Logik und Schrecken des Krieges - Jochen Hippler - E-Book

Logik und Schrecken des Krieges E-Book

Jochen Hippler

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Beschreibung

Kriege bringen unsägliches Leid und können ganze Staaten und Gesellschaften vernichten. Und doch führen Menschen seit Jahrtausenden Krieg und nutzen oft die Friedenszeit, um sich für den Krieg zu rüsten. Zwischenstaatliche Kriege waren zuletzt zwar in den Hintergrund getreten, dafür nahmen innergesellschaftliche Kriege zu. Und mit der Rückkehr eines rabiaten Nationalismus werden auch Kriege zwischen Staaten wieder eine größere Rolle spielen, wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine allzu deutlich zeigt. Jochen Hippler spürt der Frage nach, weshalb Kriege geführt werden. Welche Logik, welche Motive leiten die Kriegführenden? Wie werden Kriege geführt, und was entscheidet über Sieg oder Niederlage? Welche Rolle spielen der technische Fortschritt, Ideologie oder Medien? Welche Arten von Krieg gibt es und handelt es sich überhaupt um ein einheitliches Phänomen? Welche Möglichkeiten gibt es, Kriege zu beenden oder zu vermeiden?

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Kohlhammer Trilogien

Herausgegeben von Jörg Armbruster

Die anderen beiden Bände der Trilogie „Von Krieg und Frieden“, Pascal Beucker: Pazifismus – ein Irrweg? und Hartwig von Schubert: Den Frieden verteidigen, finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/trilogien

Der Autor

Dr. Jochen Hippler ist Politikwissenschaftler und Friedens- und Konfliktforscher. Zu seinen Hauptarbeitsgebieten gehören Gewaltkonflikte aller Art (Krieg, Aufstände, Terrorismus usw.) und ihr Zusammenhang mit politischen Identitäten und Governance. Seine regionalen Hauptinteressen sind der Nahe und Mittlere Osten sowie Afghanistan und Pakistan. Jochen Hippler lebt in Duisburg. Website: https://www.jochenhippler.de

Jochen Hippler

Logik und Schrecken des Krieges

Verlag W. Kohlhammer

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Umschlagabbildung: © Adobe Stock.

1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-043429-5

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-043430-1

epub: ISBN 978-3-17-043431-8

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Einleitung

„Krieg“ – Worüber reden wir eigentlich?

„Sinnlose“ Kriege? – Warum es Kriege gibt, obwohl sie so zerstörerisch sind

„Ewige“ Kriege? – Krieg in der Geschichte

Krieg und Völkerrecht

Die Logik des Krieges

„Heldenhafte“ Kriege? – Ideologie, Propaganda und Illusionen

Krieg, Technik und Waffen

Kriegsfolgen

Wie und warum Kriege enden

Die Zukunft des Krieges

Literatur

Vorwort des Herausgebers

Der 24. Februar 2022. An diesem Tag geschieht etwas, was die meisten Europäer für undenkbar gehalten haben: Russland überfällt die Ukraine. Ein Angriffskrieg gegen ein Nachbarland mitten in Europa. Der erste seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Empörung ist groß. Zu Recht. Die Sorge, in diesen militärischen Konflikt hineingezogen zu werden, aber auch. Ebenfalls zu Recht. Schließlich ist der Aggressor eine Atommacht, die gleich zu Beginn des Krieges und seither immer wieder mit dem Einsatz der Bombe gedroht hat. Feststeht jedenfalls: Putin hat die in Europa inzwischen zur Selbstverständlichkeit und daher vielleicht auch bequem gewordene Friedensordnung der vergangenen Jahrzehnte schlagartig zerstört. Wohin Europa nach diesem Tabubruch steuert? Auch heute weiß das niemand wirklich.

