Sie beobachtet dich - Camilla Way - E-Book
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Camilla Way

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Beschreibung

Da war es wieder! Dieses Gesicht in der Menge, das Edie jedes Mal erschrocken und zitternd zurückließ. Sie blickte genauer zu der Frau, doch es war nicht Heather. War es nie. Und trotzdem fuhr ihr der Schreck in alle Glieder. Zurück in ihrer Londoner Wohnung dachte Edie wieder mal an die Zeit, als sie noch jung und voller Träume war. Bis zu dem Tag, als alles sich änderte und dunkler wurde. Plötzlich klingelt es an der Tür. Als Edie öffnet, muss sie sich am Türrahmen festklammern. Das kann nicht sein! »Hallo, Edie«, sagt Heather lächelnd und betritt die Wohnung.

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Für Alex

Originalausgabe

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Hanna Bauer

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

TEIL EINS

Danach

Davor

Danach

Davor

Danach

Davor

Danach

TEIL ZWEI

Davor

Danach

Davor

Danach

Davor

Danach

Davor

Danach

TEIL DREI

Davor

Danach

Davor

Danach

Davor

Danach

Davor

Danach

TEIL VIER

Davor

Danach

Davor

Danach

Davor

Danach

Davor

Danach

Davor

Danach

Danach

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Es hätte keinen Sinn,

auf gestern zurückzugreifen,

denn da war ich wer anders.«

Lewis Carroll

Alice im Wunderland

TEIL EINS

Danach

Vor meinem Küchenfenster verblasst der lange Nachmittag. Ich schaue auf London, das sich unter mir ausbreitet, während ich die tropfenden Hände über das Spülbecken halte. Es klingelt an der Wohnungstür, ein langes, hohes Läuten; die kaputte Gegensprechanlage vibriert. Der Blick von hier oben ist unglaublich, fast so, als würde man fliegen. Deptford und Greenwich, New Cross und Erith, dann die Themse und jenseits davon die hoch aufragenden Fassaden des Gherkin und Shard. Aus meiner Wohnung auf dem Telegraph Hill im obersten Stockwerk des Hauses sieht man unendlich weit. Wie immer beruhigt und besänftigt mich dieser Anblick: Wie groß doch alles ist, wie klein ich dagegen selbst bin, wie weit entfernt von allem, was früher war.

Die Türklingel ertönt jetzt dringlicher – jemand drückt unablässig auf den Knopf. Es wird schon Abend.

Anfangs habe ich Heather überall gesehen. Connor natürlich auch. Ich sah sie oder ihn flüchtig aus den Augenwinkeln, und dann spürte ich diesen scharfen, eisigen Ruck. Auch nachdem ich begriffen hatte, dass es nur eine Illusion gewesen war, jemand mit ähnlichen Haaren, einem gleichartigen Gang, war ich noch lange zittrig, und mir war flau im Magen. Immer wenn das geschah, flüchtete ich an einen belebten Ort, um mich in der Menschenmenge zu verlieren. Ich ließ mich durch die Straßen Süd-Londons treiben, bis ich mir wieder sicher war, dass all das vor langer Zeit und in großer Ferne geschehen war. Unendlich weit weg in einer Kleinstadt in den West Midlands. Und die Türklingel läutet und läutet … Ich habe immer gewusst, dass es eines Tages geschehen wird.

Zusammen mit vielen anderen wohne ich in einem großen, hässlichen Haus aus dem 19. Jahrhundert mit winzigen, zugigen Wohnungen. Die meisten davon sind Genossenschaftswohnungen. Ich stelle einen Schuh in die Wohnungstür, damit sie nicht zuschlägt, und mache mich auf den Weg nach unten, zur Haustür. Auf der Treppe höre ich die Bewohner durch die weißen, mit Messingschildern versehenen Türen: das Schreien eines Babys, Lachen aus dem Fernseher, ein streitendes Paar – das Leben von Fremden.

Völlig unvorbereitet auf das, was mich hinter der breiten, schweren Eingangstür erwartet, ziehe ich sie auf. Plötzlich ist mir, als würde die Welt kippen, ich muss mich am Türrahmen festhalten, um nicht hinzufallen. Denn auf der Schwelle steht sie und sieht mich an. Nach all diesen Jahren ist sie da: Heather.

Ich habe mir diesen Moment so viele Hundert Male und so viele Jahre lang vorgestellt, habe von ihm geträumt und ihn gefürchtet, sodass er sich jetzt, in der Wirklichkeit, einerseits völlig surreal und zugleich sehr enttäuschend anfühlt. An diesem ganz normalen Nachmittag an einer ganz normalen Londoner Straße nehme ich wie aus weiter Ferne wahr, dass das Leben um mich herum weitergeht – Autos und Menschen kommen vorbei, ein Stück entfernt spielen Kinder, ein Hund bellt –, und während ich ihr ins Gesicht starre, schmecke ich das saure Aroma von Furcht auf der Zunge. Ich mache den Mund auf, bringe aber kein Wort heraus, und so stehen wir eine Weile schweigend da, zwei dreiunddreißigjährige Versionen der Mädchen, die wir einst waren.

Sie ergreift als Erste das Wort. »Hallo, Edie.«

Und dann tut sie etwas, was ich mir bisher nie vorstellen konnte: Sie tritt über die Schwelle. Mein Herz macht einen Satz, als sie mir so nahe kommt, sie breitet die Arme aus und umarmt mich. Steif und verschlossen stehe ich da, während die Erinnerungen auf mich einprasseln: das Gefühl ihrer drahtigen Haare auf meiner Wange, der merkwürdige Zwiebelgeruch, den ihre Kleider immer schon verströmten, ihre große, massige Gestalt. Mein Kopf ist leer, nur noch der Herzschlag in meiner Kehle ist zu spüren. Und jetzt geht sie hinter mir her durch den Flur – nein, nein, nein, das ist alles nur ein Traum – und die Treppe hinauf, vorbei an den Türen mit den Messingschildern und der abblätternden Farbe. Dann sind wir oben, und ich sehe, wie meine Hand die Tür zu meiner Wohnung aufschiebt, und wir betreten meine Küche – nein, nein, nein. Wir setzen uns an meinen Küchentisch, und ich blicke in das Gesicht, von dem ich hoffte, es niemals in meinem Leben wiedersehen zu müssen.

Zunächst sagt keine von uns etwas, und ich sehne mich zutiefst nach dem ruhigen Leben, das ich noch vor wenigen Augenblicken in diesen drei engen Räumen geführt habe. Der Wasserhahn tropft, die Sekunden vergehen, die bräunlichen Triebe meiner Grünlilie zittern auf dem Fensterbrett. Ich stehe auf, damit ich Heather nicht mehr ansehen muss, und halte mich an der Arbeitsplatte fest. So, mit dem Rücken zu ihr, bringe ich endlich etwas heraus. »Wie hast du mich gefunden?«, frage ich, und als sie nicht antwortet, drehe ich mich um. Sie mustert das Zimmer, blickt hinaus in den Flur und in das schmale Wohnzimmer mit dem ausgezogenen Klappbett.

