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Die beiden Romane »Die Armut« und »Der Reichtum« erzählen die bewegte Geschichte der 20-jährigen Amy Dorrit - die wegen ihrer zierlichen Erscheinung von allen »Little Dorrit (Die kleine Dorrit)« genannt wird. Durch einen Spekulanten um das Familienvermögen gebracht, muss ihre Familie in ein Schulden-Gefängnis. Von dort aus kämpft sie, zusammen mit dem jungen Arthur Clennam, gegen die Auswüchse einer ungerechten Gesellschaft und gegen das absurde »Circumlocation Office«, das sich jedem gesellschaftlichen Fortschritt in den Weg stellt. Eine Geschichte voller Emotionen und ein Spiegelbild der damaligen englischen Gesellschaft …
nexx classics – WELTLITERATUR NEU INSPIRIERT
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Seitenzahl: 1692
Charles Dickens
Little Dorrit
ISBN/EAN: 9783958702219
1. Auflage
Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam Angepasst.
Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2020
www.nexx-verlag.de
Den Roman »Little Dorrit« hat Charles Dickens in den Jahren 1855/57, also in seiner schöpferisch fruchtbarsten Lebensperiode, geschrieben. Little Dorrit ist vielleicht die berühmteste seiner vielen großen Romangestalten, zum mindesten ist sie die rührendste und lichteste. Sie ist der Agnes im David Copperfield wesensverwandt. Aber Agnes ist mehr von außen beschrieben, ist vom Dichter als Ziel seiner Sehnsucht gesehen, ist ein Phantasiegeschöpf sehnender Liebe. Little Dorrit dagegen ist aus dem Herzblut des Dichters erwachsen; sie ist durchweg von innen her gestaltet. Sie ist nicht Außenziel, sondern sie bewegt den ganzen Roman. Unhörbar dreht sich die Erde, sagt Nietzsche. Unhörbar kreist in diesem gestaltenreichen Roman alles um Little Dorrit. Little Dorrit ist einer der stillsten, leisesten Menschen, die es geben kann. Sie macht nicht im mindesten Betrieb. Und doch treibt sie alles an, sich für oder gegen das gute Prinzip, das sie vertritt, zu entscheiden. So wandeln Engel auf Erden. – Ach, auf Erden? Sie wandeln in den irdischen Werken der Dichter. Denn in der Wirklichkeit dürften wir ein Geschöpf wie Little Dorrit vergebens suchen. Aber das ist ja grade die Gabe der Dichter, dass sie das Poetisch-Schöne auf unsere unvollkommene Erde herabzaubern; dass sie uns jene höheren Sphären ahnen lassen, nach denen wir alle ein heimliches Verlangen tragen.
Wunderbar schlicht zeichnet Dickens Little Dorrit: als das im Schuldgefängnis geborene Kind »eines durch allerlei seltsame Schicksalsverkettungen verarmten und verschuldeten Mannes, dem es nicht gelingt, sich von seinen Schulden zu befreien. Das Kind Dorrit wächst in den Gefängnismauern auf, fern von der Freiheit blühender Wiesen und sich unbekümmert bewegender Menschen. Es wächst auf in grauen, muffig riechenden Mauern der Gefängnis-Armut, zwischen grauen Gesichtern armer Schuldgefangener. Wo blüht für sie je ein bisschen Freude? Wo lacht für sie je ein Sonnenstrahl? Da geschieht dann das unbegreifliche Wunder: dieses Kind ist sich selbst Gottes reinste Freude. Es ist nur für andere da, sorgt nur für andere, arbeitet und darbt für den Vater, um sein Los zu erleichtern. Der Vater weiß nicht oder will nicht wissen, woher die guten Gaben stammen. Er nimmt sie unwidersprochen hin. Für alle sorgt Little Dorrit, für die Geschwister, die, andern Blutes als sie, sie ausnutzen, ihre Aufopferung als selbstverständlich ansehen. Für alle sorgt sie, auch für die Mühseligen und Beladenen ihrer weiteren Umwelt, wie für das alte Kind Maggy, das, mit seinem Kopf in Little Dorrits Schoß, schläft, während sie die Nacht hindurch wacht. Und all das tut Little Dorrit so selbstverständlich, als könnte es gar nicht anders sein.
Bis Arthur Clennam in ihren Kreis tritt, der freudlose Sohn eines freudlosen Elternhauses, dessen gutes Herz in einer von trostloser Strenge überschatteten Jugend verkümmerte und nun erst aufblüht, da dieser lange Roman beginnt. Wieder beschwört Dickens' Phantasie eine Fülle von Gestalten aus der Welt des Guten und Lebenstüchtigen wie des Verderbten, des Verruchten und Gemeinen. All das möge der Leser selbst nachlesen, und er möge sich daran freuen, wie des Dichters unverrückbarer Glaube an den endgültigen Sieg des Edlen und Lichten hier wiederum seine vollen Triumphe feiert.
Paul Th. Hoffmann
Vor dreißig Jahren lag Marseille eines Tages im glühenden Sonnenbrand da.
Eine hell leuchtende Sonne an einem sengend heißen Augusttag war im südlichen Frankreich damals keine größere Seltenheit als zu jeder andern Zeit, vor- und nachher. Alles in und um Marseille starrte zu der glühenden Sonne empor, die wiederum auf Marseille und seine Umgebung herabstarrte, bis zuletzt alles weit und breit ein starrendes Aussehen annahm. Die starrend weißen Häuser, starrend weißen Wände, starrend weißen Straßen, starrend weißen dürren Landwege und die starrenden Hügel, deren Grün die Sonne versengt – machten auf den Fremden den quälendsten Eindruck. Das einzige, was nicht dieses unbeweglich starre und grelle Aussehen hatte, waren die Weinranken, die unter der Last ihrer Trauben herabhingen und bisweilen ein wenig glitzerten, wenn die heiße Luft ihre schlaffen Blätter flüchtig bewegte.
Kein Wind kräuselte das trübe Wasser im Hafen oder die schöne weite See draußen. Die Grenzlinie zwischen den beiden Farben Schwarz und Blau zeigte den Punkt, den die reine See nicht überschreiten wollte. Aber sie lag so ruhig da wie der hässliche Pfuhl, mit dem sie sich nimmer vermischte. Boote ohne Zeltdach waren zu heiß, um sie zu berühren. Die Anker der Schiffe bedeckten sich mit Bläschen. Die steinernen Quader der Kais waren seit Monaten weder bei Tag noch bei Nacht kühl geworden. Hindus, Russen, Chinesen, Spanier, Portugiesen, Engländer, Franzosen, Genuesen, Neapolitaner, Venezianer, Griechen, Türken, kurz Abkömmlinge von allen Erbauern Babels, die handelshalber nach Marseille gekommen, suchten einer wie der andere den Schatten und bargen sich in irgendeinem Winkel vor einer See, die zu grell blau war, um lange ihren Anblick ertragen zu können, und vor einem glühroten Himmel, in dem ein großes, flammendes Feuerjuwel funkelte.
Der über allem verbreitete grelle Glanz tat den Augen weh. An der fernen Linie der italienischen Küste milderte sich diese Glut etwas durch leichte Nebelwölkchen, die langsam aus dem Dunst des Meeres aufstiegen. Sonst trug alles den Stempel starrer Sonnenhitze. Aus der Ferne starrten die tiefbestaubten Straßen von den Hügelabhängen, von den Hohlwegen, von der endlosen Ebene dem Wanderer entgegen. Weit in der Ferne ließen die staubigen Weingelände bei den Landhäusern am Weg und die ausgedorrten Bäume in den müden Alleen im grellen Licht von Erde' und Himmel die Blätter hängen. Gesenkten Hauptes gingen die Pferde mit ihren schläfrigen Glöckchen an den langen Reihen von Karren einher, die sie landeinwärts zogen. Auch die müd' zurückgelehnten Fuhrleute ließen die Köpfe hängen, wenn sie wachten, was selten der Fall war. Die Schnitter im Feld beugten sich gleichfalls unter der Last und Hitze. Alles, was lebte und webte, drückte die Sonnenglut zu Boden, nur nicht die Eidechse, die hurtig über die rauen, steinernen Mauern hinhuschte, und die Heuschrecke, die ihr trocken heiseres Gezirp, das wie eine Rassel klang, im Feld ertönen ließ. Der Staub selbst war von der Hitze braun gesengt, und in der Atmosphäre war ein Zittern, als ob die Luft sogar nach Luft schnappte.
Läden, Jalousien, Vorhänge, Markisen waren alle geschlossen oder herabgelassen, um das blendende und heiße Sonnenlicht abzuhalten. Wo sich eine Ritze oder ein Schlüsselloch zeigte, schoss es wie ein weißglühender Pfeil hinein. Die Kirchen waren noch am meisten davon verschont. Trat man aus dem Zwielicht von Pfeilern und Bögen, die träumerisch von blinzelnden Lampen beleuchtet und träumerisch mit hässlichen alten Schatten von Schlummernden, Spuckenden und Bettelnden angefüllt waren, so war es, als ob man sich in einen glühenden Strom stürzte und nur mit Lebensgefahr nach dem nächsten Streifen Schatten schwimmen könnte. Das Volk lungerte dort umher, wo nur irgendein Schatten vorhanden war. Gespräch und Gebell waren beinahe verstummt; nur dann und wann hörte man in der Ferne das Geläute disharmonischer Glocken und den Lärm schlechter Trommeln – so lag Marseille – eine deutlich zu riechende und zu fühlende Tatsache – alltäglich im glühenden Sonnenbrand da.