Von Anfang an war klar: Die Ukraine wird nur dann nicht zur schnellen Beute Putins werden, wenn die NATO sie massiv unterstützt. Kriegspartei jedoch dürfe das Westbündnis nicht werden, das beeilten sich die Politiker der Mitgliedsländer sofort zu betonen. Es bleibt also ein riskantes Unterfangen, auf das sich die europäischen Regierungen und die USA einlassen müssen. Wo verläuft die rote Linie, die nicht überschritten werden darf? Niemand weiß es genau. Und dennoch – von der ersten Kriegswoche an liefern sie dem angegriffenen Land Waffen.

In Deutschland haben dieser Angriffskrieg und die westlichen Reaktionen die Bevölkerung einmal mehr gespalten. Die wenigsten sympathisieren ernsthaft mit Putin. Bei der Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine allerdings ist die Stimmung weniger klar: Im Januar 2024 gaben laut ARD-Deutschlandtrend 36 % der befragten Bürger an, die Lieferung von Waffen ginge ihnen zu weit, 21 % meinen, nicht weit genug, 35 % hielten den gegenwärtigen Umfang für angemessen. In den ostdeutschen Bundesländern gibt es dagegen eine deutliche Ablehnung der Waffenlieferungen. Dort sagen fast zwei Drittel der vom MDR im Juli 2023 Befragten „Nein“ zur militärischen Unterstützung der Ukraine durch die NATO. Für sie gilt: „Krieg? Nicht mit uns!“

Nicht zuletzt der Ukrainekrieg und unser Umgang damit sind Anlass, in dieser Trilogie aus drei Perspektiven über Krieg und Frieden nachzudenken. Die drei Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden, bilden aber zusammen eine Einheit.

Im ersten Band, Logik und Schrecken des Krieges, geht Jochen Hippler der Frage nach, warum es überhaupt immer wieder Kriege gibt. Jeder weiß doch, selbst bei einem Sieg steht der Angreifer als ein von Zerstörungswut und Habgier getriebener Barbar da, der auch über sein eigenes Volk mehr Elend und Leid gebracht hat als Nutzen. Aber stimmt das eigentlich? Wenn es keinen Nutzen gäbe, dann gäbe es auch keine Kriege, schreibt Hippler. Die allseits bekannten Schrecken des Krieges reichen nicht aus, um sie zu verhindern. Warum Kriege geführt werden, wie sie geführt werden und wann sie enden, folgt einer eigenen Logik.

Wären passiver Widerstand, gewaltfreie Aktionen und Verhandlungen die besseren Antworten auf den russischen Angriff gewesen, wie es bundesdeutsche Pazifistinnen wie Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und Margot Käßmann schon kurz nach Kriegsbeginn den Ukrainern empfohlen hatten? Verhandlungen, koste es, was es wolle, statt Selbstverteidigung? Wem nützen solche Forderungen? Den Ukrainern oder gar Putin oder doch nur dem Wohlbefinden der „blauäugigen Träumer vom ewigen Frieden“? Pazifismus – ein Irrweg?, fragt daher der taz-Redakteur Pascal Beucker im zweiten Band der Trilogie. Zwar entsprach Pazifismus nie dem Zerrbild naiver Träumerei, aber kann er wirklich Kriege verhindern oder wenigstens beenden?

Wie also muss Sicherheit in Zukunft gedacht werden, was verlangt das fraglos legitime Schutzbedürfnis der Bürger von jedem Einzelnen? Eine 100 Milliarden teure Aufrüstung der Bundeswehr hat die Bundesregierung beschlossen. Frieden schaffen mit immer mehr Waffen? Mehr Panzer, bessere Kampfflugzeuge, weitreichendere Raketen? Ist es tatsächlich sinnvoll eine derartig gewaltige Summe in Sicherheit zu investieren? Zeit jedenfalls, grundsätzlich über die gesellschaftspolitischen und internationalen Grundlagen von Frieden und Sicherheit nachzudenken. Seit Jahrtausenden beschäftigen sich Philosophen mit diesen Fragen, schließlich gab es nie eine Zeit ganz ohne Kriege. Ist es dennoch möglich, eine friedliche Weltordnung zu schaffen? Ein weltweit geltendes Rechtssystem, dem sich die Staaten unterwerfen müssen, um miteinander in Frieden zu leben?