»Hm?«, macht sie. »Ach …« Sie sieht mich an. »Deine Mutter. Sie wohnt noch in eurem alten Haus.«

Und ich nicke, obwohl ich das nicht mit Sicherheit wusste, weil meine Mutter und ich schon seit vielen Jahren nicht mehr miteinander reden. Im nächsten Moment bin ich dort, in dem Haus in Fremton. Wir sitzen in der Küche, das Neonlicht flackert, die Fenster sind wie Spiegel vor der schwarzen Dunkelheit draußen. Mir laufen die Tränen übers Gesicht, und ich erzähle Mum alles, was in dieser Nacht geschehen ist, bis ins kleinste Detail, so als würden, wenn ich ihr davon berichte, die Schreie in meinem Kopf aufhören, als könnte die Schilderung die Erinnerungsbilder in mir zum Verschwinden bringen. Ich erzähle von Heather und Connor und davon, was sie getan haben, aber es ist, als würde ich einen Horrorfilm nacherzählen. Ich lausche meinen eigenen Worten und kann kaum glauben, dass alles, was ich erzähle, tatsächlich wahr ist. Ich höre nicht auf zu reden, bis ich ihr auch noch die kleinste Kleinigkeit beschrieben habe, und als ich geendet habe, strecke ich die Arme nach ihr aus. Aber der Körper meiner Mutter ist stocksteif, ihr Gesicht grau vor Entsetzen. Sie weicht vor mir zurück, und ich hoffe, dass mich niemals mehr in meinem Leben jemand so ansieht wie sie in diesem Moment.

Als sie endlich etwas sagt, spuckt sie die Worte aus wie Steine. »Geh ins Bett, Edith«, sagt sie, »und sprich mit mir nie wieder darüber. Hörst du? Ich will davon nie mehr etwas hören.« Dann dreht sie sich um, starrt aus dem Fenster, und ich sehe ihr verkrampftes, schreckliches Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelt. Am nächsten Morgen stehe ich vor Sonnenaufgang auf, nehme etwas Geld aus ihrem Portemonnaie und steige in den Zug zu meinem Onkel Geoff in Erith. Ich kehre nie mehr zurück.

Dass Heather meine Adresse von meiner Mutter hat, verblüfft mich. Mein Onkel hat nie erfahren, was der Auslöser für den Bruch zwischen uns war. Er hoffte immer, wir würden uns eines Tages wieder versöhnen. Daher überrascht es mich nicht, dass er meiner Mutter verraten hat, wo ich wohne. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie die Adresse tatsächlich notiert und aufbewahrt hat.

Plötzlich überfällt mich eine tiefe Erschöpfung. Dennoch zwinge ich mich zu fragen: »Was willst du, Heather? Warum bist du hier?« In meinem tiefsten Inneren wusste ich immer, dass dieser Moment kommen würde. Hatte ich nicht Nacht für Nacht davon geträumt und war in den frühen Morgenstunden voller ängstlicher Erwartung aufgewacht?

Zunächst antwortet sie nicht. Auf dem Tisch vor ihr liegt ihre Handtasche, ein aus schwarzer Wolle gestricktes Ding mit einem abgestoßenen Plastikknopf. Fussel, Krümel und eine Menge beigefarbene Härchen hängen daran – vielleicht Katzenhaare. Ihre kleinen, dunkelbraunen Augen sehen mich durch die lichten, hellen Wimpern an; sie trägt kein Make-up, abgesehen von einem verschmierten hellrosa Lippenstift, der überhaupt nicht zu ihr passt. In die Stille hinein tönt eine Frauenstimme von der Straße herauf: »Terry … Terry … Teeerrryyy …« Wir lauschen, wie sie leiser wird und verhallt, und genau jetzt senkt sich die Dunkelheit auf London herab, dieser melancholische Moment, kurz bevor die Lichter der Stadt plötzlich hell erstrahlen. Ich vernehme ein leises Beben in Heathers Stimme, als sie sagt: »Nichts. Ich will nichts. Ich wollte dich nur wiedersehen.«

Mit Mühe versuche ich das zu verstehen, verwirrt tastet mein Geist nach verschiedenen Erklärungen. Aber da ergreift sie erneut das Wort und sagt mit so viel Einsamkeit in der Stimme, dass ich sie fühlen kann wie eine offene, schmerzlich vertraute Wunde: »Du warst meine beste Freundin.«

»Ja«, flüstere ich und wende mich ab. Und weil mir nichts Besseres einfällt, stehe ich auf, setze Wasser auf und mache Tee, während Heather weiterredet, als wäre das ein völlig normaler Besuch – zwei alte Freundinnen, die sich nach langer Zeit wiedersehen. Dass sie, kurz nachdem ich fortgegangen bin, auch umgezogen sei. Dass sie jetzt in Birmingham wohne und einen Teilzeitjob in einem Zeitungsladen habe.

Während sie spricht, mustere ich sie insgeheim. Wie gewöhnlich sie aussieht. Ein bisschen pummelig, dicke Hände, die sie vor sich auf dem Tisch gefaltet hat, der weiche walisische Akzent, die schulterlangen Haare, das unablässige Lächeln. »Lebst du noch immer bei deinen Eltern?«, frage ich, um überhaupt etwas zu sagen, um ihr Spiel mitzuspielen, wenn es denn eines ist. Und sie nickt. Ja, denke ich bei mir, es ist immer noch schwer, sich vorzustellen, wie sie ohne die beiden zurechtkommt. Heather war nicht dumm, nicht zurückgeblieben oder so – tatsächlich war sie sogar ziemlich gut in der Schule. Aber trotz ihrer Bildung hat ihr immer etwas gefehlt, etwas, das sich nur schwer beschreiben lässt. Sie hatte eine Naivität, die sie verletzlich machte, sie leicht vom Weg abbrachte. Ich setze mich auf den Stuhl neben ihr. »Heather«, sage ich erneut, ehe mich der Mut verlässt, »Heather, was willst du von mir?«

Anstelle einer Antwort streckt sie die Hand aus und nimmt eine Strähne meiner Haare zwischen die Finger. »Noch immer so hübsch, Edie«, sagt sie träumerisch. »Du hast dich überhaupt nicht verändert.« Und ich kann mich nicht zurückhalten: Ich zucke überdeutlich zusammen. Vor Anspannung muss ich aufspringen und das Teegeschirr klirrend ins Spülbecken stellen, während sich ihr Blick in meinen Rücken bohrt.

»Darf ich mir deine Wohnung ansehen?«, fragt sie, und als ich nicke, stellt sie sich in die Tür meines winzigen Wohnzimmers. Ich folge ihr, und gemeinsam schauen wir auf das enge, staubige Durcheinander, das Klappbett, die Kleiderstange, den schäbigen, alten Fernseher. »Wie schön«, bemerkt sie mit heiserer Stimme, »du hast so ein Glück«, und ich verspüre den Wunsch, laut aufzulachen. Hätte man mich mit sechzehn gefragt, was für ein Mensch ich werden will, was für ein Leben ich führen werde – so hätte ich es mir nie vorgestellt.

