Long Live Evil - Sarah Rees Brennan - E-Book

Long Live Evil E-Book

Sarah Rees Brennan

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Beschreibung

Long Live Evil! – Schurken an die Macht? Rae hat sich schon immer in die Welt von Büchern geflüchtet, selbst während ihr reales Leben aus den Fugen geriet. Als sie im Sterben liegt, ergreift sie eine zweite Chance zu leben: Ein magischer Handel, der sie in die Welt ihrer Lieblings-Fantasy-Buchreihe eintreten lässt. Dort steht sie plötzlich dem lebenden und atmenden Objekt ihres Schwärmens gegenüber – dem »Einstigen und Ewigen Kaiser« – und dieser würde sie am liebsten tot sehen. In einem Reich am Rande des Krieges ist sie die Schurkin in seiner Geschichte und muss die Kontrolle über die Handlung übernehmen, bevor diese und der Kaiser die Kontrolle über sie übernehmen – auf die tödliche Weise. Rae glaubt zu wissen, wie die Story verlaufen wird, aber schon bald muss sie erkennen, dass Geschichten ein Eigenleben haben können. Für alle, die schon einmal in den Schurken eines Romans verknallt waren und deren Lieblingsfarbe Morally Grey ist Platz 1 der Sunday Times Bestseller-Liste! »›Long Live Evil‹ ist sowohl eine geniale Auseinandersetzung mit den Freuden und Gefahren von Fiktion als auch ein mitreißendes, romantisches Abenteuer, das es in sich hat. Machen Sie sich bereit, laut zu lachen, in der Öffentlichkeit zu weinen und die Bösewichte anzufeuern, wenn Sarah Rees Brennan in diesem brillanten und verwegenen, subversiven Leckerbissen eines Buches bekannte Tropes mit humorvoller, wilder Freude zerschmettert.« Leigh Bardugo, New-York-Times-Bestsellerautorin von ›Das neunte Haus‹ und ›Das Lied der Krähen‹ »Absolut brillant. Ich kann nicht aufhören, über ›Long Live Evil‹ nachzudenken, das sich an die Spitze meiner Lieblingsfantasyromane aller Zeiten katapultiert hat. Dieses Buch darf man nicht verpassen. Sarah Rees Brennan wird alles, was man über Fantasy zu wissen glaubt, auf den Kopf stellen.« C.S. Pacat, New-York-Times-Beststellerautor:in von ›Dark Rise‹ und ›Die Prinzen‹ »Sarah Rees Brennans brillantes ›Long Live Evil‹ spielt mit klugen Streitdialogen, herrlichen Wortspielen und epischen Kulissen, um eine besondere Geschichte zu erzählen und zu erkunden, wie befreiend es ist als Schurke zu gelten – und vielleicht sogar einer zu werden. Vor allem aber lernen wir Rae kennen, die ihren scharfen Verstand, ihre Loyalität und ihre Hartnäckigkeit einsetzt, um ihrem Schicksal zu entgehen (und gelegentlich eine Musicalnummer aufzuführen).« Holly Black, New-York-Times-Bestsellerautorin von ›The Book of Night‹ und ›Elfenkrone‹ »Bestellt dieses Buch. Glaubt mir. Sarah Rees Brennan hat das Buch geschrieben, auf das die Fantasy-Lesenden gewartet haben.« Jay Kristoff, New-York-Times-Bestsellerautor von ›Empire of the Vampire‹

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Über das Buch

Rae würde sich vor ihren realen Problemen am liebsten in fiktive Welten flüchten. Doch ihr Leben nimmt eine ungeplante Wendung, als sie durch Magie wirklich in ihrem Lieblingsfantasybuch landet und plötzlich dem Einstigen und Ewigen Kaiser, dem Objekt ihres Schwärmens, gegenübersteht … und dieser sie am liebsten tot sehen würde. In einem Reich am Rande des Krieges ist sie die Schurkin in seiner Geschichte und muss die Kontrolle über die Handlung übernehmen, bevor diese und der Kaiser die Kontrolle über sie übernehmen – auf die tödliche Weise. Rae glaubt zu wissen, wie die Story verlaufen wird, aber schon bald muss sie erkennen, dass Geschichten ein Eigenleben haben können.

Sarah Rees Brennan

Long Live Evil

Roman

Aus dem Englischen von Kerstin Fricke

 

 

 

Für meinen Bruder Rory Rees Brennan – ein wahrer Held, besser als in jedem Buch.

 

 

 

Und jede Zunge bringt verschiednes Zeugnis,

Und jedes Zeugnis straft mich einen Schurken.

 

Richard III.Shakespeare

 

Unser Land ist voller schrecklicher Wunder. Hier sind die Toten lebendig, und Lügen werden wahr. Hier ist jede Fantasie möglich.

Zeit des Eisens, Anonym

1

Die Schurkin sieht dem Tod ins Auge

Der Kaiser stürmte in den Thronsaal. In einer Hand hielt er sein Schwert, in der anderen den Kopf seines Feindes. Munter schwang er sein Schwert und krümmte die Finger im blutgetränkten, wirren Haar.

Eine scharlachrote Spur auf den Fliesen aus gehämmertem Gold kennzeichnete den Weg des Kaisers. Seine Stiefel hinterließen purpurfarbene Abdrücke, selbst das eisblaue Futter seines schwarzen Mantels troff von Rot. Nichts an ihm war unbefleckt geblieben.

Er trug die gekrönte Totenmaske, jedoch ohne den Edelstein an der Stirn, und eine bronzene Brustplatte mit schmiedeeisernen herabfallenden Sternen. Die rot befleckten Metallfinger seiner Panzerhandschuhe liefen in glänzenden Klauen aus.

Als er die Maske abnahm, hatten Zorn und Schmerz neue Falten auf seinem Gesicht hinterlassen. Nach der Zeit an diesem sonnenlosen Ort war er blass wie das Winterlicht und sein Strahlen so kalt geworden, dass es brannte. Er glich einer Statue mit einem Blutfleck auf der Wange, die wie eine rote Blume auf Stein erschien. Sie erkannte ihn kaum wieder.

Er war der Einstige und Ewige Kaiser, der Korrupte und Göttliche, der Verlorene und Gefundene Prinz, Meister der Schreckensschlucht, Kommandant der Lebenden und der Toten. Niemand vermochte seinen Siegeszug aufzuhalten.

Sie konnte sein Grinsen ebenso wenig ertragen wie den ihm folgenden schlurfenden Toten. Ihr Blick wurde vom gierigen Glanz seiner Klinge angezogen, und sie wünschte sich, sie wäre zerbrochen geblieben.

Der Griff des neu geschmiedeten Schwertes von Eyam war eine zusammengerollte Schlange. Auf der Klinge glitzerte eine Inschrift, die waberte, als wäre sie auf Wasser geschrieben worden. Das einzige Wort, das unter der Blutschicht zu erkennen war, lautete Sehnsucht.

Das Mädchen mit den Silberhänden zitterte und war allein im Herzen des Palastes. Der Kaiser näherte sich dem Thron und sagte …

 

»Du hörst nicht zu!«

»Das wäre aber ein komischer Satz des Kaisers«, merkte Rae an.

Ihre kleine Schwester Alice saß auf der Kante von Raes Krankenhausbett und umklammerte das weiß gestrichene Fußteil, als wäre es ein Rettungsboot. Alice las sehr dramatisch aus ihrer Lieblingsbuchreihe vor, doch Rae nahm die Sache nicht ernst.

Das Leben war zu kurz, um Dinge ernst zu nehmen, fand Rae. Alice hatte die Rosenknospenlippen empört verzogen, dabei passten Rosenknospen und Empörung doch gar nicht zusammen.

Als Rae vier Jahre alt gewesen war, hatte ihre Mutter ihr eine wunderschöne kleine Schwester versprochen.

Alice kam im Frühling zu ihr. Die Apfelblüten im Garten waren schneeweiß und leicht rosafarben angehaucht, so wie die Morgendämmerungswolken vor Raes Fenster den ganzen Tag über aussahen. Ihre Eltern trugen Alice über die Schwelle, die in ihrer rosafarbenen Wolldecke und der weißen Spitze fast wie eine weitere noch nicht aufgegangene Blüte erschien. Unter Raes erwartungsvollem Blick schlugen sie ein Stück der Decke zurück und wirkten dabei so ehrfürchtig wie ein Bräutigam, der den Schleier seiner Braut lüftete, um das Gesicht des Neugeborenen zu enthüllen.

Sie war nicht schön, sondern sah eher aus wie eine wütende Walnuss.

»Hey, Quatschfratze«, sagte Rae daher als Kind oft zu Alice. »Weine nicht. Du bist zwar hässlich, aber ich lasse nicht zu, dass dich wer hänselt.«

Wie so oft bewies das Schicksal auch in diesem Fall, dass es Sinn für Humor besaß. Als Alice größer wurde, verschoben sich ihre Gesichtsknochen in die perfekte Position, und sogar ihr Skelett wirkte harmonischer als das jedes anderen Mädchens. Sie war wunderschön. Die Leute sagten, Rae wäre ebenfalls hübsch.

Das war Rae jetzt nicht mehr. Schon zuvor hatte sie gewusst, dass hübsch nicht dasselbe war.

Schönheit glich einem großen Regenschirm, der sowohl praktisch als auch unhandlich war. Vor drei Jahren hatten die Schwestern eine Convention für Fans von Alices Lieblingsbüchern besucht.

Zeit des Eisens war eine Saga über verlorene Götter und alte Sünden, Leidenschaft und Horror, Hoffnung und Tod. Alle waren sich einig, dass es darin nicht um Romantik ging, diskutierten aber trotzdem unaufhörlich über die Dreiecksbeziehung. Die Bücher boten einfach alles: Kämpfe mit dem Schwert und dem Verstand, Verzweiflung und Bälle, einen Helden aus einfachen Verhältnissen, der die ultimative Macht erlangte, und die unvergleichliche Schönheit, die jeder begehrte, aber nur er haben konnte. Die Heldin überwand alle Rivalinnen, da sie reinen Herzens war, und wurde zur Königin des Landes. Der Held bahnte sich den Weg aus den Tiefen herauf und wurde Kaiser von allem. Die Heldin wurde für ihre Schönheit und Tugendhaftigkeit belohnt, der Held dafür, dass er ein gut aussehender Mistkerl war.

