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Am Niederrhein ist alles im Fluss. Einst auch Machtverhältnisse und Grenzen, die modrigen Nährboden für Neid, Habgier und Aberglauben hinterließen. Hier brannten Hexen, hier wurden arme Sünder gehenkt. Deren Seelen spuken noch heute durchs Moor. Der Teufel höchstselbst schleuderte Felsen auf fromme Männer, in den Wäldern will man Werwölfe wissen. Räuber, Schmuggler und Mörder trieben am Niederrhein ihr Unwesen. Selbst der große Strom brachte düstere Verheerung übers Land und schwemmte manches Geheimnis fort.
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Seitenzahl: 143
Alles im Griff: Flechten und Efeu erobern den bröckelnden Brückenkopf. (Kapitel 20)
Jutta M. Ingala
33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte
Hier wird schon lange nicht mehr geliefert. (Kapitel 18)
Gähnende Leere im Spukschloss (Kapitel 11)
Hochexplosiv! Munitionsbunker in der Hees (Kapitel 27)
Vorwort
Verhaltensregeln für Lost Places
33 LOST & DARK PLACES
1Tod im Rhein
Wie Johanna Sebus beim Dammbruch zu Brienen ertrank
2Es war einmal
Der verlassene Märchenwald in Dingden
3Erschossen und verscharrt
Die Schill’schen Offiziere in Wesel
4Der Räuber Wilhelm Brinkhoff
Vogelfrei auf der Bönninghardt
5Weder Fisch noch Fleisch
Der alte jüdische Friedhof in Rees
6Abgeschossen
Am Fliegerhorst Venlo-Herongen
7»Met de Pömmel op den Nack«
Auf den Spuren des Schmugglers Jan den Düvel bei Well
8Trinkwasserhochbehälter
Die Büchse auf dem Hohen Busch
9Napoleons ehrgeiziger Plan
Die Schleuse am »Grand Canal du Nord« bei Straelen
10In die Luft gesprengt
Die alte Eisenbahnbrücke bei Wesel
11Wolfskuhlen
Das Spukschloss von Rheinberg
12Dem Leibhaftigen auf der Spur
An den Teufelssteinen bei Hünxe
13Die Toten sind geblieben
Friedhof der britischen Kinder
14Raketenabwehr im Kalten Krieg
Die NATO-Kaserne in Grefrath
15Vom Stubbe Peter und dem Blutgericht
Der Werwolf von Epprath
16Im nassen Grab
Die Nixe von Xanten
17Getauft mit Blut
Fossa Sanguinis – die Kybele-Kultstätte in Neuss
18Zollstation
Alt und neu im Hafen von Krefeld-Uerdingen
19Aufs Rad gebunden
Aus dem Leben des Halunken Heintje van Goch
20Ein Stahlskelett am Rhein
Die Altrheinbrücke bei Griethausen
21Ein Fürst unter Helden und Göttern
Das Grabmal am Papenberg
22Zankapfel
Auf dem Burgfried van Wassenberg
23Vier Minuten zwischen Leben und Tod
Galgenberg und Geestekul
24Leichenhäuschen
Am Rhein bei Götterswickerhamm
25Schicht im Schacht
Aufstieg und Untergang der Zeche Niederberg
26Cold Case
Moorleiche im Worringer Bruch
27Hochexplosiv
Das Munitionsdepot in der Hees
28Seit über 600 Jahren verlassen
Motte Aldeberg
29Platschhonk, Hakenmann und andere Ungeheuer
Die Wesen an der Wurm
30Schwarzes Wasser
Mystischer Heideweiher bei Hamminkeln
31Folter und Tod der Nesgen to Range
Die Hexe von Krefeld
32Landsknechte in Mönchskutten
Gräuel und List am Kloster Kamp
33Der Schwanenritter
Liebe und Tod auf der Klever Schwanenburg
Register
Impressum
Schüchtern gedenkt die Stele eines mutigen Mädchens. (Kapitel 1)
Der Adler als Hoheitszeichen und Symbol der Macht (Kapitel 3)
Aufgebaut, abgetragen: Ziegel vom Fliegerhorst sind heute zu Hundertausenden in umliegenden Dörfern vermauert. (Kapitel 6)
Wo der Niederrhein beginnt und wo er endet, das weiß niemand so genau. Alles ist im Fluss. Einst auch Machtverhältnisse und Grenzen, die modrigen Nährboden für Neid, Habgier und Aberglauben hinterließen. Hier brannten Hexen, hier wurden arme Sünder gehenkt. Deren Seelen spuken noch heute durchs Moor. Der Teufel höchstselbst schleuderte Felsen auf fromme Männer, in den Wäldern will man Werwölfe wissen. Räuber, Schmuggler und Mörder trieben am Niederrhein ihr Unwesen. Selbst der große Strom brachte düstere Verheerung übers Land und schwemmte manches Geheimnis fort.