Nach den beiden verheerendsten Kriegen des 20. Jahrhunderts versuchte es die Völkergemeinschaft: Sie gründete 1945 die Vereinten Nationen, um „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“, wie es in ihrer Charta heißt. Mit wenig Erfolg, wie wir heute wissen. Im Gegenteil: Heute scheinen wir einem dritten Weltkrieg näher als einem „ewigen Frieden“. Diese düstere Zukunftsvision bestätigen auch vier renommierte deutsche Friedens- und Konfliktforschungsinstitute in ihrem jüngsten Friedensgutachten: Es drohe geradezu ein alles zerstörender Orkan. Daher plädieren auch diese eigentlich der Friedensbewegung nahestehenden Institute für eine härtere konventionelle Abschreckung als Ergänzung zu Friedensbemühungen auf diplomatischer Ebene. Das Wort „kriegstüchtig“ würde vermutlich keiner der Forscher in den Mund nehmen, dennoch bestätigen sie den Kurs der Aufrüstung, den die Bundesregierung nach dem russischen Überfall auf die Ukraine eingeschlagen hat. In genau dieser Richtung entwickelt auch Hartwig von Schubert seine Argumente und Impulse im dritten Band Den Frieden verteidigen.

Keiner der drei Bände bietet endgültige Lösungen an. Die Fragen um Krieg und Frieden sind komplex und herausfordernd, einfache oder gar schnelle Antworten zu aktuellen Konflikten verbieten sich. Die Trilogie versteht sich also nicht als Ratgeber in unsicheren Zeiten, sondern als Stichwortgeber für offenen Dialog und mit gesichertem Wissen angereicherte Debatten. Denn die brauchen wir dringender denn je, um Politik besser zu verstehen, um uns im Dschungel der Sozialen Medien besser zurechtzufinden, um Fakes zu durchschauen und schließlich um in unserer Demokratie mitreden und sie mitgestalten zu können.

Einleitung

Krieg ist brutal und zerstörerisch. Er hat allein im 20. Jahrhundert wohl mehr als 200 Millionen Menschen das Leben gekostet und fast unendliches Leiden hervorgebracht. Bilder der zerstörten Städte Hiroshima, Aleppo, Dresden, Stalingrad, Mariupol oder der ungezählten namenlosen Dörfer sprechen eine deutliche Sprache. Verstümmelungen, Massenvergewaltigungen und posttraumatische Belastungsstörungen haben zahllose Menschenleben zerstört, auch ohne sie direkt zu beenden. Trotzdem ist es der Menschheit bis heute nicht gelungen, den Krieg zu überwinden und ihn auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern, wie dies etwa mit der Jahrtausende alten Sklaverei – mehr oder weniger – gelungen ist. Und nachdem die meisten Kriege während des Kalten Krieges in der „Dritten Welt“ geführt wurden, sind sie inzwischen wieder in Europa angekommen: Die Auflösungskriege des ehemaligen Jugoslawiens in den 1990er Jahren und nun der russische Krieg gegen die Ukraine (seit 2014, massiv seit 2022) unterstreichen dies.

Krieg ist kein einheitliches Phänomen, sondern hat einen vielfältigen Charakter. Auch historisch ist er höchst wandelbar und hat seinen Charakter in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten immer wieder dramatisch geändert. Die unterschiedlichen Facetten und Wandlungen seines Charakters zu begreifen, ist nicht allein für sein Verständnis bedeutsam, sondern auch für die praktische Frage, wie Kriege und andere Gewaltkonflikte verhindert oder beendet werden können.