Alice verkleidete sich für die Convention als die Schurkin, die man »In Blut getauchte Schönheit« nannte. Rae begriff nicht, warum Alice wie die böse Stiefschwester der Heldin aussehen wollte.

»Ich bin nicht diejenige, die nicht zwischen Kostüm und Wahrheit unterscheiden kann.« Um ihre Worte zu mildern, hatte Alice den nun dunklen Schopf an Raes Schulter gelehnt. »Außerdem sieht sie eigentlich aus wie du, und ich kann vorgeben, tapfer zu sein, wenn ich wie du aussehe.«

Damals hatte Rae die Bücher noch nicht gekannt, aber ihre Cheerleader-Uniform getragen, damit sie beide verkleidet waren. Viele standen Schlange und baten Rae, sie mit Alice zusammen zu fotografieren. Der Typ am Ende der Schlange starrte nur, aber ein anderer, der die zweischneidige Axt des Ersten Herzogs über der Schulter trug, erzählte Witze und brachte Alice zum Lachen. Es war schön, ihre schüchterne Schwester lachen zu sehen.

Als Rae das Handy des Letzteren in der Hand hielt, wanderte seine Hand zu Alices Hintern. Alice war dreizehn.

»Hände weg!«, fauchte Rae.

»Ooooh, tut mir leid, Mylady«, erwiderte der Kerl aalglatt. »Meine Hand ist abgerutscht.«

»Schon okay.« Alice lächelte und war besorgt, seine Gefühle könnten verletzt sein, dabei waren ihm die ihren völlig egal gewesen. »Sagt alle ›Cheese‹!«

Alice war die nette Schwester. Rae betrachtete das selbstgefällige Grinsen des Typen und dann sein Handy.

»Sagt alle ›Find’s erst mal wieder, du Penner!‹«

Sie warf ihren Pferdeschwanz nach hinten und ließ das Handy in einen Mülleimer fallen, der nur so überquoll von halb verspeisten Hotdogs. Nett sein war ja gut und schön, aber als Fiese erreichte man auch was.

Der Kerl kreischte und schien sein Handy dann doch für wichtiger zu erachten als den Arsch einer Minderjährigen.

Rae zwinkerte ihm zu. »Oooh, tut mir leid, Mylord. Meine Hand ist abgerutscht.«

»Als was bist du denn verkleidet, als Cheerleader-Bitch?«

Sie legte ihrer Schwester einen Arm um die Schultern. »Als oberste Cheerleader-Bitch.«

Der Typ schnaubte. »Du hast die Bücher bestimmt noch nicht mal gelesen.«

Damit lag er leider richtig. Zu seinem Pech war Rae auch noch eine gewaltige Lügnerin und ihre Schwester besessen von den Büchern. Daher konterte sie mit einem Ausspruch des Kaisers. »Fleh um Gnade. Mir zuliebe.«

Sie ging davon und weigerte sich, weitere Fragen zu beantworten. Im Allgemeinen merkte sie sich alles, was Alice ihr erzählte, aber langsam fing sie an, sich Sorgen zu machen, weil sie so viel aus dem Unterricht, aus Unterhaltungen und sogar Geschichten vergaß.

Das war das letzte Mal, dass Rae ihre Schwester beschützen konnte. In der darauffolgenden Woche ging sie wegen ihres ständigen Hustens zum Arzt, und auch, weil sie an Gewicht verlor und unter Gedächtnisverlust litt. Es folgte eine ganze Reihe von Tests, die in einer Biopsie nebst darauffolgender Diagnose und Behandlungen endete, was gute drei Jahre währte. Ein Teil von Rae verharrte in diesem letzten Moment, in dem sie jung und grausam sein und sich einbilden konnte, ihre Geschichte würde gut ausgehen. Für immer siebzehn. Der Rest von ihr hatte alle Schritte vom Kind zur alten Frau übersprungen und sich dabei nie älter als zwanzig gefühlt.

Auch die Hoffnung auf Magie hatte Rae längst aufgegeben, wenngleich Alice alle Anforderungen einer Heldin erfüllte. Alice war sechzehn, wunderschön, ohne es zu wissen, und interessierte sich mehr für ihre Lieblingsbuchreihe als für alles andere.

Nun saß Alice auf Raes Krankenhausbett, schob die Brille hoch und runzelte die Stirn. »Du hast gesagt, du bräuchtest eine kleine Auffrischung, was die Geschichte angeht, aber du staunst ja schon wegen der Schlüsselelemente.«

»Ich kenne jeden Song des Musicals!«

Alice schnaubte. Ihre Schwester war Puristin. Rae hielt jeden für einen Glückspilz, dessen Lieblingsgeschichte auf einem Dutzend verschiedener Arten erzählt wurde und der sich das Beste herauspicken konnte. Keiner der Musicaldarsteller sah heiß genug aus, aber mit den Gestalten aus der eigenen Fantasie konnte sowieso niemand mithalten. Figuren aus Büchern waren auf die sicherste Art attraktiv, denn man wusste nicht wirklich, wie sie aussahen, aber dafür, was man selbst bevorzugte.

»Dann verrat mir den Namen der In Blut getauchten Schönheit.« Als Rae zögerte, warf Alice ihr vor: »Es ist fast, als hättest du das Buch nie gelesen!«

Das war Raes peinliches Geheimnis.

Es war ihre Lieblingsserie, aber den ersten Band hatte sie in der Tat nie wirklich gelesen.

Rae und ihre Schwester hatten früher häufig Buch-Pyjamapartys gemacht, bei denen sie sich aneinanderkuschelten und die ganze Nacht ein heiß erwartetes Buch lasen oder sich Geschichten erzählten. Rae teilte Alice mit, wie die Geschichten ihrer Meinung nach ausgehen sollten. Damals hatte Rae Alice nicht geglaubt, dass Zeit des Eisens lebensverändernd sei. Alice war eine literarische Romantikerin und verliebte sich in das Potenzial jeder Geschichte, die sie las. Rae war schon immer weitaus zynischer gewesen.

Ein Buch zu lesen war so, als würde man einen Menschen kennenlernen. Man wusste nicht, ob man die Person derart lieben oder hassen würde, dass man jedes Detail über sie herausfinden wollte, oder lieber an der Oberfläche blieb und nie zu weit in die Tiefe ging.

Nach Raes Diagnose hatte Alice endlich ein aufmerksames Publikum gefunden. Während Raes erster Chemotherapiesitzung schlug Alice Zeit des Eisens auf und fing an, ihr etwas vorzulesen, das wie ein typisches Fantasyabenteuer klang, in dem die Jungfrau in Nöten den Typen mit der Krone abbekam. Rae war überzeugt, genau zu wissen, wohin das führte, hörte sich die spannenden Teile voller Blut und Gemetzel an, schweifte beim Rest jedoch ab. Wer interessierte sich denn schon für die Rettung der Jungfrau? Am Ende war sie erstaunt, als der Kaiser den Thron bestieg.

»Augenblick mal, wer ist dieser Kerl?«, hatte Rae zu erfahren verlangt. »Ich liebe ihn.«

Alice starrte sie fassungslos an. »Das ist der Held.«

Rae verschlang die nächsten beiden Bücher. Die Fortsetzungen waren krass. Nachdem seine Königin ermordet worden war, legte der Kaiser die ganze Welt in Schutt und Asche, bis er über eine karge Landschaft voller Knochen regierte. Die Bücher waren düster und zudem freudlos. Die Reihe hätte genauso gut Verdammte Scheiße, eigentlich stirbt so gut wie jeder heißen können.

Unter dem unheimlichen Himmel Eyams lebten Monster, von denen manche gar Menschengestalt hatten. Rae liebte Monster und monströse Taten. Sie konnte Bücher nicht leiden, die einem wie trostlose Anleitungen die einzig richtige moralische Handlungsweise beibringen wollten. Hoffnung ohne Tragödie war zweckfrei. In der seltsamen, faszinierenden Welt dieser Bücher mit ihrem wunderbar grässlichen Helden hatte Schmerz noch eine Bedeutung.

Als sie die Fortsetzungen beendet hatte, wurde Rae vom Lesen schlecht, und sie konnte diesen Wust an Worten nicht mehr verarbeiten. Selbst wenn ihr vorgelesen wurde, umwölkte sich ihr Verstand. Sie wollte herausfinden, was im ersten Buch tatsächlich passiert war, daher überlistete sie Alice, ihr das Buch als »Auffrischung« vorzulesen. Wenn es eine Stimme gab, der Rae aufmerksam zuhören konnte, dann war es die, die sie am meisten liebte.

Doch jetzt hatten sie das Ende erreicht, und Rae war trotzdem sehr viel aus dem ersten Band der Zeit aus Eisen-Reihe entgangen. So langsam befürchtete sie, ihre Schwester, die ein Superfan war, würde ihr noch auf die Schliche kommen.

Daher war es Zeit, die Coole zu spielen. »Wie kannst du es wagen, mein Wissen anzuzweifeln!«, protestierte Rae.

»Du vergisst ständig die Namen!«

»Die Figuren haben alle ebenso Titel wie Namen, und das ist doch echt übertrieben. Da gibt es die Goldene Kobra, die In Blut getauchte Schönheit, die Eiserne Jungfrau, die Letzte Hoffnung …«

Alice kreischte auf. Rae glaubte erst, ihre Schwester habe eine Maus gesehen.

»Die Letzte Hoffnung ist die beste Figur im ganzen Buch!«

Rae hob kapitulierend die Hände. »Wenn du das sagst.«

Die Letzte Hoffnung war der Verlierer der Dreiecksbeziehung und der Gute. Wenn man Alice fragte, war er makellos. Alices Favorit vergeudete seine Zeit damit, die Heldin aus der Ferne anzuschmachten, und war zu sehr mit Grübeln beschäftigt, um seine unglaublichen übernatürlichen Fähigkeiten einzusetzen.