Und weil eben alles in Bewegung ist, bleiben auch die verlassenen, dem Verfall preisgegebenen Orte selten von neuem Unternehmertum verschont. Eile ist bei den meisten der hier vorgestellten verlassenen, vergessenen und dunklen Orten dennoch nicht geboten.
Überraschend, dass zwar der Uerdinger Hafen boomt, rund um den alten Zollhof trotzdem noch viele leerstehende Gebäude von altem Glanz und Geschäftigkeit erzählen. Ehemalige Militäreinrichtungen mögen wichtige Zeitzeugen sein und reichen in die benachbarten Niederlande. Ein Stück gemeinsamer Geschichte, auch wenn das Kapitel düster war. Sie bleiben darum oft unangetastet. Von ihnen findet man in Herongen, bei Grefrath und in der Hees spannende Überreste. Wobei die Hees auch heute noch hochexplosiv ist. Lebensgefahr für alle, die vom Weg abkommen. Auf alte Hinrichtungsstätten verweisen meist nur noch Tafeln. Doch das schaurige Ambiente ist geblieben. Der Niederrhein darf sich einer reichen Moor-, Venn- und Heidelandschaft rühmen. Windgebeugte Vegetation und Nebel tragen zur Mystik der Orte bei.
Lassen Sie sich treiben, von Ort zu Ort und durch die Geschichte. Mit etwas Fantasie werden die toten Figuren lebendig und die alten Mauern flüstern ihnen zu.
An den Teufelssteinen ist das Wasser so dunkel wie die Seele des Leibhaftigen. (Kapitel 12)
Jeder Ort, jedes Gebäude und jede Ruine erzählen eine Geschichte aus vergangenen Tagen. Schützen Sie sie. Alle Lost Places haben einen Eigentümer. Respektieren Sie diesen Umstand wie auch mögliche Hinweise vor Ort, die ein Betreten verbieten. Selbst dann, wenn ein Tor sperrangelweit offen steht, eine Fensterscheibe eingeschlagen ist oder ein riesiges Loch im Zaun klafft. Verschaffen Sie sich niemals gewaltsam Zutritt. Auch vergessene Orte besitzen Würde. Denken Sie daran.
Nehmen Sie nichts mit vom Ort, den Sie besuchen. Es ist fremdes Eigentum, vielleicht sogar voller Details von historischem Wert. Belassen Sie alles so, wie Sie es vorgefunden haben. Ihre Erinnerungen halten Sie lieber in Fotografien fest. Die können Sie mit anderen teilen. Umgekehrt gilt: Lassen Sie auch bitte nichts zurück. Spätere Entdecker werden es Ihnen danken. Hantieren Sie bitte auch nicht mit Feuer. Sie könnten unbeabsichtigt und unbemerkt ein Feuer am verlassenen Ort entfachen. Eine Gefahr für Mensch, Tier und Natur.