Es gab zu jener Zeit in Marseille ein elendes Gefängnis. In einem seiner Gemächer, die so abstoßend finster waren, dass selbst die zudringliche Sonne nur hinein zu blinzeln wagte und ihnen den Abfall von Lichtreflexen überließ, den sie erhaschen konnten, saßen zwei Männer. Außer diesen befanden sich darin eine vielbekerbte und verunstaltete Bank, die sich nicht von der Wand bewegen ließ und in die ein Dame-Spielbrett roh eingeschnitzt war, ein Dame-Spiel aus alten Knöpfen und Knöcheln, ein Domino, zwei Matten und zwei bis drei Weinflaschen. Das war alles, was der Kerker enthielt, mit Ausnahme von Ratten und anderem unsichtbaren Geziefer, nebst dem sichtbaren Geziefer, den beiden Männern.
Das Gefängnis erhielt sein dürftiges Licht durch ein eisernes Gitter, das wie ein ziemlich großes Fenster aussah und durch das man es immer von der dunklen Treppe aus übersehen konnte, auf die das Gitter hinausging. An diesem Gitter befand sich eine breite, starke, steinerne Bank, da wo jenes drei oder vier Fuß über dem Boden in die Mauer eingelassen war. Auf dieser Bank lungerte einer der beiden Männer halb sitzend, halb liegend, die Knie an sich gezogen und Füße und Schultern an die gegenüberliegenden Seiten der Nische gestemmt. Das Gitter war weit genug, um ihm zu erlauben, seinen Arm bis zum Ellbogen hindurchzustecken; und er tat dies auch, um sich bequemer zu stützen.
Alles ringsum trug das Gepräge des Gefängnisses. Die gefangene Luft, das gefangene Licht, die gefangenen Dünste, die gefangenen Männer – alles war durch die Gefangenschaft verdorben. Wie die Gefangenen bleich und hager, so war das Eisen rostig, der Stein schleimig, das Holz faul, die Luft dumpf, das Licht matt. Wie ein Brunnen, ein Keller, eine Gruft ahnte das Gefängnis nichts von dem Glanz, der draußen über alles ergossen war, und würde selbst mitten auf einer der Gewürzinseln des Indischen Ozeans seine verdorbene Atmosphäre unberührt behalten haben.
Der Mann, der in der Nische am Gitter lag, fror sogar. Er zog mit ungeduldiger Bewegung der einen Schulter seinen großen Mantel fester um sich und murmelte: »Zum Teufel mit diesem Straßenräuber von Sonne, der nicht auch hier hereinscheinen will.«
Er wartete auf das Essen und schielte mit dem Ausdruck eines wilden Tieres in ähnlicher Lage seitwärts durch das Gitter, um mehr von der Treppe zu sehen. Aber seine zu nahe aneinander stehenden Augen blickten nicht so stolz wie die des Königs der Tiere und waren mehr scharf als glänzend – spitze Waffen mit geringer Fläche, die sie leicht verraten könnten. Sie besaßen weder Tiefe noch Lebhaftigkeit des Ausdrucks: sie blitzten, öffneten und schlossen sich. Was diese Funktionen betrifft, so hätte, abgesehen von ihrem Nutzen für ihn, ein Uhrmacher ein paar bessere machen können. Er hatte eine gebogene Nase, die in ihrer Art schön war, aber zu hoch zwischen seinen Augen stand, gerade wie diese zu nahe aneinander lagen. Im Übrigen war er von großem und breitem Körperbau, hatte dünne Lippen, soweit sie sein dicker Bart sehen ließ, und straffes, zottiges Haar, dessen Farbe schwer zu unterscheiden war, nur eine rötliche Mischung konnte man erkennen. Die Hand, mit der er das Gitter festhielt (auf dem Rücken ganz mit hässlichen, kaum geheilten Schrammen bedeckt), war ungewöhnlich klein und fleischig und wäre ohne den Gefängnisschmutz auch ungewöhnlich weiß gewesen.
Der andere Mann kauerte auf dem steinernen Fußboden und war in einen braunen Mantel gehüllt.
»Steht auf, Ferkel!« brummte der erstere. »Schlaft nicht, wenn ich hungrig bin.«
»Es ist alles einerlei, Herr«, sagte das Ferkel unterwürfig und nicht ohne freundliche Miene, »ich kann wachen, wenn ich will, und kann schlafen, wenn ich will, es ist alles einerlei.«
Während er das sagte, stand er auf, schüttelte sich, kratzte sich, band seinen braunen Mantel mittels des Ärmels leicht um seinen Hals (er hatte ihn zuvor als Decke benutzt) und setzte sich gähnend, den Rücken an die Wand gegenüber dem Gitter gelehnt, auf den Fußboden. »Sagt, wie spät ist es?« brummte der erste.
»Die Mittagsglocke schlägt – in vierzig Minuten.«
Bei der kleinen Pause sah er sich im Gefängnis um, als wollte er sich seiner Sache vergewissern.
»Ihr seid eine Uhr. Wie könnt Ihr das nur immer wissen?«
»Wie soll ich's sagen? Ich weiß immer, was die Uhr ist und wo ich bin. Ich wurde bei Nacht hier eingebracht und zwar auf einem Boot, aber ich weiß, wo ich bin. Seht hier den Hafen von Marseille.« Auf dem Boden kniend, zeichnete er nämlich die Karte mit seinem gebräunten Zeigefinger. »Toulon (wo die Galeeren sind). Spanien hier drüben. Algier dort oben. Hier nach der Linken liegt Nizza. Am Bogen weiter fort Genua. Mole und Hafen von Genua. Die Quarantäne. Dort die Stadt: terrassenförmige Gärten von blühender Belladonna gerötet. Hier Porto Fino. Seewärts gesteuert nach Livorno, weiter nach Civitavecchia. Und so fort bis – hm! da ist kein Platz mehr für Neapel«; er war inzwischen bis zur Mauer gekommen, »aber es tut nichts; es ist eben da drinnen.«
Er blieb auf seinen Knien liegen und sah seinen Mitgefangenen mit einem für einen Gefangenen ziemlich muntern Blick an. Es war ein sonnverbrannter, rühriger, geschmeidiger, kleiner Mann von gedrungenem Körperbau. Er trug Ohrringe in seinen braunen Ohren, hatte weiße Zähne, die sein wunderliches braunes Gesicht etwas erhellten, tiefschwarzes Haar, das von seinem braunen Hals büschelartig herabhing, und ein zerlumptes rotes Hemd ließ die braune Brust vorn sehen. Weite Seemannshosen, bescheidene Schuhe, eine lange, rote Mütze, eine rote Binde um seine Hüften und ein Messer darin bildeten die Vervollständigung seines Anzugs.
»Seht, ob ich wohl von Neapel mich zurückfinde, wie ich dahin gelangte. Seht, hier, Herr, Civitavecchia, Livorno, Porto Fino, Genua, der Meerbusen, dann Nizza (das dort drinnen liegt), Marseille – Ihr und ich. Die Wohnung des Gefängniswärters und seine Schlüssel sind da, wo ich den Daumen hinsetze, und hier an meinem Handgelenk bewahren sie das Nationalrasiermesser – die Guillotine in ihrem Kasten auf.«
Der andere spuckte plötzlich auf den Boden und brummte etwas in seinen Hals hinein.
In diesem Augenblick brummte aber auch ein Schloss unten etwas in seinen Hals hinein, und eine Tür rasselte. Langsame Tritte kamen die Treppe herauf, das Geplauder einer sanften kleinen Stimme mischte sich in ihr Geräusch, und der Gefängniswärter erschien mit seiner Tochter, die drei bis vier Jahre alt sein mochte, auf dem Arm, während er in der Hand einen Korb trug.
»Wie geht es heute Morgen in der Welt zu, meine Herren? Meine Kleine da, wie Sie sehen, hat mich begleitet, um sich mal die Vögel ihres Vaters zu betrachten. Na! sieh sie dir an! Sieh dir die Vögel an!«
Er betrachtete selbst die Vögel mit scharfem Blick, während er das Kind an das Gitter emporhielt. Namentlich warf er ein Auge auf den kleinen Vogel, dessen Rührigkeit ihm Misstrauen einzuflößen schien. »Ich habe Euer Essen gebracht, Signor Johann Baptist«, sagte er (sie sprachen alle Französisch, aber der kleine Mann war ein Italiener), »und wenn ich Euch empfehlen dürfte, nicht zu spielen ...«
»Ihr empfehlt es dem Herrn nicht!« sagte Johann Baptist und zeigte lachend die Zähne.
»Oh, der Herr gewinnt«, entgegnete der Gefängniswärter mit einem flüchtigen, nicht besonders freundlichen Blick auf den andern, »und Sie verlieren. Das ist ganz etwas anderes. Sie bekommen dadurch raues Brot und sauren Wein, während er Lyoner Wurst, Kalbsbraten mit würziger Farce, weißes Brot, Strachino und guten Wein gewinnt. Sieh dir die Vögel an, liebe Kleine!«
»Die armen Vögel!« sagte das Kind.
Das hübsche kleine Gesicht, von göttlichem Mitleid bewegt, glich, wie es so bange durch das Gitter sah, einer Engelserscheinung in dem Gefängnis. Johann Baptist stand auf und trat zu ihm, als ob es eine besondere Anziehungskraft auf ihn ausübte. Der andere Vogel blieb sitzen, nur warf er zuweilen einen ungeduldigen Blick nach dem Korb.