Die Parade der Männer, die der Heldin ihre Liebe gestanden, langweilte Rae derart, dass sie die Typen durcheinanderbrachte. Jeder konnte einem seine Liebe gestehen. Aber als sie ihre Liebe beweisen mussten, scheiterten die meisten.

Alice schniefte. »Die Letzte Hoffnung hatte Lia verdient. Der Kaiser ist ein Psychopath.«

Die Vorstellung, man könne jemanden verdienen, war so was von falsch. Man gewann keine Frau, indem man Punkte sammelte. Alice musste das mit einem Videospiel verwechseln.

Doch Rae ging darüber hinweg, um ihren Liebling zu verteidigen. »Sind dir die markanten Wangenknochen des Kaisers entgangen? Tut mir ja echt leid für die Seite des Guten, aber das Böse ist einfach heißer.«

Rae mochte Figuren mit qualvollen Hintergrundgeschichten, wollte jedoch auch nicht, dass sie einem damit auf die Nerven gingen. Der Kaiser war Raes Lieblingsfigur aller Zeiten, weil er nie über seine dunkle Vergangenheit sinnierte. Er setzte seine sündhaften Kräfte und das Riesenschwert ein, um seine Feinde abzuschlachten, und blickte dann nach vorn.

Alice verzog das Gesicht. »Die Sache mit den Eisenschuhen war schon fies! Wenn ein Ekel die wahre Liebe ist, was sollten Mädchen denn daraus lernen?«

Welche Sache mit den Eisenschuhen? Rae beschloss, dass es nicht weiter wichtig war. »Geschichten sollen unterhalten. Ich brauche keine Moralpredigt. Dafür ist die Literaturanalyse da.«

Rae hätte Jahrgangsbeste sein und ein Stipendium bekommen können. Stattdessen waren Raes und Alices Collegesparbücher leer. Rae war zwanzig und würde nie aufs College gehen.

Aber darüber sprachen sie nicht.

»Wenn der Kaiser echt wäre, hätte man einen entsetzlichen Kerl vor sich.«

»Zum Glück ist er aber nicht echt«, schoss Rae zurück. »Jeder, der glaubt, Bücher würden Frauen dazu bringen, mit Arschlöchern auszugehen, unterschätzt uns. Wenn Geschichten Menschen hypnotisieren, wieso hat dann keiner Angst, Filme könnten Jungs in mordlustige Rennfahrer verwandeln? Ich will den Kerl nicht auf den rechten Weg zurückbringen, sondern mir das Gemetzel ansehen.«

Sie weigerte sich, den Streit über den problematischen Kaiser fortzusetzen. Selbstverständlich war der Kaiser labil. Wenn man die Hälfte der Leute, die einem über den Weg laufen, einfach umbringt, hat man ganz offensichtlich ein Problem. Aber Geschichten lebten von Problemen. Es gab einen Grund dafür, dass Star Wars nicht Star Peace hieß.

Nachdem Lia ermordet worden war, setzte der Kaiser ihre Leiche auf einen Thron und zwang ihre Feinde, ihr die Füße zu küssen. Danach riss er ihnen die Herzen heraus. »Jetzt weißt du, wie sich das anfühlt«, sagte er jedes Mal und sorgte dafür, dass sein Gesicht das Letzte war, was sie sahen. Böse Figuren hatten epische Höhen, ebenso epische Tiefen und epische Liebesgeschichten. Der Kaiser liebte wie eine Apokalypse.

In wahren Leben ließen einen die Menschen gehen. Darum sehnten sich die Leute ja so sehr nach der Liebe aus den Geschichten, einer Liebe, die sich echter anfühlte als die wirkliche Liebe.

Alices Seufzen hätte ein Bauernhaus in ein magisches Land wehen können. »Es geht um beunruhigende Muster in den Medien, nicht um eine bestimmte Story. Außerdem bist du voll langweilig. Jeder mag den Kaiser am liebsten.«

Das war lächerlich. Viele bevorzugten das ausgeprägte Elend der Letzten Hoffnung, die dekadenten Mätzchen der Goldenen Kobra und den schneidenden Sarkasmus der Eisernen Jungfrau.

Nur wenige mochten die Heldin. Wer konnte schon so gut sein wie die perfekte Frau, und wer wollte das überhaupt?

Noch weniger konnten die böse Stiefschwester leiden. Das Einzige, was noch schlimmer war als eine zu unschuldige Frau, war eine zu schuldige.

»Keiner mag die In Blut getauchte Schönheit«, merkte Rae an. »Darum muss ich mir ihren Namen auch gar nicht merken. Diese inkompetente Ränkeschmiedin stirbt doch schon im ersten Buch.«

»Ihr Name ist Lady Rahela Domitia.«

»Wow.« Rae grinste. »Da hätte man sie auch gleich Evilla McKinky nennen können. Kein Wunder, dass der Kaiser auf sie stand.«

»Das war nicht der Kaiser«, korrigierte Alice sie.

Ach ja, der König wurde später gar nicht Kaiser. Rae nickte weise.

»Rahela war die Favoritin des Königs«, fuhr Alice fort, »bis unsere Heldin an den Hof kam. Der König war völlig verzaubert von Lia, daher ist Lias Stiefschwester vor Eifersucht durchgedreht. Rahela und ihre Zofe haben einen Plan geschmiedet, um Lia exekutieren zu lassen! Klingelt da was bei dir?«

»Eine ganze Menge sogar. In meinem Kopf geht’s zu wie in einer Kathedrale.«

In Raes Erinnerungen wurde die Stimme ihrer Schwester deutlicher. Groß angelegte Sterbeszenen hatte Rae schon immer gemocht.

Das Kapitel fing damit an, wie Lady Rahela, die ein unverkennbares schneeweißes Kleid mit blutroten Verzierungen trug, feststellte, dass man sie in ihrem Gemach eingesperrt hatte. Am nächsten Tag ließ der König Rahela vor den Augen des gesamten Hofstaates hinrichten. Alle genossen es, mitanzusehen, wie die fiese Schwester die gerechte Strafe bekam.

Rahelas Zofe wurde von Lia begnadigt, die immer sagte »Ich weiß, dass noch etwas Gutes in ihnen ist«, während die fraglichen Leute unheilvoll keckerten und kleinen Kätzchen die Köpfe abbissen. Die am Boden zerstörte ehemalige Dienstbotin verwandelte sich in eine als Eiserne Jungfrau bekannte Axtmörderin.

Alle großen Schurken wurden beinahe erlöst, nur um dann noch böser zu werden. Man glaubt: Sie schaffen die Kehrtwende! Es ist noch nicht zu spät! Bei den Sterbeszenen der besten Schurken musste man halt weinen.

»Sollen wir weiterlesen?«, fragte Alice. »Wir müssen auf das nächste Buch vorbereitet sein!«

Das nächste Buch würde auch das letzte werden. Alle rechneten mit einem traurigen Ende, Rae befürchtete eins.

Hoffnung ohne Tragödie war zweckfrei, aber eine Tragödie ohne Hoffnung auch. Rae hatte ihrer Schwester immer gesagt, dass dies eine Geschichte über beides sei. Die Dunkelheit konnte nicht bis in alle schreckliche Ewigkeit andauern. Die Leute würden nicht bis zu ihrem Tod immer schlimmer werden. Sie ging davon aus, dass der Kaiser seine Königin wiederbeleben und sich in letzter Sekunde den Sieg sichern konnte, aber so langsam geriet ihr Glaube ins Wanken. Fiktion sollte Realitätsflucht sein, aber sie befürchtete, dass am Ende dieser Geschichte niemand mehr leben würde.

»Ich bin noch nicht bereit für ein Ende.« Rae tat so, als würde sie auf dramatische Weise in Ohnmacht fallen. »Lass mich beim Kaiser im Thronsaal zurück.«

Alice drehte sich zu den Fenstern des Krankenzimmers um, die abends so undurchsichtig wie Spiegel wurden. Rae bemerkte erschrocken ein vielsagendes Glitzern in Alices Augen, in dem sich das Schimmern der Scheiben widerspiegelte. Das war es doch nicht wert, deswegen eine Träne zu vergießen. Nichts davon war echt.

Alice sprach leise weiter. »Mach dich nicht über alles lustig, was mir wichtig ist.«

Rae hätte sich für ihre Schwester gern in das Mädchen von früher zurückverwandelt. Sie sollte klug und stark sein und Mitgefühl haben. Einst war sie förmlich übergequollen, doch heute war sie leer.

Ihre Stimme klang schneidend wie Schuldgefühle. »Ich habe andere Sorgen!«

»Da hast du recht, Rae. Selbst wenn du alles falsch verstehst, glaubst du noch immer, richtigzuliegen.«

»Das ist nur eine Geschichte.«

»Ja«, fauchte Alice. »Sie ist aus dem Nichts entstanden und wurde zu etwas, das Tausende lieben. Darin fühle ich mich verstanden, während mich in meinem Leben niemand versteht. Aber es ist nur eine Geschichte.«

Rae kniff die Augen zusammen. »Hast du nie darüber nachgedacht, welchen Grund es haben könnte, dass ich das Ende dieser Buchreihe, in der alle sterben, nicht erreichen will?«

Alice sprang auf wie eine zornentbrannte Rakete und sprühte förmlich Funken. »Du weißt ja noch nicht mal, warum ich die Szene, in der die Blume von Leben und Tod blüht, am liebsten mag!«

Rae fehlten die Worte, da sie nicht die geringste Ahnung hatte, was in dieser Szene passierte.

In diesem Krankenhaus waren Metallringe in die weißen Metalltüren eingelassen, an denen man sich festhalten konnte, wenn man schlecht auf den Beinen war, und so die Tür leichter aufbekam. Als Alice hinausstürmte, schlug die Tür mit solcher Gewalt zu, dass das flache Wasserglas neben Raes schmalem Bett bebte.