Bleiben Sie vorsichtig bei Ihren Eskapaden und Entdeckungstouren an Lost Places: Marodes Holz, verrostete Geländer, Decken oder Böden sind möglicherweise einsturzgefährdet und ernst zu nehmende Gefahrenquellen. Bleiben Sie immer auf der sicheren Seite und begeben Sie sich keinesfalls für ein Foto in Gefahr. Steigen Sie nicht durch zerbrochene Fensterscheiben in ein Gebäude ein. Und sehen Sie sich auch den Zustand von Treppen und oberen Etagen sehr genau an, bevor Sie sich in die Räumlichkeiten wagen. Eine Taschenlampe ist Ihr bester Begleiter, selbst dann, wenn Sie am helllichten Tag unterwegs sind.
Wenig Komfort in der Plaggenhütte: armselige Behausungen der Pfälzer Siedler auf der Bönninghardt (Kapitel 4)
Aufstieg und Untergang am Uerdinger Hafen: Der Putz bröckelt. (Kapitel 18)
Manche Lost Places leben vom Charme wilder Sprayereien. Bunte Botschaften, die von früheren Besuchern hinterlassen wurden. Oft verdeckt die neue Farbe die alte Schönheit des Darunterliegenden. Manchmal frisst sie sich in Stein und Metall und beschleunigt den Verfall: Belassen Sie es beim Schauen, damit der Ort möglichst authentisch erhalten bleibt.
Es ist immer ratsam, einen Lost Place mindestens zu zweit oder zu dritt zu besuchen. Sollte Gefahr in Verzug sein, kann einer Hilfe holen. Und wer weiß, wem oder was Sie vor Ort begegnen? Leichtsinn und Übermut sind an verlassenen Orten definitiv fehl am Platz. Und ist Nervenkitzel zu zweit nicht ohnehin sehr viel aufregender?
•festes Schuhwerk und hohe Socken geben Trittsicherheit und schützen vor Zecken
•universelle Outdoor-Begleiter: reißfeste Kleidung, ggf. eine leichte Regenjacke
•Handy, Kamera und Stativ, Zusatzakkus und Speicherkarten nicht vergessen
•Wasser
•eine Stirnlampe für freie Hände, mindestens jedoch eine Taschenlampe
•Taschenmesser, Pflaster, Desinfektionsspray – für den Fall
Eingezäunt und abgewehrt: Betreten verboten! (Kapitel 18)
Düstere Aussichten für die Pionierarbeit von einst: Die Puddelstahlbrücke hat ausgedient. (Kapitel 20)
Wie Johanna Sebus beim Dammbruch zu Brienen ertrank
Den tragischen Tod eines armen, mutigen Mädchens verwob selbst der große Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe zu Poesie: »Der Damm zerreißt, das Feld erbraust, die Fluthen spülen, die Fläche saust.«
Kleve-Brienen, Kreis Kleve Ort Johanna-Sebus-Str. 50, 47533 Kleve GPS 51.827757, 6.137397 Anfahrt ÖPNV: Bus 50 bis Haltstelle Hooger Geest, zu Fuß weiter Auto: auf der B 220N bis Kreuzung Poststraße, weiter über Wehrpöhl und Am Alten Rhein zur Johanna-Sebus-Straße
Geschaffen für »schön Suschen« und für die Ewigkeit dennoch fast vergessen
ALS DER RHEIN GEFROR Wir schreiben den 28. Dezember 1808. Die französische Herrschaft in den linksrheinischen Gebieten beginnt bereits wieder zu bröckeln. Am Vorabend von Napoleons Russlandfeldzug, der vier Jahre später in den unwirtlichen Weiten des Zarenreichs in einem Desaster enden sollte, tragen die Menschen schwer am despotischen Wesen des französischen Kaisers, ächzen unter steigenden Steuern und staatlichen Repressalien. Es ist der Tag, an dem der Rhein gefriert. Zwischen Xanten und Brienen und weit darüber hinaus erstarrt der gewaltige Strom zu Eis. Die Raunächte kommen und gehen. Zwei lange Wochen lähmt der Frost das Land, legt sich bedrohlich schwer auf Dächer, Deiche und Wiesen. Am 11. Januar 1809 setzt endlich Tauwetter ein. Doch mit dem schweren Eisgang brechen binnen zweier Tage die Dämme bei Vynen und Obermörter, Hönnepel, Till, Kellen und Griethausen. Unaufhaltsam strömt Wasser ins Land und mit ihm das Unheil.