Ein Problem besteht darin, dass vieles im Umfeld des Krieges nebelhaft bleibt. Zumindest seit wir über schriftliche Aufzeichnungen verfügen, war die Geschichte Europas und der angrenzenden Regionen eine Geschichte der Kriege. Schriftsteller, Historiker, Generäle, und einfache Menschen haben über bestimmte Kriege berichtet oder über „das Wesen des Krieges“ nachgedacht. Vieles davon war parteiisch, verklärend oder reine Propaganda, vieles sollte vor allem dazu dienen, eine Politik oder das eigene Verhalten zu rechtfertigen. Schon generell dürfen historische Quellen nicht zum Nennwert genommen, sondern müssen kritisch überprüft werden. Aber im Falle von Kriegen gilt dies noch viel mehr. Der Satz: „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“, hat meist seine Berechtigung. So ist es gar nicht selten, dass die Zahl der Soldaten in einer historischen Schlacht um das Zehn- oder gar Hundertfache zu hoch angegeben wurde. Manchmal ging es darum, die eigenen Leistungen zu betonen, indem die Zahl der Gegner übertrieben wurde. In anderen Fällen, insbesondere vor der Bürokratisierung des Krieges seit der Neuzeit, hatten selbst die Feldherren nur eine ungefähre Vorstellung über die eigene Truppenstärke und wussten noch viel weniger über die des Gegners. Ähnliches gilt für Zahlen zu den Opfern eines Krieges, die Verluste, Verletzten oder Desertierten. Noch heute können wir manches nur schätzen oder vermuten. So schwanken die Angaben über die Zahl der Todesopfer des Irakkrieges (2003–2012, oder noch einige Jahre darüber hinaus) zwischen etwa 160.000 und mehr als einer Million. Und wenn es um die Gründe und Absichten eines Krieges geht, sind Beschönigungen, Propaganda und Lügen erst recht an der Tagesordnung, auch heute noch.

Andere Dinge dagegen sind sehr klar: Wir wissen, dass große und kleine Kriege in Europa sehr häufig, oft fast der Normalzustand waren. Natürlich wurde nicht am gleichen Ort immer und pausenlos gekämpft – aber wenn irgendwo in Europa ein Krieg erschöpft war oder beendet wurde, dann dauerte es selten lange, bis an anderer Stelle neue Kriege ausbrachen. Wir wissen auch, dass es sehr unterschiedliche Arten von Kriegen gab und gibt – neben kleinen, räumlich begrenzten militärischen Auseinandersetzungen zwischen zwei Kleinstaaten (oder früher Stämmen) gab es lang andauernde, großflächige Kriege mit hunderttausenden oder mehr Kämpfern aus zahlreichen Staaten oder Regionen. Außerdem wurden Kriege auf sehr verschiedene Weise geführt. Schließlich wissen wir, dass Kriege insgesamt von einschneidender Bedeutung für die Gesellschaften waren. Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) beispielsweise führte zum Tod von einem Drittel der Bevölkerung Mitteleuropas und zur Verwüstung großer Regionen.

Dieses Buch bemüht sich darum, den Charakter des Krieges, seine unterschiedlichen Arten, Ursachen und Folgen zu erläutern. Dabei soll es nicht darum gehen, gefühlvoll die Schrecken des Krieges auszumalen, so real diese auch sind. Ebenso wenig geht es darum, Kriege zu verharmlosen oder zu rechtfertigen. Stattdessen wollen wir versuchen, den Leserinnen und Lesern Informationen und Zusammenhänge an die Hand zu geben, um in der Flut der aktuellen Berichterstattung die Kriege und militärische Gewalt selbst einschätzen und bewerten zu können. Strategien, den Krieg zu vermeiden, zu beenden oder ganz zu überwinden, diskutiert dieses Buch nicht – das geschieht teils in den anderen beiden Bänden dieser Trilogie. Aber auch für diese praktische Absicht sollte man den Charakter von Krieg zuerst gut kennenlernen. Auf dieser Grundlage kann man sicher zielgerichteter gegen ihn argumentieren oder ihm entgegentreten.