Es überraschte sie nicht, dass ihre Schwester ging. Rae hatte auch schon alle anderen vertrieben.

Sie drehte den Kopf auf dem Kissen und starrte das undurchdringlich-silberne Fenster an, wobei sie die Lippen aufeinanderpresste. Nach einer Weile hievte sie sich aus dem Bett wie eine alte Frau, die aus einer Badewanne stieg. Auf stockdünnen, wackligen Beinen, die ständig unter ihr wegrutschen wollten, ging sie zur Tür. Manchmal hatte Rae den Eindruck, es wären nicht etwa ihre Beine, die sie im Stich ließen, sondern die Welt wollte sie nicht mehr und würde versuchen, sie über den Rand zu kippen.

Als Rae die Tür öffnete, stand Alice direkt davor und fiel Rae in die Arme.

»Hey, du Blödi«, flüsterte Rae. »Tut mir leid.«

»Mir tut es leid«, erwiderte Alice schluchzend. »Ich sollte wegen so einer dämlichen Geschichte keinen Aufstand machen.«

»Das ist unsere Lieblingsgeschichte.«

Rae war die organisierte Schwester. Sie hatte ihren Zeitplan für die Convention farbig ausgemalt, um das Erlebnis zu optimieren, und Alice bei der Herstellung ihres Kostüms geholfen. Diese Geschichte war etwas, das sie beide zusammen erlebten.

Auch wenn die Geschichte nicht echt war, wurde sie durch ihre Liebe dazu bedeutsam.

Alice presste eine Wange an Raes Schulter. Rae spürte ihre Wärme, und die Tränen, die unter Alices Brille hervordrangen, hinterließen feuchte Flecken auf Raes Krankenhausnachthemd.

»Weißt du noch, wie du mir früher Geschichten erzählt hast?«, wisperte Alice.

Rae hatte früher viele Dinge getan.

Vorerst würde sie ihre Schwester in den Armen halten. Es kam ihr seltsam vor, dünner zu sein als die spindeldürre Alice. Rae schwand dahin, und Alice wurde realer, als Rae es jemals wieder sein würde.

Sie drückte ihrer Schwester einen Kuss auf das zerzauste Haar. »Morgen erzähle ich dir eine Geschichte.«

»Wirklich?«

»Vertrau mir. Das wird die beste, die du je gehört hast.« Sie knuffte ihre Schwester ermutigend.

Alice zögerte. »Mom kommt vorbei, wenn sie den Vertragsabschluss geschafft hat.«

Ihre Mutter war Immobilienmaklerin und machte erst Feierabend, wenn die Besuchszeit längst vorbei war. Sie wussten beide, dass sie nicht kommen würde. Rae machte die alberne Pose von den Postern ihrer Mutter nach und intonierte den Slogan: »Leben Sie in ihrem Fantasiehaus!«

Alice war schon fast weg, als Rae ihr hinterherrief: »Quatschfratze?«

Ihre Schwester drehte sich noch einmal um und sah sie zitternd und mit flehenden dunklen Augen an. Wie ein Rehkitz, das sich im Krankenhaus verlaufen hatte.

»Hab dich lieb«, sagte Rae.

Alices Lächeln war herzergreifend schön. Rae taumelte zu ihrem Bett zurück und legte sich auf den Bauch. Sie hatte nicht gewollt, dass Alice sah, wie erschöpft sie allein dadurch war, dass sie lauter gesprochen hatte.

Als sie nach Zeit des Eisens griff, das neben ihrem Bett lag, fasste sie zuerst ins Leere. Rae biss die Zähne zusammen, nahm das Buch und stellte fest, dass ihre Finger zu stark zitterten, um es aufzuschlagen. Schon lange bevor sie mit dem Buch in der Hand das Bewusstsein verlor, fehlte ihr die Energie zum Weinen.

 

Als sie aufwachte, saß eine fremde Frau an ihrem Bett und hielt Raes Buch in den Händen. Die Frau trug keinen weißen Kittel und keine Krankenschwesterntracht, sondern schwarze Leggings und ein übergroßes weißes T-Shirt. Sie hatte sich die feinen Zöpfe zu einem Dutt hochgesteckt und musterte Rae kühl und abschätzend.

Noch benommen vom Schlaf murmelte Rae: »Haben Sie sich im Zimmer geirrt?«

»Hoffentlich nicht«, antwortete die Frau. »Hör mir jetzt genau zu, Rachel Parilla. Es gibt vieles, das du nicht weißt. Lass uns über die Chemotherapie sprechen.«

Der Schock ließ Rae schlagartig wach werden. Ihr Bett ließ sich durch einen Hebel an der Seite hochstellen, und Rae legte ihn um und setzte sich ruckartig auf, um die Frau besser sehen zu können.

»Was glauben Sie zu wissen, das ich nicht weiß?«

Rae deutete mit einem dürren Arm auf ihren Kopf. Sie hatte im Schlaf geschwitzt und wusste, dass ihre nackte Kopfhaut im fluoreszierenden Licht feucht schimmern würde.

Die Frau lehnte sich zurück, als wäre der Krankenhausstuhl bequem. Sie fuhr mit einem Finger über das Cover von Zeit des Eisens, und ihr goldener Nagellack bildete einen glitzernden Kontrast zu ihrer dunkelbraunen Haut und dem glänzenden Bucheinband.

»Die Tumore in deinen Lymphknoten sind aggressiver geworden. Deine Prognose war schon immer schlecht, aber es gab noch Hoffnung. Schon bald werden dir die Ärzte mitteilen, dass es keine Hoffnung mehr gibt.«

Rae drehte sich der Kopf, bis ihr übel wurde und sie außer Atem war. Sie wäre am liebsten auf dem Boden zusammengesackt, doch sie lag ja längst.

Die Frau fuhr gnadenlos fort. »Die Versicherung zahlt nicht genug. Deine Mutter wird eine neue Hypothek aufnehmen müssen. Sie wird ihren Job verlieren. Deine Familie verliert ihr Haus. Sie verlieren alles, und ihr Opfer bedeutet rein gar nichts, weil du trotzdem stirbst.«

Raes Atem war ein Sturm, der das Wrack ihres Körpers erschütterte. Sie suchte nach einem Gefühl, das keine Panik war, und stieß auf Wut. Zornig packte sie ihr Wasserglas und warf es der Frau an den Kopf. Das Glas zersprang auf dem Boden in tausend winzige, scharfe Diamanten.

»Kriegen Sie irgendeinen kranken Kick daraus, Krebspatienten zu foltern? Verschwinden Sie!«

Die Frau blieb weiterhin gefasst. »Es gibt noch etwas, das du nicht weißt. Willst du dich retten, Rae? Würdest du nach Eyam gehen?«

War diese Frau aus der Klapse entkommen? Rae hatte nicht mal gewusst, dass es hier eine psychiatrische Abteilung gab. Sie drückte auf den Knopf, um eine Schwester zu rufen.

»Ein super Vorschlag. Ich kaufe mir ein Flugticket in ein Land, das nicht existiert.«

»Wer sagt, dass Eyam nicht real ist?«

»Ich«, antwortete Rae. »Buchläden, die Zeit des Eisens in Regale stellen, die nicht mit Sachbuch überschrieben sind.«

Wieder und wieder drückte sie auf den Knopf. Kommt her und rettet eure Patientin, Krankenschwestern!

»Denk doch mal darüber nach. Du sagst zu jemandem, den du nicht kennst: ›Ich liebe dich.‹ Ist das eine Lüge?«

Rae betrachtete die Frau misstrauisch. »Ja.«

Irgendwie sahen die Augen der Frau noch immer so aus, als wären sie sehr tief und als würde unter der ruhigen Oberfläche etwas passieren.

»Später erfährst du mehr über denjenigen, den du angelogen hast. Du sagst dieselben Worte, und ›Ich liebe dich‹ ist jetzt wahr. Ist die Wahrheit Stein oder Wasser? Wenn genug Menschen in ihrer Fantasie durch eine Welt schreiten, bildet sich ein Weg. Was ist Realität anderes als etwas, das uns wirklich beeinflusst? Wenn genug Leute etwas glauben, wird es dann nicht real?«

»Nein«, erwiderte Rae mit ausdrucksloser Stimme. »Realität erfordert keinen Glauben. Ich bin real, ohne etwas dafür tun zu müssen.«

Die Frau lächelte. »Vielleicht glaubt ja jemand an dich.«

Wow, da bekam wohl wer die richtig guten Drogen.

»Das ist eine Geschichte.«

»Alles ist eine Geschichte. Was ist böse? Was ist Liebe? Menschen entscheiden darüber, und jeder nimmt eine zackige Scherbe seines Glaubens und setzt die Einzelteile zusammen. Genug Blut und Tränen vermögen, ein Leben zu kaufen. Genug Glaube kann alles wahr werden lassen. Die Menschen erfinden die Wahrheit auf dieselbe Weise wie alles andere: zusammen.«

Früher einmal hatte Rae ihr Cheerleader-Team angeführt. Früher einmal hatte ihre Familie als Team zusammengearbeitet und einander geholfen, bis Rae das nicht mehr tun konnte. Früher einmal war lange her.

»Was verleiht einer Geschichte Bedeutung?« Die Frau ließ nicht locker. »Was verleiht deinem Leben Bedeutung?«

Nichts. Das war die beleidigende Wahrheit des Todes. Das Schlimmste, was Rae je passiert war, hatte nicht die geringste Bedeutung. Ihr verzweifelter Kampf änderte nichts. Die Welt drehte sich auch ohne sie weiter. Neuerdings war Rae mit dem Tod allein.

Das war der wahre Grund, aus dem sie den Kaiser liebte. Eine Lieblingsfigur zu finden war in etwa so, als würde man auf einen bestehenden Seelengefährten treffen, der aus Wörtern bestand, die einen ansprachen. Er hielt sich nie zurück, und er gab niemals auf. Somit entsprach er gewissermaßen ihrem freigesetzten Zorn. Sie liebte den Kaiser nicht trotz, sondern wegen seiner Sünden.

