine Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis ist», erklärt sie. «Inzwischen sieht es jedoch so aus, als würde dieses Kind menschliche Sprache überhaupt nicht kennen. Stattdessen versucht es, mit Hilfe von Vogelgeräuschen zu kommunizieren. Seine Bandbreite ist außergewöhnlich, denn anscheinend hat es gelernt, die unterschiedlichsten Arten zu imitieren. Bei seiner Ankunft hielt das Mädchen einen kleinen Holzvogel in der Hand und wurde hysterisch, als wir ihn wegnehmen wollten.»

Trotz ihres sprachlichen Unvermögens hat das Krankenhauspersonal seine rätselhafte kleine Patientin ins Herz geschlossen. «Es ist ein reizendes Kind», sagt die Oberschwester Hélène Duchamp. «Ganz bezaubernd. Manchmal zieht sie sich zurück und wirkt bedrückt, doch meistens reagiert sie, sogar liebevoll. Die Geräusche, die sie von sich gibt, sind faszinierend.»

Das Krankenpersonal nennt das Mädchen «kleiner Vogel».

Die polizeilichen Ermittlungen dauern noch an. Falls das Mädchen tatsächlich Elodie Brun ist, stellt sich die Frage, wo die Kleine in den letzten zehn Jahren gefangen gehalten worden ist – und von wem. Doch darauf gibt es bisher keine Antwort.

The Sun

14.September 1995

Entführtes Kind ist «wie ein wildes Tier»

Noch mehr GRAUENHAFTE Einzelheiten aus dem Fall Elodie Brun sind ans Tageslicht gekommen. So hat die Sun erfahren, dass Brun, 12, sich lediglich durch GRUNZEN UND PFEIFEN verständigen kann. Wie Experten behaupten, ist sie nach ihrer zehnjährigen Gefangenschaft eher ein wildes Tier als ein Mensch. Der Unhold Mathias Bresson, 42, schnappte sich das WEINENDE WICKELKIND im Jahre 1985 und hielt es seitdem in seiner geheimen Waldhöhle gefangen. DIE GANZE GESCHICHTE AUF DEN SEITEN 4, 5, 6 und 7.

Bildunterschrift: Verlassener Waldarbeiterschuppen, wo der Unmensch Bresson Elodie Brun zehn Jahre lang gefangen hielt.

Science Tomorrow Magazine

Oktober 1995

Der «kleine Vogel» schwirrt im Sturm widersprüchlicher Meinungen davon

Der außergewöhnliche Fall von Elodie Brun, dem Kind, das im vergangenen Monat in einem Wald in der Normandie gefunden wurde, hat eine neue Wendung genommen und scheint innerhalb der Kognitionswissenschaften eine der am heißesten debattierten Fragen neu zu entfachen – nämlich, wie wir sprechen lernen.

Die Zwölfjährige, die dank ihrer erstaunlichen Fähigkeit, Vogelstimmen zu imitieren, den Spitznamen «kleiner Vogel» erhalten hat, wurde im Jahre 1985 von Mathias Bresson entführt. Bresson war von Geburt an stumm. Er brachte das Kind zu einem entfernten Versteck inmitten des zwanzigtausend Hektar großen Waldes von Breteuil. Dort lebten die beiden bis zu Bressons Selbstmord im vergangenen Monat.

Als bekannt wurde, dass das Kind keine Sprache kennt, hat es weltweit das Interesse von Wissenschaftlern und Linguisten erregt. Über die Art, wie das Gehirn sich Sprache aneignet, existieren bislang fast nur Theorien und kaum gesicherte Daten. Experten von Noam Chomsky bis Steven Pinker haben sich seit langem mit der Frage befasst, inwieweit Sprachverhalten angeboren oder erlernt ist und inwieweit es von der Umgebung, der Lateralität des Gehirns oder anderen kognitiven Faktoren beeinflusst wird.

Endgültige Antworten sind bisher nicht gefunden worden, denn Fälle «wilder» oder «isolierter» Kinder– Kinder, die ohne Sprache aufgewachsen sind – gibt es ausgesprochen selten. Für Elodie Brun ist jedoch ein Hoffnungsschimmer aufgetaucht, und zwar in Form von Dr.Ingrid Klein, Professorin für Kognitionswissenschaften an der New York University. Klein, eine anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Psycholinguistik und Autorin dreier maßgeblicher Werke zu dem Thema, hat die Erlaubnis erhalten, Elodie mit sich in ihr Haus auf Long Island, New York, zu nehmen. Aus ihrer Arbeit mit dem Kind könnte eine der wichtigsten neueren Studien in Kleins Forschungsgebiet entstehen.

In einem Exklusivinterview erklärte Dr.Klein Science Tomorrow: «Die Sprache spielt eine fundamentale Rolle für unser Menschsein. Ich glaube, dass es mir gelingen wird, Elodie zu unterrichten, sodass sie ebenso gut sprechen wird wie Sie oder ich. Obwohl sie ein ungewöhnliches Leben geführt hat, ist sie glücklich, gesund und klug. Anzeichen, dass sie physisch oder emotional Schaden genommen hat, existieren nicht. Meine Arbeit mit Elodie wird durch Gelder der amerikanischen Regierung unterstützt. Basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, werde ich hoffentlich beweisen, dass es nicht nur möglich ist, ein solches Kind zu resozialisieren, sondern auch, dass es eines Tages ein normales Leben führen und vollkommen in unsere Gesellschaft integriert sein kann.»

