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Eine philosophische Kritik am Kult der Grenzenlosigkeit. Der Mensch der Moderne tut sich schwer mit Grenzen. Einerseits ist Grenzenlosigkeit ein Fetisch unserer Zeit: grenzenloses Wirtschaftswachstum, grenzenloser Freihandel, grenzenlose Datenströme im virtuellen Raum, neuerdings grenzenloses Leben durch Human Enhancement. Andererseits wächst die Angst vor grenzenlosen Flüchtlingsströmen, grenzüberschreitenden Krisen, Niedergang der Anstandsgrenzen. Das Thema Grenzen offenbart die Schizophrenie der Moderne. Heilung verspricht eine Besinnung darauf, was das Leben lehrt. Seine Lektion ist eindeutig: Alles was lebt, braucht seine Grenzen - räumlich wie zeitlich. Schon Platon und Aristoteles konnten daher ein Lob der Grenze anstimmen. Es neuerlich erklingen zu lassen, gibt uns die Chance, das Maß des Lebens neu zu entdecken und den Fetisch der Grenzenlosigkeit zu entlarven. Der Philosoph und Autor Christoph Quarch greift gesellschaftliche Themen auf und hilft uns weit über unsere Denkgrenzen hinaus zu gehen.
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Seitenzahl: 40
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LOB DER GRENZE
Warum wir das Maß des Lebens achten sollten
Eine philosophische Kritik am Kult der Grenzenlosigkeit
von Dr. phil. Christoph Quarch
Der Mensch der Moderne tut sich schwer mit Grenzen. Einerseits ist Grenzenlosigkeit ein Fetisch unserer Zeit: grenzenloses Wirtschaftswachstum, grenzenloser Freihandel, grenzenlose Datenströme im virtuellen Raum, neuerdings grenzenloses Leben durch Human Enhancement. Andererseits wächst die Angst vor grenzenlosen Flüchtlingsströmen, grenzüberschreitenden Krisen, Niedergang der Anstandsgrenzen. Das Thema Grenzen offenbart die Schizophrenie der Moderne. Heilung verspricht eine Besinnung darauf, was das Leben lehrt. Seine Lektion ist eindeutig: Alles was lebt, braucht seine Grenzen – räumlich wie zeitlich. Schon Platon und Aristoteles konnten daher ein Lob der Grenze anstimmen. Es neuerlich erklingen zu lassen, gibt uns die Chance, das Maß des Lebens neu zu entdecken und den Fetisch der Grenzenlosigkeit zu entlarven.
KAPITELÜBERSICHT
Einleitung
1. Raum
1.1. System
1.2. Leben
1.3. Schönheit
2. Zeit
2.1. Wachstum
2.2. Tod
2.3. Sinn
3. Welt
3.1. Von Grenzen und Obergrenzen – Politik
3.2. Von den Grenzen des Wachstums – Ökonomie
3.3. Von der Grenzenlosigkeit im digitalen Raum – KI
Schluss
EINLEITUNG
Ein Lob der Grenze anzustimmen, ist alles andere als selbstverständlich. Zumal nicht, wenn man in einem Land lebt, durch das sich 50 Jahre lang eine Grenze zog, die sowohl von denen, die diesseits, als auch jenen, die jenseits ihrer lebten oder leben mussten, als unmenschlich oder barbarisch wahrgenommen wurde – und deren Fall ein ganzes Volk in einen Freudentaumel zu versetzen mochte. Doch nicht nur das: Ein Lob der Grenze anzustimmen, ist auch wenig selbstverständlich in einer Europäischen Union, die sich mit gutem Grunde dessen rühmt, interne Grenzen eingerissen und Freizügigkeit und Bewegungsfreiheit geschaffen zu haben. Und auch damit nicht genug: Das Lob der Grenze scheint vor allem sonderbar in einer Welt, deren größter Stolz darin besteht, ein grenzenloses digitales Netz geschaffen zu haben, in dem grenzenlos viele Daten über alle politischen und gesellschaftlichen Grenzen hinweg bewegt werden können: einen virtuellen Raum, der sich zwar nicht über den Wolken dehnt, in dem die Freiheit aber gleichwohl grenzenlos scheint.
Und damit steht eben jenes Wort im Raum, an dem sich jeder messen lassen muss, der sich erkühnt, ein Lob der Grenze vorzutragen: Freiheit. Denn ist nicht eine jede Grenze eine Einschränkung der Freiheit? Ist nicht jeder, der für Grenzen eintritt, ein verkappter Feind der Freiheit? Oder schlimmer noch: Ist nicht das Plädoyer für Grenzen immer schon ein Schritt in Richtung Tyrannei und Despotie?
Wer sich erkühnt, ein Lob der Grenze anzustimmen, steht unausweichlich vor der Aufgabe, sich für dieses Ansinnen rechtfertigen und gute Argumente vortragen zu müssen, die es nicht allein begründen und rechtfertigen, sondern womöglich gar den Nachweis zu erbringen vermögen, dass sich das Plädoyer für Grenzen mit einem Eintreten für die Freiheit des Menschen durchaus verträgt. Eben darum ist es mir zu tun. Mehr noch: Ich möchte nicht nur zeigen, dass sich Grenzen und Freiheit keineswegs widersprechen, sondern dass sie sich vielmehr einander bedingen; ja, dass es grenzenlose Freiheit nicht nur nicht geben kann, sondern da, wo sie ansatzweise erprobt wird, unweigerlich ins Verderben führt – ganz im Sinne Platons, der in seiner Politeia die Sorge aussprach, die äußerste Freiheit werde „dem einzelnen und dem Staat sich in nichts anderes umwandeln als in die äußerste Knechtschaft“ (1).
Das Drama unserer modernen Welt ist, dass sie in mannigfacher Hinsicht dem Wahn erlegen ist, der Grenzenlosigkeit zu huldigen und dies mit dem Streben nach mehr Freiheit rechtfertigen zu können glaubt. Im Schlussteil dieses Vortrags werde ich darlegen, warum ich meine, dass die Grenzenlosigkeitsmanie des modernen und postmodernen Menschen verhängnisvoll ist. Zuvor aber ist mir darum zu tun, die eingeforderten Argumente dafür vorzutragen, dass wir als Menschen gut beraten sind, Grenzen zu akzeptieren, Grenzen zu setzen und Grenzen zu pflegen.
1. RAUM
Das Nachdenken über Grenzen und Grenzenlosigkeit ist so alt wie die Philosophie selbst. Das verdankt sich vornehmlich einem der ältesten der griechischen Meisterdenker, einem gewissen Anaximander (610–546 v. Chr.), der nach dem verlässlichen Zeugnis späterer antiker Autoren wie Aristoteles die Lehre vertrat, „dass das Prinzip und das Urelement alles Seienden das Grenzenlose sei“ (DK 12A9) (2).
Das Grenzenlose oder Unbegrenzte heißt auf Griechisch Apeiron (ἄπειρον). Dass dieses Apeiron der Urgrund alles Seienden sein solle, war freilich ein Gedanke, der schon die Zeitgenossen jenes Denkers ratlos machte. Es war wohl erst der große Platon, der 200 Jahre später eine schlüssige Deutung der rätselhaften Lehre des Anaximander vorlegte. In seinem Dialog Philebos diskutierte er ausgiebig, was es mit dem Unbegrenzten auf sich habe (Phil. 23c–25b) (3) und deutete es dabei als „Unbestimmtes“ oder besser noch „als Unbestimmtes aber doch Bestimmbares“ und in eben diesem Sinne als die reine „Möglichkeit“. Was soll das heißen?