Als ich darüber nachdenke, dass sie, um zu mir zu kommen, den ganzen Weg allein nach London gefahren sein und dann die ganze Stadt durchquert haben muss, bin ich sowohl beeindruckt als auch entsetzt. Plötzlich dämmert mir, dass sie vielleicht damit rechnet, hier übernachten zu können, und diese Vorstellung ist so schrecklich, dass ich hervorstoße: »Heather, es tut mir wirklich leid, aber ich muss eigentlich weg, ich muss bald gehen … Es war wirklich sehr nett, dich mal wiederzusehen, aber ich kann auf keinen Fall …«

Sie sieht sehr geknickt aus. »Oh!« Sehnsüchtig blickt sie sich im Zimmer um, die Enttäuschung ist ihr ins Gesicht geschrieben. »Kann ich denn nicht hierbleiben, bis du wiederkommst?«

Sie wirft einen hoffnungsvollen Blick auf mein Sofa, und ich versuche mit aller Kraft, die Panik aus meiner Stimme herauszuhalten, als ich lüge: »Weißt du, ich fahre ein paar Tage weg, mit Freunden.« Vorsichtig führe ich sie zurück in die Küche. »Tut mir leid.« Zögernd nickt sie und folgt mir dorthin, wo sie ihre Sachen abgestellt hat. Schließlich ist sie gerade erst eine Viertelstunde hier. Während sie ihren Mantel anzieht, stehe ich neben ihr und sage nichts.

»Gibst du mir deine Telefonnummer?«, fragt sie. »Ich könnte dich anrufen, und beim nächsten Mal verbringen wir den Tag oder sogar das Wochenende miteinander.« Ihr Blick ist so flehend, dass ich unwillkürlich nicke; eifrig wühlt sie in ihrer Handtasche. Mit fest verschränkten Armen sehe ich ihr zu, wie sie meinen Namen langsam in ihr Mobiltelefon eintippt.

Erwartungsvoll hebt sie den Kopf, und meine Körperhaltung oder die Position, in der ich vor ihr stehe, verrät mich. Sie reißt den Mund auf. »Du bist schwanger!«, sagt sie.

Ganz kurz erhasche ich in ihren haselnussbraunen Augen einen Ausdruck, der mich erschauern lässt, ohne dass ich weiß, warum. Schnell lege ich schützend die Hand auf meinen Bauch, und Heris Gesicht huscht mir durch den Kopf, ist verschwunden, ehe es richtig zu sehen ist.

»Na dann«, sagt sie nach kurzem Schweigen, »herzlichen Glückwunsch. Wie schön.« Sie hält den Blick immer noch auf mich gerichtet, ihre Augen zucken, und ich ahne, dass sie gleich weitere Fragen stellen wird. Ich rattere meine Telefonnummer herunter und warte, während sie unerträglich langsam tippt. Schließlich öffne ich die Tür, verabschiede mich so freundlich, wie ich nur kann, und endlich macht sie Anstalten zu gehen. Doch plötzlich hält sie inne, schweigt einen Moment und sagt dann sehr leise: »Erinnerst du dich noch an den Steinbruch, Edie? Zu dem wir immer hinaufgegangen sind, alle miteinander?«

Ich fühle mich auf einmal benommen, eine Woge von Übelkeit überrollt mich, und mit einer Stimme, die kaum mehr ist als ein Flüstern, sage ich: »Ja.«

Sie nickt. »Ich mich auch. Ich denke die ganze Zeit daran.« Und dann geht sie. Ihre praktischen Schnürschuhe machen Geräusche im Treppenhaus, während sie immer weiter hinabsteigt. Schwach vor Erleichterung lehne ich an der Wand, bis sich weit unter mir die schwere Eingangstür schließt, die sie hinter sich ins Schloss fallen lässt wie eine Gefängniswärterin.

Davor

Es ist der letzte Schultag vor den Abschlussprüfungen, und wohin man auch sieht, schreiben Mädchen einander mit Filzstift etwas aufs T-Shirt. Sie trinken aus Coladosen, in denen sich, glaube ich, etwas anderes befindet, und werfen Mehlbomben aus den oberen Fenstern des Schulgebäudes. Ich sitze auf der Bank unter dem Bibliotheksfenster und sehe zu. Später werden sie alle auf den Sportplatz gehen, um sich zu betrinken – in den Toiletten habe ich sie darüber reden hören. Mich haben sie nicht eingeladen, aber das macht mir nichts aus, weil Mum sich sowieso immer Sorgen macht, wenn ich spät heimkomme. Am Trinkwasserbrunnen bemerke ich Nicola Gates, aber als ich ihr zuwinke, dreht sie sich um.

In diesem Moment sehe ich Edie zum ersten Mal, sie geht über den Vorhof zum Haupteingang. Ihr Gesicht taucht inmitten der vielen anderen immer wieder auf und verschwindet dann wieder, doch auf einmal bleibt sie stehen. Ihr Blick wandert an dem Gebäude empor, dann dreht sie sich um und sieht schließlich mich an. Ich halte die Luft an. Ich glaube nicht, dass ich schon einmal ein so hübsches Mädchen gesehen habe.

Und dann steht sie auf einmal vor mir. Erst bin ich zu abgelenkt, um zu verstehen, was sie sagt. Ich studiere sie in allen Einzelheiten: der Geruch der Lederjacke, die sie über dem Arm trägt, gemischt mit einem sanften Apfelduft, ihre großen, braunen Augen mit den dicken, schwarzen Lidstrichen, ihr helllila Nagellack. In der Vertiefung unterhalb ihrer Kehle hängt ein kleiner goldener Anhänger mit einem winzigen, grünen Edelstein in der Mitte. Würde man den Finger darunterschieben, könnte man das regelmäßige Pulsieren ihres Herzens spüren.

»Entschuldigung«, sage ich, »was?«

Sie lächelt. »Das Sekretariat. Wo ist das?« Ihre Stimme ist klar und selbstsicher, mit einem nordenglischen Akzent – vielleicht Manchester.

Von allen, die sie hätte fragen können, hat sie sich ausgerechnet mich ausgesucht. Ich stehe auf. »Ich muss auch gerade in diese Richtung«, sage ich, obwohl das nicht stimmt, »ich bringe dich hin, wenn du magst.«

Sie nickt und zuckt die Achseln. »Ja, okay, einverstanden.«

Im Gehen sehe ich Sheridan Alsop und Amy Carter am Brunnen stehen. Sie unterbrechen ihr Gespräch und mustern uns, als wir vorbeikommen. Ich spüre den verrückten Impuls, mich bei ihr, dieser Fremden, die neben mir geht, einzuhängen, und stelle mir vor, wie wir so dahinschlendern würden, Arm in Arm wie beste Freundinnen. Da wären Amy und Sheridan so richtig verblüfft. Natürlich mache ich es nicht. Ich habe schon begriffen, dass die Leute so etwas nicht mögen.

»Ich heiße Heather«, sage ich stattdessen zu ihr.

»Ich bin Edie. Na ja, eigentlich Edith. Aber wie langweilig ist das denn?« Sie blickt um sich, schüttelt den Kopf. »So eine Scheißschule.«

»Ja, ich weiß! Total langweilig. Bist du neu hier?«

Sie nickt. »Ich soll an dieser Schule meinen Abschluss machen. Im September fange ich an.«

»Ich mache auch die Prüfungskurse zu den A-Levels! Was für Fächer hast du? Ich habe Biologie, Mathe und Chemie belegt. Ich wollte auch noch eine Sprache lernen, aber meine Eltern fanden das überflüssig, weil ich so etwas für Medizin an der Uni nicht brauche. Besser, ich konzentriere mich auf die drei Fächer. Ich hab ja auch noch meine ehrenamtliche Arbeit und so. Irgendwann werde ich Ärztin, und dann …« Ich unterbreche mich, mache den Mund fest zu. Mum findet, ich rede zu viel. Ich beiße mir auf die Lippe und warte, dass Edie mich so ansieht wie die anderen Mädchen immer.