Die Entscheidung, Elodie so weit von ihrer Heimat und Familie zu entfernen, ist in Frankreich allerdings auf Widerstand gestoßen. Doch da Elodies Mutter inzwischen unfähig ist, für ihre Tochter zu sorgen, hat sie, wie es heißt, dem Vorhaben voll und ganz zugestimmt.

«Das ist nicht nur ein wissenschaftliches Experiment», betont Klein. «Ich habe die Unterstützung von Elodies Mutter, und ich bin selbst Mutter. Ich glaube, der beste Ort für Elodie ist eine fürsorgliche Umgebung, in der ihr die Hilfe von Experten zuteil wird, die an der Spitze ihres Forschungsgebiets stehen. Dieser Ort ist bei mir und meinem Team in den Vereinigten Staaten.»

Die Vorstellung eines «wilden Kindes» geistert schon seit der Legende von Romulus und Remus durch unsere kollektive Phantasie. Der Gedanke, Unzivilisierten die Funktionen normalen Verhaltens in der Gesellschaft beizubringen, ist der Stoff von Mythen und Erzählungen. Dennoch ist es eine traurige Tatsache, dass dergleichen selten gut ausgeht. Wenn ein isoliertes, gefangenes oder ungezähmtes Kind in der sogenannten kritischen Phase, wie sie von Lenneberg beschrieben und vom Großteil der Neurologen geteilt wird, nicht gelernt hat zu sprechen, wird es das nie lernen. Selbst nach ihrer Rettung schaffen es die meisten dieser Kinder nicht, sich erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren, und müssen ihr Leben lang betreut werden.

Sollte die Feldforschungsarbeit von Dr.Klein von Erfolg gekrönt werden, würde das nicht nur ein glückliches Ende für das «Vogelkind der Normandie» bedeuten. Ebenso würde es in signifikantem Maß unser Wissen darüber erweitern, wie das menschliche Gehirn sich Sprache aneignet. Für eine Weile jedenfalls hätten wir es mit einem der wesentlichsten Experimente in der Kognitionswissenschaft zu tun.

ACHT

Deptford, im Südosten von London, 22.September 2003

Nachdem Frank an der Seite von Kate aufgewacht war, sah er ihr eine Weile beim Schlafen zu. Er wünschte, er könnte diesen Moment festhalten. Er betrachtete den Schatten der vertrockneten Geranie, den die Sonne durch die schmutzigen Fensterscheiben auf Kates Wange malte. Bei dem Gedanken, sie würde die Augen aufschlagen, wurde ihm ganz flau; denn dann käme der unausweichliche Moment, in dem sie erkennen würde, wo sie war. Und dann würde sie verlegen Ausreden erfinden, um gleich darauf zu verschwinden, ihm noch erklären, so etwas tue sie sonst nie und überhaupt sei sie mit jemandem zusammen, gefolgt von der hastigen Lüge, dass sie sich wieder melden würde. Das war zumindest der Mist, den er selbst gewöhnlich von sich gab, woraufhin er sich fragte, wann er sich das letzte Mal überhaupt etwas aus einem Mädchen gemacht hatte.

Mit lautem Krächzen schwirrte vor dem Fenster eine Krähe vorbei. Schlagartig wachte Kate auf und begegnete seinem Blick. Nach ein, zwei Sekunden lächelte sie, nahm Franks Gesicht in die Hände, zog es zu sich und küsste ihn. Frank fiel ein Stein vom Herzen.

«Kann ich dich was fragen?», begann er später, als sie einander in den zerwühlten Laken in die Augen sahen. «Woher kommst du? Du bist nicht aus London, oder? Bist du Amerikanerin? Was hast du…»

Um ihn zum Schweigen zu bringen, berührte sie seine Lippen. «Später», sagte sie. «Eines Tages.» Und dann fügte sie hinzu: «Ich muss los.»

«Wann kann ich dich wiedersehen?»

«Bald.»

«Morgen?»

Als Frank den zwanzigminütigen Fußweg zur Wohnung seiner Mutter einschlug, war es fünf Uhr nachmittags. Es war einer jener Tage Ende September, an denen der Herbst die ersten Fühler ausstreckt und kühle Luft die letzte Wärme der wässrigen Sonne durchzieht. Der Himmel war blass, voll feuchter Schwere und wie mit Nikotinflecken betupft. Irgendwo kreischten Kinder so überdreht, als wüssten sie, dass das Wochenende zu Ende ging. Vereinzelt kamen Autos näher und brummten davon. Auf den Fensterbänken saßen Katzen und blinzelten ihm zu. Und Frank kam es vor, als sänge sein Körper. Als wäre jeder Geruch, jeder Anblick und jedes Geräusch neu und besser, sogar von höchster Qualität. Noch nie hatte er sich dermaßen präsent und aufgehoben gefühlt, noch nie so selbstbewusst und seines Platzes in der Welt gewiss. Und all das war wegen ihr.