Ein kurzes Buch wie dieses kann einen Überblick über ein so komplexes Thema wie „Krieg“ geben, sollte aber nicht versuchen, alle seine Aspekte zu behandeln. An vielen Stellen können wichtige Dinge auch nur kurz angesprochen werden, ohne Platz für eine Vertiefung zu haben. Wer hier etwas vermisst, dem oder der sei mein etwas früheres, aber weit umfangreicheres Buch empfohlen: Jochen Hippler, Krieg im 21. Jahrhundert. Militärische Gewalt, Aufstandsbekämpfung und humanitäre Intervention (2019; es erschien auch eine Ausgabe der Bundeszentrale für Politische Bildung).

„Krieg“ – Worüber reden wir eigentlich?

Der Begriff „Krieg“ scheint klar und eindeutig. Militärische Einheiten kämpfen gewaltsam gegeneinander um den Sieg auf dem Schlachtfeld. „Krieg“ ist das Gegenteil von „Frieden“. Kaum jemand zweifelt daran, zu wissen, was ein Krieg ist. Aber so einfach ist es nicht. Auf der einen Seite hat Krieg heute einen schlechten Klang, und viele Kriegsparteien ziehen es vor, den Begriff zu vermeiden. So besteht die russische Regierung darauf, in der Ukraine keinen „Krieg“ zu führen, sondern nur eine „militärische Spezialoperation“. Wer diesen Krieg in Russland „Krieg“ nennt, kann viele Jahre ins Gefängnis kommen. Auch in Deutschland gab es lange eine Tabuisierung des Kriegsbegriffs, wenn auch ohne Strafandrohung: Die Bundesregierung wie fast alle Parteien und Abgeordneten sprachen systematisch nicht vom Afghanistankrieg, sondern von „militärischer Stabilisierung“ oder „militärischer Sicherung“. So stellt sich die Frage, ob denn der Afghanistankrieg überhaupt ein „Krieg“ oder etwas anderes war. Solche Debatten um den Kriegsbegriff wollen ihn aus propagandistischen oder legitimatorischen Gründen vermeiden, so wie man auch ein „Giftmülllager“ lieber „Entsorgungspark“ nennt. Anders ausgedrückt: Einer der Gründe, dass der Kriegsbegriff weniger klar ist, als wir uns das wünschen würden, liegt in seiner politischen Aufladung. Aber es gibt noch weitere Gründe.

Tatsächlich ist es nicht immer klar, was „Krieg“ wirklich bedeutet. Denkt man Krieg im Gegensatz zum Frieden, dann scheint alles klar auf der Hand zu liegen – so wie Schwarz leicht von Weiß zu unterscheiden ist. Aber was ist mit den vielen Grautönen? Und wenn wir Krieg nicht vom Frieden, sondern von anderen Formen der Gewalt unterscheiden, dann stellen sich viele Fragen. Ist jeder gewaltsame Tod vieler Menschen immer Krieg? Was wäre dann mit Massakern oder mit Völkermord? Waren die Ermordung von 8000 Männern im bosnischen Srebrenica durch serbische Truppen (1995) oder die von vielleicht 800.000 meist ethnischen Tutsis in Ruanda durch die Hutu-Mehrheit (1994) Kriege? Falls mehrere Hundert Kämpfer verschiedener Stämme sich blutig bekämpfen, um die Viehherden der anderen Seite zu erbeuten – wäre das ein Krieg oder ein groß angelegter Viehdiebstahl? Wenn Drogenkartelle sich gegenseitig und die Polizei bekämpfen und Tausende von Menschen dabei sterben – wollen wir dies Krieg nennen? Ist „Terrorismus“, wenn er besonders viele Menschen tötet, ein Krieg? War der deutsche Völkermord an den Herero und Nama, bei dem nach dem Aufstand von 1904 Zehntausende ohne Nahrung und Wasser durch das Militär in die Wüste Namibias getrieben wurden, um sie dort verdursten zu lassen, ein Krieg, auch wenn die Menschen nicht an Schussverletzungen, sondern an Hunger und Durst starben? Ähnliche Fragen könnten fast in beliebiger Zahl gestellt werden, und sie werden auch von Wissenschaftlern sehr unterschiedlich beantwortet. Manche bezeichnen fast jede Form von Gewalt in der Geschichte als „Krieg“, andere lehnen dies ab und wenden strenge Kriterien an.