»Halt!« sagte der Gefängniswärter, indem er seine kleine Tochter auf den äußersten Sims des Gitterfensters stellte, »sie soll die Vögel füttern. Dieses Gerstenbrot ist für Signor Johann Baptist. Wir müssen es entzweibrechen, um es durch das Gitter zu bringen. So, der Vogel ist zahm, er küsst dir die Hand. Diese Wurst in einem Traubenblatt ist für Monsieur Rigaud: ferner dieses Kalbfleisch in würziger Farce ist für Monsieur Rigaud; – ferner diese drei kleinen weißen Brote sind für Monsieur Rigaud; – ferner dieser Käse, der Wein – und endlich der Tabak – alles für Monsieur Rigaud. Glücklicher Vogel!«
Das Kind steckte alle diese Sachen durch das Gitter in die sanfte, weiche, wohlgeformte Hand, aber nicht ohne einen Schauer; denn mehr als einmal zog es seine Händchen zurück und sah den Mann mit ihrem schönen Gesichtchen, in dem sich Furcht und Angst mischten, fragend an. Dagegen legte es mit einem gewissen Vertrauen das Stück schlechten Brotes in die dicken, schmierigen und knorrigen Hände Johann Baptists (der kaum so viel Nägel an seinen acht Fingern und zwei Daumen hatte, wie Monsieur Rigaud an einem einzigen); und als er des Kindes Hand küsste, strich sie ihm sogar schmeichelnd über das Gesicht. Monsieur Rigaud, gleichgültig gegen eine solche Auszeichnung, gewann den Vater für sich, indem er der Tochter zulachte und zunickte, sooft sie ihm etwas gab, und sobald er alle die Speisen an geeigneten Plätzen um sich her aufgestellt, begann er mit Appetit zu essen.
Wenn Monsieur Rigaud lachte, trat eine Veränderung in seinem Gesicht ein, die mehr merkwürdig als einnehmend war. Sein Schnurrbart bäumte sich unter seiner Nase, und seine Nase zog sich auf höchst unheimliche und schauerliche Weise über seinen Schnurrbart herab.
»So!« sagte der Gefängniswärter, indem er den Korb umkehrte, dass die Brosamen herausfielen; »ich habe alles Geld ausgegeben, was ich empfing: hier ist die Rechnung, und damit wäre die Sache abgemacht. Monsieur Rigaud, wie ich gestern erwartete, will der Präsident heute Nachmittag um zwei Uhr das Vergnügen Ihrer Gegenwart genießen.« »Um mich zu verhören«, sagte Rigaud, indem er, das Messer in der Hand und ein Stück Fleisch »Ganz recht. Um Sie zu verhören.«
»Nichts Neues für mich?« fragte Johann Baptist, der zufrieden sein Brot zu kauen begonnen.
Der Gefängniswärter zuckte die Achseln.
»Heilige Jungfrau! Soll ich denn mein ganzes Leben lang hier liegen, Vater?« »Was weiß ich?« rief der Gefängniswärter, indem er sich mit südlicher Lebendigkeit nach ihm umwandte und mit beiden Händen und allen Fingern gestikulierte, als ob er ihm drohen wollte, er werde ihn in Stücke zerreißen. »Mein Freund, wie ist es möglich, dass ich Euch sagen könnte, wie lange Ihr noch hier liegen werdet? Was weiß ich, Johann Baptist Cavaletto? Tod und Leben! Es gibt bisweilen Gefangene hier, die es nicht so verteufelt eilig mit dem Verhör haben.«
Er schien bei dieser Bemerkung auf Monsieur Rigaud hinzuschielen. Aber Monsieur hatte bereits wieder sein Mahl in Angriff genommen, wenn auch nicht mehr mit so gutem Appetit wie zuvor.
»Auf Wiedersehen, meine Vögel!« sagte der Gefängniswärter, nahm sein artiges Kind auf den Arm und sagte ihm die Worte mit einem Kuss vor.
»Auf Wiedersehen, meine Vögel!« wiederholte das hübsche Kind.
Sein unschuldiges Gesichtchen sah so freundlich über die Schulter des Alten, während dieser mit ihm wegging und das Lied aus dem Kinderspiel sang:
»Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?Compagnon de la Majolaine!Wer kommt so spät bei Nacht vorbei?Immer froh!«
dass Johann Baptist es für eine Ehrensache hielt, durch das Gitter in gleichem Rhythmus und Ton, wenn auch mit etwas rauer Stimme, darauf zu antworten:
»Die Blüte aller Ritterschaft,Compagnon de la Majolaine!Die Blüte aller Ritterschaft,Immer froh!«
Und dieser Gesang begleitete sie so lange über die steinerne Treppe hinab, dass der Gefängniswärter zuletzt stehenbleiben musste, damit sein Töchterchen das Lied aushören konnte. Dann verschwand der Kopf des Kindes und der Kopf des Gefängniswärters, aber die kleine Stimme setzte das Lied fort, bis die Tür ins Schloss fiel.
Monsieur Rigaud, dem Johann Baptist in die Quere kam, ehe das Echo verstummt war (selbst dieses schien in dem Gefängnis schwächer und langsamer), erinnerte ihn mit einem Fußtritt, dass er besser tun würde, seinen alten dunklen Platz wieder einzunehmen. Der kleine Mann setzte sich mit einer Gleichgültigkeit auf den Boden, die deutlich zu erkennen gab, dass er auf Stein zu sitzen gewohnt war: und drei Stücke des rauen Brotes vor sich hinlegend und über ein viertes herfallend, begann er sich zufrieden einen Weg durch diesen Vorrat zu bahnen, als ob mit ihnen aufzuräumen eine Art Spiel wäre.
Vielleicht schielte er nach der Lyoner Wurst, vielleicht sah er nach dem Kalbfleisch mit der würzigen Farce, aber sie blieben nicht lange sichtbar und konnten ihm den Mund auch nicht lange wässerig machen. Monsieur Rigaud erledigte sie gründlich trotz Präsident und Tribunal, leckte dann seine Finger, so rein er konnte, und wischte diese zuletzt mit dem Weinlaub ab. Als er mitten im Trinken aufhörte, um seinen Mitgefangenen zu betrachten, bäumte sich sein Schnurrbart und seine Nase senkte sich herab.
»Wie schmeckt das Brot?«
»Ich finde es ein wenig trocken, aber ich habe meine alte Tunke hier«, entgegnete Johann Baptist, indem er sein Messer in die Höhe hielt.
»Inwiefern Tunke?«
»Ich kann mein Brot so schneiden – wie eine Melone. Oder so – wie eine Omelette. Oder so – wie einen gebratenen Fisch. Oder so – wie eine Lyoner Wurst«, sagte Johann Baptist, die verschiedenen Schnitte an dem Brot demonstrierend, das er in der Hand hielt, und ruhig kauend, was er im Mund hatte.
»Hier!« rief Monsieur Rigaud. »Da trinkt. Leert die Flasche!«
Es war kein großes Geschenk; denn es war ungemein wenig Wein übrig. Aber Signor Cavaletto sprang auf die Füße und nahm dankbar die Flasche, die er umgestürzt an den Mund setzte worauf er laut zu schmatzen begann.
»Stelle die Flasche mit dem übrigen beiseite«, sagte Rigaud.
Der kleine Mann gehorchte seinen Befehlen und stand mit einem angezündeten Schwefelhölzchen bereit; denn der andere rollte seinen Tabak mit Hilfe von Papierstreifen, die dabei gelegen, zu Zigaretten.
»Hier! Da habt Ihr eine.«
»Tausend Dank, Herr!« Johann Baptist sagte diese Worte in seiner Muttersprache und mit der lebhaften gewinnenden Weise, die seinen Landsleuten eigen. Monsieur Rigaud stand auf, zündete eine Zigarette an, steckte den Rest seines Vorrats in eine Brusttasche und streckte sich der Länge nach auf eine Bank. Cavaletto setzte sich auf den Boden, indem er in jeder Hand einen von seinen Knieknöcheln hielt und ruhig fortrauchte. Rigauds Augen schienen von irgendetwas in der unmittelbaren Nähe des Punktes auf dem Boden, wo der Daumen früher geruht, unangenehm berührt zu werden. Sie sahen so stier nach dieser Richtung, dass der Italiener mehr als einmal verwundert seinen Blicken auf dem Boden hin und her folgte, um zu sehen, was das bedeuten sollte.
»Ein höllisches Loch fürwahr!« sagte Monsieur Rigaud, eine lange Pause abbrechend. »Seht mal dieses Tageslicht! Tag? Das Licht von gestern vor acht Tagen, das Licht von vor sechs Wochen, das Licht von vor sechs Jahren. So matt und farblos!«
Es kam durch eine viereckige trichterförmige Öffnung, die sich an einem Fenster in der Treppenmauer befand und durch das man weder den Himmel noch sonst etwas sehen konnte.
