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In 'Liwûna und Kaidôh: Ein Seelenroman' entführt uns Paul Scheerbart in eine surreale Welt, in der die Seelen zweier Liebender nach dem Tod weiterleben. Der Roman verbindet Elemente des Traums und der Phantasie mit einer tiefgreifenden philosophischen Betrachtung über Liebe und Schicksal. Scheerbarts literarischer Stil zeichnet sich durch seine poetische Sprache und kreative Erzählweise aus, die den Leser in eine faszinierende mentale Landschaft eintauchen lässt. Als Teil der deutschen literarischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts trägt Scheerbarts Werk sowohl moderne als auch expressionistische Merkmale, die in 'Liwûna und Kaidôh' deutlich zum Ausdruck kommen. Als Autor war Scheerbart selbst ein exzentrischer und visionärer Geist, der es wagte, kühne Ideen zu erforschen und in seinen Werken zu manifestieren. Seine vielseitigen Interessen an Mystik, Technologie und Kunst reflektieren sich in diesem Werk, das als Höhepunkt seines Schaffens gilt. 'Liwûna und Kaidôh: Ein Seelenroman' ist ein einzigartiges und inspirierendes literarisches Werk, das Leser auf eine unvergleichliche Reise durch die Abgründe der menschlichen Seele mitnimmt. Empfohlen für alle, die sich für experimentelle Literatur, Liebe und Spiritualität interessieren.
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Seitenzahl: 96
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Es schneit Jasminblüten.
Und ich schwebe in dem Jasminblütenschnee ganz langsam, als hätte ich Zeit – viele tausend Jahre nur so hinzuschweben in duftenden Blüten. Betäubend ist der Duft und es ertönt unter mir lautes Gelächter – das wird immer stärker – so stark wie wildes Donnern.
Der lachende Donner wird aber bald schwächer und verhallt in der Tiefe.
Und ich höre nichts mehr von dem grossen Lachen.
Es verschwinden auch die Jasminblüten – die letzten fallen schnell hinunter.
Der Vollmond scheint mir ins Angesicht. Ich schwebe zwischen weissen, flockigen Wolken, die eben so vom Vollmonde beschienen sind wie mein Angesicht, höher und höher.
Es geht immerzu hinauf, und es geht so leicht; ich brauche nur die Fusszehen zu bewegen.
Der Mond wird kleiner und geht zur Seite als kleiner Stern.
Und dann sehe ich nur noch Sterne – über mir – unter mir – und überall.
Schwarz ist der Himmel, und die Sterne sind alle zu sehen – auch die kleineren.
Ich schwebe leicht durch die unzähligen schimmernden Sterne durch – weiter hinauf in die dunkleren Räume, in denen nicht mehr so viele Sterne leben.
Es ist da so kühl.
Und mir ist so, als schwebe was neben mir.
Es sind leichte, feine Gewänder – weisse – zarte.
Und ich frage leise:
»Wer ist bei mir?«
Und ich höre eine ferne Stimme sagen: »Dein Weib ist bei dir – die Frau, nach der du dich gesehnt hast, so lange, lange Zeit.«
Und ich antworte still:
»Ich erinnere mich gar nicht mehr, dass ich mich mal nach einem Weibe oder nach einer Frau gesehnt habe. Das hab ich wahrhaftig beinah vergessen.«
Im weiten, dunklen Himmel werden jetzt Farben wach.
Mit verwehten olivgrünen Wolkenschleiern beginnt es. Hinter den Schleiern entstehen dunkelgrüne Flecke, die rund werden und bald kleiner und bald grösser erscheinen. Und flockiges, rosa leuchtendes Gewölk sinkt von oben dazwischen und hängt bald wie zerzauste Watte da – so still wie alte Träume.