DIE FLUT Seit Jahrhunderten leben die Menschen in den Rheinniederungen mit dem wiederkehrenden Hochwasser. Sommerregen oder Schneeschmelze – Gefahr droht Mensch, Tier und Land zu jeder Jahreszeit. In Brienen erinnert man sich bang an die großen Deichbrüche von 1784 und 1789. Auch 1800 gab es eine verheerende Überschwemmung. Noch sind die Schäden nicht gänzlich beseitigt, schon kündigt sich eine neue Tragödie an. Tag und Nacht bleiben die Menschen auf den Beinen, behalten Fluss und Dämme im Auge, schaffen vorsorglich Kähne herbei. Mit ihnen könnte man dem Wasser entrinnen. Einige wenige. Angst liegt über den Dörfern hinterm Deich, Angst vor der Flut. Am 13. Januar bricht der große Deich bei Kleve, in kurzer Folge gibt es drei weitere Durchbrüche bei Brienen. Unheilvolles Getöse reißt die Bewohner aus dem Schlaf. Es bleibt keine Zeit, Hab und Gut zu retten, nur das nackte Leben. Das Wasser steigt schnell. Zuerst an den armseligen Katen hinterm Deich. Dort lebt die siebzehnjährige Johanna Sebus, deren Vater starb, als das Mädchen gerade erst drei war. Johannas fünf ältere Geschwister sind schon lange aus dem Haus. Als Dienstmagd und Tagelöhnerin bestreitet die Halbwaise ihren Lebensunterhalt und den der kranken Mutter. Allein. Auch im Tumult der Nacht sind die beiden Frauen auf sich gestellt. Beherzt trägt Johanna die schwache Mutter auf dem Rücken durchs eisige Wasser. Und in Sicherheit. Dann kehrt sie noch einmal um, denn die Nachbarsfrau Johanna Theresia Kuppers – in anderen Quellen heißt sie van Beek – und deren drei Kinder sind zurückgeblieben. Das dunkel brausende Wasser macht ihnen mehr Angst als der drohende Tod. »Um Menschenleben zu retten, lässt sich schon was wagen«, soll Johanna Sebus den Umstehenden zugerufen haben, als sie die kleine Familie auf eine Anhöhe rettet. Doch die Flut ist unbarmherzig: Durch neue Breschen im Deich spült eine todbringende Welle über das Dorf. Johanna, Theresia Kuppers und ihre Kinder werden nicht mehr gesehen.
»Der Damm zerreißt, das Feld erbraust, die Fluthen spülen, die Fläche saust.«
Französische Grandezza fürs arme Mädchen aus Brienen
VERHEERTES LAND 22 Tote hatte Brienen in jener verhängnisvollen Nacht zu beklagen. Die Leiche der Johanna Sebus wurde erst Monate später gefunden. Zuvor hatte sich die Natur in ihrem willfährigen Spiel noch einmal ausgelassen, denn schon am 14. Januar begann es am Niederrhein erneut zu frieren. So stark, dass der Rhein wenige Tage später ein weiteres Mal erstarrte. Auch die überschwemmte Landschaft gefror. Mit dem alsbald wiedereinsetzenden Tauwetter verwandelte sich der weiße Eispanzer in schlammiges Grauen: Das Schmelzwasser ließ noch mehr Katen einstürzen, riss andere mit sich, Vieh ertrank. Am 31. Januar stand der Mond voll am Himmel. Vor dessen urgewaltigem Einfluss hatte der Astronom Lamarque bereits Wochen zuvor im Kölner Beobachter gewarnt. Und tatsächlich wütete ein Orkan übers Land und fegte weg, was das Wasser verschont hatte. Das Leben stand still. Im September wurde das verwüstete Gebiet schließlich ein drittes Mal überflutet. Auf den Feldern verdarben die Kartoffeln, das Getreide in den Scheunen wurde fortgeschwemmt. Übrig blieb verheertes Land.