»Cavaletto«, sagte Monsieur Rigaud und wandte plötzlich seinen Blick von jener Öffnung ab, auf die sie beide unwillkürlich ihre Augen gerichtet, »Sie kennen mich als Kavalier.«
»Gewiss, gewiss!«
»Wie lange sind wir jetzt hier?«
»Ich morgen um Mitternacht elf Wochen. Sie heute Nachmittag um fünf Uhr neun Wochen und drei Tage.«
»Habe ich je hier etwas getan? Je den Besen berührt, oder die Matten ausgebreitet, oder sie aufgerollt, oder das Damespiel geholt, oder die Dominosteine gesammelt, oder Hand an irgendeine Arbeit gelegt?«
»Nie.«
»Habt Ihr je auch nur erwartet, ich könnte mich zu irgendeiner Art von Arbeit herablassen?«
Johann Baptist antwortete mit jenem eigentümlichen Schütteln des verkehrten rechten Zeigefingers, das die ausdrucksvollste Verneinung der italienischen Sprache ist.
»Nein! Ihr wusstet vom ersten Augenblick, als Ihr mich hier sähet, dass ich ein Kavalier bin?«
»Altro!« entgegnete Johann Baptist, indem er seine Augen schloss und den Kopf heftig schüttelte.
Dieses Wort, das je nach der Betonung der Genuesen eine Bejahung, eine Verneinung, eine Bestätigung, einen Einwand, einen Spott, ein Kompliment, einen Scherz und fünfzig andere Dinge bedeuten kann, war im gegenwärtigen Augenblick bezeichnender als jedes geschriebene Wort und mit dem deutschen »Selbstverständlich!« gleichbedeutend.
»Haha! Ihr habt Recht! Ich bin ein Kavalier! Und als Kavalier will ich leben und als Kavalier will ich sterben. Ich bin in Scherz und Ernst ein Kavalier. Ich werde es zeigen, wo ich stehe und gehe, so wahr ich selig werden will.« Er änderte seine Lage in eine sitzende und rief mit triumphierender Miene:
»Hier bin ich. Seht mich an! Aus dem Würfelbecher des Schicksals in die Gesellschaft eines bloßen Schmugglers geschleudert; – eingeschlossen mit einem armen kleinen Schmuggler, dessen Papiere nicht in Ordnung, und den die Polizei packte, weil er sein Boot (als Mittel, über die Grenze zu kommen) andern kleinen Leuten zur Verfügung stellte, deren Papiere nicht besser sind; und dieser Mensch erkennt meine Stellung an, selbst bei dieser Beleuchtung und an diesem Ort. Gut! Beim Himmel, ich gewinne, wie das Spiel auch fällt.«
Wiederum bäumte sich der Schnurrbart, und die Nase senkte sich.
»Was ist jetzt die Uhr?« fragte er mit einer trocken-heißen Blässe auf den Wangen, zu der der scherzende Ton wenig passte.
»Eine kleine halbe Stunde nach Mittag.«
»Gut! Der Präsident wird bald einen Kavalier vor sich haben. Wohlan! Soll ich Euch sagen, wessen ich beschuldigt bin? Ich müsste es jetzt tun, sonst wäre es zu spät, denn ich komme nicht mehr hierher zurück. Entweder werde ich freigesprochen oder ich muss mich zum Rasieren vorbereiten. Ihr wisst, wo sie das Rasiermesser verborgen halten?«
Signor Cavaletto nahm seine Zigarre aus dem Mund und zeigte sich für den Augenblick verdrießlicher, als man hätte erwarten sollen.
»Ich bin ein« – Monsieur Rigaud stand auf, um es zu sagen – »ich bin ein Kavalier und Kosmopolit. Ich gehöre keinem Land an. Mein Vater war Schweizer – aus dem Waadtland. Meine Mutter war Französin dem Blut, Engländerin der Geburt nach. Ich selbst bin in Belgien geboren. Ich bin ein Weltbürger.«
Seine theatralische Haltung, wie er so dastand, den einen Arm an der Hüfte in den Falten seines Mantels, und seine Art, den Mitgefangenen unbeachtet zu lassen, während er seine Worte an die gegenüberstehende Mauer richtete, schienen weit eher zu erkennen zu geben, dass er seine Rolle für den Präsidenten studierte, dessen Verhör er sich demnächst unterziehen sollte, als dass er sich die Mühe nehme, eine so unbedeutende Persönlichkeit wie Johann Baptist Cavaletto über den Stand der Dinge aufzuklären.
»Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Ich habe die Welt gesehen. Ich habe hier gelebt und dort gelebt und überall wie ein Kavalier gelebt. Ich bin von aller Welt als Kavalier behandelt und geehrt worden. Wenn Sie mich dadurch benachteiligen wollen, dass Sie herausbringen, ich habe durch meinen Esprit mir den Lebensunterhalt erworben – so frage ich, wodurch leben denn Ihre Advokaten – Ihre Staatsmänner – Ihre Intriganten – Ihre Börsenmänner?«
Er hielt seine kleine weiche Hand ständig in Bereitschaft, als wenn sie ein Zeuge seiner Vornehmheit wäre, der ihm oft schon gute Dienste geleistet.
»Vor zwei Jahren kam ich nach Marseille. Ich gebe zu, dass ich arm war; ich war krank gewesen. Wenn Ihre Anwälte, Ihre Staatsmänner, Ihre Intriganten, Ihre Börsenmänner krank werden und nicht vorher Geld zusammengescharrt haben, so werden auch sie arm. Ich mietete mich im goldenen Kreuz ein – damals im Besitz des Herrn Henri Barronneau – der wenigstens sechsundfünfzig Jahr alt und noch dazu von sehr schwacher Gesundheit war. Ich hatte vier Monate in dem Haus gewohnt, als Herr Henri Barronneau das Unglück hatte zu sterben: jedenfalls kein seltenes Unglück! Es geschieht häufig, sehr häufig, ohne mein Zutun.«
Da Johann Baptist seine Zigarette bis an die Finger geraucht, hatte Monsieur Rigaud die Großmut, ihm eine zweite zu geben. Er zündete die letztere an der Asche der ersteren an und rauchte fort, indem er seitwärts nach seinem Mitgefangenen blickte, der, nur mit seiner Sache beschäftigt, ihn kaum ansah.
»Monsieur Barronneau hinterließ eine Witwe. Sie war vierundzwanzig Jahre alt. Sie galt für schön und (was oft ein ganz anderer Fall) war schön. Ich blieb im goldenen Kreuz wohnen. Ich heiratete Madame Barronneau. Es ist nicht meine Sache zu entscheiden, ob diese Verbindung glücklich war. Hier stehe ich mit der Schmach des Gefängnisses auf mir; es ist jedoch möglich, dass sie mich besser für sie taugend gefunden als ihren früheren Mann.
Er hatte, obenhin betrachtet, das Aussehen eines schönen Mannes – war es aber in Wirklichkeit nicht; und trug das oberflächliche Gepräge eines vornehmen Mannes – was er gleichfalls nicht war. Es war bloße Prahlerei und Anmaßung. Aber darin wie in manchen andern Dingen ersetzt die polternde Behauptung den Beweis – und das in der halben Welt!
Sei dem, wie ihm wolle, Madame Barronneau fand an mir Gefallen. Das wird mir hoffentlich nicht zum Nachteil gereichen?«
Sein Auge fiel zufällig bei dieser Frage auf Johann Baptist, der verneinend den Kopf schüttelte und unzählige Male mit seinem bündigen altro, altro, altro diese Ansicht bekräftigte.
»Nun kamen die Schwierigkeiten unserer gegenseitigen Stellung. Ich bin stolz. Ich sage nichts zur Verteidigung des Stolzes, aber ich bin stolz. Auch liegt es in meinem Charakter, zu herrschen. Ich kann nicht gehorchen; ich muss herrschen. Unglücklicherweise ruhte das Vermögen von Madame Rigaud in ihren Händen. Das war die wahnsinnige Verfügung ihres verstorbenen Mannes. Noch unglücklichererweise hatte sie Verwandte. Wenn die Verwandten einer Frau sich gegen einen Gatten ins Mittel legen, der ein Kavalier, der stolz ist und der herrschen muss, so sind die Folgen für den Frieden immer sehr gefährlich. Madame Rigaud war unglücklicherweise etwas gewöhnlich. Ich suchte ihren Formen einen feinen Schliff zu geben und ihren Ton im Allgemeinen etwas zu verbessern; sie nahm (auch darin von ihren Verwandten unterstützt) meine Bemühungen übel auf. Es entstanden Streitigkeiten zwischen uns; die Nachbarn bekamen durch die verleumderischen Zungen der Verwandten von Madame Rigaud übertriebene Kunde davon. Man sagte, ich behandle Madame Rigaud grausam. Man wollte gesehen haben, wie ich ihr ins Gesicht geschlagen – nichts weiter. Ich habe eine leichte Hand, und wenn man mich Madame Rigaud in dieser Weise zurechtweisen sah, so konnte es ihr wenigstens nicht sehr wehtun: denn es geschah ja nur auf scherzhafte Art.«
Wenn die scherzhafte Art des Herrn Rigaud in seinem Lächeln bei diesen Worten einen entsprechenden Ausdruck fand, so würden die Verwandten von Madame Rigaud ohne Zweifel es weit vorgezogen haben, wenn er die unglückliche Frau ernsthaft zurechtgewiesen.