Aber das tut sie nicht, sie lächelt nur. Das lange, braune Haar fällt ihr ins Gesicht, und sie schiebt es hinters Ohr. »Ich mache Kunst«, erzählt sie. »Und Fotografie. Ich will später Kunst an einem Art College in London studieren. Vielleicht am Saint Martins«, fügt sie mit fröhlicher Selbstsicherheit hinzu. Und sie erklärt, dass sie vor Kurzem mit ihrer Mutter aus Manchester nach Fremton gezogen sei. Ihr Tonfall wirkt gelangweilt, und ihr Blick gibt einem das Gefühl, als sei für sie alles ein Witz. Dabei sieht sie mich so an, als müsste ich genau wissen, was eigentlich so komisch ist. Das gefällt mir. Ich könnte sie stundenlang ansehen.

Wir sind schon am Sekretariat, obwohl ich den längeren Weg um das Gebäude genommen habe. »Da ist es«, sage ich und will schon hinzufügen, dass ich draußen auf sie warte, dass ich ihr später noch die Schule zeige, aber sie entfernt sich bereits. »Okay. Danke!«, sagt sie. »Wir sehen uns.«

Die Tür schließt sich hinter ihr. Edie. Iiidiie. Auf dem Heimweg drehe und wende ich den Namen in Gedanken, ich probiere ihn an und verräume ihn dann sicher, als wäre er ein wertvoller Anhänger an einem Goldkettchen.

»Heather … Heather … HEATHER!« Ich fahre hoch und sehe mich benommen in meinem Zimmer um. Wie lange sitze ich schon so da? »Heather!« Meine Mutter ruft aus der Küche nach mir, die Gereiztheit in ihrer Stimme steigt, und ich springe auf. Dann sehe ich mich nach Anhaltspunkten um. Ich trage noch meine Schuluniform, meine Büchertasche liegt auf dem Schreibtisch. Es ist hell draußen, aber das Licht wirkt bereits abendlich. Allmählich erinnere ich mich wieder. Heute war der letzte Schultag des Trimesters, ehe die Prüfungszeit beginnt. Ich bin aus der Schule nach Hause gekommen und in mein Zimmer hinaufgegangen, um mit dem Lernen anzufangen. Und dann … Es muss einfach so passiert sein, wie schon öfter, ich weiß nicht, warum. Es ist fast so, als würde ich schlafen, obwohl ich hellwach bin. Normalerweise geschieht es, wenn ich genervt oder wütend bin, so wie damals bei Daniel Jones, dem Jungen, der mich während der gesamten Grundschulzeit gequält hat. Erst als ich das Blut sah, begriff ich, dass ich ihn geschlagen hatte. Ein wirres Durcheinander von Stimmen früherer und jetziger Mitschüler sammelt sich in mir, bis sie zu einem einzigen spöttischen Zischen zusammenfließen. Was ist bloß los mit dir? Warum starrst du so? Idiotin. Du verdammte Irre! Ich schüttle den Kopf, um die Stimmen zu vertreiben.

Mein Vater sammelt Uhren, wir haben Hunderte davon im Haus, und alle ticken gleichzeitig. Es hört sich an, als würde die Luft mit den Zähnen klappern. Ich lausche, und tatsächlich, ein paar Sekunden später kommt es: das klingelnde Klimpern der Dings und Dongs, wenn sie alle gleichzeitig die Stunde schlagen. Ich zähle bis sieben. Abendessenszeit. Meine Mutter ist nie zu spät. Die Vorstellung, wie sie in der Küche darauf wartet, mit dem Essen anzufangen, bringt mich in Bewegung. »Komme!«, rufe ich. »Ich komme schon!«

Im Erdgeschoss sitzt mein Vater am Küchentisch und liest laut einen Zeitungsartikel über Geotechnik vor. Mum hört gar nicht zu, sie ist damit beschäftigt, von der Arbeitsfläche aus Teller mit Essen vor uns auf den Tisch zu stellen. Ich versuche, ihre Stimmung einzuschätzen, aber sie platziert den letzten Teller, setzt sich, ohne mich anzusehen, und beginnt zu beten.

Manchmal erinnert meine Mutter mich an den See, an dem wir zu Hause in Wales öfter beim Campen waren. Wenn ich an heißen Sommertagen hineinwatete, stieß ich gelegentlich plötzlich auf eine eiskalte Senke, und einen Schritt weiter wurde das Wasser gleich wieder flacher und wärmer. Dort blieb ich dann so lange wie möglich, ehe mich die Berührung einer schleimigen Wasserpflanze oder der Gedanke an Aale oder tote Fische in Panik versetzte und weitertrieb. Bei Mum weiß man auch nie, wo die kalten Stellen sind, oder was einen als Nächstes erwartet.

»Heather!« Meine Mutter unterbricht plötzlich ihr Gebet, und ich merke zu spät, dass ich geistesabwesend von meinem Tomatensalat gegessen habe.

»Entschuldigung«, sage ich und spüre, wie ich rot werde.

Manchmal hilft es mir beim Einschlafen, so zu tun, als wäre alles noch so wie früher, als wäre ich wieder sechs und Lydia drei, und mit uns wäre alles in Ordnung. Ich stelle mir Lydias Hand in meiner vor, wie wir zusammen in den Garten unseres alten Hauses rennen, und höre sie lachen, ehe mich der Schlaf übermannt.

Wie um mich aus meinen Gedanken zu reißen, taucht vor meinem inneren Auge das Gesicht des Mädchens auf, das ich heute Nachmittag kennengelernt habe, und es ist, als ob ein Licht in meinem Herzen erstrahlen würde. Edie.

Fremton ist eine entsetzliche Stadt. Das sollte ich nicht sagen, aber es stimmt. Ich war zehn, als wir aus Wales hergezogen sind – ein Neuanfang, sagte meine Mutter. Nach dem, was passiert war, sahen mich Leute, die ich schon mein ganzes Leben lang kannte, plötzlich völlig anders an, wenn ich an ihnen vorbeiging, oder sie stürzten sich wie gierige Krähen auf meine Eltern, krächzten mitleidig und pickten nach Erklärungen.

Mit der Zeit hörten meine Eltern mit allem auf, was sie zuvor in ihrer Freizeit getan hatten. Mum ging nicht mehr zu den Chorproben und nicht mehr in den Lesekreis, beteiligte sich nicht mehr an der Organisation von Schulfesten. Außer zum sonntäglichen Kirchgang verließ sie das Haus fast überhaupt nicht mehr. Dad unterrichtete zwar noch an der Jungenschule auf der anderen Talseite, aber zu Hause zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, schraubte an seinen Uhren und las Bücher. Vermutlich wirkte das auf Außenstehende so, als würden wir die Welt aussperren, um Trost innerhalb der Familie zu finden, aber so war es nicht. Meine Eltern waren gespalten wie ein vom Blitz getroffener Baum, und ich fühlte mich wie ein einsames Eichhörnchen, das zwischen den beiden Hälften hin und her springt. Dad sah mich danach nie wieder so an wie zuvor, und das galt auch für Mum, aber bei ihr war es anders. Tief im Herzen wusste ich, dass sie sich wünschte, an diesem Tag wäre Lydia sicher und gesund nach Hause gekommen, und nicht ich.