Wenigstens einer von ihnen konnte kämpfen.

In griechischen Stücken wurde die Läuterung stets erreicht, wenn das Publikum Verrat, verdrehte Liebe und Katastrophen sah. Die Figuren läuterten sich durch unmögliche Tragödien, bis ihre Herzen rein waren. In einer Geschichte durfte man von Gefühlen gepeinigt werden, die für die Realität viel zu schrecklich waren. Würde Rae zeigen, wie wütend sie wirklich war, würde sie auch noch die letzten Menschen in ihrer Nähe verlieren. Sie war machtlos, aber der Kaiser holte mit Gewalt die Sterne vom Himmel. Rae unterstützte ihn dabei, wenngleich aus der Enge ihres schmalen Krankenhausbetts. Er leistete ihr hier Gesellschaft.

Rae weigerte sich, eine hoffnungsvolle Närrin zu sein. »Ich kann nicht nach Eyam gehen. Das kann niemand.«

Ein echtes Land würde eine Landkarte haben, hätte sie gern argumentiert, bis ihr einfiel, dass die Karte von Eyam den Großteil einer Wand in Alices Zimmer einnahm. Rae hatte die zerklüfteten Berggipfel und hauchdünnen Zacken der Klippen gesehen, so kalt wie Einsamkeit, das große Familienanwesen der Valerius’ und die verworrenen Geheimgänge des Palastes, den großen Thronsaal und das Gewächshaus.

Rae war nie in Eyam gewesen. Dasselbe konnte sie auch über Peru behaupten. An die Existenz von Peru glaubte sie.

Die Frau machte eine Geste. »Ich kann dir eine offene Tür bieten.«

»Diese Tür führt auf einen Krankenhausflur.«

»Führt die Tür oder führst du? Verlass diesen Raum, und finde dich in Eyam wieder, und zwar im Körper der Figur, die am besten zu dir passt. Einem Körper, den die Vorbesitzerin nicht mehr nutzt. Die Blume von Leben und Tod blüht in Eyam jedes Jahr. Du hast eine Chance. Finde heraus, wie man ins kaiserliche Gewächshaus kommt, und stiehl die Blume, wenn sie blüht. Sobald du sie hast, wird sich eine neue Tür öffnen. Bis dahin schläft dein Körper und wartet auf dich. Wenn du die Blume bekommst, wachst du geheilt auf. Andernfalls wachst du nicht mehr auf.«

»Warum tun Sie das?«, verlangte Rae zu erfahren.

In der Stimme der Frau schwang etwas Ernstes mit. »Für die Liebe.«

»Wie viele Leute haben Ihr Angebot schon angenommen?«

»Zu viele.« Nun klang sie ein bisschen traurig.

»Wie viele sind geheilt aufgewacht?«

»Möglicherweise wärst du die Erste.«

Der Rufknopf für die Schwestern war offenbar kaputt. Rae konnte den Kopf in den Gang stecken und um Hilfe rufen oder hierbleiben und sich diesen Unsinn noch länger anhören.

Rae entschied sich fürs Handeln.

Sie schwang die Beine aus dem Bett. Wenn man sich krank durch die Welt bewegen wollte, musste man sich konzentrieren. Jeder Schritt war eine Entscheidung, die Rae traf, nachdem sie ihre Möglichkeiten abgewogen hatte. Es war wie damals an der Spitze der Cheerleader-Pyramide. Eine falsche Bewegung zog einen bösen Sturz nach sich.

Die Stimme der Frau ertönte in ihrem Rücken. »Wenn dich die Geschichte nimmt und verdreht, wirst du dann um Gnade winseln?«

Verlangen durchzuckte Rae, so intensiv und hell wie ein brennender Pfeil. War das Angebot vielleicht doch echt? Bei dieser herrlich verrückten und reizvollen Vorstellung verzog sie die Lippen. Man stelle sich nur vor, eine Tür könnte sich ebenso öffnen wie ein Buch und einen direkt in die Geschichte führen. In ein großes Abenteuer anstelle der Krankenhauswände, die immer näher kamen, und eines Lebens, das immer kleiner und unbedeutender wurde. Sie könnte keine Entfesslungskünstlerin, sondern eine Kunstentfesslerin sein und in ein imaginäres Land verschwinden.

Durch eine Badezimmertür, hinter der Rae Galle und Blut erbrach, hatte sie eine lehrerinnenhafte Stimme ihrer Mutter sagen hören: Es wird Zeit, sie gehen zu lassen. Aber Rae konnte sich nicht gehen lassen. Sie war alles, was sie hatte.

Früher einmal hatte sie geglaubt, ihre Zukunft würde episch werden. Sie hatte ja nicht ahnen können, dass ihr nur ein Prolog vergönnt war.

Einen Pferdeschwanz hatte sie zwar nicht mehr, trotzdem machte sie eine ruckartige Kopfbewegung und zwinkerte der Frau über die Schulter hinweg zu. »Wenn ich mit ihr fertig bin, wird die Geschichte mich um Gnade anflehen.«

Rae griff nach der Schlaufe am Türgriff. Sie stieß die Tür mit ihrer letzten Kraft auf.

Licht brach sich wie funkelndes Glas in ihren Augen, gefolgt von niederschmetternder Dunkelheit. Rae sah alarmiert über die Schulter. Hinter ihr verlor die Welt an Farbe und ließ sie in einem Krankenzimmer zurück, das so schwarz-weiß war wie Tinte auf einem Blatt Papier.

***

Rae ging das Aufwachen langsam an. In letzter Zeit verlor sie immer das Bewusstsein, wenn sie zu schnell aufstand. Im Allgemeinen kam sie dann mit dem Blick auf Linoleum wieder zu sich.

Jetzt ertrank sie förmlich in den zerbrochenen Einzelteilen einer Welt. Fragmente, so blau, wie man die Erde aus dem Weltall sah, mit Rissen rings um das Blau, als hätte jemand die Welt zertrümmert und die Stücke danach wieder zusammengesetzt.

Sie rappelte sich auf und starrte den Boden an. Blaue Mosaike stellten einen glänzenden Teich dar, auf dem das beeindruckende Himmelbett neben ihr zu treiben schien.

Als Rae ungläubig nach unten ins tiefe Blau starrte, starrten sie scharlachrote Augen mit Rubinen in den Augenwinkeln an. Blutrote Edelsteine schmückten sanft gerundete Hände. Raes Hände waren Klauen, die Hände einer alten Frau mit papierdünner Haut, die sich über den Knochen spannte. Dies waren die Hände einer jungen Frau.

Es waren nicht Raes Hände.

Das war auch nicht Raes Körper. Sie hatte sich schon so lange an das Leiden gewöhnt, dass ihr der Schmerz nicht mehr passierte, sondern zu ihr gehörte. Jetzt spürte sie keinen Schmerz mehr. Sie spreizte die Finger vor dem Gesicht und bestaunte, wie leicht sie die Handgelenke drehen konnte. Ein schweres Armband in Form einer Schlange glitt an ihrem Arm hinunter, und rotes Licht fiel wie eine blutbefleckte Enthüllung auf die Metallglieder.

Man konnte sie vielleicht entführen, aber nicht ihren Körper verändern.

Sie ließ die mit Rubinringen geschmückten Hände sinken und bemerkte zum ersten Mal, was sie anhatte. Ihre Röcke ergossen sich über den Boden und waren weiß wie Schnee, an den Rändern jedoch in einem dunklen Rot gefärbt. Als wäre das makellose Weiß in Blut getaucht worden. Das war das Kleid, das Alice zu einer Convention getragen hatte, das Kostüm, von dem sie geglaubt hatte, es würde sie mutig machen.

Rae rannte aus dem Schlafzimmer in den angrenzenden kleinen Flur. Die Wände und der Boden bestanden aus weißem Marmor, der sanft glänzte, als wäre Rae im Inneren einer Perle gefangen. Als sie die Tür öffnen wollte, stellte sie fest, dass sie verriegelt war. Durch das Buntglasfenster sah sie eine Sonne in den rauchgrauen Wolken untergehen und einen Mond, der bereits über die verdunkelte Nacht regierte. Der Mond war rissig wie ein Spiegel, der alles zweimal anzeigt, zerbrochen wie das Fenster eines Hauses, in dem man nicht sicher war.

Sie kannte diesen Himmel. Sie kannte diese Szene. Sie kannte dieses Kostüm.

Ein Lachen entrang sich Raes Kehle, das von ganz tief unten zu kommen schien, und brach sich als Keckern Bahn. Kampfbereit ballte sie die schönen Hände zu Fäusten.

Sie war Lady Rahela, die In Blut getauchte Schönheit. Sie war die böse Stiefschwester der Heldin. Und sie sollte morgen exekutiert werden.

Als Lady Rahela in den Thronsaal eilte, öffnete ihr der neue Wachmann die Tür. Rahela, ebenso stolz wie schön, grinste höhnisch.

Den König lächelte sie hingegen lieblich an. »Die Beweise belegen, dass meine Stiefschwester eine Verräterin ist.«

»Und wie soll ich eine Verräterin bestrafen?«

»Eine Verräterin muss in der Grube oder durch den Galgen sterben.«

»Möge der Hof Zeuge sein«, erklärte der König. »Lady Rahela verdient den Tod in der Wassergrube mit Eisenschuhen, die sie nach unten ziehen.«

»Sie hat ein weitaus schlimmeres Ende verdient.« Rahelas Wache trat aus ihrem Schatten, ein schmaler Jüngling mit gierigem Grinsen. »Lasst mich Euch ein noch unglücklicheres Ende vorschlagen. Selbst Gewöhnliche preisen die Tanzkünste der Lady des Schnees und der Flammen.«

Der König lauschte.

Kurz darauf lagen Eisenschuhe im Feuer, bis das Metall so heiß war, dass sie glühten wie zwei Sonnen.

»Gewährt mir einen letzten Tanz, meine Liebe«, verlangte der König.