»Ich bin feinfühlig und mutig. Ich will es nicht für ein Verdienst ausgeben, feinfühlig und mutig zu sein, aber es ist mal mein Charakter. Wären die männlichen Verwandten von Madame Rigaud offen gegen mich aufgetreten, würde ich gewusst haben, was mit ihnen anzufangen ist. Sie merkten das und setzten ihre Wühlereien im Stillen fort, dadurch gerieten Madame Rigaud und ich häufig in die unglückseligste Kollision. Selbst wenn ich einer kleinen Summe Geldes zu meinen persönlichen Ausgaben bedurfte, konnte ich sie nicht ohne Streit bekommen – und das ich, ein Mann, in dessen Charakter es liegt, zu herrschen? Eines Abends gingen Madame Rigaud und ich freundschaftlich – ich darf sagen wie Liebende – auf einem über die See hinaushängenden Felsenweg spazieren. Ein Unstern ließ Madame Rigaud das Gespräch auf ihre Verwandten bringen. Ich sprach verständig mit ihr über diesen Gegenstand, machte ihr Vorhaltungen über den Mangel an Pflichtgefühl und Hingebung, den sie dadurch an den Tag lege, dass sie sich von der eifersüchtigen Gesinnung ihrer Verwandten gegen den Gatten beeinflussen lasse. Madame Rigaud antwortete etwas derb, ich nicht minder. Madame Rigaud wurde warm, ich wurde gleichfalls warm und reizte sie. Ich gestehe es zu. Offenheit ist eine Seite meines Charakters. Endlich warf sich Madame Rigaud in einem Anfall von Wut, den ich ewig beklagen werde, mit leidenschaftlichem Geschrei auf mich, ohne Zweifel dasselbe Geschrei, das man in der Ferne gehört, zerriss meine Kleider, zerraufte mein Haar, zerkratzte mir die Hände, stampfte mit den Füßen, dass der Staub hoch aufflog, und sprang zuletzt über den Felsen hinab, wo sie sich an den Riffen unten zerschmetterte. Das ist die Kette von Ereignissen, durch die die Bosheit mich zuerst dazu gebracht, von Madame Rigaud das Aufgeben ihrer Rechte gebieterisch zu verlangen und, als sie darein zu willigen sich standhaft weigerte, handgemein mit ihr zu werden – sie zu ermorden!«
Er trat an den Fenstervorsprung, wo das Weinlaub noch herumlag, nahm zwei oder drei Blätter und wischte, mit dem Rücken gegen das Licht gekehrt, sich die Hände daran ab.
»Nun«, fragte er nach einer Pause, »habt Ihr auf alles das nichts zu sagen?«
»Es ist schändlich«, entgegnete der kleine Mann, der aufgestanden war und sein Messer an dem Schuh wetzte, während er sich mit einem Arm gegen die Wand stemmte. »Was soll das?«
Johann Baptist wetzte schweigend weiter.
»Glaubt Ihr, dass ich die Sachlage nicht streng nach der Wahrheit dargestellt?«
»Altro!« entgegnete Johann Baptist. Das Wort war diesmal eine Rechtfertigung und sollte so viel bedeuten als: »Oh, durchaus nicht.«
»Was denn?«
»Präsident und Tribunal haben gewöhnlich ihre vorgefasste Meinung.«
»Wohlan!« rief der andere, nicht ohne Unruhe und mit einem Fluch den Zipfel seines Mantels über die Schulter werfend, »so mögen sie ihr Schlimmstes tun!«
»Das werden sie sicher auch«, murmelte Johann Baptist vor sich hin, während er sich bückte, um sein Messer in die Binde zu stecken.
Man sprach von keiner Seite mehr, obgleich beide auf und ab zu gehen begannen und sich natürlich bei jedem Umdrehen begegnen mussten. Monsieur Rigaud blieb bisweilen einen Augenblick stehen, als ob er seine Sache in ein neues Licht stellen oder eine gereizte Entgegnung machen wollte. Da aber Signor Cavaletto seinen Spaziergang in einem wunderlich aussehenden stoßweisen Trott gemächlich fortsetzte und die Augen beständig zu Boden senkte, so blieb es auf der andern Seite bei der Absicht.
Kurz darauf veranlasste das Klirren eines Schlüssels im Schloss, dass die beiden stehenblieben. Man hörte ein Geräusch von Stimmen und Tritten. Die Tür rasselte auf; die Stimmen und die Tritte kamen näher, und der Gefängniswärter stieg in Begleitung von einer Wache Soldaten die Treppe herauf.
»Nun, Monsieur Rigaud«, sagte er, indem er mit den Schlüsseln in der Hand vor dem Gitter stehenblieb, »haben Sie die Güte herauszukommen.«
»Ich soll, wie ich sehe, in feierlichem Zug abgeholt werden?«
»Wenn das nicht der Fall wäre«, entgegnete der Gefängniswärter, »so dürften Sie in vielen Stücken Ihren Kerker verlassen, dass es schwer wäre, sie wieder zusammenzulesen. Draußen steht eine Volksmasse, Monsieur Rigaud, die Ihnen nicht besonders gewogen zu sein scheint.« Mit diesen Worten verschwand er und schloss und riegelte eine kleine Tür in der Ecke des Kerkers auf. »Nun kommen Sie«, sagte er, während er öffnete und eintrat.
Es gibt keine Art von Weiß zwischen allen Farben unter der Sonne, die im entferntesten Ähnlichkeit mit dem Weiß von Monsieur Rigauds Gesicht in diesem Augenblick gehabt. So gibt es auch entfernt keinen Ausdruck im menschlichen Antlitz, der diesem Ausdruck ähnlich gewesen, in dessen kleinstem Zug man das furchterfüllte Herz pochen sah. Man vergleicht beide gewöhnlich mit dem Tod. Aber der Unterschied ist so groß, wie die tiefe Kluft zwischen dem ausgerungenen Kampf und dem Streit in seiner verzweifelten Wut. Er zündete eine zweite Zigarette an der seines Mitgefangenen an, steckte sie zwischen die verbissenen Zähne, bedeckte den Kopf mit einem weichen, über die Augen hängenden Hut, warf den Zipfel seines Mantels wieder über die Schulter und trat auf die Seitengalerie hinaus, zu der die Tür führte, ohne weitere Notiz von Signor Cavaletto zu nehmen. Was den kleinen Mann selbst betrifft, so war sein ganzes Bestreben nur darauf gerichtet, der Tür nahe zu kommen und hinauszusehen. Ganz wie ein wildes Tier sich der geöffneten Tür seines Käfigs nähern und gierig nach der Freiheit draußen blicken würde, so verbrachte er die wenigen Augenblicke mit lauerndem Hinausschauen, bis die Tür sich vor ihm schloss.
Die Soldaten kommandierte ein Offizier, ein stämmiger, dienstgeübter und ungemein ruhiger Mann, der mit dem gezogenen Degen in der Hand eine Zigarre rauchte. Er befahl in kurzem Ton, dass Monsieur Rigaud in der Mitte der Soldaten gehe, stellte sich mit vollendeter Gleichgültigkeit an ihre Spitze, kommandierte »Marsch!«, und nun ging's klirrend die Treppe hinunter. Die Tür fiel ins Schloss – der Schlüssel wurde umgedreht – aber ein Strahl ungewohnten Lichtes und ein Hauch ungewohnter Luft schien den Kerker durchzogen zu haben und sich in den dünnen Rauchwölkchen der Zigarre zu verflüchtigen.
Der einsam zurückgelassene Gefangene war wie ein Tier niederer Art – wie ein ungeduldiger Affe oder ein gereizter Bär der kleineren Gattung – auf die Fensterbank des Gefängnisses gesprungen, um keinen Blick auf den Scheidenden zu verlieren. Wie er noch so dastand, das Gitter mit beiden Händen haltend, drang ein Aufruhr an sein Ohr. Heulen, Schreien, Fluchen, Drohungen, Verwünschungen, alles durcheinander gemischt, obgleich man (wie bei einem Sturm) nichts als ein wildes Brausen hören konnte.
Durch seine Gier, mehr zu erfahren, einem eingesperrten wilden Tier noch ähnlicher gemacht, sprang der Gefangene rasch herunter, lief in dem Kerker herum, fasste das Gitter und suchte daran zu rütteln; sprang dann wieder herunter, lief hin und her und horchte und ruhte nicht eher, bis das Geräusch, sich immer mehr entfernend, endlich erstarb. Wie manchem besseren Gefangenen ist sein edles Herz auf diese Weise gebrochen. Niemand dachte daran; nicht einmal die Geliebten ihrer Seele hatten volle Kunde davon; während große Könige und Statthalter, die sie gefangen hielten, heiter im Sonnenlicht umherfuhren und das Volk sich schmeichelnd um sie drängte. Diese großen Herren dagegen starben, ein erhabenes Beispiel, mit herrlichen Reden in ihrem Bett, und die höfliche Geschichte, die noch knechtischer als ihre Werkzeuge, balsamiert sie ein!
Johann Baptist, der nun imstande war, sich den geeignetsten Ort im Umkreis der vier Mauern zur Ausübung seines Talents, zu schlafen, wann er wollte, auszuwählen, legte sich, mit dem Gesicht auf den gekreuzten Armen ruhend, auf die Bank nieder und schlummerte ein – in seiner Unterwürfigkeit, seinem leichten Blut, seinem guten Humor, seiner rasch wechselnden Leidenschaft, seiner Zufriedenheit mit hartem Brot und harten Steinen, seinem leichten Schlaf, seinem Aufbrausen und seinen Zornausbrüchen ein echter Sohn des Landes, das ihn geboren.