Als sie mir dann eines Abends nach dem Essen erzählten, Dad habe in einer Stadt in England, etwa hundertsechzig Meilen weit entfernt, eine bessere Stelle angeboten bekommen, und wir könnten uns ein größeres Haus leisten, wusste ich sofort, was der wahre Grund für den Umzug war: Wir würden an einen Ort gehen, wo uns niemand kannte, wo niemand wusste, was geschehen war und was das bedeutete. Und einen Monat später waren wir hier. Aber eigentlich änderte sich nicht viel. Meine Mutter hat eine Kirche gefunden, in die sie regelmäßig geht, aber abgesehen davon verlässt sie das Haus immer noch kaum. Inzwischen konzentriert sie sich auf mich. Meine Schularbeiten, mein Gewicht, meine Klavierübungen, meine Zukunft. Ich glaube, sie versucht, mich besser zu machen.

Wenn die Prüfungen am Ende des Schuljahrs vorbei sind, muss ich sieben leere Wochen herumbringen. Wenn ich nicht Mum im Haus helfe oder ehrenamtliche Arbeit mache, bleibt mir nicht viel anderes, als spazieren zu gehen. Fremton liegt unmittelbar an der Autobahn, die man von jedem Punkt in der Stadt hören kann – ein nie endender Strom von Autos, die irgendwohin unterwegs sind, an einen anderen Ort. Die Stadt wirkt wie eine große Autobahnraststätte, eine Durchgangsstation, nicht dafür gedacht, um darin zu leben. Mitten hindurch fließt ein Kanal, aber dort geht fast niemand hin. Die Läden im Zentrum sind meistens leer, seit der Superstore an der Wrexham Road aufgemacht hat. In der Mitte des Marktplatzes steht die große Statue eines Bergmanns, der einen Sack Kohlen auf dem Rücken trägt, jemand hat ihm mit oranger Sprühfarbe einen Penis auf den Kopf gemalt. Ansonsten gibt es lediglich endlose Straßen mit Gemeindebauten, bis man zum Pembroke Estate kommt, drei turmartigen Hochhäusern, die wie Wachposten so unmittelbar an die Autobahn gebaut sind, als sollten sie die Vorbeifahrenden davon abhalten, hier haltzumachen.

Bei meinen Spaziergängen halte ich Ausschau nach Edie, betrachte die Gesichter, an denen ich vorüberkomme, und hoffe, dass ihres irgendwann dabei sein wird. Ich denke an ihr Lächeln und ihre braunen Augen und wie nett sie zu mir war. Ich frage mich, was sie wohl gerade macht und wo sie wohnt, und ob sie sich genauso langweilt oder einsam ist wie ich. Und dann entdecke ich sie tatsächlich, als ich gerade über den Marktplatz nach Hause gehe. In einiger Entfernung sitzt sie auf einer Bank neben der Statue und raucht eine Zigarette. Im Eingangsbereich eines Ladens bleibe ich stehen, um sie zu beobachten. Sie trägt einen kurzen Jeansrock, ihre ausgestreckten Beine sind lang und gebräunt, um den Knöchel trägt sie ein Silberkettchen. Das Haar hängt ihr offen über die Schultern, und sie zieht an ihrer Zigarette, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Sie ist wunderschön. Ich finde, sie sieht aus, als würde sie vor der grauen Kulisse dieser Stadt erstrahlen, als wäre sie voller Licht. Ich zögere kurz, dann hebe ich unentschlossen die Hand, um ihr zu winken. Gerade will ich ihren Namen rufen, als jemand ganz nahe an mir vorbeigeht und vor mir bei ihr ist. Meine Hand sinkt herab, und ihr Name verklingt ungehört auf meinen Lippen.

Ich kann den Jemand, diese Person, die zwischen uns getreten ist, nicht genau erkennen. Ich weiß nur, dass er eine unmittelbare Wirkung auf sie ausübt. Ihr Gesicht und der Hals laufen rot an, ihre Augen weiten sich und strahlen. Sie hört ihm zu, lacht und blickt beiseite, aber nur einen Moment lang, als ob ihre Augen magisch von ihm angezogen würden. Dann setzt er sich neben sie, so nahe, dass sich ihre Arme berühren. Er sagt etwas, und sie schüttelt den Kopf, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, und ich weiß nicht, was das ist, diese seltsame Hitze in dem knisternden, atemlosen Raum zwischen ihnen, ich weiß nur, dass dort kein Platz für mich ist.

So schnell, wie es anfing, so schnell ist es auch vorbei. Er beugt sich zu ihr und flüstert ihr noch etwas ins Ohr, das ihre Wangen zum Glühen bringt. Dann steht er auf und geht davon. Jetzt kann ich ihn genauer betrachten. Er trägt eine Trainingshose und einen Hoodie. Ich schätze ihn auf um die zwanzig; er sieht sehr gut aus, obwohl mir sein grob geschnittenes Gesicht gar nicht gefällt und auch sein Lächeln nicht – er weiß genau, dass sie ihm nachschaut. Im Schatten des Ladeneingangs warte ich noch ein paar Sekunden, ehe ich durchatme und zu ihr gehe.

Als ich vor ihr stehe und ihren Namen sage, sieht sie mich so seltsam an, als wüsste sie kaum, wo sie ist. Mühsam löst sie den Blick von der verschwindenden Gestalt und blinzelt. »Edie?«, wiederhole ich, doch erst nach einer Weile scheint sie mich zu erkennen. Sie lächelt und sagt: »Hey du! Heather, stimmt’s?«, und mein Herz macht einen erleichterten Satz.

Danach

Heute zieht eine neue Familie in eine der Erdgeschosswohnungen. Ich stehe am Fenster und schaue zu. Zwei Jungs im Teenageralter laden Möbel aus einem Lieferwagen, während eine kleine, tätowierte Frau mit hellbraunen Haaren vom Bordstein aus lautstark Anweisungen erteilt. Sie hebt den Arm, um auf etwas zu deuten. Ihr Oberteil verrutscht dabei, sodass ihr Rücken zu sehen ist. Quer über die gesamte Breite verläuft eine lange rote Narbe. Ich denke darüber nach, wie sie sich diese schreckliche Wunde zugezogen haben könnte. Die beiden grimmig dreinblickenden Jungs, die ihre Mutter weit überragen, schlappen fast eine Stunde lang hin und her, zwischen den Kartons, einem Sofa, einem Kühlschrank, und die ganze Zeit werden sie dabei vom Vordersitz des Wagens von einem muskulösen schwarzen Fellbündel beobachtet, das bellt und bellt.

Unwillkürlich lege ich meine Hand auf die sanfte Wölbung meines Bauches. Zu keinem Zeitpunkt habe ich bewusst entschieden, das Baby zu behalten; ich habe die Prozedur, die notwendig gewesen wäre, um es loszuwerden, nur nicht vollständig durchgezogen. Zwar habe ich es geschafft, einen Termin zu vereinbaren und mich in einer Klinik anzumelden, aber als der Moment da war, mir den Mantel anzuziehen und zur Bushaltestelle zu laufen, tat ich es einfach nicht. Mein Mantel blieb, wo er war, ich blieb, wo ich war, die Sekunden und Minuten verrannen, und ich rührte das Telefon, mit dem ich anrufen und den Termin hätte verschieben können, nicht an. Den Wunsch, Mutter zu werden, hatte ich nie verspürt – Mutterschaft war etwas für andere Frauen, nicht für mich –, aber ein eigensinniger, nicht fassbarer Teil von mir hielt an dem Leben fest, das in mir wuchs, und so blieb es ebenso eigensinnig in mir bestehen.