Eine erste wichtige Frage besteht darin, ob der Kriegsbegriff nur für die Gewalt durch (oder gegen) Staaten angewandt werden sollte oder ob auch nicht-staatliche Gruppen „Kriege“ führen können. Sind „Bandenkriege“ Kriege oder nur Kriminalität? Mit anderen Worten: Sollte man den Begriff des Krieges nur für militärische Auseinandersetzungen zwischen Staaten benutzen, oder wenn zumindest eine Kriegspartei ein Staat ist? Oder wäre eine solche Begriffsverwendung doch zu eng, vor allem weil in der menschlichen Geschichte Staaten eine relativ neue Erscheinung sind und sich erst in den letzten Jahrhunderten in ihrer gegenwärtigen Form fast allgemein durchgesetzt haben?

Die zweite zentrale Frage besteht darin, ob wir Krieg wirklich als grundsätzlichen Gegensatz zum Frieden betrachten wollen oder ob Krieg nicht eher nur ein Teil des breiten Spektrums von Gewaltmöglichkeiten ist. Zwischen völliger Gewaltlosigkeit und einem menschheitsvernichtenden Atomkrieg bestehen ja fast unendlich viele Schattierungen von Gewaltsamkeit und noch immer sehr viele Schattierungen dessen, was wir Krieg nennen können. Ein Stammeskrieg, der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg (1775–1783), der Deutsch-Dänische Krieg (1864), der Sechstagekrieg (zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarländern, 1967), der Afghanistankrieg (mehrere Phasen, insgesamt von 1979–2021) oder der Zweite Weltkrieg waren offensichtlich von sehr unterschiedlicher Intensität. Einen lokalen Stammeskrieg mit wenigen hundert Kämpfenden und einen strategischen Atomkrieg mit dem gleichen Begriff „Krieg“ zu bezeichnen, mag leicht in die Irre führen, da sie kaum etwas gemeinsam haben, außer die Anwendung von Gewalt. Es stellt sich also die Frage, ob ein Begriff allein überhaupt ausreicht, um so Unterschiedliches zu bezeichnen. Nicht nur gibt es Gewalt, die kein Krieg ist, auch der Kriegsbegriff selbst sollte vielleicht besser ein Spektrum unterschiedlicher Gewaltarten- und Intensitäten bezeichnen, statt einen einheitlichen Gegensatz zum „Frieden“ zu bilden. Carl von Clausewitz erinnert in seinem Klassiker Vom Kriege (1832) nicht umsonst daran, „daß der Krieg ein Ding sein kann, was bald mehr, bald weniger Krieg ist“ – was auch bedeutet, dass er mal mehr oder weniger gewaltsam sein kann.

Drittens darf die Frage nicht übersehen werden, ob „Kriege“ sich nicht nur in ihrer Größe und Gewaltintensität unterscheiden, sondern auch in ihrer Qualität, in ihrem Charakter. Vieles spricht dafür, dass ein „Bandenkrieg“ nicht nur wesentlich kleiner dimensioniert ist als ein staatlicher, bürokratisierter Großkrieg, sondern auch grundlegend anderen Regeln folgt.