Das grelle Licht wurde endlich trübe, die Sonne ging in roter, grüner, goldener Pracht unter, die Sterne traten am Himmel hervor, und die Leuchtkäfer äfften sie in der niederen Atmosphäre nach, wie die Menschen in ihrer Schwäche die Güte einer besseren Klasse von Geschöpfen nachahmen. Die langen staubigen Wege und die endlosen Ebenen lagen ruhig da – und auf dem Meer herrschte so tiefe Stille, dass es kaum von der Stunde flüsterte, wo es seine Toten wieder herausgeben wird.
»Hört man heute nichts mehr von dem gestrigen Geheul da drüben, Sir?«
»Ich habe nichts gehört.«
»Dann können Sie sicher sein, dass auch keines mehr ist. Wenn diese Leute heulen, so heulen sie, dass man es hören soll.«
»Das tun die meisten Menschen, glaube ich.«
»Aber diese Leute heulen in einem fort. Sie sind sonst nicht glücklich.«
»Meinen Sie die Marseiller?«
»Ich meine die Franzosen. Sie können es keinen Augenblick lassen. Was Marseille betrifft, so wissen wir, was Marseille ist. Es hat die aufrührerischste Melodie, die jemals komponiert wurde, in die Welt geschickt. Es könnte nicht existieren, ohne zu irgendetwas zu demonstrieren oder marschieren – zum Sieg oder Tod, zum Aufruhr oder zu sonst etwas.«
Der Sprecher, dessen Gesicht von wunderlich guter Laune zeugte, sah mit der größten Geringschätzung über die Brustwehr auf Marseille nieder, und dann eine entschlossene Haltung annehmend, indem er seine Hände in die Taschen steckte und mit seinem Geld rasselte, redete er die Stadt mit kurzem Lachen an:
»Allons, marschons, jawohl. Es wäre anständiger für dich, meine ich, wenn du andere Leute in ihrem rechtmäßigen Geschäfte alliieren und marschieren ließest, statt sie in die Quarantäne zu sperren!«
»Langweilig genug ist's«, sagte der andere. »Aber wir werden heute entlassen.«
»Heute entlassen!« wiederholte der erste. »Es ist beinahe eine Erschwerung des Frevels, dass wir heute entlassen werden. Entlassen! Warum waren wir überhaupt eingesperrt?«
»Ich muss zugestehen, aus keinem triftigen Grund! Da wir jedoch aus dem Orient kommen und der Orient die Heimat der Pest ist ...«
»Der Pest!« wiederholte der andere. »Das ist eben mein Kummer. Ich habe beständig die Pest gehabt, seitdem ich hier bin. Mir ist wie einem Vernünftigen, den man in ein Irrenhaus sperrt; ich kann den Verdacht nicht ertragen. Ich kam so wohl und gesund hierher, wie ich je in meinem Leben gewesen, aber mich im Verdacht der Pest haben, heißt mir die Pest in den Leib jagen. Und ich hatte sie – und ich habe sie noch.«
»Sie sehen gut dabei aus, Mr. Meagles«, sagte der Teilnehmer an dem Gespräch lächelnd.
»Nein. Wenn Sie die wirkliche Sachlage kennten, so würde es Ihnen nicht in den Sinn kommen, die letztere Bemerkung zu machen. Ich bin eine Nacht um die andere aufgewacht und habe zu mir gesagt: jetzt habe ich sie, jetzt hat sie sich entwickelt, jetzt hat sie mich gepackt, jetzt haben die Burschen die Sache ausfindig gemacht und treffen ihre Vorsichtsmaßnahmen. Wahrhaftig, ich möchte ebenso gern mit einer Nadel durch den Leib in einer Käfersammlung auf eine Papiertafel gesteckt sein, als das Leben führen, das ich hier geführt habe.«
»Nun, Mr. Meagles, sprechen wir nicht weiter davon, da es jetzt vorüber ist«, bat eine freundliche weibliche Stimme.
»Vorüber!« wiederholte Mr. Meagles, der, ohne alle Bösartigkeit, in jener eigentümlichen Stimmung zu sein schien, in der es uns immer wie eine neue Beleidigung vorkommt, wenn ein anderer das letzte Wort behält. »Vorüber! Und weshalb sollte ich nichts mehr darüber sagen, wenn es vorüber ist!«
Es war Mrs. Meagles, die Mr. Meagles angeredet hatte; und Mrs. Meagles war wie Mr. Meagles wohl und gesund; sie hatte ein angenehmes englisches Gesicht, das fünfundvierzig Jahre und mehr auf ein schlichtes einfaches Dasein geblickt und einen heiteren hellen Glanz über alles gegossen.
»Nun! Denke nicht mehr daran, Vater, denke nicht mehr daran!« sagte Mrs. Meagles. »Um der Güte willen, sei zufrieden mit Pet.«
»Mit Pet?« erwiderte Mr. Meagles, und die Stirnader schwoll ihm. Pet aber, die dicht hinter ihm stand, tätschelte ihm auf die Schulter, und Mr. Meagles verzieh auf der Stelle Marseille vom Grund seines Herzens.
Pet war ungefähr zwanzig Jahre alt. Ein hübsches Mädchen mit reichem braunen Haar, das in natürlichen Locken um ihr Gesicht fiel. Ein liebliches Wesen, mit offenem Antlitz und wundervollen Augen, so groß, so sanft, so glänzend, so vollkommen mit ihrem anmutigen, freundlichen Gesicht harmonierend. Sie war rund und frisch, voll Grübchen; freilich etwas verzogen, aber sie besaß dabei doch in ihrem Wesen etwas Schüchternes und Abhängiges, was die beste Schwäche von der Welt war und ihr den einzigen höheren Reiz verlieh, den ein so hübsches und angenehmes Wesen entbehren konnte.
»Nun frage ich Sie«, sagte Mr. Meagles mit der schmeichelhaftesten Vertraulichkeit, indem er einen Schritt zurücktrat und seine Tochter einen Schritt vorschob, um seine Frage zu flüstern: »Ich frage Sie einfach, wie ein vernünftiger Mann den andern, haben Sie je von einem so verdammten Unsinn gehört wie der, Pet in die Quarantäne zu sperren?«
»Es hatte wenigstens die gute Folge, dass selbst die Quarantäne dadurch erfreulich wurde.«
»So!« sagte Mr. Meagles, »das ist allerdings etwas. Ich bin Ihnen für diese Bemerkung dankbar. Aber Pet, mein liebes Kind, du würdest jetzt besser tun, wenn du mit der Mutter gingest und dich für das Boot fertig machtest. Der Gesundheitsbeamte und eine Menge von Narren mit aufgekrempten Hüten werden kommen, um uns endlich hier herauszulassen. Wir gefangenen Vögel alle werden zusammen wieder in annähernd christlicher Weise frühstücken, ehe jeder nach seinem Bestimmungsort von dannen flieht. Tattycoram, gehe deiner jungen Herrin nicht von der Seite.«
Er richtete diese letzten Worte an ein hübsches Mädchen mit glänzend dunklem Haar und Augen, das sehr nett angezogen war und mit flüchtiger Verbeugung antwortete, während es im Gefolge von Mrs. Meagles und Pet vorüberging. Sie schritten alle drei über die kahle, sengend heiße Terrasse und verschwanden in einem grellweißen Torweg. Mr. Meagles' Reisegenosse, ein großer gebräunter Mann von vierzig Jahren, stand noch immer nach dem Torweg blickend da, als sie bereits längst verschwunden waren, bis ihn endlich Mr. Meagles auf den Arm klopfte.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er und erwachte aus seinen Träumereien.
»Keine Ursache«, sagte Mr. Meagles.
Sie gingen im Schatten an der Mauer schweigend auf und nieder und genossen auf der Höhe, wo die Quarantänebaracken liegen, die kühle Frische der Seeluft, soweit solche morgens um sieben Uhr vorhanden war. Mr. Meagles' Reisegenosse nahm das Gespräch wieder auf.
»Darf ich Sie fragen«, sagte er, »was bedeutet der Name ...«
»Tattycoram?« fiel Mr. Meagles ein. »Ich habe nicht die mindeste Idee ...«
»Ich meinte«, sagte der andere, »dass ...«
»Tattycoram«, ergänzte Mr. Meagles abermals.
»Danke – dass Tattycoram ein Name sei; und ich habe mich häufig über seine Seltsamkeit gewundert.«
»Nun, die Sache ist die«, sagte Mr. Meagles, »Mrs. Meagles und ich, müssen Sie wissen, sind praktische Leute.«
»Das haben Sie des öfteren im Lauf unserer angenehmen und interessanten Gespräche während der Spaziergänge auf diesem Pflaster erwähnt«, sagte der andere, indem ein flüchtiges Lächeln durch den Ernst seines braunen Gesichts brach.