Die Jungs tragen die letzte Kiste aus dem Lieferwagen ins Haus, die Frau und der Hund folgen ihnen. Schon nach wenigen Minuten höre ich Lärm aus dem Erdgeschoss, Hammerschläge tönen durchs Treppenhaus, und ich bleibe noch eine Weile am Fenster stehen und sehe hinaus auf den vorbeiflutenden Nachmittagsverkehr, bis das Hämmern aufhört und eine Bohrmaschine übernimmt.

Heri, der Vater meines Kindes, war Koch in dem Restaurant, wo ich als Kellnerin arbeite. Wie ich machte er mehr und längere Schichten als alle anderen, und wir beide sperrten oft als Letzte ab. Manchmal tranken wir nach einem langen Abend noch ein Bier miteinander. Dann erzählte er mir von seiner Heimat Tunesien, von Lagunen, Wüsten und dem Scirocco-Wind. Ich mochte ihn; mir gefiel, dass er seine Nase nicht in meine Angelegenheiten steckte und nie Fragen stellte, die ich nicht beantworten wollte. Er schien genau wie ich ein unabhängiger Mensch und mit dem Alleinsein zufrieden zu sein.

Dass wir eine Nacht zusammen verbrachten, kam nicht unerwartet, wiederholte sich aber nie. Die gegenseitige Anziehung, die immer schon da gewesen war, flackerte eines Abends auf, und wir gaben ihr einfach nach. Aus dem Fenster seines Untermietzimmers konnte man auf das vom Flutlicht erleuchtete Spielfeld des Charlton Athletic Football Club blicken. »Siehst du«, sagte er stolz, als wir dort standen und hinuntersahen, »die besten Plätze kosten nichts!« Traurig schüttelte er den Kopf und fügte hinzu: »Ihr Engländer könnt wirklich nicht Fußball spielen.« Wir tranken Bier und unterhielten uns über unser Südlondoner Stadtviertel. Auf dem Fensterbrett lag scheinbar alles, was er besaß: ein Buch, eine Blechdose, Schreibpapier und ein paar Stifte, das Foto einer Frau mit einem kleinen Jungen. Seine Kleider waren sorgfältig gefaltet auf einem Stuhl gestapelt, sein Bett war eine Matratze, die an der Wand lehnte.

»Du bist schon seltsam«, sagte er, und seine großen, fast schwarzen Augen musterten mich im Zwielicht. »Bist schön, arbeitest so hart und bist so still.«

Ich hielt den Blick auf das angestrahlte Fußballfeld gerichtet.

»Nie erzählst du etwas von dir«, fuhr er fort. »Warum bist du nicht verheiratet, nicht …« Er zuckte die Achseln, und als ich immer noch nichts sagte, streckte er die Hand aus und schob mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Im gelben Schein des Flutlichts zogen wir uns aus, seine Haut war dunkel und warm an meinem blassen Körper, der Trost einer Nacht. Und danach ging unsere Freundschaft unverändert weiter wie zuvor. Als seine Frau und sein kleiner Sohn endlich zu ihm kommen durften, freute ich mich für ihn und wünschte ihm alles Gute. Kurz darauf kündigte er im Restaurant und übernahm eine Stelle als Gebäudereiniger. Als ich feststellte, dass ich schwanger war, kam mir niemals der Gedanke, mich bei ihm zu melden.

Und das Kind in mir wächst. Ich möchte nicht daran denken, was geschieht, wenn es auf der Welt ist; ich bin erfüllt von einer merkwürdigen inneren Ruhe: Es kommt, wie es kommt.

In den Wochen nach ihrem ersten Besuch ruft Heather mich immer wieder an, manchmal mehrmals am Tag. Ich gehe nie ans Handy. Stattdessen betrachte ich das Telefon, wie es summt und vibriert, wenn die unvertraute Nummer auf dem Schirm erscheint, und ich verspüre ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Manchmal hinterlässt sie eine Nachricht, aber ich lösche sie alle, ohne sie anzuhören. Nach sechs Wochen hören die Telefonanrufe plötzlich auf. Ich kehre wieder zur Normalität zurück, die Wogen der Unruhe, die Heathers plötzliches Auftauchen hervorgerufen hat, glätten sich, und meine Schwangerschaft erfüllt wieder all meine Gedanken. Da ist kein Platz für etwas anderes, nicht einmal für Heather.

Aber aus heiterem Himmel rauscht sie wie ein gut gezielter Pfeil erneut in mein Leben. Ein paar Tage, nachdem die Frau mit den beiden halbwüchsigen Söhnen unten eingezogen ist, entdecke ich vom Fenster aus den Briefträger und gehe hinunter, um meine Post zu holen. Ich erwarte die Terminzusage des Krankenhauses. Als ich an der Tür der neuen Bewohner vorbeikomme, höre ich, wie Riegel zurückgeschoben und Schlösser aufgesperrt werden. Die Tür öffnet sich einen Spalt, gebremst von einer schweren Metallkette. Jemand späht durch die dunkle, schmale Ritze und beobachtet mich für ein paar Sekunden, bis die Tür wieder zugeht. Erneut ertönen Schließgeräusche, und die Riegel werden wieder vorgeschoben.

Zwischen den Briefen liegt ein pinkfarbener, quadratischer. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Heathers Handschrift schon einmal gesehen habe, aber ich weiß sofort, dass er von ihr ist. Seine bloße Anwesenheit verursacht mir Gänsehaut, aber ich nehme ihn mit nach oben, trage ihn zwischen den Fingerspitzen wie etwas Totes, Ekelhaftes. Dann liegt er auf dem Küchentisch. Ich öffne ihn nicht, sondern rolle mich auf meinem Sofa zusammen, die Beine unter mich gezogen, die Arme fest um den Bauch geschlungen. Minuten verstreichen, dann springe ich auf und laufe entschlossen in die Küche, wo ich den Umschlag nehme und aufreiße. Zusammen mit einem pinkfarbenen Blatt Papier fällt ein Foto heraus und landet mit der Rückseite nach oben auf dem Boden.

Mit zitternden Händen hebe ich den Brief auf und überfliege ihn. Liebe Edie, steht da,

ich habe versucht, dich anzurufen, aber ich glaube, die Nummer stimmt nicht. Darf ich dich noch einmal besuchen? Meine Telefonnummer steht am oberen Rand, bitte, ruf mich an.

Alles Liebe von Heather Wilcox. XOXO

PS: Dieses Foto von uns habe ich gefunden! LOL! Du kannst es behalten, wenn du magst!! X

Irgendwann nehme ich zögernd das Foto und betrachte es. Es zeigt Heather und mich. Ich sitze vor ihr am See im Steinbruch und lächle in die Kamera, wobei ich eine Hand hochhalte, als wollte ich mich vor der Linse schützen. Meine Finger sind ein verschwommener rosafarbener Fleck im Vordergrund. Heather blickt zur Seite, den Hügel hinab. Ich erschrecke darüber, wie kindlich wir aussehen, unsere rundlichen, jungen, etwas naiven Gesichter. Aber eigentlich geht es bei dem Foto nicht um uns. Obwohl er derjenige ist, der fotografiert, zeigt das Bild vor allem Connor. Man erahnt ihn im Ausdruck meiner Augen und in dem Schatten, der zwischen mir und Heather auf dem Gras liegt. Connor. Die Wände meiner Wohnung scheinen sich ein Stück enger um mich zu schließen, die Luft lässt sich schwerer atmen. Plötzlich wird mir übel, ich renne zum Spülbecken und muss mich übergeben.