Nun ist es an der Zeit, in diesem Dschungel begrifflicher Unklarheiten zumindest einen vorläufigen Vorschlag vorzulegen, wie wir hier den Begriff „Krieg“ verstehen wollen. Dabei liegt es auf der Hand, dass ein wichtiges Kriterium in seiner Gewaltsamkeit liegt. Darauf wurde ja bereits mehrfach hingewiesen. Wir wollen hier nur dann von einem Krieg sprechen, wenn in größerem Umfang Gewalt angewandt wird. Das Stockholmer Institut für Friedensforschung (SIPRI) hat dafür eine Schwelle von 1.000 Toten pro Jahr definiert – zweifellos willkürlich, aber pragmatisch nützlich. Und wollte man stattdessen 500 oder 2.000 Tote als Grenze festlegen, wäre dies offensichtlich genauso willkürlich. Was wir mit Begriffen wie „Cyberkrieg“, „Wirtschaftskrieg“ oder „Desinformationskrieg“ bezeichnen, sind also für sich genommen keine Kriege; sie können aber zu Mitteln in einem Krieg werden.

Zweitens ist wichtig, dass wir nur dann von Krieg sprechen wollen, wenn es sich um politisch legitimierte Gewalt (etwa im Unterschied zu krimineller oder spontaner) handelt. Schon Clausewitz hat darauf hingewiesen, dass Krieg ein Mittel der Politik sei und ohne politische Absicht keinen Sinn mache. Tatsächlich ist Krieg kein Naturereignis, das über die Menschen hereinbricht, sondern wird begonnen und geführt, um gewaltsam bestimmte Ziele zu erreichen.

Drittens bedarf ein Krieg (im Unterschied etwa zu spontanen Gewaltausbrüchen, einzelnen Massakern usw.) einer gewissen, wenn auch kaum zu bestimmenden zeitlichen Dauer. Wenn ein größerer Gewaltakt mittags beginnt und abends bereits vorüber ist, dann mag es sich um schreckliche Gewalt handeln – aber es wäre kein „Krieg“. Ähnliches gilt für ein Mindestmaß an Organisation. Wenn viele Einzelne wild die Säbel schwingen, dann kann das sehr blutig ablaufen, aber ein Krieg wäre es nicht. Krieg braucht Organisation, braucht koordinierte Kampfeinheiten, Munition, Nachschub, Planung. Ein unkoordiniertes blutiges Durcheinander ist kein Krieg.

Fassen wir zusammen: Wir wollen Krieg hier als organisierte und nicht nur kurzzeitig-spontane Form der politischen Gewalt begreifen, die eine bestimmte Mindestgröße (z. B. 1.000 Tote pro Jahr) überschreitet. Anders ausgedrückt: Wir sprechen hier von Krieg, wenn Gewalt in größerem Umfang und in organisierter Form zur Erreichung politischer Ziele eingesetzt wird.

Es liegt auf der Hand, dass diese Definition sehr breit und etwas abstrakt bleibt. Es gibt sehr viele Arten größerer Gewaltkonflikte, auf die unsere Definition zutreffen würde. Erinnern wir uns auch an unsere früheren Anmerkungen, dass „Krieg“ wohl besser als Spektrum unterschiedlicher Gewaltformen anzusehen ist, nicht als einheitliches Phänomen. Es gibt nicht eine Art von Krieg, die leicht von einer Art des Friedens abzugrenzen wäre, sondern eine verwirrende Zahl unterschiedlicher Kriegsformen (und Arten des „Friedens“) – deshalb wird die Breite unserer Definition dieser Situation gerecht. Dies bedeutet allerdings, dass wir uns zumindest die wichtigsten unterschiedlichen Typen von Kriegen näher ansehen müssen. Dazu systematisch später mehr – zunächst versuchen wir, uns noch einen besseren Überblick über das Phänomen „Krieg“ zu verschaffen.

„Sinnlose“ Kriege? – Warum es Kriege gibt, obwohl sie so zerstörerisch sind