Lady Rahela verzog vor Angst das Gesicht und war nicht mehr wunderschön. Sie drehte sich vom König zur Letzten Hoffnung, der sie mit eiskalter Herablassung musterte, zum unheilvollen Grinsen der Wache. Niemand würde ihr helfen.

Zeit des Eisens, Anonym

2

Der Plan der Schurkin nimmt Form an

Die Ruhe der Verzweiflung senkte sich auf Rae herab. Sie schrie eine mentale To-do-Liste. Punkt eins: lebendig entkommen. Punkt zwei: den Rest später herausfinden!

Sie warf sich den ausufernden rot-weißen Rock über den Arm, kehrte in ihr Schlafzimmer zurück und schnappte sich einen verzierten goldenen Kerzenleuchter. Er hatte einen breiteren Fuß und war mit Schnitzereien gewundener goldener Schlangen verziert. Aber vor allem war er schwer.

Rae umklammerte den Kerzenleuchter und schlich in den Marmorgang mit Kuppeldecke zurück. Ihr Schlafzimmer war fensterlos, doch neben der verschlossenen Tür befand sich ein kleines Fenster. Das Leuchten des Sonnenunterganges loderte hinter der Scheibe. Opale im Gitter glitzerten wie das Weiß wachsamer Augen.

Sie hob den Kerzenleuchter und zielte.

Der Aufprall erfolgte sofort. Als Rae auf den Marmorboden stürzte, wurde ihr der Atem aus der Lunge gepresst.

Ein Mann lag auf ihr, ein robuster, muskulöser Körper drückte sie zu Boden. Sein Arm, schwer aufgrund des Leders und der verknoteten Bänder, ruhte auf ihrer Brust. Die Angst schien eiskalte Silbernadeln durch ihren Körper zu jagen. Eine Strähne seines schwarzen Haars fiel Rae in die Augen. Kalter Stahl zog eine heiße Linie über ihre Kehle.

Jemand hielt ihr allen Ernstes ein Messer an den Hals!

Ihr Körper zuckte unter seinem. »Verdammt, Jesus, Batman, bring mich nicht um!«

Das farbige Licht des Sonnenunterganges ließ seine Augen rot schimmern, als er fragte: »Habe ich denn einen Grund, Euch umzubringen?« Ein alter Lederhandschuh, rau wie eine Katzenzunge, fuhr ihr über den Hals, als er den Messergriff anders umfasste. »Ich bin Palastwache, kein Palastattentäter. Attentätern bezahlen sie mehr.« Er hielt inne. »Jedenfalls hoffe ich das.«

Sich in einem Buch zu befinden, war ein ausgesprochen surreales Erlebnis, aber dasselbe ließ sich auch über einen Krankenhausaufenthalt sagen, der beinhaltete, dass einen ein riesiger gebogener Strohhalm in die Vene geschoben wurde, als wäre Rae ein gigantischer Milchshake. Im Laufe der letzten drei Jahre hatte sie gelernt, keinen Aufstand mehr zu machen und nicht mehr »Das kann doch nicht wahr sein!« zu schreien. Wenn man in einem Albtraum aufwachte, lernte man, damit umzugehen.

»Du hast mich erwischt. Es ist die böse Stiefschwester aus dem verriegelten Zimmer mit einem Kerzenleuchter. Lass mich aufstehen.«

»Ich kann nicht zulassen, dass Ihr aus dem Fenster springt.«

Die Singsangstimme des Wachmannes wurde ernst. Rae war kurz gerührt.

»Denkt Ihr denn gar nicht an andere?«, fügte er hinzu. »Ich bekomme gehörigen Ärger, wenn Ihr während meiner Wache springt. Nehmt doch in Eurem Schlafzimmer ein nettes Gift.«

Rae riss vor Schreck die Augen auf. Die Augenbrauen des Wachmannes, die an den Enden wie erhobene Schwerter nach oben führten, schienen zu zucken.

»Ich will leben«, flüsterte Rae.

»Das ist nun wirklich nicht mein Problem.«

»Ich bin überaus gerührt von deiner Sorge«, erklärte Rae. »Und wenn ich dich besteche, damit du mich durch das Fenster entkommen lässt?«

Der Wachmann rollte sich von ihr herunter und verdrehte gleichzeitig die Augen. »Na endlich, Mylady! Ich dachte schon, Ihr wolltet mir gar kein Bestechungsgeld anbieten.«

Schon schob er sie mit einem Ellbogen in Richtung Fenster. Rae eilte weiter und spähte nach unten in die unendliche Tiefe. Unter dem Fenster erstreckte sich eine silberne Steinmauer, so steil wie eine Klippe. Jenseits davon lag die Schwärze der Leere, nur durchbrochen von einem einzigen dicken Funken, der vom trägen Feuer aufstob, das in den Tiefen der Schreckensschlucht brannte.

Rae hatte den bodenlosen Abgrund, in dem es von Untoten wimmelte, ganz vergessen. Eyam war eine Insel und von allen Seiten vom Meer umgeben, bis auf die Seite, an der die Flammen und das tiefe Stöhnen emporstiegen. Die Toten waren ihre einzigen Nachbarn.

Der Palast am Rand war höchst treffend benannt worden. Aus religiösen Gründen hatten die Könige von Eyam einen Palast in die Klippe oberhalb der Schlucht hauen lassen.

»Wollt Ihr jetzt aufbrechen, Mylady? Oder habt Ihr Eure Meinung geändert?«

»Du hast es mir gezeigt, da musst du nicht auch noch sarkastisch werden!«

Die Palastwache ließ das Messer locker von einer Hand in die andere wandern. Rae beäugte ihn kritisch.

»Ich dachte, Wachen müssten die Hofdamen behandeln wie zerbrechliche Schwäne aus unschätzbar wertvollem Kristall?«

Die Jungfrauen im Turm waren die Hofdamen, die darauf warteten, Königin zu werden. Da niemand wusste, welche Hofdame der König aus seinen Favoritinnen im Turm auswählen würde, behandelte man alle wie zukünftige Königinnen.

Der Wachmann zuckte mit den Schultern. »Ich bitte um Verzeihung, Mylady, aber ich bin erst seit zwölf Stunden Wachmann.«

»Das ist aber merkwürdig.«

Das System in Eyam bestand aus fünf Ebenen. Ganz oben stand der Herrscher, so glänzend wie seine Krone. Darunter kamen die Adelsfamilien, die Land und Objekte von großer Macht besaßen. Unter den Aristokraten folgten die Dienstboten, auch »Adligendiener« genannt, da sie im Palast leben und die magischen Artefakte benutzen durften, ohne sie je zu besitzen. Die Klasse darunter bestand aus den Händlern, die in der Stadt außerhalb des Palastes lebten und gelegentlich innerhalb seiner Mauern geduldet wurden: Sie waren praktisch Bauern, die es wagten, Geld zu verdienen, obwohl sie keine echte Macht besaßen. Ganz unten folgten die Bauern, die für die Lebensmittelver- und Abfallentsorgung zuständig waren. Ohne sie würde die Gesellschaft zusammenbrechen, daher behandelte man sie auch entsprechend schlecht.

Eine Palastwache war ein Adligendiener. Diese Positionen wurden wie innerhalb des Adels weitervererbt. Man konnte nicht einfach im Palast anheuern. Rae fiel das Ganze hier schon schwer genug, ohne dass es jetzt auch noch Inkonsistenzen im Weltenbau gab!

»Sie haben das erklärt, Mylady.«

Der Wachmann wirkte so fassungslos wie Alice, wenn sie auf Einzelheiten der Story eingehen musste. Wie konnte er es wagen, auch nur anzudeuten, sie hätte das Buch nicht gelesen?

»Ich hatte viel um die Ohren«, fauchte Rae.

Eine weitere Stimme hallte durch den Marmorgang. »Du bist noch neu im Palast. Erlaube mir, dir etwas über die Adligen zu erzählen: Wir sind der Dreck unter ihren Füßen, und sie sehen nur, was glänzt. Die edle Lady Rahela ist blind und taub, wenn es nicht um ihren König oder sie geht.«

Auf beiden Seiten des Marmorganges befanden sich Alkoven, wie sie zur Präsentation von Marmorbüsten von Politikern oder toten Königen genutzt wurden. Nur dass diese hier mit Perlenvorhängen abgetrennt waren und sich Leute darin befanden. Ihr Wachmann musste aus seinem Alkoven losgestürzt sein, als er sie am Fenster gesehen hatte. Jede Hofdame hatte einen Leibwächter und eine Zofe.

Auf der anderen Seite des Raumes teilte eine Frauenhand den Vorhang, und die weißen Perlen schimmerten im Licht der untergehenden Sonne wie Muscheln. Der perlenblasse Schleier teilte sich und enthüllte ein eiskaltes Gesicht und lodernde Augen. Als sich die Frau umdrehte, wurde ihre linke Wange sichtbar. Auf ihrer knochenweißen Haut prangte ein Mal in derselben Farbe und unregelmäßigen Form wie ein Spritzer Portwein auf dem Boden. Ein Mädchen in Raes Mittelschule hatte so ein Muttermal gehabt und es während der Sommerferien entfernen lassen. Rae war der Ansicht gewesen, es hätte cool ausgesehen, und hatte es schade gefunden, dass es weg war, doch es war weder Raes Gesicht noch ihre Entscheidung gewesen.

Hier gab es keine Laser, mit denen sich ein Muttermal entfernen ließ. Die Leute sagten, Emer trage ein Mal der göttlichen Bestrafung für Sünden, die sie erst noch begehen musste.

Emer, Lady Rahelas Zofe, die von klein auf bei ihr gewesen war. Emer, die immer alles getan hatte, was Rahela verlangte.