Ich öffne das Küchenfenster und klettere hinaus auf das flache vorstehende Dach der Wohnung meines Nachbarn unter mir. In tiefen Zügen sauge ich die frische Luft in die Lungen, bis die Übelkeit allmählich verfliegt. Ich sitze gern hier draußen, hoch über der Stadt, die sich in ihrer ganzen lärmenden, schmutzigen Glorie, ihrer beruhigenden Weite und Teilnahmslosigkeit unter mir ausbreitet. Es stimmt nicht, was man über London sagt, dass es auf den Rest des Landes herabblicke – tatsächlich ist sich London des Landes, das sich jenseits der Stadtgrenzen erstreckt, kaum bewusst. In seiner selbstgenügsamen Blase spielen Orte wie Fremton und all das, wofür sie stehen, fast keine Rolle, und das war mir immer sehr recht.

Auch wenn die Übelkeit allmählich verfliegt, sehe ich auf einmal nur noch Connors Gesicht vor mir, so wie es in dem Augenblick aussah, als er mich auf dem Marktplatz zum ersten Mal ansprach. Es fühlt sich an wie ein eiskalter Magenschwinger. Ich kann mich erinnern, dass allein sein Anblick die übrige Welt zum Verschwinden brachte, so unmittelbar und körperlich war diese Begegnung. Noch nie hatte ich einen so schönen Mann gesehen. Er bat mich um Feuer, mit dieser ruhigen, tiefen Stimme. Dann setzte er sich so selbstverständlich neben mich, als hätte er nicht den Anflug eines Zweifels daran, dass ich das wollte. Ich glaube, er fragte mich, wie ich heiße, woher ich käme. Es spielte keine Rolle, ich wusste nur, dass ich solche Augen wie die seinen, so wunderschöne grüne Augen, noch nie im Leben gesehen hatte.

Ein Schauer überläuft mich. Weit unter mir liegt der Gemeinschaftsgarten des Hauses, voll mit weggeworfenen Möbeln und Abfallsäcken. Einer der neuen Jungs aus der Erdgeschosswohnung kommt mit seinem Hund heraus, der sich neben einer Gefriertruhe niederlässt und wartet. Der große, gut gebaute Junge, der so um die siebzehn sein dürfte, raucht eine Zigarette und spielt ziellos an seinem Handy herum, ohne zu ahnen, dass ich ihm von oben zusehe. Ich sollte bald im Restaurant sein und muss den Bus erwischen, um eine weitere Sieben-Stunden-Schicht anzutreten. Ich will so viel Geld wie möglich verdienen, ehe das Baby kommt. Fest entschlossen, den Brief und das Foto in den Mülleimer zu werfen, zwinge ich mich, aufzustehen und durch mein Küchenfenster zurück in die Wohnung zu klettern. Aber als ich beides auf dem Tisch liegen sehe, erstarre ich. Ich merke kaum, wie ich auf den Stuhl sinke.

Jenseits meines Fensters verändert sich das Licht, der Nachmittag schreitet voran. Die Glocke eines Eiswagens klingelt in der warmen, stickigen Luft, der Abholverkehr vor den Schulen nimmt zu, und sanfter Regen setzt ein. Doch all das bekomme ich nur nebenbei mit. Ich bin wieder zurück in dem Steinbruch in Wrexham, in jener Nacht, nach der ich für immer fortgegangen bin. Die Erinnerungen prasseln auf mich ein: die Verwirrung, die Panik, die entsetzlichen Schreie, als alles außer Kontrolle geriet. Mitten in meiner Wohnung lösen sich die letzten siebzehn Jahre auf, werden bedeutungslos und unwirklich, im Vergleich zu dem greifbaren, unvergesslichen Grauen dieser Nacht.

Was will Heather von mir? Was könnte sie jetzt, nach all der Zeit, überhaupt von mir wollen?

In den folgenden Tagen und Wochen scheint Heather mich zu verfolgen. Ich rieche ihren säuerlichen Zwiebelgeruch überall, immer wieder ist mir, als würde ich sie aus dem Augenwinkel sehen oder ihre Stimme auf der Straße hören. Wenn das geschieht, drehe ich mich schnell um und halte mit klopfendem Herzen Ausschau nach ihr, nur um festzustellen, dass ich mich getäuscht habe.

Als mein Onkel Geoff eines Tages völlig unerwartet anruft, bin ich so erleichtert und dankbar für die Ablenkung, dass mir fast die Tränen kommen. Nun sitzt er da und erfüllt meine winzige Küche mit seinem beruhigenden Duft nach Kölnisch Wasser und Zigarrenrauch, mit seinem vertrauten breiten Manchester-Tonfall. Ich spüre seinen Blick auf mir, er mustert mich liebevoll, während ich Tee für ihn zubereite, und zum ersten Mal, seit Heather wieder aufgetaucht ist, entspanne ich mich.

»Geht es dir gut, mein Edie-Mädchen?«, fragt er.

»Ja, schon. Jedenfalls nicht schlecht.«

»Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis das Kleine kommt.«

»Nein, nicht mehr lange.«

Er nimmt die Teetasse, die ich ihm reiche, und sagt: »Das wirst du bestimmt prima hinkriegen. Du wirst eine tolle Mama, wart’s nur ab.«

Gerührt lächle ich ihn an. »Danke, Onkel Geoff.«

»Läuft alles gut mit deinem Freund?«

Ich nicke, und wir sehen einander nicht an. Er weiß genauso gut wie ich, dass es keinen Freund gibt, aber er ist zu taktvoll, um es anzusprechen. Seine bedingungslose Unterstützung habe ich immer an ihm geliebt. Ich denke daran, wie er mich bei sich aufgenommen hat, als ich mit siebzehn vor seiner Tür stand, und wie freundlich er zu mir war. Die Erinnerung daran beruhigt mich und gibt mir Kraft.

Als er ein paar Stunden später aufbricht, sehe ich ihm von meinem Fenster aus nach, wie er die Straße hinabgeht, und mein Herz zieht sich zusammen vor Liebe zu ihm. Er ist jetzt fast sechzig, und ich habe ihn immer nur als alleinstehenden Mann gekannt, obwohl meine Mutter mir erzählt hat, dass er einst verheiratet war, vor vielen Jahren, mit einer Frau, die ihn verlassen und ihm das Herz gebrochen hat. Er spricht nie über sie, aber irgendwie spürt man – in seinen Augen, in seinem Lächeln –, dass die Erinnerung an sie noch nicht verschwunden ist. In gewisser Weise bleiben die Menschen, die uns tief verletzt haben oder wir sie, ein Teil von uns, sie verlassen uns niemals ganz.

Davor

Auf dem Marktplatz fröstelt Edie und steht auf, mit dem Fuß tritt sie die Zigarette aus. »Wohin gehst du?«, fragt sie, und als ich ihr erkläre, dass ich auf dem Heimweg bin, lächelt sie und sagt: »Dann gehe ich mit dir.« Und auf einmal scheint der Mann, wer auch immer er war und was auch immer zwischen ihnen vorgefallen ist, vollkommen vergessen zu sein.