ODE AN JOHANNA Erst am 10. April 1809 wurde Johanna Sebus gefunden. Fast drei Monate nach dem Deichbruch am Rhein. Ihre zerschundene Leiche lag in einem Graben bei Rindern, landeinwärts, einige Kilometer von der Unglücksstelle entfernt. Baron Karl Ludwig Wilhelm von Keverberg, Unterpräfekt von Kleve im damaligen Departement de la Roer, rührte das Schicksal der Unglückseligen. Er regte den Bau eines Denkmals für Johanna Sebus an. Mit dessen Entwurf wurde Dominique Vivant Baron Denon – Diplomat, Kunsthistoriker und Generaldirektor des Musée Napoléon – betraut. Seit 1811 erinnert nun eine klassizistische Stele aus Blaustein an Mädchen, Tat und Tod. Übermannshoch, umrundet von einer schlichten Steinbank und mächtigen Bäumen, die ihre Schatten über den Griethauser Altrheinarm werfen. Auf der Vorderseite der Stele ist ein Medaillon aus weißem Marmor angebracht. Eine Rose. Symbol einer posthum verliehenen Auszeichnung, die unter Napoleon I. besonders tugendhaften Mädchen zuteilwurde. Darunter eine französische Inschrift, die verkündet: »Zum Andenken der siebzehnjährigen Schönen, Guten aus dem Dorfe Brienen, die am 13. Januar 1809 bei dem Eisgang des Rheines und dem großen Bruch des Dammes von Cleverhamm Hilfe reichend unterging.« Bald griffen zahlreiche Künstler Johannas Heldentat auf. Sie fand Eingang in Literatur und Musik. Goethe widmete ihr eine Ballade, in der er sie »schön Suschen« nannte. Die Ballade wurde mehrfach vertont, unter anderem in einer – wenngleich unvollendeten – Komposition von Franz Schubert.
Unweit des Denkmals liegt ein gutes Dutzend kleinerer Gewässer, die vor langer Zeit durch Deichbrüche entstanden sind: die Rinderschen Kolke. Die Überreste einer alten Auenlandschaft, die durch Ausspülungen des durchbrechenden Rheines mit jedem Hochwasser weiter modelliert wurden und heute wertvoller Lebensraum für zahlreiche Pflanzen- und Tierarten sind. Einst wurden sie deswegen auch Augen Gottes genannt. Während die Kolke im vergangenen Jahrhundert noch als Schwimmteiche genutzt wurden, dienen sie heute als Angelgewässer oder Viehtränken für Charolais-Rinder und Pferde, die die umliegenden Wiesen beweiden. Das bereits von den Römern kultivierte Gebiet mit seinen Hecken und für den Niederrhein so typischen, knorrigen Kopfbäumen steht unter Naturschutz. Ein halbstündiger Spaziergang führt Sie dorthin.
Zeitzeuge. Ausgehöhlt vom Wenn und Aber der Geschehnisse am mächtigen Strom
Der verlassene Märchenwald in Dingden
Wo der Wolf einst Rotkäppchen verschlang, Rapunzel ihr Haar herabließ und die Sieben Zwerge wenn nicht hinter den sieben Bergen, so doch fröhlich hinter knorrig verwachsenen Baumwurzeln lebten. Doch das ist nur ein Märchen.