»Nur, um ganz sicherzugehen …«, setzte Rae an. »Kam die große Szene schon, in der ich dir offenbart habe, dass du von mir nur benutzt wurdest?«

Die Stimme der zukünftigen Eisernen Jungfrau war so kalt wie eine Axtklinge. »Ihr habt Euch vorhin sehr deutlich ausgedrückt, Mylady.«

»Es würde also nichts bringen, wenn ich jetzt sage, dass es nicht so gemeint war?«

»Sagt, was auch immer Ihr wollt. Das macht Ihr doch sowieso dauernd.«

Die Zofe hatte die Hände im Schoß gefaltet und sprach mit so emotionsloser Stimme, als wäre dort, wo einst Empfindungen gewesen waren, nur noch ein großes Loch. Man konnte nicht derart gefühllos klingen, wenn man nicht vorher eine ganze Menge empfunden hatte.

Rae hatte die unbeeindruckten Kommentare, die die Eiserne Jungfrau über die Aristokraten abgab, immer sehr genossen, aber Emers jetzige Haltung behagte ihr gar nicht. Es war offensichtlich, dass Emer sie abgrundtief hasste.

Hier musste Rae keinen Schmerz spüren. Emers Hass hatte keinerlei Bedeutung. Selbst Emer war ohne Belang. Sie war nicht real.

Was zählte, war, dass sie sich aus dem Dilemma befreien musste, in das Lady Rahela sie, also Rae, befördert hatte. Wenn sie wirklich in Eyam war, befand sich im gläsernen Herzen des Palastes am Rand eine Pflanze, die sie retten konnte. Rae musste nur so lange weiterleben, bis die Blume von Leben und Tod blühte. Was bedeutete, dass Rae erst mal den nächsten Tag überleben musste.

Die Palastwache räusperte sich. Der Mann lehnte am Fensterbrett und beäugte Raes und Emers Auseinandersetzung. »Ihr beide kennt euch offenbar schon länger. Was mich dumm dastehen lässt, denn ich kenne euch nicht.«

Er kannte Lady Rahela nicht, daher konnte er sie auch nicht hassen.

Rae musste sofort eine Verbindung zu ihm schaffen.

»Wie heißt du?«

Das schien ihr der offensichtliche erste Schritt zu sein.

»Ich bin Key.«

Was, wenn sich Rae richtig erinnerte, ein Bauernname war. Die niederen Klassen gaben ihren Kindern Objektnamen, da Objekte in diesem Land sehr mächtig sein konnten. Erst jetzt ging Rae auf, dass diese Namen irgendwie verstörend waren.

Allerdings konnte Keys Mutter ihm gar nicht diesen Namen gegeben haben, richtig? Der Autor oder die Autorin hatten ihn so genannt, weil er Wachmann war – und die Wachen besaßen die Schlüssel zu den Orten, die sie bewachten.

»Mylady«, fauchte Emer Key an.

»Ihr müsst mich nicht mit ›Mylady‹ ansprechen«, erwiderte Key, der Bauer. »Tatsächlich wäre es mir sogar lieber, wenn ihr es nicht tut.«

Emer schnaubte.

»Warum bist du Bauer?«, fragte Rae und bereute ihre Frage sofort. Man konnte die Leute doch nicht fragen, wieso sie Bauern waren! »Ähm, wie bist du Palastwache geworden?«

Emer, die finstere Zofe, schien den Unsinn sattzuhaben. »Der König hat ihn für eine Heldentat belohnt. Am Hof wird er als Held des Kessels bezeichnet.«

Key, der ahnungslose Palastwächter, wirkte nicht wie ein Held von irgendwas.

»Titel sind für Adlige. Die In Blut getauchte Schönheit?« Key warf Rae einen spöttischen Blick zu. »Ich würde mich ja Key, der Unwiderstehliche, nennen, aber dann würden die Leute nur gemeine Witze machen.«

Er war in der Tat groß, dunkel und gut aussehend, was Rae sehr verdächtig fand. Im Allgemeinen stellten sich fiktive Charaktere als wichtig heraus, wenn sie attraktiv waren. Durften Nebenfiguren auch gut aussehen?

Vielleicht schon. Keys Gesicht deutete nicht auf Dramatik, sondern nur auf Lässigkeit und gute Laune hin, und er hatte ein freundliches Lächeln und ironische Augenbrauen. Außerdem waren seine Wangenknochen so angeordnet, dass sie beinahe Hexagone darstellten. Seine Augen waren grau, nicht smaragdgrün oder sommerhimmelblau wie die einer Hauptfigur, und seine Nase war zu lang, um symmetrisch zu sein. Er musste um die zwanzig sein, also etwa in Raes Alter, und war somit einige Jahre jünger als Emer. Sein schwarzes Haar war nicht etwa als bedrohliche mitternachtsfarbene Mähne frisiert, vielmehr standen ungleich abgesäbelte Locken von seinem Kopf ab, deren Enden munter nach unten wippten, als wär er eine fröhliche Goth-Narzisse. Er war schlank und wirkte rastlos und irgendwie so, als wäre er von Natur aus unzuverlässig. Rae hatte den Eindruck, damit arbeiten zu können.

»Du hast also etwas Bedeutsames vollbracht?«, hakte Rae nach.

Bei »Held des Kessels« klingelte irgendetwas bei Rae, allerdings so leise, dass sie sich nicht ganz sicher war. Wenn der Mann einen Titel hatte, dann musste er noch eine Rolle spielen. Da sich Rae jedoch an keinerlei Details über ihn erinnern konnte, verschwand er vermutlich bald wieder von der Bildfläche. Eine arme, unbedeutende Nebenfigur. Rae vermutete, dass er sterben musste.

Key schnaubte. »Ein paar Ghule sind aus der Schlucht gekrochen, und ich hab sie erstochen.«

Ghule waren die wandelnden Toten, die eines Tages die unbezwingbare Armee des Kaisers bilden würden. Rae musste gar nicht so tun, als wäre sie beeindruckt. »Und da hast du den König gebeten, er möge dich als Belohnung zur Palastwache machen?«

Viele Figuren in Zeit des Eisens waren sehr dienstbeflissen. Möglicherweise fühlte sich Key durch seine Ehre verpflichtet, hier Dienst schieben zu müssen.

»Ich habe den König um eintausend Goldblätter gebeten.«

In Eyam gab es Münzen in vier verschiedenen Formen und vier unterschiedlichen Metallarten. Rae konnte sich an die anderen Formen und Metalle nicht erinnern, aber eintausend hörte sich nach einem ganzen Haufen Geld an.

Recht hoffnungsvoll erkundigte sich Rae: »Warst du glücklich, dass man dich zur Palastwache gemacht hat?«

»Nein«, antwortete Key. »Eintausend Goldblätter hätten mich glücklich gemacht.«

Er war also auf Geld aus. Söldner Schrägstrich unbedeutender Schurke. Kapiert.

Emers Stimme wurde etwas weniger barsch, als hätte sie Mitleid mit Key. »Du hast dich hervorgetan, daher muss der König dich belohnen. Aber die Aristokraten wollen nicht, dass ein Bauer die Säle des Palastes besudelt.«

So langsam verstand Rae. »Der König und die Adligen haben dich zur Palastwache gemacht und dann einer Lady zugewiesen, die morgen früh exekutiert werden soll.«

Keys Lippen umspielte noch immer ein freudloses Lächeln. »Was für eine Ehre.«

»Wow«, murmelte Rae. »Iss die Reichen.«

Der Held des Kessels bleckte die Zähne. »Schmecken die?«

In seinem munteren Ton schwang ein Hauch Verbitterung mit, gleich einer vergifteten Süßigkeit. Trotz seines Lächelns schien Key mit seiner momentanen Lage alles andere als zufrieden zu sein. Für Rae wurde immer offensichtlicher, dass sie sich mit zwei sehr wütenden Gestalten in einem Raum aufhielt.

Eine Stressmigräne kündigte sich an.

Wie schaffte es Lia, sich aus nahezu tödlichen Situationen zu befreien? Genau! Die Jungfrau flehte flüsternd darum, dass ihr jemand half, und erweichte so das Herz der Männer.

»Du hast versucht, mich daran zu hindern, aus dem Fenster zu springen.« Raes Stimme war eher ein Säuseln denn ein Flüstern, dennoch streckte sie bittend eine Hand nach Key aus. »Bitte sag, dass du mich nicht sterben lässt.«

Key nahm ihre Hand. Rae stellte entsetzt fest, dass seine Hand wie ein brennendes Streichholz wirkte und ihr Körper die Kerze zu sein schien. Offenbar stimmten die Gerüchte über Rahelas Lüsternheit, doch Rae hatte andere Prioritäten. Lady Rahelas Körper musste warten.

»Wenn Ihr versucht, mich zu verführen, Mylady …« Key beugte sich vor und sah ihr in die Augen. »Dann lasse ich Euch morgen früh trotzdem sterben.«

Rae entzog ihm ihre Hand. »Ich habe nicht vor, dich zu verführen!«

Key ließ seine musikalische Stimme übertrieben schwülstig klingen. »Was sollte dann dieser Ton?«

Rae zuckte zusammen. »Verdammt!«

Sie hätte wissen müssen, dass es albern war, den Part der Heldin spielen zu wollen. Rahela und ihre Stiefschwester waren völlig unterschiedlich angelegt. Das fiese Luder Rahela würde niemals Lias Ergebnisse erzielen. Rae war selbst auch nicht der Typ, den man auf Anhieb mochte. Oder auch nach einiger Zeit.

Rae hatte in ihrem Leben bisher einen sehr netten Freund gehabt. Sie hatte mit ihm auf ihrem Bett rumgefummelt, wenn ihre Eltern nicht da waren, und mit ihrer besten Freundin darüber debattiert, wie sie ihm signalisieren konnte, dass sie mehr wollte.

Dann war Rae krank geworden. Ihre beste Freundin übernahm ihren Platz im Cheerleader-Team und ihren Freund. Die beiden hatten ohnehin mehr miteinander gemeinsam als mit ihr. Inzwischen hatte niemand mehr etwas mit Rae gemeinsam. Sie war auf einem Meer aus Schmerz und Entfremdung von ihren Freunden davongetrieben.