»Super«, sage ich. »Das ist fantastisch.«

Sie beugt sich nach unten, um ihre Tasche aufzuheben, und dabei rutscht ihr der Rock so weit nach oben, dass ihre Unterhose zu sehen ist. Ich schaue schnell weg. »Die Ergebnisse des GCSE kommen bald«, sage ich, als wir losgehen. Ihr nackter Arm berührt meinen, ich spüre die feinen Härchen auf meiner Haut.

»Tatsächlich? Was meinst du, wie es gelaufen ist?«

Ich zucke die Achseln. »Gut, glaube ich. Mir wurde gesagt, ich könne zehnmal mit der Bestnote rechnen, also …«

Sie dreht sich mir mit weit aufgerissenen Augen zu. »Zehnmal die beste Note?« Sie pfeift. »Wahnsinn, du bist ein kleines Genie, oder?«

Ich werfe ihr einen kurzen Blick zu, um herauszufinden, ob sie das so meint, wie es Sheridan Alsop sagen würde, so als wären meine guten Noten etwas Widerwärtiges, aber dann bemerke ich ihr bewunderndes Lächeln und verspüre ein glückliches Ziehen im Bauch.

»Mein Gott, ich wünschte, ich wäre klug«, sagt sie ein paar Augenblicke später. »Ich habe die GCSE-Prüfungen letztes Jahr gemacht. Das war der Super-GAU! Ein paar muss ich noch mal schreiben, während ich auf die höheren Abschlussprüfungen lerne.« Mir fällt wieder auf, wie angenehm ihre Stimme ist. Laut, klar und selbstbewusst redet sie schnell in ihrem Manchester-Dialekt. Sie wühlt in ihrer Tasche und zieht schließlich noch eine Zigarette hervor. Sie zündet sie an und bietet mir auch eine an. »Nein?«, fragt sie, als ich den Kopf schüttle. »Sehr weise. Ich wünschte, ich hätte gar nicht erst angefangen.« Ihr Lachen klingt schön, warm, heiser. »Siehst du? Besonders klug bin ich nicht.« Sie geht wie auf Spiralfedern, mit weit ausgreifenden langen Schritten und erhobenem Kinn. Ich trotte neben ihr her, mir ist viel zu heiß, und meine Schenkel reiben aneinander.

Zögerlich sage ich: »Ich könnte ja … Ich meine, ich könnte dir helfen, wenn du magst. Mit den GCSE-Prüfungen – deinen Kursarbeiten und so.«

Überrascht sieht sie mich an. »Echt jetzt? Das wäre sagenhaft!« Sie stößt mich mit der Schulter an. »Ernsthaft, das ist richtig nett von dir.«

Ich beiße mir auf die Lippe und bemühe mich, das breite Lächeln zu unterdrücken, das sich auf mein Gesicht legt.

Eine Weile lang gehen wir schweigend dahin, aber als wir den Marktplatz verlassen, erzählt sie mir, warum sie nach Fremton gekommen ist. »Es ist die Wohnung meiner Oma, sie ist letztes Jahr gestorben. Meine Mutter hatte einen Autounfall und kann nicht mehr arbeiten, und so sind wir hergezogen, um die Miete zu sparen, bis es ihr wieder besser geht.«

»Tut mir leid wegen deiner Mutter«, sage ich.

»Muss es nicht«, erwidert sie unbekümmert. »Sie wird schon wieder. Sie kümmert sich ohnehin nicht um mich, genauso wenig wie mein Vater – den habe ich allerdings seit Jahren nicht mehr gesehen.«

Es schockiert mich, wie beiläufig sie das sagt – ich würde über meine Eltern niemals so reden.

»Mit dir kann man sich gut unterhalten, weißt du«, sagt sie plötzlich.

»Wirklich?«

»Ja. Ist dir aufgefallen, dass die meisten Leute, wenn man mit ihnen redet, nur darauf warten, bis sie endlich selbst etwas sagen können? Du hörst tatsächlich zu. Das ist nett.« Ihr Gesicht verdüstert sich, und sie fügt hinzu: »Nicht, dass ich überhaupt mit jemandem geredet hätte, seit mich Mum von meinen sämtlichen Freunden wegverfrachtet hat – was ihr natürlich völlig egal ist.«

Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll, und wir gehen schweigend weiter, bis wir um die Ecke auf unsere Straße einbiegen und sich ihre Miene wieder aufhellt. »Wie ist das mit dir? Lebst du schon lange hier?«

Und ich berichte ihr von unserem alten Dorf in Wales, und wie wir hergezogen sind, und obwohl ich Lydia nicht erwähne und auch nicht die Tatsache, dass meine Eltern kaum noch miteinander sprechen, habe ich doch einiges zu erzählen. Erst als wir fast schon vor meinem Haus stehen, wird mir klar, dass ich ohne Punkt und Komma geredet habe. »Oh, entschuldige«, sage ich und halte mir die Hand vor den Mund. »Ich habe zu viel geplappert, stimmt’s?«

Sie zuckt die Achseln. »Na und?«

»Meine Mutter sagt immer, man soll nur dann reden, wenn man mehr zu bieten hat als die Stille.«

»Echt?« Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Deine Mutter scheint Humor zu haben.«

»Nein.« Ich bin überrascht. »Nein, das hat sie bestimmt nicht.«

Bei dieser Antwort lächelt sie, aber ich weiß nicht, warum.

»Na komm.« Sie hakt sich bei mir ein. »Das ist doch die Straße, in der du wohnst, oder?«

Ich hatte nicht erwartet, dass Edie wirklich mit zu mir nach Hause kommen würde, aber sie geht hinter mir bis zum Eingang und wartet, bis ich meinen Schlüsselbund gefunden habe. »Wow!«, sagt sie. »Hübsches Haus.« Als ich sie betrachte, sehe ich Edie auf einmal mit den Augen meiner Mutter: das Make-up und der kurze Rock, die Zigarette, die sie erst jetzt auf den Boden wirft. Natürlich taucht Mum im selben Moment auf, als ich die Tür aufschließe, bleibt mitten im Hausflur stehen und sieht an mir vorbei auf Edie.

»Mum«, sage ich nervös, »das ist …« Aber Edie spaziert an mir vorbei und lächelt meine Mutter fröhlich an. »Hey, ich bin Edie. Ich bin neu an Heathers Schule. O Mann«, fügt sie hinzu und blickt um sich, »so viele Uhren! Sie kommen ganz bestimmt nie zu spät, oder?«

»Ähm, nein«, antwortet meine Mutter mit schwacher Stimme, und ich fasse Edie am Arm.

»Komm, wir gehen in mein Zimmer«, sage ich, und wir laufen zusammen die Treppe hinauf. Lachen brodelt in meiner Brust, während meine Mutter im Flur stehen bleibt und uns nachstarrt.

Ich schließe die Zimmertür hinter mir und sehe Edie an, die neben dem Bett steht. Plötzlich werde ich schüchtern. »Dein Rock gefällt mir«, bemerke ich schließlich, »und deine Frisur.« Ich sehe an mir hinab, die Kleidung hat mir meine Mutter gekauft. »Ich würde gern so aussehen wie du.«

Ende der Leseprobe