»Praktische Leute! Als wir nun eines Tages, vor ungefähr fünf oder sechs Jahren, Pet mit in die Kirche des Findelspitals in London nahmen – Sie hörten doch schon von dem Findelspital in London? Es ist dem Findelhaus in Paris ähnlich.«
»Ich habe es gesehen.«
»Nun gut! Als wir Pet einst mit in jene Kirche nahmen, um dort Musik zu hören – weil wir es als praktische Leute für unsere Aufgabe halten, ihr alles zu zeigen, was ihr Freude machen kann – fing die Mutter (mein gewöhnlicher Name für Mrs. Meagles) so zu weinen an, dass ich sie hinausbringen musste. ›Was gibt es, Mutter?‹ sagte ich, als wir etwas mit ihr gegangen waren, ›du erschreckst Pet, meine Liebe‹ – ›Ich weiß es wohl, Vater‹, sagte die Mutter, ›aber ich glaube, gerade weil ich sie so innig liebe, ist es mir in den Sinn gekommen‹ – ›Was kam dir denn in den Sinn, Mutter?‹ – ›Oh Gott!‹ rief die Mutter, wiederum in Tränen ausbrechend, ›als ich all diese Kinder in Reihen übereinander sitzen und von dem Vater auf Erden, den keines von ihnen je gesehen, sich an den größeren Vater von uns allen im Himmel wenden sah, da dachte ich: Kommt wohl auch einmal eine unglückliche Mutter hierher und sieht sich unter diesen jungen Gesichtern um, neugierig, welches das arme Kind sein möchte, das sie in diese verlassene Welt gebracht, damit es niemals in seinem ganzen Leben ihre Liebe, ihren Kuss, ihr Gesicht, ihre Stimme, ja nicht einmal ihren Namen kennenlernen soll?‹ Das war doch sehr praktisch von der Mutter, und ich sagte ihr es. Ich sagte nämlich: ›Mutter, das nenne ich praktisch!‹
Der andere stimmte ihm nicht ohne Rührung bei.
»So sagte ich am nächsten Tag: Ich habe dir einen Vorschlag zu machen, Mutter, den du sicher billigen wirst. Lass uns eins von den Kindern zu uns nehmen: es kann Pet Gesellschaft leisten. Wir sind praktische Leute. Wenn wir deshalb ihr Temperament etwas mangelhaft oder in irgendeiner Weise ihre Gewohnheiten von den unsern abweichend finden, so werden wir wissen, was wir in dieser Richtung in Rechnung zu stellen haben. Wir wissen, wie ungeheuer viel von all den Einflüssen und Erfahrungen, die persönlichkeitsbildend für uns waren, abgezogen werden muss – keine Eltern, kein Brüderchen oder Schwesterchen, keine wirkliche Heimat, kein gläserner Pantoffel oder keine Feenpatin! Und auf diese Weise kamen wir zu Tattycoram.«
»Und der Name selbst ...«
»Bei St. Georg!« sagte Mr. Meagles, »ich vergaß den Namen. Nun, sie hieß in der Anstalt Harriet Beadle – natürlich ein willkürlich erfundener Name. Nun änderten wir Harriet in Hatty ab und dann in Tatty, weil wir als praktische Leute dachten, ein scherzhafter Name sei etwas Neues für sie und müsse einen wohltuenden und gewinnbringenden Eindruck auf sie machen, nicht wahr? Was nun den Namen Beadle betrifft, so brauche ich kaum zu sagen, dass er ganz außer dem Spiel blieb. Wenn es etwas gibt, was unter keiner Form zu ertragen ist, etwas, was der Typus amtswichtiger Anmaßung und Abgeschmacktheit ist, etwas, was in Röcken und Westen und dicken Stöcken unser englisches Festhalten am Unsinn, über den jedermann sonst hinaus ist, repräsentiert, so ist es ein Beadle (Kirchendiener). Haben Sie in letzter Zeit keinen Kirchendiener gesehen?«
»Als ein Engländer, der mehr als zwanzig Jahre in China war, nein!«
»Dann«, sagte Mr. Meagles, indem er seinen Zeigefinger mit großer Lebhaftigkeit auf seines Reisegenossen Brust legte, »dann weichen Sie jedem Kirchendiener, wo Sie nur können, aus. Wenn ich sonntags einen Kirchendiener in vollem Staat an der Spitze einer Armenschule die Straße entlang kommen sehe, so muss ich umkehren und Reißaus nehmen; sonst würde ich ihm sicher eins versetzen. Da, wie gesagt, der Name Beadle ganz aus dem Spiel blieb und der Gründer der Anstalt für die armen Findlinge ein segensreicher Mann mit Namen Coram war, so gaben wir Pets kleiner Gespielin diesen Namen. Bald hieß sie nun Tatty, bald Coram, bis wir endlich beide Namen verbanden, und nun heißt sie immer Tattycoram.«
»Ihre Tochter«, sagte der andere, als sie wieder schweigend auf und ab gegangen und, nachdem sie einen Augenblick über der Mauer nach der See hinabgeblickt, ihren Spaziergang wieder begonnen: »Ihre Tochter ist Ihr einziges Kind, nicht wahr, Mr. Meagles? Darf ich wohl fragen – nicht aus unzarter Neugier, sondern weil es mir in Ihrer Gesellschaft sowohl gefallen, ich vielleicht nie wieder in diesem Labyrinth der Welt ein ruhiges Wort mit Ihnen sprechen kann und mir eine klare Erinnerung von Ihnen und den Ihren zu bewahren wünsche – darf ich Sie fragen, habe ich nicht mit Recht aus den Worten Ihrer guten Frau geschlossen, dass sie noch andere Kinder gehabt?«
»Nein, nein«, sagte Mr. Meagles. »Nicht gerade andere Kinder. Nur ein anderes Kind.«
»Ich fürchte, ich habe unabsichtlich ein zu zartes Thema berührt.« »Es hat nichts zu sagen«, versetzte Nr. Meagles. »Wenn es mich ernst macht, so verursacht es mir doch nicht gerade Schmerzen. Ich werde vielleicht für einen Augenblick still, aber es macht mich nicht unglücklich. Pet hatte eine Zwillingsschwester, die starb, als wir gerade ihre Augen – ganz Pets Augen – über dem Tisch sehen konnten, wenn sie auf den Zehen stand und sich an der Tischkante festhielt.«
»Wirklich? Oh, in der Tat?«
»Ja, und da wir praktische Leute sind, bildete sich nach und nach eine Vorstellung in Mrs. Meagles und mir, die Sie vielleicht verstehen werden – vielleicht auch nicht. Pet und ihre Zwillingsschwester sahen sich so außerordentlich ähnlich und waren so vollkommen eins, dass wir sie seitdem nicht mehr in unsern Gedanken trennen konnten. Es hätte fortan nichts genützt, wenn wir uns auch gesagt, unser totes Kind sei ein bloßes Kind geblieben. Dies Kind hat sich mit den Veränderungen des uns gebliebenen Kindes verändert und war uns immer nahe. Wie Pet wuchs, so wuchs auch dieses Kind; wie Pet verständiger und jungfräulicher wurde, so wurde auch ihre Schwester verständiger und jungfräulicher – alles in denselben Abstufungen. Man würde mich ebenso schwer überzeugen können, dass, wenn ich morgen in die andere Welt käme, ich nicht durch die Gnade Gottes von einer Tochter geradeso wie Pet empfangen werden sollte, wie man mich davon überzeugen könnte, dass Pet neben mir keine reelle Existenz sei.«
»Ich verstehe Sie«, sagte der andere freundlich.
»Was meine Tochter betrifft«, fuhr ihr Vater fort, »so hat der plötzliche Verlust ihres kleinen Ebenbildes und Gespielin und ihre frühzeitige Berührung mit jenem Mysterium, an dem wir alle unsern gleichen Teil haben, das aber nicht immer einem Kind so schroff entgegentritt, notwendigerweise einigen Einfluss auf ihren Charakter gehabt. Dann waren ihre Mutter und ich nicht mehr jung, als wir heirateten, und Pet führte immer das Leben von Erwachsenen mit uns, obgleich wir uns bemühten, uns ihrem kindlichen Ideenkreis anzuschmiegen. Da sie etwas kränklich war, so gab man uns mehr als einmal den Rat, sie so oft wie möglich in ein anderes Klima und in eine andere Luft zu bringen – namentlich in dem Alter, in dem sie jetzt steht – und ihr viel Zerstreuung zu schaffen. Und da ich es nun nicht mehr nötig habe, hinter dem Kontorpult zu stehen (obgleich ich früher sehr arm war, sonst hätte ich wahrhaftig Mrs. Meagles weit früher geheiratet), so reisen wir jetzt in der Welt umher. Aus diesem Grund fanden Sie uns am Nil und bei den Pyramiden, bei den Sphinxen und in der Wüste und so weiter und so weiter; deshalb wird Tattycoram auch mit der Zeit eine größere Reisende als Kapitän Cook sein.«
»Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Vertrauen«, sagte der andere.
»Bitte sehr«, entgegnete Mr. Meagles, »es ist gerne geschehen. Und nun, Mr. Clennam, darf ich Sie wohl fragen, ob Sie schon zu einem Entschluss über Ihr nächstes Reiseziel gekommen sind?«
»Wahrhaftig, nein. Ich bin ein so herren- und willenloser Weltfahrer, dass ich mich von jeder Strömung forttreiben lasse.«
»Es kommt mir seltsam vor – entschuldigen Sie meine Freiheit, mit der ich das sage – dass Sie nicht direkt nach London gehen«, sagte Mr. Meagles in dem Ton vertraulichen Rates.
»Vielleicht werde ich es doch wohl tun.«
»Ah! aber ich meine mit einem festen Ziel.«
»Ich habe kein Ziel. Das heißt«, dabei errötete er ein wenig, »beinahe keines, auf das ich hinarbeiten könnte. Von bloßer Gewalt erzogen; gebrochen, nicht gebeugt; festgekettet an einen Gegenstand, wegen dessen man mich nie befragte und der nie meines Herzens Sache war; an das andere Ende der Welt versetzt, ehe ich noch mündig geworden, und dorthin verbannt bis zu meines Vaters Tod, der vor einem Jahr eingetreten; immer in einer Mühle mahlend, die ich stets gehasst; was kann man im reifen Mannesalter von mir erwarten? Willen, Absicht, Hoffnung! Alle diese Lichter sind in mir ausgelöscht worden, ehe ich ihre Namen aussprechen konnte.«
»Zünden Sie sie wieder an!« sagte Mr. Meagles.