Aus allen Wolken fallen Bänder, die sich ringeln und immer dünner werden – so dünn wie Haare. Blond sind die Haare, sie verlieren allmählich das Krause und hängen sich in schlaffen Strähnen über die dunkelgrünen runden Scheiben, die starren Augen gleichen. Die olivgrünen Wolkenschleier schwanken, als wärens Schaukeln. Das rosa leuchtende Gewölk hängt dazwischen ganz ruhig. Die blonden Haare zittern vor den grünen Augen.
Neben mir sagt nun eine mir sehr bekannte Stimme:
»Weisst du immer noch nicht, wer bei dir ist? Blick mich doch einmal an!«
Ich drehe den Kopf und sehe eine Frau neben mir; sie hat grosse, meergrüne Augen. Ich weiss, wer es ist. Aber ich fühle keine Erregung; es wird nur noch stiller in mir.
Wir schweben oben durch das rosa leuchtende Gewölk zusammen empor – immer höher. Sie bleibt bei mir.
Und die Farben verschwinden unter uns.
»Ich bin nicht so, wie du denkst!« sagt sie da plötzlich.
Ich bewege heftig meine Fusszehen und fliege hinauf wie ein Pfeil; die Sterne sausen neben mir runter, als wenn sie fielen. Ich bin sehr ungeduldig.
Doch meine Begleiterin bleibt an meiner Seite. Ich fühls; es geht langsamer.
Aus dem nachtschwarzen Himmel tauchen abermals farbige Wolken heraus, diesmal sinds purpurrote und goldene Wolken; sie ziehen sich in langen Streifen rund um den Raum, sodass ich die Empfindung habe, in einem schwarz-roten-golden gestreiften Bienenkorbe emporzuschweben.
Ich drehe meinen Kopf meiner Begleiterin zu und sehe, dass sie anders aussieht. Ihr Gesicht ist mir allerdings wiederum sehr bekannt; heisse, braune Augen und rote Backen glühen mir wild entgegen.
Ich bewege wieder meine Zehen und schiesse oben aus dem Bienenkorbe raus.
Doch meine Begleiterin schwebt an mir vorbei, und ich erschrecke.
Sie ist jetzt so furchtbar gross und üppig wie eine Riesendame auf Jahrmärkten.
Sie schwebt dicht vor mir, und ich höre, wie sie leise sagt:
»So küss mich doch!«
Ihr Gesicht kann ich nicht sehen, ich sehe nur ihren breiten, weissen Nacken und zwei lange, braune Zöpfe, die auf einem gelben Seidenkleide hin- und herpendeln.
Ihr Kopf ist mit meinem Kopf in der gleichen Höhe, und ich komm ihrem Rücken ganz nahe und greife mit der Linken in ihren vollen Arm. Doch die Hand geht gleich durch ihren ganzen Leib, und die Riesendame lacht wie ein Kobold.
Und sie sagt lachend:
»Ich bin doch nicht aus Fleisch und Blut. Was fällt dir denn ein? Ich bin doch Liwûna. Und du bist doch Kaidôh. Weisst du das noch nicht?« Ich muss lächeln und erwidre traurig:
»Also Kaidôh bin ich? Na ja, ich ahnte ja stets, dass ich was andres sei.«
»Natürlich!« ruft sie, »sonst könntest du doch nicht so fein fliegen. Wir sind beide aus sehr feinem Stoff; Luft ist plump wie Blei dagegen. Pass auf, was deine lustige Liwûna machen kann.«
Dabei dreht sie sich um, zieht aus der Rocktasche ihres gelbseidenen Kleides zwei grosse Gewichte hervor, die viele Centner schwer zu sein scheinen, und hantelt mit den Centnergewichten, dass ihr die blauen Adern auf der Stirn und an den Schläfen anschwellen.
Ich frage sie, was das soll.
Da thun sich die Centnergewichte auf, und es fallen lauter Botokudenregimenter mit Schornsteinfegern untermischt aus den Gewichten heraus. Die Kerls sehen so klein und drollig aus, dass ich herzlich lachen muss.
»Gefall ich dir jetzt endlich?«
Also fragt sie nun sehr rauh.