Im Krankenhaus hatte Rae bei der Chemo mit anderen Frauen geplaudert. Der Mann einer Frau brachte ihr immer Frühstück ans Bett und ihre Perücke zum Friseur. »Einige Menschen sind etwas Besonderes«, hatte eine andere Frau zu Rae gesagt. »Einige Menschen sind dazu geschaffen, geliebt zu werden.« Der Mann dieser Frau hatte sie an dem Tag verlassen, an dem sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war.

Nur besondere Menschen wurden gerettet. Der Rest musste sich selbst einen Weg freikämpfen.

Zumindest hatte Rae jetzt die Chance dazu bekommen.

»Warum glaubt Ihr, dass man Euch morgen früh exekutieren wird?« Emers Stimme sauste scharf wie eine geschleuderte Waffe durch die Luft. »Ihr habt doch gesagt, dass es Lady Lia treffen wird. Was hat sich geändert?«

Das war eine gute Frage.

Zum Glück erinnerte sich Rae an all das, was zu Rahelas großer Sterbeszene geführt hatte. Die ahnungslose Heldin hatte Emer erzählt, dass sie die Hütten der Bauern besuchen und sich um kranke Kinder kümmern wollte.

Ein Ahnenmesser wurde in einer der armseligen Bauernhütten gefunden. Prompt brannte man die Hütte mit den Bauern darin nieder. Mächtige Gegenstände waren geschätzte Besitztümer entweder des Königs oder der Adligen und dementsprechend gut bewacht und mit dem Familiensiegel versehen. Das Messer war ein Erbstück der Felice-Familie.

Nur Lia Felice und Rahela, Lias Stiefschwester, hatten Zugang zu den Familienerbstücken. Daher waren nun beide in ihren Gemächern eingesperrt und warteten auf das Urteil des Königs. Emer hatte Lias Besuch in der bescheidenen Hütte längst gemeldet. Lia konnte das Messer in ihrem Medizinkorb hineingeschmuggelt haben und war somit offensichtlich verdächtig.

Doch als Lia in der Palastküche arbeitete, flüsterte sie der Asche beim Auskehren des Kamins ihre tragischen Geheimnisse zu. Dieser Kamin war direkt mit dem in der Palastbibliothek verbunden, wo die Letzte Hoffnung über Schriften gebeugt saß. Er war seit seiner Kindheit ein enger Freund des Königs und der wohl am wenigsten korrupte Mann des ganzen Reiches. Daher erzählte er dem König, dass Rahela Lias Familienerbstück gestohlen hatte und das Messer platziert haben musste. Seine Aussage führte schließlich zu Rahelas Tod.

Aber davon durfte Rahela eigentlich gar nichts wissen. Wie sollte Rae das erklären?

»Ich weiß, dass man mich seinetwegen exekutieren wird!« Rae deutete wild auf Key.

Er zeigte auf sein Herz, vielleicht aber auch auf sein Wams, und fragte lautlos »Ich?«.Seine fingerlosen Handschuhe bestanden aus uraltem schwarzem Leder, das nicht zum Blau und Stahl der Wachuniform passte. Dies war das erste Mal, dass Rae ein echtes Wams sah, das im Grunde nur eine Lederweste war.

Rae konzentrierte sich auf Emer, die sie überzeugen wollte. »Key wurde mir zugewiesen, weil bei der Exekution eines Adligen auch seine Dienstboten für schuldig befunden und hingerichtet werden. Der König will Lia, nicht mich. Wollte er Lia töten, hätte er ihr Key zugewiesen. Sie wollen mich ebenso loswerden wie Key, und dich wollen sie beseitigen, weil du mir treu ergeben bist. Drei Fliegen auf einen Streich. Wir müssen einander helfen.«

Diese Sichtweise heiterte Rae auf. Per Definition konnte nur eine die Schönste von allen sein, aber bei den Schurken sah die Sache schon anders aus. Diese Welt war gegen sie, daher sollten sie sich zusammentun.

»Ich widerspreche Euch nur ungern, Mylady.« Emer hörte sich nicht an, als würde ihr das leidtun. Wenn sie das Kinn hob, wurde offensichtlich, dass Emer ebenfalls groß, dunkel und gut aussehend war. Sie erweckte den Anschein, als würde sie Schönheit verachten. »Zwar werden Dienstboten der Tradition entsprechend mit ihren Herren oder Herrinnen exekutiert, doch es gibt Ausnahmen, wenn ein anderer Adliger sie haben will. Keine hat ein so gutes Auge für Frisuren und Kleider wie ich. Ich besitze die Fähigkeiten, eine Dame zur Favoritin des Königs machen zu können. Daher werde ich diese Sache auch allein überstehen. Euer ganzer Besitz wird konfisziert, wenn man Euch hinrichtet, daher könnt Ihr mich auch nicht bestechen. Und Ihr seid eine Lügnerin, daher werde ich Euch keines Eurer Versprechen abkaufen. Wieso sollte ich Euch also helfen?«

Vor sehr langer Zeit hatte ein Lehrer Rae mal gesagt, dass Geschichten von Schurken geschaffen wurden. Ihre Wünsche und bösen Taten lösten die Handlung aus, während der Held sie bloß aufhalten wollte. Zumindest am Anfang hatten die Schurken das Sagen.

Früher einmal hatte Rae eine Liste mit fünfzig Colleges gehabt und nicht gewusst, welches Hauptfach sie nehmen sollte. Sie hatte gnadenlos jede Freizeitaktivität organisiert und die Leitung des Cheerleader-Teams sowie die Präsidentschaft im Schülerrat übernommen. Dementsprechend hatte sie sich mal ein Leben als Anwältin mit Killerinstinkten und Killerkostümen erträumt, dann wieder das einer Lektorin, die Geschichten in die perfekte Form brachte, oder dass sie zusammen mit ihrer Mom ein Immobilienimperium leiten würde. Was genau sie werden wollte, hatte sie nie gewusst, nur dass sie das Sagen haben würde.

Auch jetzt musste sie die Kontrolle übernehmen und ihren Plan rasch umsetzen. Das Timing musste perfekt sein.

Rae, die oberste Cheerleader-Bitch, setzte ein fieses Grinsen auf. »Ich werde einen Eid aus Blut und Gold schwören.«

Emers Muttermal trat auf ihrer plötzlich blassen Haut umso deutlicher hervor. »Das ist verboten.«

»Na und?«, entgegnete Rae. »Ich bin eben böse.«

Key blinzelte und wirkte auf einmal sehr fasziniert.

Ermutigt fuhr Rae fort. »Ich bin ein herzloses Monster mit starkem Charakter und noch stärkerem Augen-Make-up, und ich habe vor, mit meinen Verbrechen durchzukommen. Was stört euch daran? Was kümmern euch meine persönlichen Makel?«

Key schien von ihrer Selbsterkenntnis beeindruckt zu sein. »Stimmt, mich interessieren sie überhaupt nicht.«

Emers Blick blieb eisig. Rae rauschte über den Marmorboden, wobei ihr Rock wie eine rote Schlange hinter ihr herzuckte, und ging zu einem Schurkinnenmonolog über.

»Ich bin eine verräterische, machtgierige Bitch, und ganz im Ernst – das fühlt sich unglaublich an. Vergesst die Geschichten, die euch dazu ermutigen, gut zu sein, euch raten, in einer dreckigen Welt zu glänzen und euer Leid geduldig zu ertragen. Scheiß auf das Leiden. Es ist viel zu schwer, gut zu sein. Nehmt lieber den leichten Weg. Werdet böse. Ergreift mit euren blutbefleckten Händen, was immer euer gieriges Herz begehrt.«

Inzwischen war ihr die Aufmerksamkeit beider sicher. Sie hatte noch nie zuvor eine motivierende Rede für ihre dunkle Seite gehalten, aber diese beiden Schurken würden doch bestimmt so denken wie sie.

»Die andere Option besteht darin, sein Schicksal hinzunehmen, und das werde ich nicht tun. Ich strebe nach Macht, weil ich mich weigere, machtlos zu sein. Ich würde diese ganze Welt zerbrechen, um zu bekommen, was ich will. Die meisten Leute sterben, ohne je eine Bedeutung gehabt zu haben. Wenn dein Name verflucht wird, gerät er wenigstens nicht in Vergessenheit. Träumt ihr nicht von verbotenen Dingen? Entscheidet euch für das Falsche. Für das Böse. Lasst es uns zusammen tun.«

Rae klatschte in die mit Edelsteinen verzierten Hände.

»Schurken«, verkündigte sie. »Vereinigen wir uns.«

Wenn sie schon nicht ihre Schergen überzeugt hatte, dann zumindest sich selbst. Ihre Entschlossenheit kristallisierte sich während ihrer Rede heraus, und ihr Ziel wurde mit jedem Wort realer. Helden mochten ein Abenteuer nur widerwillig angehen. Schurken mussten ihnen zuvorkommen und den Schatz für sich beanspruchen.

Da sie nun eine Mission hatte, rannte Rae in ihr Schlafzimmer. Die In Blut getauchte Schönheit hatte eine Frisierkommode aus Mahagoni, auf der Parfümflaschen aus Keramik standen, während die Schubladen mit Perlmuttintarsien versehen waren.

Kurz wünschte sich Rae einen Moment herbei, in dem eine Figur in den Spiegel sieht, damit man mehr über sein Aussehen erfährt. Bedauerlicherweise wurden Spiegel in Eyam aus Bronze gefertigt. Die Nuancen von Rahelas Gesichtszügen verschwammen in einem bronzefarbenen See, aber sie konnte ein erstaunliches Detail erkennen: Direkt über Raes linkem Mundwinkel prangte ein Schönheitsfleck. Rae hatte ihn schon immer gemocht. Man bereitete Krebspatienten darauf vor, dass sie ihr Kopfhaar verloren, von allen anderen Haaren war jedoch nie die Rede. Der Verlust der Augenbrauen veränderte das ganze Gesicht, und ohne Wimpern sah man aus wie eine Echse. Der Schönheitsfleck hatte Rae jedoch immer versichert, dass sie immer noch dieselbe war, selbst wenn ihr Spiegelbild jetzt völlig anders aussah.

Lady Rahela hatte den gleichen Fleck.