»Ach! das ist leicht gesagt. Ich bin der Sohn eines harten Vaters und einer harten Mutter, Mr. Meagles. Ich bin das einzige Kind von Eltern, die alles wogen, maßen und abschätzten, für die, was nicht gewogen, gemessen und abgeschätzt werden konnte, keinen Wert hatte. Strenggläubige Leute, wie man es nennt. Bekenner einer finstern Religion, so dass selbst ihre Religion ein düsteres Opfer von Neigungen und Sympathien war, die ihnen nicht eigen und die sie als Kaufsumme für die Sicherheit ihrer Besitztümer darbrachten. Strenge Gesichter, unerbittlich strenge Zucht, Buße in dieser Welt und Schrecken in der nächsten – nirgends ein Schimmer von sanfter Milde und Barmherzigkeit, und in meinem gebeugten Herzen öde Leere überall – das war meine Kindheit, wenn es nicht ein Missbrauch ist, dieses Wort auf einen solchen Lebensanfang anzuwenden.«
»Wirklich?« fragte Mr. Meagles, den das Bild, das vor seine Phantasie geführt wurde, in eine sehr unbehagliche Stimmung versetzte. »Das war ja ein schrecklicher Lebensanfang. Aber raffen Sie sich auf. Sie müssen nun auf jede Weise suchen, alles, was darüber hinausliegt, als praktischer Mann zu nützen.«
»Wenn die Leute, die man gewöhnlich praktisch nennt, in Ihrer Weise praktisch wären ...«
»Nun, das sind sie auch!« sagte Mr. Meagles.
»Wirklich?«
»Ich denke wohl«, entgegnete Mr. Meagles, darüber nachsinnend. »Hm! Man muss praktisch sein, und Mrs. Meagles und ich sind wirklich praktisch.«
»Mein ungekannter Weg ist vielleicht angenehmer und hoffnungsreicher, als ich erwartet hatte«, sagte Clennam, mit ernstem Lächeln den Kopf schüttelnd. »Genug von mir. Hier ist das Boot!«
Das Boot war mit aufgestülpten Hüten angefüllt, gegen die Mr. Meagles eine nationale Antipathie hatte. Die Träger dieser aufgestülpten Hüte landeten und kamen die Treppe herauf, und die eingesperrten Reisenden drängten sich auf einen Haufen zusammen. Dann brachten die aufgestülpten Hüte eine Menge Papiere hervor und verlasen die Namen, worauf unterschrieben, gesiegelt, gestempelt, überschrieben und gesandelt wurde, was alles sehr verwischte, sandige und unentzifferbare Resultate hatte. Endlich war das Ganze nach der Ordnung geschehen, und die Reisenden konnten gehen, wohin sie wollten.
In der neuen Freude der wiedergewonnenen Freiheit kümmerten sie sich wenig um das starre, grelle Licht und den Glanz, der das Auge blendete, sondern fuhren in bunten Booten über den Hafen und fanden sich wieder in einem Hotel zusammen, von dem die Sonne durch geschlossene Läden abgehalten wurde, und wo nackte steinerne Böden, hohe Decken und hallende Korridore die glühende Hitze mäßigten. Bald war eine lange Tafel in einem großen Saale mit einem köstlichen Mahl reich besetzt, und die Quarantäneherberge erschien inmitten dieser üppigen Gerichte, dieser südlichen Früchte, dieser gekühlten Weine, dieser Rivierablumen, des Gletscherschnees und der Spiegel, die alle Farben des Regenbogens widerstrahlten, in höchst dürftigem Licht.
»Aber ich trage jetzt keinen Hass mehr gegen jene eintönigen Mauern im Herzen«, sagte Mr. Meagles. »Man beginnt sich immer mit einem Ort zu versöhnen, sobald man ihn im Rücken hat; ich möchte behaupten, ein Gefangener beginnt mild von seinem Gefängnis zu denken, wenn er freigelassen ist.«
Es waren ungefähr dreißig Personen bei Tisch und alle miteinander im Gespräch, natürlich in Gruppen. Vater und Mutter Meagles saßen, mit ihrer Tochter zwischen sich, am einen Ende des Tisches; gegenüber Mr. Clennam; ein großer französischer Herr mit rabenschwarzem Haar und Bart, gebräunt und von unheimlichem, ich will nicht sagen diabolischem Aussehen, der sich aber als der sanfteste Mensch von der Welt erwiesen; und eine junge hübsche Engländerin, die ganz allein reiste, mit einem stolzen beobachtenden Gesicht: sie hatte sich entweder selbst von den übrigen zurückgezogen oder wurde von ihnen gemieden – niemand, außer vielleicht sie selbst, konnte darüber entscheiden. Die übrige Gesellschaft bestand aus den gewöhnlichen Elementen. Geschäfts- und Vergnügungsreisende; beurlaubte Offiziere aus Indien; Kaufleute, die nach Griechenland und der Türkei Handel trieben; ein jung verheirateter englischer Geistlicher in einer eng anliegenden Zwangsjoppe, auf der Hochzeitsreise mit seiner jungen Frau; ein majestätisches englisches Ehepaar von Patriziergeschlecht, mit einer Familie von drei heranwachsenden Töchtern, die zum Unheil ihrer Mitmenschen ein Tagebuch führten; und eine taube alte Engländerin, die mit ihrer entschieden erwachsenen Tochter auf Reisen steif geworden. Diese Tochter zog skizzierend durch die Welt, in der Hoffnung, sich zuletzt selbst in den Ehestand hinein zu schattieren.
Die zurückhaltende Engländerin nahm Mr. Meagles' letzte Bemerkung auf und sagte langsam und mit einer gewissen Betonung:
»Glauben Sie, dass ein Gefangener je seinem Gefängnis verzeihen würde?«
»Das war so meine Ansicht, Miss Wade. Ich behaupte nicht, bestimmt zu wissen, wie ein Gefangener fühlt. Denn ich war noch nie in solcher Lage.«
»Mademoiselle zweifeln«, sagte der Franzose in seiner Muttersprache, »dass es so leicht sei zu vergeben?«
»Allerdings.«
Pet musste diese Worte für Mr. Meagles übersetzen, da er niemals sich Kenntnis von der Sprache der Länder, die er durchreiste, zu erwerben gesucht. »Oh!« sagte er. »Mein Gott! Das ist schlimm, sehr schlimm!«
»Dass ich nicht so leichtgläubig bin?« sagte Miss Wade.
»Nein, nicht so! Setzen Sie das Wort anders. Dass Sie nicht glauben wollen, es sei leicht zu vergeben.»
»Meine Erfahrung», entgegnete sie ruhig, »hat seit Jahren meinen Glauben in mancher Beziehung geändert. Das ist der natürliche Fortschritt, den wir machen, hat man mir versichert.»
»Wohl, wohl! Aber es ist nicht natürlich, Groll zu hegen, hoffe ich?« sagte Mr. Meagles freundlich.
»Wenn ich irgendwo zu Pein und Qual eingeschlossen gewesen, würde ich den Ort ewig hassen und ihn niederbrennen oder dem Boden gleichmachen zu können wünschen. Das ist meine Ansicht.«
»Etwas stark, Sir!« sagte Mr. Meagles zu dem Franzosen; denn es war gleichfalls eine seiner Gewohnheiten, Individuen aller Nationen in echtem Englisch anzureden, fest überzeugt, dass sie verpflichtet seien, es zu verstehen. »Etwas stark von unserer schönen Freundin, das werden Sie mir hoffentlich zugestehen?«
Der Franzose erwiderte höflich: »Plait-il? »worauf Mr. Meagels mit großer Befriedigung antwortete: »Sie haben recht. Ganz meine Meinung.»
Als das Diner nach und nach ins Stocken geriet, hielt Mr. Meagles der Gesellschaft eine Rede. Sie war kurz und vernünftig genug, wenn man bedenkt, dass es eine Rede war, ja sogar herzlich. Sie ging darauf aus, dass der Zufall sie alle zusammengeführt und sie gutes Einverständnis untereinander erhalten. Nun aber sei die Scheidestunde herangerückt und es sei nicht wahrscheinlich, dass sie sich je wieder alle zusammenfinden würden. So könnten sie nichts Besseres tun, als einander mit einem gemeinschaftlichen Glas kühlen Champagners rings um die Tafel Lebewohl zu sagen und glückliche Reise zu wünschen. Dies geschah denn auch; mit allgemeinem Händeschütteln brach die Gesellschaft auf und schied für immer.
Die alleinstehende junge Dame hatte die ganze Zeit nichts gesprochen. Sie stand mit den übrigen auf und ging schweigend nach einem entfernten Winkel des großen Saals, wo sie sich auf dem Sofa in einer Fensternische niederließ und die Reflexe des Wassers zu beobachten schien, die mit silbernem Glanz auf den Stäben der Jalousien zitterten. Sie saß von der ganzen Länge des Zimmers abgekehrt da, als wäre sie aus eigner stolzer Wahl allein. Und doch war es so schwer wie je, positiv zu unterscheiden, ob sie die übrigen mied oder ob diese sie mieden.