Und ich muss noch mehr lachen, bewege aber gleichzeitig wieder meine Zehen, um höher zu kommen.
Die Riesendame verschwindet unten, und ich denke mir, dass sie nicht so schnell fliegen kann – da sie ja so dick ist. Doch ich irre mich, denn ich fühle sehr bald, trotzdem ich mit rasender Hast höher steige, ihre Nähe wie zuvor.
»Du entfliehst mir doch nicht!« flüstert sie hinter mir – mit einer ganz anderen Stimme.
Ich drehe mich rasch um und blicke in ein kleines, feines, sanftes Gesicht mit grauen Augen, die so ernst und milde glänzen – wie ein guter Geist.
Und sie flüstert:
»Ich will so sein, wie du es willst. Ist dir das noch immer nicht genug?«
Es liegt so viel Sehnsucht in diesen Worten, ich werde weich und sage sanft:
»So schaff mir neue Welten – ganz neue, die ich mir noch niemals ausgedacht habe und auch gar nicht ausdenken kann.«
Und ich höre die Liwûna erwidern:
»Liwûna thut alles.«
Und dann verlässt sie mich.
In der Ferne höre ich sie rufen:
»Kaidôh! Kaidôh!«
Es wird alles dunkel und zuletzt ganz schwarz vor meinen Augen.
Das Schwarze bleibt lange.
Allmählich wirds aber drüben an einer Stelle heller, und ich sehe einen Stern – der sieht aus wie ein riesiger Diamant mit tausend feingeschliffenen Ecken und Kanten.
Und der Sterndiamant dreht sich um sich selbst.
Und seine Farben brennen.
Mächtige, prächtige Lichtkegel in allen möglichen Farben drehen sich zuckend und zitternd durch die schwarze Nacht.
Und die Farben brennen sich mir ins Auge, dass ich geblendet werde.
Diamantenbrand!
Ein buntes, ecken- und kantenreiches Farbenfeuer mit glitzernden Flächen, die sich immerfort durcheinander schieben.
Und die spitzen Funken sind so grell.
Ich muss die Augen zumachen.
Ich halts nicht aus.
Ich fühle, dass Liwûna mich fortzieht – ich bewege krampfhaft die Zehen.
»Du kannst das nicht aushalten,« sagt sie mitleidig.
Und ich werde sehr unruhig; Angstgefühle klemmen mir die Brust zusammen.
»Ich kann das nicht aushalten,« spreche ich tonlos nach.
Wir schweben weiter. Ich kneife die Augen fest zu; sie thun mir weh. Und dann bitte ich die Liwûna, mir andre Welten zu zeigen, die ich wenigstens ansehen kann.
Sie redet mit sanfter Stimme lange Zeit auf mich ein, und ich wage es danach, wieder die Augen zu öffnen.
Ich schwebe in einem zerklüfteten, schwarzen Gebirge. Die steilen Felswände sind so hoch, dass ich oben Stein und Himmel nicht mehr unterscheiden kann. Der Himmel wird immer dunkler. Und unter uns ist alles sehr tief, und in der Tiefe ziehen sich graue Nebelstreifen wie Schlangen hin.
»Langsam!« ruft mir meine Begleiterin zu.
»Ich weiss,« fährt sie fort, »dass du etwas suchst, aber ich weiss auch, dass du noch nicht weisst, wie das aussieht, was du suchst.«
»Ja,« versetzte ich rauh, »ich weiss nicht, was ich suche. Dass ich aber etwas suche, das weiss ich. Ich suche?«
Es umweht mich kühlende Luft. Liwûna sehe ich nicht, ich fühle nur ihre Nähe – und das thut sehr wohl.
Da entdecke ich in der schwarzen Felsenwand einen Spalt, der hell ist. Ich nähere mich dem Spalt und blicke in ein grünes Wunderreich.