Dingden, Kreis Wesel Ort Krechtinger Straße 100, 46499 Hamminkeln GPS 51.77614, 6.63636 Anfahrt ÖPNV: Bus 64 bis Haltestelle Hamminkeln Kindergarten, zu Fuß weiter über die Krechtinger Straße (ca. 550 m) Auto: über die B 473, Richtung Dingen, Wanderparkplatz Krechtinger Straße, zu Fuß noch ca. 800 m
Bitten und Betteln zwecklos: Hier lässt Rapunzel ihr Haar schon lange nicht mehr herab.
GEHEIMNISVOLLE HÖHEN Der Niederrhein ist angenehm flach. Nur hier und da wellt sich die Landschaft. Nicht spektakulär, aber doch ansehnlich und als Niederrheinischer Höhenzug in den Karten verzeichnet. Von Krefeld bis ins niederländische Nimwegen spannt er seinen Bogen und wölbt sich dabei bis zu 100 Meter auf. Entstanden ist er in der vorletzten Eiszeit, als von Nordosten kommende Gletscher das Land formten. Rechtsrheinisch gehören nur die Eltener Höhen zur Erhebung. Doch auch in einem Waldstück bei Dingden – ein Ausläufer wollte man meinen – hebt und senkt sich das Land. Es ist die Kulisse für einen Märchenwald.
WUNDERWALD Jenes winzige Waldstück erwarb um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein gewisser August Drießen aus Bocholt. Dort, einen Steinwurf von Dingden entfernt, doch schon im Münsterland verortet, besaß Drießen ein Feinkostgeschäft, an der Langenbergstraße im Zentrum der Stadt, wo der Geschäftsmann auch wohnte: zusammen mit seiner Familie, seinen Söhnen Heinrich und August junior. Viel mehr ist heute nicht bekannt. Größere Bekanntheit hingegen erlangte Drießens Waldstück, das er ab den 1960er Jahren für seine Kinder in einen fantastischen Ort verwandelte. Zwischen mächtigen Bäumen, auf steilen Anhöhen und am Ufer des Mumbecker Bachs, der den Wald durchfloss, entstanden Häuser aus Stein. Ihre Formen und Geschichten sind angelehnt an die Märchenwelt der Zeit, übermannshoch und fantasiebeflügelnd. Sie wirken so verheißungsvoll, dass bald auch andere Kinder den neuen Märchenwald entdeckten: zum Spielen und Erobern, vielleicht auch, um sich einem leichten Gruseln auszusetzen, wenn sie an Rotkäppchen dachten, an Hänsel und Gretel und das Hexenhaus.
PONYS UND EIN ESEL Als Ort allerbesten Freizeitvergnügens war Drießens Busch im Nu über die Grenzen des Niederrheins hinaus bekannt. Aus dem Ruhrpott beispielsweise – damals trist und grau, die Luft derart verschmutzt, dass selbst die größten Rotzbengel ihre rußigen Taschentücher nur verschämt zum Nasenputzen hervorkramten – pilgerten an den Wochenenden Familien mit ihren Kindern nach Dingden. Das weiß einer zu berichten, der sich halbwüchsig als Helfer im Wald verdingte, um junge Gäste auf Ponys durch den Busch zu führen. 50 Pfennig soll so ein Ritt gekostet haben. Die Helfer arbeiteten ohne Lohn, aber mit der Gewissheit, den Ort ab Herbst wieder für sich zu haben. Und reiten durften die Mädchen und Jungs ohnehin kostenlos. Von einem Esel namens Kasimir ist die Rede. Kasimir allerdings trabte nicht zum Reiten durch den Wald, vielmehr sorgte er für die passende Geräuschkulisse, zu der auch eine Schar Pfauen beigetragen habe. So weiß man es vom Hörensagen. Es gab ein Büdchen, wo Naschkatzen Süßes, Softeis und Getränke kaufen konnten. Drießens Busch war ein voller Erfolg. Der Andrang wurde so groß, dass August Drießen ein Hotel unmittelbar beim Wald bauen ließ. Doch bereits im Jahr 1972 verstarb er. Um den Wald kümmerte sich bald niemand mehr.
DEM VERFALL PREISGEGEBEN