Lauter grüne Pilze! Sehr grosse Riesenpilze mit wunderlichen Pilzdächern – gezackten und gespreizten! Und auch viele kleinere Pilze in allen denkbaren Grüns. Viel giftiges und viel glänzendes Grün – helles und dunkles – totes Grün und ein Grün, das so voll echter Lebensgier ist. Diese grüne Welt kann ich ruhig anschauen. Das Auge wird beruhigt durch das viele Grün.
Kleine, weisse Elephanten mit hellgrünen Libellenflügeln fliegen emsig von Pilz zu Pilz. Und es strömt überall ein scharfes Licht aus dieser grünen Pilzenwelt. Die weissen, fliegenden Elephanten krümmen drollig ihre Rüssel, als wenn sie lachen möchten. Sie lachen aber nicht – ich kanns wenigstens nicht hören. Vielleicht lachen sie innerlich – wie die falschen Narren.
Ich wende mich ab und schwebe weiter durch eine grosse, schwarze Schlucht.
Die schwarzen Felsen sind nur ganz matt erleuchtet. Das Licht kommt aus der Tiefe, in der sich die grünen Nebel zusammenballen wie Fäuste. Oben sind keine Sterne. Der Himmel ist so schwarz wie die Felsen.
Ich möchte hinaus aus der schwarzen Schlucht. Liwûna will aber nicht. Sie hat jetzt ein so gelbes, glattes, hartes Antlitz, als wärs aus Elfenbein. Und sie zeigt mit der Rechten auf ein rundes Loch in der Felsenwand. Ich sehe durch und – wieder was andres.
Da drinnen ist alles bunt und glitzernd. Eine Glanzwelt! Blumen sinds nicht, Blätter auch nicht. Es sieht aus, als seien da Milliarden Schmetterlingsflügel durcheinander geschüttelt. Es sind aber keine Flügel, denn alles scheint sehr dick zu sein. Die blauen und roten Töne sind so verschiedenartig wie die violetten und gelben. Und sie sind gleissend hell wie durchsichtiges Email, das ich so liebe. Und die Muster sind zierlich verschnörkelt mit krummen Hörnern und gekräuselten Bändern. Goldene Riesenkäfer kriechen über die Emailwälder. Die Käfer kriechen bloss nicht.
»Suchst du immer noch?«
Also fragt neben mir die Liwûna.
Und ich weiss nicht, ob ich noch suche.
Mir ist wie in einem wirren Traume. Ich habe so viel vergessen, und ich möchte doch so viel behalten. Liwûna ruft drohend:
»Kaidôh! Kaidôh!«
Ich schrecke zusammen und taste mit den Händen um mich, doch ich fühle nichts. Auch der schwarze Stein lässt sich nicht anfühlen; die Hände gehen ohne Empfindung durch. Ich kehre der Glanzwelt den Rücken, bewege wieder die Zehen und schiesse in die Höhe – immer höher – aber aus der schwarzen Felsenschlucht komme ich nicht raus. Plötzlich giebts einen Krach, und auf allen Seiten fällt was runter, und ich habe das Gefühl, dass alle schwarzen Felsen in die Tiefe fallen.
Und ich blicke in eine Spiegelwelt.
Lauter Spiegelwände! Grade und krumme Spiegel – in verschiedenen Winkeln stehen sie zu einander. Oben sind auch Spiegel kantenreich durcheinander gestellt – unten nicht.
Ich sehe Liwûna in den Spiegeln viele tausendmal. Sie hat noch ihr Elfenbeingesicht – grüne Augen funkeln darin. Sie starrt mich an allen Ecken und Enden wie eine richtige Medusa an.
Neben der Liwûna erblicke ich ein anderes Wesen.
»Das ist Kaidôh!« sagt sie neben mir.
Kaidôh sieht ernst aus und hat eingefallene Augen, die grau sind, vergrämt und ruhelos umherschweifen wie die Augen der Diebe.
Kaidôh nickt der Liwûna zu und spricht zu ihr in all den tausend Spiegeln. Was spricht Kaidôh?